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Kreisschreiben des

Bundesrathes an sämmtliche Kantonsregierungen betreffend die Anwendung des Niederlassungsvertrages vom 31. Mai 1890 zwischen der Schweiz und Deutschland.

(Vom 8. September 1891.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Bei der Anwendung des neuen Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Deutschland vom 31. Mai 1890 (A. S. n. F. Bd. XI, S. 515) hat es sich ergeben, daß einzelne Punkte desselben von den kantonalen Behörden in verschiedener Weise aufgefaßt und angewendet werden. Der Bundesrath sieht sieh daher veranlaßt, die folgenden Erläuterungen und Weisungen sämmtlichen Kantonsregierungen zur Nachachtung mitzutheilen.

A. Niederlassung von Deutschen in der Schweiz.

I.

Um die in Art. l des erwähnten Niederlassungsvertrages bezeichneten Rechte beanspruchen zu können, müssen gemäß Art. 2 des gleichen Vertrages die Deutschen mit einem Zeugniß ihrer Gesandtschaft versehen sein, durch welches bescheinigt wird, daß der Inhaber die deutsche Reichsangehörigkeit besitzt und einen unbescholtenen Leumund genießt. Dieses gesandtschaftliche Zeugniß wird deutscherseits nicht nur als Bedingung für das Recht auf Niederlassung, sondern auch im Sinne des Art. 8, Abs. 3, des Vertrages als gültige unverdächtige Heimaturkunde angesehen.

372 Was die Gültigkeitsdauer dieser Zeugnisse anbelangt, so ist dieselbe in allen seit dem 1. Januar 1891 ausgestellten Zeugnissen bestimmt angegeben, und es sind daher die Polizeibehörden jederzeit in der Lage, die Frage nach der Gültigkeit eines vorgelegten Zeugnisses zu beurtheilen und eventuell auf rechtzeitige Erneuerung abgelaufener Papiere hinzuwirken.

Die vor dem 1. Januar d. J., d. h. vom 20. Juli bis 31. Dezember 1890, ausgestellten Gesandtschaftszeugnisse, in welchen keine Gültigkeitsdauer angegeben ist, sind unbedingt gültig und werden von den zuständigen deutschen Behörden ebenfalls als ,,unverdächtige Heimaturkunden u ' (Art. 8, Abs. 3, des Vertrages) anerkannt.

Zur Orientirung haben wir am Schlüsse die bei der Kaiserlichen Gesandtschaft in Gebrauch stehenden Zeugnißformulare abgedruckt, von denen Nr. l für Unverheiratete, Nr. 2 für Familien bestimmt ist.

Die Vorlage eines solchen Zeugnisses genügt für den Erwerb der Niederlassung und es darf daher zu diesem Zwecke eine weitere Urkunde irgend welcher Art (Heimatschein, Paß u. dgl.) nicht verlangt werden.

II.

Zur Erwerbung des in Art. 2 des neuen Niederlassungsvertrages vorgesehenen gesandtschaftlichen Zeugnisses sind von den deutschen Reichsangehörigen der Kaiserl. Deutschen Gesandtschaft in Bern folgende Papiere als Belegstücke einzusenden: 1. ein gültiger Reisepaß oder Heitmatschein und 2. ein Leumundszeugniß ; von Verheirateten sind ferner vorzulegen : 3. eia Trauschein, und falls die Familie nicht bereits vollzählig in dem Heimatschein aufgeführt ist, 4. die Geburtsscheine allfälliger Kinder.

Die Gesandtschaft behält sich vor, auf Grund der vorgelegten Schriftstücke zu prüfen, ob ihrerseits etwa noch weitere Erkuudi' gungen einzuholen seien.

Die große Anzahl der bei der Kais. Gesandtschaft eingehenden Gesuche um Ausstellung von Zeugnissen einerseits, sowie anderseits die in vielen Fällen für die Gesandtschaft sich ergebende Nothwecdigkeit der Beschaffung bezw. Ergänzung der erforderlichen Belege im Wege eines oft weitläufigen amtlichen Schriftenwechsels

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lassen es unmöglich erscheinen, den Deutschen, die ein Gesuch um Ausstellung eines Zeugnisses bei ihrer Gesandtschaft eingereicht haben, eine peremtorische Frist für Beibringung dieses Zeugnisses zu setzen. Wenn die Einreichung eines derartigen Gesuchs der lokalen Polizeibehörde bescheinigt wird, so kann die betreffende' Person unbedenklich vorläufig geduldet werden, da das auf der Kais. Deutschen Gesandtschaft geübte Verfahren genügende Gewähr dafür bietet, daß die Angelegenheit eine möglichst beschleunigte' Erledigung erhalten wird. Wir ersuchen Sie daher, Ihre Polizeibehörden dahin anzuweisen, daß denjenigen Deutschen, welche um das fragliche Zeugniß bei der Gesandtschaft eingekommen sind und für diese Thatsache eine Bescheinigung der Gesandtschaft beibringen, eine Frist zur Einreichung des Zeugnisses überhaupt nicht gesetzt werde, sondern daß dieselben -- abgesehen von den besonderen Ausweisungsgründen gemäß Art. 4 des Vertrages -- jedenfalls so lange geduldet werden, bis die gesandtschaftliche Entscheidung nach der einen oder ändern Richtung hin getroffen ist. Zur Vermeidung von Verschleppungen können die Betreffenden immerhin unter An-.

Setzung einer Frist zum Ausweis darüber verhalten werden, daß das Gesuch bei der Gesandtschaft anhängig gemacht sei.

Dagegen kann die Ausstellung blos provisorischer Legitimationen, wie sie hie und da gewünscht werden, bei der Deutschen Gesandtschaft nicht verlangt werden, da dieselben den Anforderungen des Vertrages nicht entsprechen und zudem die rasche Erledigung der Gesuche selbst verzögern würden.

III.

Mehrfach ist der Fall vorgekommen, daß von Seiten schweizerischer Behörden für einen Deutschen der Antrag auf Ausfertigung des gesandtschaftlichen Zeugnisses gestellt, aber schon nach Ver- · lauf weniger Tage wieder zurückgezogen wurde, weil der Betreffende weiter gereist ist. Es betraf dies vorzugsweise auf der Wanderschaft befindliche Arbeiter. Aus der Natur der Sache/ergibt sich, daß die Vertragsbestimmung des Art. 2 auf solche Personen nicht, früher Anwendung finden kann, als bis sie wirklich an einem Orte Arbeit gefunden haben.

Abgesehen von diesen Fällen ist die Frage, ob jeder kürzere oder längere Aufenthalt überhaupt Jvon der Vorlage der in Art. 2 des Vertrages genannten Bescheinigungen abhängig gemacht werden dürfe, von ganz besonderer Bedeutung. Eine für alle Fälle gültige Antwort läßt sich darauf nicht ertheilen. Sehr oft wird die Entscheidung weniger von der Dauer des Aufenthaltes, als von dem

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Zwecke desselben abhäagen. Personen, welche mit der ausgesprochenen Absicht in das Land kommen, dasselbe nach einer bestimmten Frist wieder zu verlassen und weder einen Beruf noch ein Gewerbe betreiben, werden in der Regel nicht als Niedergelassene betrachtet uod behandelt werden können. Zu dieser Klasse gehören yor Allem die Reisenden und Kurgäste, auch wenn sie an einem Orte länger verweilen, ferner diejeaigen jungen Leute, welche zum Zweck ihrer Ausbildung an Universitäten, in öffentlichen oder privaten Schulen oder in Pensionaten in die Schweiz kommen und in der Regel aus der heimatlichen Familie noch nicht ausgetreten sind.

Gleich wie die Schweizer anderer Kantone, wenn sie einer dieser Kategorien angehören, zur Vorlage von Heimatschriften in der Regel nicht verhalten werden (insofern nicht über ihre Staatsangehörigkeit in einem besondern Falle begründete Zweifel bestehen), so sind auch die Angehörigen anderer Staaten, denen in Bezug auf die Niederlassung dasselbe Recht zugesjchert ist, gleich zu halten.

Dieser Grundsatz schließt das Recht der Kantonsbehörden keineswegs aus, jedem einzelnen Fremden gegenüber die Vorlage der vertraglichen Ausweise zu fordern, sobald es sich aus seinen Erklärungen oder seinem Verhalten ergibt, daß er gesonnen ist, einen wirklichen dauernden Wohnsitz in der Schweiz zu begründen, oder auch in dem Falle, wo aus irgend einem Grunde anzunehmen ist, daß die Gefahr der Heimatlosigkeit drohe.

IV.

Wir müssen Sie ferner ersuchen, Ihren Polizeibehörden die Vorschrift der Ziffer 3 des Sehlußprotokolles zum neuen Niederlassungsvertrag in Erinnerung zu bringen, wonach solche Deutsche, welche Kraft des Vertrages vom 27. April 1876 im Gebiete *der Eidgenossenschaft in gesetzmäßiger Weise die Niederlassung erworben haben, derselben ohne weitere Förmlichkeit auuh unter dem jetzigen Vertrage theîlhaftig bleiben. Es geht daher nicht an, Personen, welche unter der Herrschaft des alten Vertrages ein gültiges Heimatpapier hinterlegt haben, zur Ersetzung desselben durch ein gesandtschaftliches Zeugniß nach Art. 2 des neuen Vertrages zu verhalten. Derartige Gesuche werden von der Gesandtschaft mit Recht stets abgewiesen.

V.

Endlich macheu wir noch darauf aufmerksam, daß gemäß Ziffer l des vorerwähnten Zusatzprotokolles bezüglich der baierischen .

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«Staatsangehörigen der königlich Baierische Gesandte in Bern zur Ausstellung des im Art. 2 erwähnten Zeugnisses zuständig ist.

Im Uebrigen gelten für die baierischen Staatsangehörigen die vorstehend dargelegten Grundsätze ganz ebenso, wie für die übrigen ·deutschen Reichsangehörigen.

B. Niederlassung von Schweizern in Deutschland.

Ziffer 2 des Zusatzprotokolles zum Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland vom 31. Mai 1890 sieht bekanntlich vor, daß bei dem gegenwärtigen Stande unserer Gesetzgebung die ·deutschen Behörden einem von der betreffenden schweizerischen Gemeindebehörde ausgestellten Heimatschein und einem von dieser «rtheilten Leumundszeugniß, sofern diese Urkunden von der zuständigen Behörde des Heimatkantons beglaubigt sind, dieselbe Bedeutung wie dem im Art. 2 erwähnten gesandtschaftlichen Zeugniß beilegen werden.

Um Mißverständnisse bei Interpretation dieser Vorschrift zu vermeiden, sind die vertragenden Theile überein gekommen, zu bestimmen, von welcher Gemeindebehörde in den verschiedenen Fällen ·das erforderliche Leumundszeugniß herzurühren hat. Es sind hiebei folgende Eventualitäten ins Auge gefaßt worden: I. Der nach Deutschland auswandernde Schweizer hat sein letztes Domizil in seiner Heimatgemeinde gehabt. In diesem Falle hat natürlicherweise die Heimatgemeinde das Leumundszeuguiß auszustellen und die Behörde des Heimatkantons dasselbe zu beglaubigen.

II. Der nach Deutschland auswandernde Schweizer ha): sein letztes Domizil in einer schweizerischen Gemeinde, aber nicht in seiner Heimatgemeinde gehabt. In diesem Falle kann das Zeugniß der Wohngemeinde dasjenige der Heimatgemeinde ersetzen. Das Leumundszeugniß ist jeweilen durch die Kantonsbehörde, in deren ·Gebiet die dasselbe ausstellende Gemeinde liegt, zu legalisiren.

HI. Der nach Deutschland auswandernde Schweizer hat sein letztes Domizil nicht in der Schweiz, sondern im Ausland gehabt.

In diesem Falle wird demselben von der deutschen Behörde die nöthige Zeit belassen, um sich entweder von der letzten Wohngemeinde in der Schweiz oder von der Heimatgemeinde das erforderliche Leumundszeugniß zu verschaffen, falls jene sich nicht mit ändern Ausweisen über den guten Leumund des Eingewanderten begnügen sollte.

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Wir ersuchen Sie, diese Grundsätze Ihren Polizei- und Gemeindebehörden zur Orientirung und Nachachtung mitzuthèilen und sie zugleich darauf aufmerksam zu machen, daß im Uebrigen die Vorschriften dès alten Vertrages durch das neue Abkommen nicht geändert worden sind und insbesondere die Bestimmungen über die, gegenseitige unentgeltliche Verpflegung armer kranker Angehöriger des ändern Staates, sowie über die Heimschaffung, dieselben bleiben wie früher.

Im Uebrigen benutzen wir diesen Anlaß, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen, sammt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 8. September

1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Stellvertreter des eidg. Kanzlers : Schatzmann.

Zwei Beilagen.

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Jfcl.

Die Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft bei der Schweiz. Eidgenossenschaft bescheinigt hiermit, daß d geboren am

zu.

die deutsche Reichsangehörigkeit besitzt und einen unbescholtenen Leumund genießt.

Dieses Zeugniß ist für d Vorgenannte zu dem Zwecke ausgefertigt worden, um während Aufenthaltes in der Schweiz die in dem Artikel \ des deutsch-schweizerischen Niederlassungsvertrages vom 31. Mai 1890 bezeichneten Rechte beanspruchen zu können.

Gültig bis zum

Gegeben B e r n , den

189.

Der Kaiserlich Deutsche

StaatsDieses Zengniß ist 4? ·- obgenannten angehörigen ausgefertigt worden auf Grund eines Heimatscheines Beisepasses de vom

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Familienschein.

M 2.

Die Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft bei der Schweiz. Eidgenossenschaft bescheinigt hiermit, daß d geboren am.

zu und gleicherweise die auf der Rückseite namentlich aufgerührten Familienmitglieder die deutsche Reichsangehörigkeit besitzen und.

einen unbescholtenen Leumund genießen.

Dieses Zeugniß ist für die vorbenannte Familie zu dem Zwecke ausgefertigt worden, um während ihres Aufenthaltes in der Schweiz die in dem Artikel l des deutsch-schweizerischen Niederlassungsvertrages vom 31. Mai 1890 bezeichneten Rechte beanspruchen zu können.

Gültig bis zum

Gegeben zu B e r n , den

189

Der Kaiserlich Deutsche.

Dieses Zeusniß ist de obeenannten Staatsangehörigen ausgefertigt worden auf Grand eines Heimatscheines Reisepasses <

de

vom

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16.09.1891

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