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Schweizerisches Bundesblatt.

43. Jahrgang. II.

Nr. 19.

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13. Mai 1891.

Bericht des

Bundesrathes an die Bundesversammlung über

seine Geschäftsführung im Jahre

1890.

VI. Geschäftskreis des Justiz- und Polizeidepartements, A. Justizverwaltung.

I. Organisatorisches.

Entgegen der im letztjährigen Geschäftsberichte ausgesprochenen Erwartung war es uns nicht möglich, im Jahre 1890 der Bundesversammlung Entwürfe von Novellen zum Bundesstrafrecht und zur Bundesstrafprozeßordnung vorzulegen; ebenso harrt der Entwurf eines neuen Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege noch immer seiner Feststellung zur Vorlage an die gesetzgebenden Räthe ; auch die Neueinbringung eines Entwurfes über das Verbot der Doppelbesteuerung, sowie die Revision des Gesetzes über Civilstand und Ehe konnten noch nicht erfolgen.

Die Gründe dieses langsamen Fortschreitens der gesetzgeberischen Arbeiten des Bundes und speziell ihres Rückstandes im Berichtsjahre liegen in dem von uns wiederholt hervorgehobenen Mangel an verfügbaren juristisch gebildeten Arbeitskräften des Justiz- und Polizeidepartements. Wenn irgendwelche außerordentlichen Verhältnisse eintreten, wie z. B. im letztverflossenen Jahre die Belastung des Departementschefs mit den Präsidialgeschäften und die Tessiner Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

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526 Angelegenheiten, so müssen, wegen der vollen Inanspruchnahme des Personals durch dieselben, ganze Geschäftszweige der ordentlichen Verwaltung unbesorgt liegen bleiben. Wir haben schon im Geschäftsberichte für 1888 auf diesen Uebelstand aufmerksam gemacht und die Begründetheit des Postulates Nr. 409 der Räthe vom 21. Dezember 1888 (Bundeabi. 1889, I, 69), betreffend die Vermehrung der Arbeitskräfte des Justiz- und Polizeidepartements, betont. Das Postulat wird bei der mit dem Inkrafttreten des ßetreibungs- und Konkursgesetzes nothwendig verbundenen Neugestaltung des Personalbestandes dieses Departements zur Erledigung kommen müssen.

II. Gesetzgebung.

1. Mit Botschaft vom 9. Juni 1890 haben wir Ihnen einen Gesetzesentwuvf, betreffend die A u s l i e f e r u n g g e g e n ü b e r dem . A u s l a n d , vorgelegt. Der Ständevath hat denselben in der außerordentlichen Septembersession in Berathung gezogen und mit einigen Abänderungen angenommen. In der ordentlichen Dezembersession trat auch der Nationalrath auf die Behandlung des Gegenstandes ein ; er faßte einige von der ständeräthlichen Redaktion abweichende Beschlüsse. Der Ständerath seinerseits wich wieder in einigen Punkten vom Nationalrathe ab und richtete an den Bundesrath die Einladung, den Text des Gesetzes vor dessen Veröffentlichung einer nochmaligen Durchsicht zu unterwerfen und dabei insbesondere auf die genaue Uebereinstimmung desselben in den drei Nationalsprachen Bedacht zu nehmen. Die Vorlage kam jedoch im Berichtsjahre nicht zu endgültiger Erledigung; ihre Schlußberathung wurde vom Nationalrathe auf die nächste Session verschoben.5 2. Unser Wunsch, es möchten die Räthe noch einmal einen Versuch machen, Über den Gesetzentwurf betreffend die c i v i l rechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und A u f e n t h a l t e r sich zu einigen, scheint Aussicht auf Verwirklichung zu haben. Zwar hielt der Nationalrath im Juni 1890 noch beinahe durchweg am Territorialitätspriazip fest. Allein der Ständerath betrat im Dezember nach dem Vorschlag seiner in Zug versammelt gewesenen Kommission den Boden eines Kompromisses, dadurch, daß er für das Erbrecht das Wohnsitzprinzip anerkannte und im Vormundschaftsrecht, um einer schroffen Anwendung des Heimatprinzips vorzubeugen, verfügte, die Heimatbehörde dürfe die Vormundschaft über ihre auswärts wohnenden Angehörigen nur mit Zustimmung der heimatlichen Obervormundschaftsbehörde für sich in Anspruch nehmen, wogegen der Wohnsitzbehörde Gelegenheit zur Vernehmlassung gegeben werden müsse.

527 Auf den 9. Februar 1891 wurden auf Anregung des eidgenössischen Justizdepartements die Kommissionen beider Räthe zu einer gemeinschaftlichen Berathung nach Bern geladen. Das Resultat ihrer zweitägigen Berathungen verheißt einen glücklichen Erfolg.

Wenn auch nicht einstimmige Beschlüsse gefaßt worden sind und obschon die Einbringung abweichender individueller Anträge in den Ruthen vorbehalten wurde, so hat man sich doch in allen Hauptpunkten (Vormundschaft, eheliches Güterrecht und Erbrecht) 'geeinigt und sich allseitig damit einverstanden erklärt, daß die Annahme der individuellen Anträge keine conditio sine qua non der Annahme des Gesetzes bilden solle.

3. Im Berichtsjahre ist als erster Theil, gleichsam als Vorläufer der systematisch-kritischen Darstellung des in den Kantonen geltenden Strafrechts, der im letzten Jahre angekündigte Quellenband erschienen, der den Text der S c h w e i z e r i s c h e n S t r a f g e s e t z b ü c h e r zur Vergleichung zusammenstellt. Wir freuen uns, dem Verfasser, Herrn Prof. Dr. Karl Stooß in Bern, unsere Zustimmung zur Herstellung einer solchen Textausgabe ausgesprochen zu haben. Das Buch befindet sich in den Händen der Mitglieder der hohen Bundesversammlung. Sie konnten sich überzeugen, daß dasselbe in jeder Hinsicht einen vortheilhaften Eindruck macht. Das Werk hat auch in fachwissenschaftlichen Kreisen lebhafte Anerkennung gefunden. Herr Prof. Dr. A. Teichmann, Lehrer des Strafrechts an der Universität Basel, schließt seine Rezension in der Zeitschrift für Schweizer Strafrecht, Jahrgang 1890, Heft 5, mit folgenden Worten : ,,So entspricht also das Werk in jeder Beziehung den verschiedenen Bedürfnissen und Anforderungen, indem es überall Zeugniß von der Sorgfalt und von dem Geschick des Herausgebers ablegt. Möge ebenso auf den ferneren Arbeiten Segen ruhen, möge wohlverdiente Anerkennung den Muth und die Ausdauer zu kühnerem Fluge stählen !" Und Herr Prof. Dr. Andreas Heusler in Basel sagt (in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Jahrgang 1891, Heft 1}: ,,Nähere Prüfung des Buches zeigt, daß die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hat, mit Geschick und Sorgfalt gelöst ist. Das Buch wird als zuverläßiger Führer durch die heutige Strafgesetzgebung der schweizerischen Kantone jedem, der sich damit zu beschäftigen hat, die besten Dienste leisten."
Wie der Verfasser in seinem Vorberichte mittheilt, kommt ein hervorragender Antheil an der Arbeit Herrn Prof. Dr. Alfred Gautier in Genf zu, welcher nicht nur die Ueberschriften der Abschnitte ins Französische übertrug, sondern auch im Auftrage des eidgenössischen Justizdepartements ein Sachregister in französischer Sprache ausarbeitete. Das deutsche Sachregister ist von Herrn Fürsprecher E. Rüegg in Bern verfaßt.

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Der Gedanke, daß durch eine solche systematisch geordnete Textausgabe d i e V e r e i n h e i t l i c h u n g d e s S t r a f r e c h t s am sichersten und wirksamsten vorbereitet und eingeleitet werde, hat bei berufenen Vertretern der modernen Strafrechtswissenschaft laute Anerkennung und Zustimmung gefunden. Im Schooße der ,,Internationalen kriminalistischen Vereinigung", welche vom 11. bis 14. August des verflossenen Jahres in Bern getagt hat, stellte Herr Prof. Dr. Franz von Liszt aus Halle den Antrag, es möge eine internationale Kommission von Fachgelehrten aufgestellt werden, welche die Herausgabe einer rechtsvergleichenden Darstellung des heute in Europa geltenden Strafrechts nach dem Muster des Stooß'schen Werkes vorzubereiten und zu fördern die Aufgabe haben solle.

Dieser Antrag wurde mit allgemeinem Beifall aufgenommen und zum Beschlüsse erhoben.

Die h. Bundesversammlung hat im Berichtsjahre bei Anlaß d e r Behandlung d e s I n i t i a t i v v o r s c h l a g e s d e r G r o ß e n R ä t h e von S c h a f f h a u s e n und A a r g a u , betreffend Revision des Art. 65 der Bundesverfassung zum Zwecke der U e b e r t r a g u n g d e s G e s e t z g e b u n g s r e c h t e s ü b e r das S t r a f r e c h t a n , d e n B u n d (Bundesbl. 1890, II, 875--878), sich neuerdings mit dem von uns zur Vorbereitung einer Vereinheitlichung des Strafrechts eingeschlagenen Verfahren einverstanden erklärt (vergl. die Geschäftsberichte pro 1888 und 1889 im Bundesbl. 1889, II, 706; 1890; II, 132).

4. Auf Einladung der belgischen Regierung haben wir uns in den Jahren 1885 (in Antwerpen) und 1888 (in Brüssel) an einem Kongresse für I n t e r n a t i o n a l e s " W e c h s e l r e c h t vertreten lassen. Unser Delegirter war beide Male Herr Dr. Paul Speiser, Regierungsrath und Professor der Rechte in Basel.

Herr Dr. Speiser erblickt das Ergebniss dieser Kongresse darin, daß das moderne Wechselrecht, wie es in der deutschen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Doktrin enthalten ist, bei den Vertretern der romanischen Länder, die zur Zeit noch am Wechselrecht des französischen Code de commerce ganz oder theilweise festhalten, zur Anerkennung gekommen ist. Er spricht sich in einer Zuschrift an unser Justiz- und Polizeidepartement vom 21. Januar 1890 hierüber folgendermaßen, aus: ,,Eine internationale Rechtseinheit
des Wechselrechts wird also im Großen erreicht sein, wenn die letztgenannten Länder das moderne deutsch-italienische Wechselrecht adoptiren ; ist dies geschehen, so sind die Differenzen auf einzelne Fragen reduzirt. Erst wenn Frankreich und Belgien diesen Entschluß wenigstens gefaßt haben werden, kann es sich für die auf dem deutschen System bereits stehenden Länder darum

529 handeln, an ihrer Kodifikation diejenigen Aenderungen vorzunehmen, welche die Brüsseler Beschlüsse involvirea. Hiebei kann es sich aber wieder nicht darum handeln, daß die Schweiz zuerst und ohne Rücksicht auf die andern Länder vorangehe, sondern man wird suchen müssen, mit Deutschland und Italien Schritt zu halten ; es ist nicht wahrscheinlich, daß Italien, das sein Handelsrecht ungefähr gleichzeitig mit uns kodifizirt hat, sich heeilen werde, an demselbea Aenderungen zu treffen ; dagegen ist es möglich, daß Deutschland, freilich erst wenn es sein bürgerliches Gesetzbuch wird erreicht haben, zur Revision seiner Handelsgesetzgebung schreiten wird.

^Es ergibt sich hieraus, daß die Schweiz der belgischen Regierung für die nächste Zeit keine Zusicherungen machen kann.

,,Es wäre m. E. von Interesse, den Handelskreisen Gelegenheit zur Ansichtsäußerung zu geben, sowohl über die Wünschbarkeit einer Beförderung der internationalen Unifikation des Wechselrechts, als über einzelne vvechselrechtliche Fragen, die in Brüssel 'eine vom schweizerischen Obligationenrecht abweichende Lösung gefunden haben.

,,Ich nenne folgende Fragen: ,,Sind Wechsel auf den Inhaber wünschbar?

,,Soll das Requisit der Benennung als Wechsel fallen gelassen werden ?

,,Sollen undatirte Wechsel gestattet werden?

,,Sind Wechsel mit Theilzahlungen statthaft?

,,Soll der Rückgriff mangels Annahme auf Ersatz der Wechselsumme, nicht auf Sicherstellung gehen?11 Indem wir den Anschauungen des Herrn Speiser in allen Theileri beitraten, haben wir die Beschlüsse des Brüsseler Kongresses sowohl dem Vorstand des Schweizerischen Juristenvereins, als auch dem Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins zur Begutachtung übermittelt und von beiden Seiten die Erklärung erhalten, daß man die vorgelegten Fragen zum Gegenstand einläßlichen Studiums machen werde; der k. belgischen Gesandtschaft wurde in Erwiderung auf deren Note vom 13. Januar 1890 mitgetheilt: Der Bundenrath habe sich in Betreff der Brüsseler Anregungen das Gutachten derjenigen schweizerischen Gesellschaften erbeten, welche sich ganz besonders mit der Entwicklung der schweizerischen Gesetzgebung und den Interessen des schweizerischen Handels befassen, und werde nicht ermangeln, die Gesandtschaft von den Ergebnissen dieser Untersuchung in Kenntniß zu setzen ; schon jetzt könne er erklären, daß er von den großen Vortheilen

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überzeugt sei, welche eine gleichförmige Gesetzgebung über den Wechsel, dieses so wesentlich internationale Institut, mit sich bringen würde, und daß er sehr geneigt sei, die belgische Regierung hierin zu unterstützen; immerhin scheine es dem Bundesrath, diesfällige Anregungen sollten von denjenigen Staaten ausgehen, welche in Bezug auf den Wechsel noch unter dem Code de commerce français stehen und die nicht, wie die Schweiz, über diese Materie ein neues Gesetz besitzen, das zu keinen Klagen Veranlassung gebe.

III. Schweizerisches Staats- und Privatrecht.

1. Da der zuerst bestellte Redaktor infolge persönlicher Verhältnisse nicht in der Lage war, die Arbeit durchzuführen, hat das Departement mit unserer Zustimmung die Redaktion des Werkes, welches eine D a r s t e l l u n g des S c h w e i z e r B u n d e s r e c h t s an der Hand der Praxis der administrativen Bundesbehörden seit 1874 enthalten soll, dem Herrn Dr. L. R. von Salis, Professor der Rechte in Basel, übertragen. Wir sind in der angenehmen Lage, Ihnen mittheilen zu können, daß ein erster Band im Laufe der Junisession 1891 zur Austheilung an Sie gelangen wird.

Ueber die Herstellung einer französischen und einer italienischen Ausgabe stehen wir mit Persönlichkeiten, die zu dieser Arbeit qualifizirt sind, in Unterhandlung.

2. Von dem ausgezeichneten Werke Eugen Huber's, ,, S y s t e m und G e s c h i c h t e des s c h w e i z e r i s c h e n P r i v ii t r e c h t s " , ist der erste oder systematische Theil in drei Bänden bereits erschienen; der zweite Theil, welcher als vierter Band ,,Die Geschichte des schweizerischen Privatrechts" enthalten soll, wird in diesem Jahre vom Verfasser vollendet werden.

IV. Gewährleistung von Kantonsverfassungen.

1. Durch Abstimmung vom 1./2. Februar 1890 hat das Volk des Kantons B a s e l s t a d t mit 3187 gegen 1671 Stimmen eine neue vom Großen Rathe am 2. Dezember 1889 beschlossene Verfassung angenommen, welche an die Stelle der Verfassung vom 10. Mai 1875 tritt. Doch unterscheidet sich die neue Verfassung inhaltlich nicht wesentlich von der frühern. Wir haben die Verschiedenheiten in unserer Botschaft vom 27. Mai 1890 (Bundesbl.

1890, II, 927--931) hervorgehoben, und Sie haben, der Ständerath am 18., der Nationalrath am 25. Juni, unserm Antrage gemäß dem neuen Grundgesetze des Kantons Baselstadt dio Bundesgarantie ertheilt.

531 2. Am 30. August 1890 hat i in Kanton St. G a l l e n der zur Vornahme einer Verfassungsrevision bestellte Verfassungsrath einstimmig den Entwurf einer neuen Verfassung angenommen. Das Volk ertheilte dem Werke seine Billigung am 16. November 1890 mit 28,083 gegen 6440 Stimmen.

Die neue Verfassung ersetzt diejenige vom 17. November 1861 ; sie führt eine Reihe von zum Theil weittragenden, bedeutsamen Neuerungen ein. Dieselben sind in unserer Botschaft vom 29. November 1890 beleuchtet worden (Bundesbl. 1890, V, l ff.).

Die von uns beantragte Gewährleistung wurde von Ihnen durch Bundesbeschluß vom 18. Dezember 1890 ausgesprochen.

T. Konkordate.

Infolge Beschlusses der Landsgemeinde des Kantons Appenzell L-Rh. vom 27. April 1890 ist dieser Kanton von dem K o n k o r date über B e s t i m m u n g und G e w ä h r der Viehhauptm ä n g e l vom 5. August 1852 (A. S., IV, 210) zurückgetreten.

Dieses Konkordat besteht sonach nur noch unter den Kantonen Zürich, Schwyz, Baselstadt, Basel Landschaft, Aargau und Thurgau (A. S. n. F. II. Serie, I, 641).

VI. Verhältnisse zu auswärtigen Staaten, a. Verträge und Konventionen.

1. Die Unterhandlungen betreffend den Abschluß «von A u s l i e f e r u n g s v e r t r ä g e n mit Oesterreich-Ungarn, Chile, den Vereinigten Staaten von Amerika, Uruguay etc. sind nicht weiter gefördert worden, weil zur Zeit ein Bundesgesetz über die Auslieferung an auswärtige Staaten der Berathung der Bundesversammlung unterstellt ist.

2. Betreffend die V o l l z i e h u n g v o n G i v i l u r t h e i l e n , worüber mit O e s t e r r e i c h - U n g a r n und mit S p a n i e n Unterhandlungen eingeleitet sind (Bundesbl. 1890, II, 137), ist leider noch kein wesentlicher Erfolg zu melden. Die Regierungen dieser beiden Staaten haben sich bereit erklärt, auf unsere Vorschläge einzutreten, allein es ist uns noch von keiner Seite eine einläßliche sachliche Antwort zu Theil geworden.

3. Wir haben im Berichte des Departements des Auswärtigen, politische Abtheilung, über den äußern Verlauf der Unterhandlungen

532 mit D eu t s eh I and betreffend den Abschluß eines neuen N i ed e rl a s s u n g s v e r t r a g e s Auskunft gegeben und ergänzen hier, daß dieser Vertrag in der A. 8. n. F. Bd. XI, Seite 515 ff. abgedruckt ist. Die Anwendung dieses Vertrages hat bald erhebliche Differenzen hervorgerufen, namentlich über den Inhalt und die Fedeutung der in Art. 2 vorgeschriebener! gesandtschaftlichen Bescheinigung und die Dauer ihrer Gültigkeit. Wir freuen uns, hier konstatiren zu können, daß durch die bezügliche Korrespondenz anerkannt worden, die deutschen Gesandtschaftszeugnisse ersetzen in allen Theilen den im früheren Vertrage vorgeschriebenen Heimatschein und sollen die Gültigkeitsdauer in l ebereinstimmung mit den Legitimationspapieren angeben, dio der Gesandtschaft zum Zwecke der Ausstellung des Zeugnisses haben vorgelegt werden müssen. Wir werden nächstens im Falle sein, den Kantonen mittelst Kreisschreibens nähere Mittheilungen hierüber zu machen.

4. In Art. 11, Ziff. l des italienischen Codice civile ist dio Vorschrift enthalten, daß Derjenige sein Bürgerrecht verliert, welcher in einer förmlichen Erklärung vor dem Civilstandsbeamten seines Wohnortes darauf verzichtet und seinen Aufenthalt in das Ausland verlegt. Bei verschiedenen Anlässen hat sich nun ergeben, daß einzelne in der Schweiz wohnhafte Italiener, nachdem sie kürzere oder längere Zeit durch italienische Pässe legitimirt waren, die erwähnte Gesetzesvorschrift heimlich sich zu Nutze machten, indem sie auf ihre italienische Nationalität verzichteten, ohne für den Erwerb des schweizerischen Bürgerrechtes etwas zu thun. Solche Personen konnten schließlich ihre Papiere nicht mehr erneuern, weil die ursprüngliche Heimatbehörde den Verzicht geltend machte, und es mußte deren Einbürgerung in der Schweiz erfolgen.

Dies veranlaßte uns, auf diplomatischem Wege die italienische Regierung anzufragen, ob sie nicht geneigt wäre, eine Uebereinkunft mit der Schweiz abzuschließen, w o n a c h j e d e r S t a a t s e i n e früheren Angehörigen wieder a u f z u n e h m e n habe, auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nach der i n l ä n d i s c h e n Gesetzgebung verloren h ä t t e n , sofern sie nicht die Nationalität im Staate des Domizils oder in einem dritten Staate erworben haben.

Der italienische Minister des Auswärtigen erklärte sich bereit, darauf
einzutreten, und legte als Entwurf zu einer bezüglichen ,,Erklärung", die zwischen den beiden Regierungen auszutauschen wäre, die von Italien mit Oesterreich-Ungarn im Jahre 1874 abgeschlossene Vereinbarung vor. Dieselbe ist beinahe identisch mit der Uebereinkunft, welche die Schweiz mit Oesterreich-Ungarn über die Wiederübernahme ehemaliger Staatsangehöriger im Oktober 1887 (A. S.

533 n. F., X, 303) abgeschlossen hat. Wir hatten daher kein Bedenken, das Projekt anzunehmen. Es sind die beidseitigen Urkunden im Mai 1890 auf dem {Correspondenzwege ausgewechselt worden. Den Kantonsregierungen wurde hievon mittelst Kreisschreiben vom 8. Juli 1890 Kenntniß gegeben. Der Wortlaut dieser "Erklärung" findet sich in der A. 8. n. F. XI, 621.

5. Das Verzeichniß der zur A u s s t e l l u n g von L e i c h e n p ä s s e n zuständigen deutschen Behörden hat im Berichtsjahre insofern eine Aenderung erfahren, als auch dem kaiserl. deutschen Generalkonsulate zu Barcelona und dem kaiserl. Konsulate zu Madrid die entsprechende Ermächtigung ertheilt worden ist (Bundesbl. 1889, I, 88 u. 94, II, 714). Wir haben davon mittelst Kreisschreiben vom 4. September 1890 den Kantonen Kenntniß gegeben (Bundesbl.

1890, IV, 44).

6. Das im Jahre 1879 für den d i r e k t e n G e s c h ä f t s v e r kehr zwischen den schweizerischen und deutschen G e r i c h t e n aufgestellte Verzeichniß der d e u t s c h e n Gerichte, welches im Jahre 1880 den Kantonsregierungen mitgetheilt worden ist (Bundesbl. 1880, II, 668), hat seither verschiedene Aenderungen erfahren. Wir haben diese zusammengestellt und durch eine Bekanntmachung im Bundesblatte (1890, IV, 560) die Aufmerksamkeit der kantonalen Behörden darauf gelenkt.

b. Spezielle Fälle internationaler Natur.

7. Die Rechtsnachfolger der Gräfin von C i v r y , welche als angebliche Notherbin des Herzogs Karl von B r a u n s c h w e i g gegen die Stadt G e n f als dessen Universallegatarin schon seil längerer Zeit Prozeß führte, belangten die letztere im Berichtsjahre nunmehr vor dem C i v i l g e rich t des S e i n e b e z i r k s auf Herausgabe der Erbschaft. Die Stadt Genf ließ sich am Termin nicht vertreten und wurde deßhalb in die Säumnißfolgen verfällt. Sie glaubte aber, gestützt auf Artikel l des schweizerisch-französischen Gerichtsstandsvertrages vom 15. Juli 1869 die Kompetenz der französischen Gerichte bestreiten zu können. Auf entsprechende Anfrage erklärte sich unser Justiz- und Polizeidepartement, in Anlehnung an einen frühern Vorgang ähnlicher Art (vergi. Bundesbl. 1877, II, 511), für Bejahung dieser Frage, indem eine reine Civilklage von ausgeprägt persönlichem Charakter vorliege und die Stadt Genf somit auch Anspruch auf den im Verfrag für solche Klagen aufgestellten Gerichtsstand habe. Das Departement fügte bei, es sei freilich dem Bundesrathe nicht möglich, direkt in den Prozeß einzugreifen, er

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müsse sich vielmehr darauf beschränken, seine Ansicht bei der französischen Regierung geltend zu machen und dahin zu wirken, daß dieselbe sich der dargelegten Anschauungsweise anschließe und sie durch die Staatsanwaltschaft bei dem betreffenden Gerichte vertreten lasse, ein Verfahren, das auch in andern Fällen als das einzig anwendbare Beobachtung gefunden habe.

8. Die Firma H a r t m a n n , G e n e u x & Cle, Bank- und Inkassogeschäft in St. Immer, ersuchte um unsere Vermittlung bei der f r a n z ö s i s c h e n Regierung behufs Ruckerlangung einer Gebühr von Fr. 250, welche die Petenten an das Bureau de l'enregistrement von Avesnes bei Eintragung ihres Gesellschaftsvertrages haben entrichten müssen. Die Petenten beriefen sich auf den in unserm letztjährigen Geschäftsbericht dargelegten Vorgang betreffend die Banque Foncière du Jura (Bundesbl. 1890, II, S. 139 ff.), indem sie behaupteten, daß die Verhältnisse in beiden Fällen dieselben seien.

Es ergab sich indeß aus den eingesandten Aktenstücken, daß die Firma Hartmann, Geneux & Cle auf dem zur Eintragung in Avesnes bestimmten Auszug des Gesellschaftsvertrages den Betrag ihres Gesellschaftskapitals mit Fr. 200,000 von sich aus angegeben hatte.

Auf Grund dieser Angabe hatte der Registerbeamte gemäß gesetzlicher Vorschrift die Gebühr von l,25°,'oo des Gesellschaftskapitals bezogen. Nach der in Sachen der Banque Foncière du Jura getroffenen Entscheidung der französischen Behörden hätte die Angabe des Gesellschaftskapitals im betreffenden Vertragsauszug zwar unterbleiben können ; nachdem die Petenten dieselbe aber freiwillig gemacht hatten, wäre ein Verlangen um Rückerstattung der hezogeuen Gebühr voraussichtlich ohne Erfolg gewesen, und mußten wir daher unsere Vermittlung ablehnen.

9. Die Regierung des Kantons Bern ersuchte um unsere Vermittlung zu dem Zwecke, die französischen Behörden, gestützt auf Art. 10 des Gerichtsstands Vertrages mit Frankreich vom 19. Juni 1869, zur Uehernahme der v o r m u n d s c h a f t l i c h e n O b s o r g e über einen in Delsberg niedergelassenen f r a n z ö s i s c h e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n , Léon Mo u r e a u, zu veranlassen, welchem das Llegierungsstatthalteramt Delsberg zur Wahrung seiner vermögensrechtliehen Interessen einen außerordentlichen Rechtsbeistand verordnet hatte. Die französische
Regierung lehnte jedoch ihre Intervention ab, weil die französischen Behörden nicht in der Lage seien, mit dieser Angelegenheit von Amtes wegen sich zu befassen, und die Initiative zu den bezüglichen Maßregeln einzig durch die Familie des Moureau ergriffen werden könne.

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10. In Beuggen (Großh. Baden) verstarb A d o l f W e b e r , von Reigoldswil (Baselland), mit Hinterlassung von zwei Schwestern und zwei minderjährigen Schwesterkindern, welche in Reigoldswil heimatberechtigt und daselbst bevormundet waren. Unter den Erben, bezw. ihren Stellvertretern, war in Beuggen eine gütliche Theilung des aus Fahrhabe und Liegenschaften bestehenden Nachlasses vereinbart worden. Die Vormundschaftsbehörde von Reigoldswil verweigerte jedoch die Genehmigung dieser Uebereinkunft und verlangte, die Vermögenstheilung solle in Waldenburg, als am Gerichtsstand der Heimat des Erblassers, vorgenommen werden. Die Justizdirektion von Baselland wandte sich nun an unser Justiz- und Polizeidepartement mit der Anfrage, ob sie mit Aussicht auf Erfolg die Herausgabe des Nachlasses des Adolf Weber, gestützt auf den Freizügigkeitsvertrag zwischen der Schweiz und Baden vom 6. Dezember 1»56 (A. S. V, S. 661), behufs Vertheilung durch die kompetente Behörde ihres Kantons beanspruchen könne.

Es wurde in verneinendem Sinne geantwortet, indem jener Vertrag den Grundsatz enthalte, daß die Nachlaßbehaudlung in dem Lande stattfinden soll, in welchem die Erbschaft liegt. Der Gerichtsstand der gelegenen Sache sei zwar in Art. 6, AI. l, nur für den Prozeßfall ausdrücklich aufgestellt; es dürfe indessen hieraus ohne Weiteres gefolgert werden, daß derjenige Ort, an welchem eventuelle Erbschaftsstreitigkeiten zum Austrag gebracht werden müssen, umsomehr auch für die Liquidation nicht streitiger Verlassenschaften als maßgebend zu betrachten sei, da der Vertrag für alle Fälle gelte, in denen ein Angehöriger des einen Vertragsstaates auf dem Gebiete des andern versterbe oder daselbst Vermögen hinterlasse (vergi. Blumer-Morel, Bd. III. S. 491, u. Entsch. d. B.-G.

IX, S. 513, Erw. 3).

11. In ähnlicher Weise wurde die Behandlung des Nachlasses zweier Schweizerbürger geregelt, welche in der p r e u ß i s c h e n P r o v i n z S a c h s e n , bezw. i m F ü r s t e n t h u m W a l d e c k , verstorben waren. Wir gingen dabei von dem Grundsatze aus, daß in Ermangelung besonderer Verträge das Recht des letzten Wohnortes des Erblassers zur Anwendung komme. Im einen Fall ( H e n g g e l e r ) war dies das preußische Landrecht, wonach zur Bereinigung des Nachlasses eines Verstorbenen dasjenige Gericht kompetent ist, in
dessen Sprengel der Erblasser seinen letzten persönlichen Wohnsitz hatte. Der andere Fall betraf einen Schweizer ( S i m o n O d e r m a t t ) , welcher sich im Jahre 1878 ohne Errichtung eines Ehevertrages in Preußen mit einer Preußin verheiratet, seinen ersten Wohnsitz nach der Eheschließung in Holzhausen, Provinz Westphalen, genommen und später denselben nach Oesdorf,

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Fürstenthum Waldeck, verlegt hatte, woselbst er im Jahre 1889 ohne letztwillige Verfügung, mit Hinterlassung einer Wittwe und einer Tochter, verstarb. Die in diesem Falle entscheidenden Grundsätze faßte ein durch das auswärtige Amt des Deutschen Reiches der schweizerischen Gesandtschaft in Berlin übermitteltes Gutachten folgendermaßen zusammen: ,,Da im Fürstenthum Waldeck gemeines deutsches Recht gilt, und da nach letzterem das bei Ermangelung von Eheverträgen unter Eheleuten durch die Gesetze ihres ersten Wohnsitzes begründete eheliche Güterrecht durch den Umzug derselben in ein anderes Rechtsgebiet keine Umänderung erleidet, da ferner nach einem im Gebiet des gemeinen Rechtes allgemein anerkannten Grundsatz des internationalen Privatrechts die räumliche Herrschaftssphäre der Normen des F a m i l i e n - und E r b r e c h t s sich n i c h t n a c h der S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t , sondern nach dem Wohnsitz des Familienhauptes, bezw. nach dem letzten W o h n s i t z des E r b l a s s e r s r i c h t e t , so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß vermöge dieses Territorialitätsprinzipes die ehegüterrechtlichen Ansprüche der Wittwe Odermatt an den Nachlaß ihres Ehemannes nach den Vorschriften des fast in der ganzen Provinz Westphalen, insbesondere in der Ortschaft Holzhausen geltenden preußischen Gesetzes vom 16. April 1860, betreffend das eheliche Güterrecht in der Provinz Westphalen etc., zu beurtheilen sind. Danach ist die überlebende Wittwe in Ermangelung entgegenstehender letztwilliger Anordnungen ihres Ehemannes befugt, die allgemeine Gütergemeinschaft mit ihren aus der aufgelösten Ehe stammenden unabgefundenen Kindern so lange fortzusetzen, bis sie zu einer andern Ehe schreitet. Auch steht ihr während dieser Zeit bezüglich des gemeinschaftlichen Vermögens das unbeschränkte Verwaltungs- und Verfügungsrecht insoweit zu, als dasselbe durch die Vornahme entgeltlicher Rechtshandlungen ausgeübt wird."

12. Die K a i s e r l i c h D e u t s c h e G e s a n d t s c h a f t wandte sich an uns mit einer Anfrage über die Stellung der verschiedenen Kantone zur B e s t e u e r u n g des Arbeitsverdienstes der nicht im Kanton wohnenden, aber in demselben eine regelmäßige Berufstätigkeit ausübenden Personen, wobei speziell auf die im Kanton S c h a f f h a u s e n geübte Praxis hingewiesen
wurde. Aus dem bei der Regierung dieses Kantons eingeholten Bericht ergab es sich, daß in den Fabriken mehrerer Grenzgemeinden eine erhebliche Anzahl in den badischen Nachbargemeinden wohnender deutscher Reichsängehöriger ihren täglichen Arbeitsverdienst finden, welchen sie gemäß Ait. 16 des schaffhauserischen Steuergesetzes mit Fr. 2--5 versteuern müssen. Einige dieser Arbeiter hatten hiegegen Rekla-

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tnation erhoben, indem sie sich darauf beriefen, sie haben ihren Arbeitslohn auch an ihrem Wohnorte zu versteuern, und es hatte diesbezüglich eine Korrespondenz zwischen dem badischen Ministerium und dem Regierungsrath von Schaffhausen stattgefunden, welche die oben erwähnte Anfrage der Kaiserlich Deutschen Gesandtschaft zur Folge hatte. Wir antworteten der letztern, daß die Doppelbesteuerung im Innern der Schweiz unstatthaft sei, daß dagegen die Verträge mit dem Auslande über diesen Gegenstand nichts enthalten, so daß es den Kantonen zukomme, zu erwägen, inwiefern es konvenire, eine Besteuerungsart, die einer Doppelbesteuerung gleichkommen könnte, durchzuführen oder dieselbe eventuell durch Annahme eines Reziprozitätsverhältnisses mit dem Nachbarstaate aufzuheben.

13. Ein deutscher Reichsangehöriger, Dr. H o c k , welcher vor dem Gericht in Lugano wegen der Anklage auf Verleumdung eines holländischen Offiziers sich zu verantworten hatte, ersuchte uns durch Vermittlung der deutschen Gesandtschaft um Gewährung freien Geleites zur bezüglichen Verhandlung, indem er befürchtete, beim Betreten tessinischen Gebietes auf Grund eines ihn verurteilenden Kontumazialerkenutnisses verhaftet zu werden. Der Staatsrath des Kantons Tessin, welchem wir dieses Gesuch zuleiteten, erwiderte, er könne demselben Angesichts der vom tessinischen Recht aufgestellten absoluten Trennung der richterlichen von der administrativen Gewalt nicht willfahren; er sei jedoch in der Lage, zu erklären, daß Dr. Hock in keiner Weise werde belästigt werden, indem die im Kontumazialverfahren ihm auferlegte Strafe eine sofortige Verhaftung nicht nothwendig zur Folge haben müsse, wenn er sich freiwillig zur Wiederaufnahme des Prozesses stelle. Dagegen habe er sich nach seiner Ankunft in Lugano beim Staatsanwalt um .vorläufige Belassung auf freiem Fuße zu bewerben, welche ihm nicht werde verweigert werden.

14. Für die Behandlung des Nachlasses eines in O e s t e r r e i e h v e r s t o r b e n e n S c h w e i z e r b ü r g e r s war ein Fall von Bedeutung, in welchem ein Bürger von Unterägeri, Kts. Zug, Namens J o s e f B e s m e r , zu Timelkam (Oberösterreich) mit Hinterlassung einer Wittwe und mehrerer minderjähriger Kinder verstorben war.

Die Erbschaft bestand aus einem ziemlich bedeutenden Wirthschafts-, Landwirthschafts- und
Käserei-Betrieb und umfaßte sowohl Immobilien als auch bewegliches Vermögen. Da die Regierung des Kantons Zug unsere diplomatische Vermittlung für die Regelung dieser Angelegenheit in Anspruch nahm, beauftragten wir unsere Gesandtschaft in Wien mit der Einleitung der nöthigen Schritte. Der Bericht der österreichischen Behörden ging dahin, daß nach dortiger

538 Gesetzgebung die Behandlung des in Oesterreich liegenden u n b e w e g l i c h e n N a c h l a s s e s von Ausländern stets den österreichischen Behörden obliege, daß dagegen diejenige des M o b i l i a r v e r m ö g e n s den heimatlichen Behörden des Erblassers überlassen werden könnte. Im Uebrigen erklärte sich das zuständige Gericht bereit, die Regelung des beweglichen Nachlasses gleichfalls zu besorgen, sowie, im Falle dieses Anerbieten angenommen werde, auch die vormundschaftlichen Verhältnisse der Kinder Besmer zu ordnen.

Die zugerisehen Behörden ihrerseits entschlossen sich, mit Rücksicht auf den Umstand, daß die Liegenschaften den Haupttheil des Nachlasses bildeten, und auf die übrigen in casu gegebenen Verhältnisse, sowohl die Regelung der gesammten Verlassenschaft als auch die vormundschaftliche Obsorge über die minderjährigen Kinder den österreichischen Behörden zu überlassen.

15. Ein Offiziersbedienter österreichischer Nationalität, Johann A n d r i s o k , welcher seinen Dienstherrn in einen Militärkurs begleitet hatte, war auf dem Disziplinarweg wegen Trunkenheit mit drei Tagen Arrest bestraft worden. Die k. und k. O e s t e r r e i c h i s c h - U n g a r i s c h e G e s a n d t s c h a f t sah sich veranlaßt, den Fall bei uns anhängig zu machen, indem sie glaubte, Angesichts von Art. 5 des N i e d e r l a s s u n g s v e r t r a g e s zwischen der Schweiz und Oeaterreich vom 7. Dezember 1875 sei Andrisek unrichtig nach dem Militärstrafrecht bestraft worden, und es hätten gegen ihn nur die bürgerlichen Behörden einschreiten können. Wir erwiderten, nach unserer Ansicht finde der angeführte Artikel auf diesen Fall keine Anwendung, indem Andrisek aus freiem Willen seinem Dienstherrn in den Militärdienst gefolgt sei und dadurch der Kasernenordnung, der militärischen Disziplin und der militärischen Gerichtsbarkeit sich unterworfen habe. Das von der Gesandtschaft befürwortete Verfahren sei nicht annehmbar, indem es für Ausländer, welche sieh eines im Militärstrafgesetzbuche vorgesehenen Deliktes schuldig gemacht hätten, thaï sächlich völlige Straflösigkeit zur Folge haben würde.

16. Die kgl. italienische Gesandtschaft wandte sich an uns Namens mehrerer in Piuro (Sundrio) wohnhafter Italiener (P a s i n i und Konsorten), welche in der graubüridnerischen Gemeinde Stampa verschiedene
Grundstücke theils als Eigenthümer, theils als Pächter bewirthschafteten, und sich, gestutzt auf den schweizerisch-italienischen Niederlassungsvertrag vom 22. Juli 1868, darüber beschwerten, daß die Gemeindeversammlung von Stampa die ihnen daselbst zustehenden Gemeinweiderechte in unzuläßiger Weise geschmälert habe, während dagegen die Gemeindegenossen den Anspruch erheben, ihr Vieh wie bisher auch auf die Grundstücke der Besehwerdeführer zu treiben.

539 Die Reklamanten verlangten, entweder zum unbeschränkten Mitgenuß am Gemeinweiderecht zugelassen, oder dann für die von ihnen besessenen Grundstücke auch von der entsprechenden Belastung befreit zu werden.

Wir übermittelten diese Beschwerde der Regierung des Kantons Graubünden als der in Sachen zuständigen Behörde. Diesewies den Rekurs mit Entscheid vom 9. Juni ab, weil die Gemeindenutzungsrechte an die Gemeindeangehörigkeit als solche und nicht an den bloßen Besitz von Grundstücken im Gemeindebezirk geknüpft seien. Es sei daher die den Beschwerdeführern bisher gewährte Mitbenutzung nichts als eine Vergünstigung, auf welche sie keinen Rechtsanspruch haben. Anderseits aber ruhe die Reallast der Getneinweide auf den sämmtlichen im Gemeindebezirk gelegenen Grundstücken und es könnten sich die Beschwerdeführer gemäß den Bestimmungen des graubündnerischen Privatreehtes nur durch Loskauf von der daherigen Verpflichtung befreien. -- Wir beschränkten uns auf Uebermittlung dieses Entscheides an die kgl.

italienische Gesandtschaft, welche sich zu weitern Schritten in dieser Angelegenheit nicht veranlaßt sah.

17. Der minderjährigen E l i s a b e t h a L u i g i a G o ß , von Luserna San Giovanni (Italien), welche sich in Schaffhausen bei ihren mütterlichen Verwandten aufhielt und daselbst gemäß den Bestimmungen der dortigen Gesetzgebung einen Vormund erbalten hatte, war in ihrer Heimat ein Vermächtniß zugefallen. Da die Aushändigung des Betrages an den Vormund von den Heimatbehörden des Mädchens verweigert wurde, ersuchte der Regierungsrath des Kantons Schaffhausen zu diesem Zwecke um unsere Vermittlung bei der italienischen Regierung. Diese antwortete indeß, der in Schaff hausen ernannte Vormund könne in Italien nicht anerkannt werden, indem nach italienischem Recht die Bestellung der Vormundschaft über einen im Auslande befindlichen Staatsangehörigen auf Grund der Bestimmungen des italienischen Civilgesetzbuches erfolgen müsse, wonach durch die kompetente Behörde ein aus den nächsten Verwandten gebildeter Familienrath einzuberufen sei, welchem die Bezeichnung des Vormundes zustehe. Zugleich übermittelte die italienische Regierung eine Reihe von Aktenstücken, woraus sich ergab, daß in Luserna San Giovanni der aus den nächsten väterlichen Verwandten des Mädchens konstituirte Familienrath unter dem
Vorsitz des Präfekten zusammengetreten sei und die Vormundschaft aus zwei Italienern bestellt habe.

18. Ein R u s s e beabsichtigte, die 1869 geborene, von ihrer unehelichen Mutter bald nach der Geburt verlassene E l i s a b e t h

540 F ah r n er, aus Wytikon, Kts. Zürich, zu a d o p t i r e n , und ersuchte uns durch Vermittlung des schweizerischen Generalkonsulats in St. Petersburg um Beschaffung der hiezu noth wendigen Bewilligung der Heimatbehörden des Mädchens. Die Regierung des Kantons Zürich ertheilte diese Bewilligung auf Antrag der zuständigen Unterbehörden, bemerkte aber zugleich, daß nach zürcherischem Recht die Kindesannahme zu ihrer Gültigkeit einer Vollzugserklärung durch den Bezirksrath auf Grund entsprechender, von den Kontrahenten persönlich abgegebener Erklärungen, sowie einer amtlichen Publikation im Kanton Zürich bedürfe. Da indeß eine strikte Erfüllung dieses Requisites infolge der großen Entfernung allzu sehr erschwert schien, so wurden die dem Bezirksrath zugedachten Funktionen dem G e n e r a l k o n s u l a t in P e t e r s b u r g d e l e g i r t , in der Meinung, daß es über den erfolgten Vollzug ein von beiden Kontrahenten unterzeichnetes Protokoll zu Händen der zürcherischen Behörden aufzunehmen hätte, welche dann ihrerseits die erforderliche Bekanntmachung zu veranlassen übernahmen.

19. Im Berichtsjahre wurden von der französischen Botschaft in zwei Fällen von U e b e r t r e t u n g d e r s c h w e i z e r i s c h f r a n z ösisch e n Uebereinkunft b e t r e f f e n d g l e i c h a r t i g e Bestimmungen über die Fischerei in den Grenzgew ä s s e r n die üblichen Protokolle eingesandt, welche wir den kompetenten Behörden zur Verfolgung und Beurtheilung der Thäter übermittelten. Im einen Fall ( B a r t h o u l o t in Goumois) fand eine Verurtheilung des Thäters zu Buße und Kostenersatz statt, während im andern Fall (Plain in la Chaux-de-Fonds) dei- Angeklagte freigesprochen wurde, weil eine Verletzung der Bestimmungen der Uebereinkunft nicht vorliege, und das bloße Fischen ohne Erlaubnis der Ufereigenthümer nach schweizerischem Rechte keine strafbare Handlung bilde. -- Für die Bestrafung sind bekanntlich nunmehr die Artikel 31 bis 33 des Bundesgesetzes betreffend die Fischerei vom 21. Dezember 1888, in Kraft seit \. Juli 1889, maßgebend, wodurch das entsprechende Bundesgesetz vom 18. September 1875 aufgehoben wurde.

20. Unser Justiz- und Polizeidepartement hatte während des Berichtsjahres in 128 Fällen (1889 in 96, 1888 in 113) bei der Vermittlung von R e q u i s i t o r i a l i e n ausländischer
Behörden an schweizerische Gerichte und umgekehrt mitzuwirken. 84 derselben bezogen sich auf Civilangelegenheiten, 44 auf Strafsachen.

Von den s c h w e i z e r i s c h e n Rogatorien waren 18 an Belgien, 14 an Frankreich, 12 an die Vereinigten Staaten von Ame-

541 rika, 7 an Großbritannien, 4 an Oesterreich, 3 an Portugal, je 2 an Spanien, Rußland, Aegypten, Brasilien und Argentinien, endlich je eines an Luxemburg, die Niederlande und an die südafrikanische Republik Transvaal gerichtet. Von den a u s l ä n d i s c h e n Rogatorien anderseits sind 28 aus Frankreich, 15 aus Spanien, 7 aus Rußland, 3 aus Rumänien und je eines aus Oesterreich, Belgien, ·Großbritannien und Bulgarien an uns gelangt.

8 der an ausländische Behörden gerichteten Rogatorien hatten am Schlüsse des Jahres ihre Erledigung noch nicht gefunden.

Die beiden nach A e g y p t e n gerichteten Requisitorien wurden "von den kaiserlich deutschen Konsulaten in Alexandrien und Cairo, welchen wir dieselben durch ihre Regierung in Berlin auf diplomatischem Wege zugehen ließen, vollzogen. Die Kosten beliefen sich auf Fr. 72.

Noch häufig bleibt von den Kantonen unbeachtet, daß nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit Oesterreich und Italien der d i r e k t e V e r k e h r zwischen den beiderseitigen Gerichtsbehörden besteht und es daher der Vermittlung des Bundesrathes zum Vollauge von Requisitorien nicht bedarf. Mit Oesterreich ist die bezügliche direkte Korrespondenz; schon seit 1857 eingeführt (Ullmerl, Nr. 605, litt, e, und Bundesbl. 1857,1, S. 186), und mit Italien ist sie durch Art. HI des Protokolles vom 1. Mai 1869 zu den Verträgen zwischen der Schweiz und Italien vom 22. Juli 1868 (A.

S. IX, S. 757) vereinbart.

21. Das Gesuch der Regierung des Kantons Bern um Vermittlung eines Requisitorials an die holländischen Behörden, wodurch konstatirt werden sollte, daß der bekannte Johann Jakob G o t t i e r sich der W e r b u n g für den holländisch-indischen Kriegsdienst schuldig gemacht hat, mußten wir ablehnen, da Wodurch die holländischen Behörden veranlaßt würden, in einer hierseitigen Strafuntersuchung mitzuwirken, welcher eine Handlung zu Grunde liege, die nach den Institutionen des Königreichs der Niederlande unbedingt gestattet und durch gesetzliche Vorschriften geordnet sei, weßhalb wir eine Abweisung der Vollziehung dieses Requisitorials gewärtigen müßten.

22. Ebenso verweigerten wir der französischen Regierung unsere Beihülfe für den Vollzug eines Rogatoriums in einer Strafsache wegen S c h m u g g e l s , da es uns nicht obliegen kann, »um Schutze der französischen Finanzgesetzgebung
mitzuhelfen, zumal eine gleiche Hülfe auch von den französischen Behörden nicht verlangt werden könnte, und keine Handlung in Frage stand, auf welche der schweizerisch-französische Auslieferungsvertrag Anwen-.

düng findet.

BundesMatt. 43. Jahrg. Bd. II.

35

542 23. Andererseits erklärte die französische Regierung in einem Falle, in welchem durch ein von dem Gerichtspräsidenten zu Bern im Provokationsverfahren erlassenes Requisitorial die Mittheilung verschiedener Akten gewünscht wurde, welche sich in den Händen des in Frankreich wohnhaften Provokaten befinden sollten, daß sie auf dieses Ansuchen nicht eintreten könne, indem es niemals in der Aufgabe der französischen Gerichte sein dürfte, durch Beschaffung von Aktenstücken zur Einleitung eines Prozesses beizutragen. Vielmehr liege es der interessirten Partei oh, auf dem gesetzlichen Wege sich diesfalls an das zuständige französische Gericht zu wenden.

24. Der Bezirksrath Borgen hatte über eine Z ü r c h e r i n , Wittwe Emilie Françoise N ä g e l i - B l a k e m o r e , von Kilchberg, wohnhaft in M a r s e i l l e , wegen Geisteskrankheit staatliche V o r m u n d s c h a f t verhängt. Die Regierung des Kantons Zürich leitete uns den betreffenden Beschluß zu, damit er der Bevormundeten mitgetheilt und an deren Wohnort in geeignetem Wege ö f f e n t l i c h b e k a n n t g e m a c h t werde, wie dieß durch das zürcherische privatrechtliche Gesetzbuch vorgeschrieben sei. Wir ertheilten unserer Gesandtschaft in Paris entsprechende Instruktionen, bemerkten aber zugleich der zürcherischen Regierung, daß die P u b l i k a t i o n der B e v o r m u n d u n g n ich t auf d i p l o m a t i s c h e m und auch n i c h t auf dem durch den V e r t r a g von 1869 für die Vollziehung von Civilurtheilen vorgeschriebenen Wege erfolgen könne, und daß den Bezirksrath Borgen nichts hindere, hierüber von sich aus der schweizerischen Gesandtschaft in Paris direkt die angemessen scheinenden Mitteilungen zukommen zu lassen.

25. Die Zahl der Fälle von H e i m s c h a f f u n g e n v e r l a s sener Kinder, Geisteskranker und solcher Personen, welche der ö f f e n t l i c h e n Wohl t hätigkeit anheimgef a l l e n s i n d , belief sich im Berichtsjahre auf 151 (1889: 131, 1888 : 171) und betraf 191 Personen.

Die Schweiz wurde seitens des A u s l a n d e s um die Heimschaffung von 87 Personen (84 Gesuche umfassend) angegangen, nämlich von 26 verlassenen Kindern, 58 Geisteskranken und 3 Hilfsbedürftigen. Aus Frankreich liefen 70 Gesuche ein, aus Italien 4, aus Deutschland 3, ferner je 2 aus Oesterreich und Rußland und je l
aus Argentinien, Belgien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Von den 87 Personen wurden 8 nicht anerkannt, 69 dagegen als schweizerische Angehörige ermittelt und übernommen; in 3 Fällen wurde das Heimschaffungsbegehren vor Feststellung des Heimatrechtes der betreffenden Personen zurückgezogen und 7 sind pendent geblieben.

543

Die S c h w e i z stellte an das Ausland auf diplomatischem Wege 67 Heimschaffungsbegehren, und zwar 43 an Frankreich, 14 an Italien, 5 an Oesterreich, 3 an Deutschland und je l an Großbritannien und Luxemburg. Dieselben betrafen 27 verwaiste und verlassene Kinder, 28 Geisteskranke und 49 der öffentlichen Wohlthätigkeit Anheimgefallene, zusammen 104 Personen. Davon wurden 82 vom Auslande als Angehörige anerkannt und heimgeschafi'f, während bezüglich 7 Personen die Heimnahme abgelehnt worden ist; betreffend 13 Individuen standen die Erklärungen der fremden Regierungen am Ende des Jahres noch aus. 2 Begehren wurden von den Kantonsregierungen vor Abschluß der Verhandlungen zurückgezogen.

26. Das Begehren urn Heimnahme der in Genf verpflegten geisteskranken E n g l ä n d e r i n T u n s t a l l wurde von der großbritannischen Regierung unter der allgemein geltenden Regel bewilligt, daß dio Kranke auf Kosten der Schweiz bis an die Grenze des Heiinatstaates gebracht werde, nachdem vorher die Zeit ihrer Ankunft in einem englischen Hafen rechtzeitig mitgetheilt worden war, damit die nöthigen Vorkehren für deren Empfangnahme und Versorgung getroffen werden können.

27. Eine Kantonsregierung, welche wünschte, daß eine kranke Angehörige ihres Kantons, deren Heimschaffung von Frankreich verlangt worden, in einer f r a n z ö s i s c h e n A n s t a l t z u r w e i t e r e n V e r p f l e g u n g b e h a l t e n w e r d e n m ö c h t e , erklärte sich bereit, ,,einen angemessenen Beitrag an die bezüglichen Kosten zu leisten". Wir konnten indessen eine solche beschränkte Zusicherung nicht annehmen, da es den Heimatbehörden obliegt, nachdem eine kranke Person von einer bestimmten Gemeinde als Bürger anerkannt worden ist, die Kosten der Verpflegung derselben im ganzen Umfang und nicht nur zu einem Theile zu übernehmen, wenn ihre Heimsehaffung bis auf Weiteres unterbleiben soll und der auswärtige Staat für die fernere Verpflegung besorgt sein will.

28. Die Vormundschaftsbehörde von Huttwyl stellte durch Vermittlung der Regierung des Kantons Bern das Ansuchen, es möchte auf diplomatischem Wege die H e i m s c h a f f u n g der m i n d e r j ä h r i g e n L a u r a Elise S c h e i d e g g e r bei der französischen Regierung veranlaßt werden, indem der Stiefvater und die Mutter, bei welchen das Mädchen sich im
Doubsdepartement aufhält, dasselbe vernachlässigen und daher keine Garantie filicine gute Erziehung desselben bieten. Das Begehren wurde jedoch von der französischen Regierung in der gestellten Form abgewiesen, da eine solche Angelegenheit einzig das zuständige französische

544

Gericht behandeln könne, an welches ein förmliches Dekret der kompetenten schweizerischen Behörde, wonach der Mutter des Mädchens die elterliche Gewalt entzogen und die Verbringung des letztern nach der Schweiz angeordnet wird, zu übermitteln wäre mit dem Gesuche um Vollziehung dieses Beschlusses.

29. Die italienische Regierung verweigerte in einem Falle die Heimnahme einer Mutter und ihrer drei minderjährigen Kinder, welche in der Schweiz der öffentlichen Wohlthätigkeit anheimgefallen waren, weil die Mutter nur vorübergehend erwerbsunfähig erschien und nicht von einer c h r o n i s c h e n Krankheit befallen war (Fall Migliori).

Ein ähnliches Verhältniß gab der kgl. italienischen Gesandtschaft Anlaß zu einer Beschwerde gegen die Verwaltung des Inselspitales zu Bern. Dieselbe hatte nämlich die Verpflegung von momentan erkrankten u n b e m i t t e l t e n Italienern mit der Begründung abgewiesen, daß die Uebereinkunft zwischen der Schweiz und Italien vom 6./15. Oktober 1875 betreffend die gegenseitige unentgeltliche Verpflegung armer erkrankter Angehöriger des andern Staates (A. S. n. F. l, S. 745) nur auf wichtigere Fälle, nämlich ,,nur auf die Fälle vorhandener Transportunfähigkeit a , und nicht auf leicht und vorübergehend Kranke sich erstrecke.

Wir konnten dieser Ansicht, welche auch von der Direktion des Innern des Kantons Bern getheilt wurde, nicht beitreten, da sie im Widerspruch mit der erwähnten Uebereinkunft mit Italien steht. Bei Abschluß derselben hatte man gerade dafür Vorsorge treffen wollen, dal.> jeder Angehörige des andern Staates, der krank wird und ärztlicher Hülfe bedarf, ohne die daherigen Kosten aus eigenen Mitteln bestreiten zu können, diese Pflege sogleich von Anfang an erhält.

Es deutet darauf die Bestimmung in der. fraglichen Uebereinkunft hin, daß diese Verpflegung und ärztliche Behandlung den mittellosen Angehörigen des andern Staates gewährt werden soll ,,gleich den eigenen nothleideoden Angehörigen''1. Es kann aber offenbar ein armer kränkelnder Schweizer von einem Kanton nicht sofort ohne Verpflegung nach seiner Heimat abgeschoben werden, vielmehr ist dessen ärztliche Behandlung an seinem Wohnsitze ohne Weiteres anzuordnen und zu bewilligen. Erst dann, wenn die Krankheit sieh verlängern sollte, könnte die Heimat zur Tragung der dießfälligen Kosten veranlaßt werden
und die Heimschaffung des Kranken erfolgen (vgl. Bundesbl. 1888, II, S. 770, Ziff. 21; 1889, II, S. 725 Ziff. 28).

30. Es gingen uns, sowie uuserra Justiz- und Polizeidepartement im Berichtsjahre aus versehiedeueo Kantonen wiederum eine be-

545 trächtliche Anzahl von Berichten zu über Fälle, in denen s p a n i s c h e S c h w i n d l e r unter der Vorspiegelung, zur Hebung verborgener Summen Hand bieten zu wollen, leichtgläubigen Leuten Geld abzulocken versuchten. Trotz wiederholter Warnungen (siehe Bundesbl. 1885, II, 8. 103; 1886, III, S. 414; 1889, I, S. 144) fanden sich immer noch Personen, welche auf diese Anerbietungen eingingen und dadurch um häufig nicht unerhebliche Summen betrogen wurden. Wir übermittelten eine große Zahl bezüglicher Schriftstücke an unser Generalkonsulat in Madrid und erreichten durch dessen Vermittlung bei der spanischen Regierung die Eröffnung einer Untersuchung gegen die Schwindler, zu deren Durchführung eine Reihe von Requisitorien auf Ansuchen der spanischen Behörden vollzogen wurden. Die Untersuchung blieb jedoch im Wesentlichen erfolglos. Das Generalkonsulat berichtete, daß die Schwindler zu einer weitverzweigten Bande organisirt seien, welche ihre Betrügereien nicht nur auf die Schweiz, sondern auch auf andere Länder ausdehne, und erklärte schließlich, daß, nach seiner Ueberzeugung, weitere Schritte bei den spanischen Behörden nutzlos seien und das einzige Mittel zum Schutze des Publikums im Erlaß geeigneter Warnungen bestehe. Wir mußten Angesichts der vorhandenen Verhältnisse diese Ansicht theilen und forderten wiederholt die Kantonsbehörden zur Veröffentlichung derartiger Warnungen auf, wodurch das Vorgehen der Betrüger zur allgemeinen Kenntniß gebracht und Jedermann von dem Eingehen auf derartige schwindelhafte Anerbietungen dringend abgemahnt wird.

31. Die Organisation des IV. I n t e r n a t i o n a l e n K o n g r e s s e s , f ü r G e f ä n g n i ß w e s e n i n St. P e t e r s b u r g (vgl. unsern letztjährigen Geschäftsbericht, Bundesbl. 1890, II, S. 159) wurde im Frühjahr 1890 dahin festgestellt, daß die Fragen betreffend Strafgesetzgebung, Gefängnißwesen und Präventivmaßregeln gesondert in drei selbstständigen Sektionen diskutirt werden sollten. Da es wünschenswert!! erschien, daß die Schweiz in jeder dieser Sektionen vertreten sei, haben wir Herrn Dr. Guillaume seinem Wunsche gemäß speziell mit der Theilnahme an den Verhandlungen der II. Sektion (Gefängnißwesen) beauftragt, und ferner zwei weitere offizielle Delegirte in der Person der Herren Prof. Dr. Karl Stooß in Bern und Dr. Bernhard
Riggenbach, Strafhausgeistlichen in Basel, bezeichnet.

Der erstere wurde mit Rücksicht auf die ihm übertragenen Vorarbeiten für das schweizerische Strafrecht zu den Beratungen der I. Sektion (Strafgesetzgebung), dele.girt, wahrend Herr Riggenbach die Vertretung der Schweiz in der III. Sektion (Präventivmaßregeln) übernahm.

546

Der Kongreß tagte vom 15. bis 24. Juni 1890 in St. Petersburg, und es wurden eingegangenen Berichten zufolge nicht nur unsere Delegirten, sondern auch die nicht offiziellen schweizerischen Theilnehmer mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen.

32. Im Anschlüsse an den im September 1889 in Genf abgehaltenen internationalen Kongreß der ,,Fédération Britannique" wandte sich das interkantonale Bureau, der ,,Dames de la Fédération" an uns mit einer Eingabe, worin zur wirksameren B e k ä m p f u n g des M ä d c h e n h a n d e l s der Anschluß der Schweiz an den zwischen Oesterreich und den Niederlanden zu diesem Zwecke abgeschlossenen Staatsvertrag, sowie die Erweiterung dieses Vertrags durch Aufnahme von Strafbestimmungen empfohlen wurde. Wir antworteten den Petentinnen, daß unser Justiz- und Polizeidepartement sich mit dieser Frage schon beschäftigt habe und wir nicht ermangeln werden, derselben unsere Aufmerksamkeit zu schenken.

Näheres über diese Angelegenheit findet sich im Bundesblatt 1890, I, S. 942.

VII. Civilstand und Ehe.

1. Die B e r i c h t e einiger kantonaler Aufsichtbehörden ü b e i die I n s p e k t i o n e n d e r Ci vil S t a n d s ä m t e r im J a h r e 1889 haben trotz unserer bezüglichen Bemerkung im letzten Geschäftsbericht (Bundesbl. 1890, II, S. 160) sehr zu wünschen übrig gelassen, indem dieselben immer noch auf die für uns nutzlose bloße Verneinung oder Bejahung der Fragen sich beschränkten, welche in Nr. 51 des ,,Handbuches für die schweizerischen Civilstandsbeamten" zur Wegleitung für die inspizirenden Beamten zusammengestellt sind.

Andere der eingelangten Berichte veranlaßten uns zur Anordnung von SpezialUntersuchungen gegenüber einzelnen Civilstands.beamten.

Drei kantonale Aufsichtbehörden erhoben anläßlich ihrer Berichterstattung Einwände gegen unser K r e i s s c h r e i ben vom 7. Oktober 1889, betreffend die V o r l a g e des G e b u r t s s c h e i n e s zum Z w e c k e der V e r k ü n d u n g (Bundesbl. 1889, IV, S. 245).

Wir haben uns aber, im Hinblick auf den decisiven Wortlaut in Art. 30 des Bundesgesetzes über Civilstand und Ehe f A. S..n. F. I, S. 506), zu einer bezüglichen Abänderung des fraglichen Kreisschreibens nicht veranlaßt gesehen (vergi. ,,Handbuch" Nr. 143 und 144).

2. a. Im Sinne von Art. 60 des Bundesgesetzes über Civilstand und Ehe haben wir die G e n e h m i g u n g e r t h e i l t der

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r e v i d i r t e n V o l l z i e h u n g s v e r o r d n u n g zu genanntem Gesetz für den Kanton S c h a f f h a u s e n (vom 12. März 1890). Der betreffende Entwurf war zuvor in einzelnen Punkten abgeändert worden. Aus den bezüglichen Verhandlungen mit der Regierung des Kantons Schaffhausen heben wir speziell hervor, daß gemäß unserem Vorschlage die Vornahme von T r a u u n g e n zur N a c h t z e i t , Nothfälle vorbehalten, ausdrucklich v e r b o t e n worden ist.

b. Ebenso haben wir eine A b ä n d e r u n g der s o l o t h u r n i s c h e n V o l l z i e h u n g s v e r o r d n u n g zum Civilstandsgesetz (vom 19. Dezember 1890) genehmigt, durch welche die Civilstandsbeamten dieses Kantons angehalten werden, ,,dem Amtsschreiber ,,alle Monate ein Verzeichniß der während dieser Zeit in ihrem Ci,,vilstandskreise Verstorbenen, sowie derjenigen, welche zwar aus,,wärts gestorben sind, aber zur Zeit ihres Todes den Wohnsitz noch ,,in dem Kreise hatten, zuzusenden".

3. Mit Kreisschreiben vom 28. August 1890 haben wir die.

Staatskanzleien sämmtlicher Kantone eingeladen, uns darüber Aufschluß zu geben, ob und in welcher Weise die auf Seite 197 des ,,Handbuches" angegebenen G e b ü h r e n für c i v i l s t a n d s a m t l i e h e A u s z ü g e etc. abgeändert worden seien.

Aus den eingelaufenen Antworten geht hervor, daß seit der Publikation des ,,Handbuches" in den folgenden Kantonen A b ä n d e r u n g e n i m G e b ü h r e n t a r i f stattgefunden haben: L u z e r n (Gesetz vom 1. Dezember 1885), B a s e l - S t a d t (Gesetz vom 23. April 1888), B äse 11 a n d (Taxordnung vom 29. November 1884), S c h a f f h a u s e n (Gebührentarif vom 12. März 1890), T e s s i n , W a a d t (Staatsrathsbeschluß vom 6. Dezember 1881) und G e n f .

Bine S t e m p e l g e b ü h r lastet a u f den C i v i l s t a n d s a k t e n in den nachstehenden Kantonen : B e r n (15 bis 30 Cts.), L u z e r n (10 bis 40 Cts.), S c h w y z (10 Cts.), Zug (15 Cts.), F r e i b u r g (20 Cts.), St. G a l l e n (10 und 25 Cts.), A a r g a u (20 Cts.), Tessin, W a a d t (20 Cts.), W al li s (30 Cts.) und Genf (30 Cts.).

4. Mit Eingabe vom 14. Dezember 1889 hatte der Verband der Civilstandsbeamten im Bezirk Zürich verlangt, wir möchten einer Ungehörigkeit steuern, die darin bestehe, daß von zahlreichen Geistlichen d i e k i r
c h l i c h e n A k t e d e r T a u f e u n d d e r T r a u u n g statt auf besondere Scheine n e b e n o d e r gar in den T e x t d e s b e z ü g l i c h e n C i v i l s t a n d s a k t e s (Geburtsscheines, Ehescheines) b e u r k u n d e t würden.

548 Nachdem wir festgestellt, daß auch in anderen Kantonen eia solches unstatthaftes Verfahren üblich, haben wir die Regierungensämmtlicher Kantone mit K r e i s s c h r e i b e n vom 9. Juni 1890 (Bundesbl. 1890, III, S. 267) eingeladen, die kirchlichen Behörden aufzufordern, entweder selbstständige Trau- und Taufbescheinigungen einzuführen, oder aber für diese Certificate jedenfalls bloß di& l e e r e R ü c k s e i t e des civilstandsamtlichen Geburts- oder Ehescheines zu benutzen. Wir betonten dabei ausdrücklich, daß a u f der Textseite der Civilstandsakte keine anderen Bes c h e i n i g u n g e n angebracht werden dürfen, a l s d i e j e n i g e n d e r Civilstandsbeamten.

5. Die T o d e s u r s a c h e ist nach der bestehenden gesetzliche» Vorschrift (Art. 22, litt, d, des Civilstandsgesetzes) gestutzt auf die Bescheinigung des behandelnden Arztes von den Civilstandsbeamten im Todtenregister einzutragen und ebenso in diejenigen s t a t i s t i s c h e n Auszüge aufzunehmen, welche diese Beamten gemäß Bundesbeschluß vom 17. September 1875 dem eidgenössischen statistischen Bureau einzusenden haben (Bundesbl. 1875, IV, S. 333; ,,Handbuch" Nr. 27).

Dagegen ist aus Gründen, welche der Bundesrath in seinem Kreisschreiben vom 3. März 1876 auseinandergesetzt hat, im Formular VIII der civilstandsamtlichen Auszüge, d. h. in dem F o r m u lar f ü r d i e g e w ö h n l i c h e n A u s z ü g e a u s dem T o d t e n r e g i s t e r ( i m ,,Todtenscheine"), d i e T o d e s u r s a c h e w e g z u l a s s e n (Bundesbl. 1876,1, 8. 514; ,,Handbuch", S. 261 und 262) Mit Rücksicht auf dieses Kreisschreiben haben wir wiederholt Gesuche von Versicherungsgesellschaften, sowie in einem Falle das Verlangen eines zürcherischen Bezirksarztes, es möchten die Civilstandsbeamten ihnen gegenüber zur Bekanntgabe der Todesursache angehalten werden, abschlägig beschieden. Der Civilstandsbeamte hat nicht an Stelle des behandelnden Arztes zu treten.

6. a. Der Bundesrath wird nicht selten bezüglich der durch das Civilstandsgesetz aufgestellten B h e h i n d e r n i s s e u n d E r fordernisse zur Eheschließung als Dispensbehörde angesehen. -- So hat z. B. auch im Berichtjahr eine 15jährige Tochter um Dispensation von der Altersvorschrift ih Art. 27 des genannten Gesetzes nachgesucht.

Da fragliche und alle analogen Bestimmungen
des Bundesgesetzes a b s o l u t " sind, kann auf s o l c h e G e s u c h e selbstverständlich u n t e r k e i n e n U m s t ä n d e n e i n g e t r e t e n werden.

b. Andererseits sind wir in einzelnen Fällen in der Lage gewesen, den A b s c h l u ß v o n Eh en zu v e r h i n d e r n , welche

549

m i t A r t . 28 des Civilstandsgesetzes in d i r e k t e m W i d e r s p r ü c h e gestanden wären, wie z.B. die beabsichtigte Verehelichung eines Wittwers mit einer von dessen verstorbener Frau außerehelich geborenen Tochter.

7. Gemäß Schlußabsatz inden Art. 31 und 37 des Civilstandsgesetzes ist zur Ertheilung des in diesen Artikeln behufs Ermöglichung der V e r e h e l i c h u n g von A u s l ä n d e r n in der S c h w e i z vorgesehenen D i s p e n s e s die Regierung desjenigen Kantons kompetent, in welchem der Eheabschluß nachgesucht wird.

Solche Dispensgesuche sind wiederholt auch an uns gerichtet, jeweilen aber wegen Inkompetenz abgewiesen worden. Das Civilstandsgesetz räumt nämlich dem Bundesrathe diesbezüglich keinEntscheidungsrecht ein und gibt ihm auch nicht den Charakter einer oberen Instanz. Einzig die b e t r e f f e n d e K a n t o n s r e g i e r u n g ist z u r D i s p e n s a t i o n von der in Frage stehenden Anerkennungserklärung b e f u g t , hat aber dafür auch die hieraus resultirende Verantwortlichkeit voll und ganz zu tragen.

8. Art.42 des ,,Reglementes für die Führung der Civilstandsregister" vom 20. Herbstmonat 1881 (A. S. n. F. V, S. 529) und F o r m u l a r XVI (,,Handbuch" S. 169) betreffend die M i t t h e i l u n g von L e g i t i m a t i o n e n vorehelicher Kinder an den H e i m a t o r t des V a t e r s erscheinen insofern miteinander im Widerspruch, als nach Formular XVI ein bezüglicher Eintrag in das Geburtsregister erfolgen soll, während der zitirte Art. 42 des Réglementes vorschreibt, daß keine solche Eintragung stattzufinden habe, sondern daß fragliche Mittheilung bei den Belegen über die Eintragung der Trauung der Eltern zum Register A oder zum Register B aufzubewahren sei.

Die Lücke, welche hier im Hinblick auf vorkommende Bürgerrechtsänderungen vorhanden ist, wird aber ausgefüllt durch die Ausführungen in Nr. 88 des ,,Handbuches". Nach denselben muß bei L e g i t i m a t i o n e n , welche eine B ü r g e r r e c h t s ä n d e r u n g bedingen, immer i m G e b u r t s r e g i s t e r d e s n e u e n B ü r g e r o r t e s e i n e e i g e n e E i n t r a g u n g in der Reihenfolge des Registers B gemacht werden (,,Handbuch", Beispiel Nr. 40). Diese Vorschrift wird bloß dann hinfällig, wenn der Geburtsfall bereits im fraglichen Geburtsregister eingetragen
ist, weil z. B. die Geburt an dem neuen Bürgerort stattgefunden oder die Mutter zur Zeit ihrer Niederkunft daselbst ihren Wohnsitz hatte, in welchen Fällen eine bezügliche Randbemerkung genügt. (Fall Wernli-Merz.)

9. Bei der Feuersbrunst, welche in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1890 einen großen Theil des fr ei b u r g i s c h en Dorfes

550 B r o c zerstört hat, sind mit der Wohnung des dortigen Civilstandsbeamten auch sämmtliche Civilstandsregister (seit 1. Januar 1876) verbrannt.

Soweit diese Register die Jahrgänge 1876 bis und mit 1889 umfaßt hatten, befanden sich gemäß Art. 2 des Civilstandsgesetzes und Art. 12 des freiburgischen Gesetzes vom 20. September 1875 gleichlautende Doppel im Archive des Greyerzer Bezirksgerichtes zu Bulle, so daß es ein Leichtes war, dieselben gemäß früherer Praxis (Bundesbl. 1890, II, 8. 160, Ziff. 3) durch ganz genaue und als solche kenntlich gemachte Kopien zu ersetzen.

Bezüglich derjenigen Beurkundungen dagegen, welche vom 1. Januar 1890 bis zum 28. Juli vorgenommen worden waren, haben wir mit Kreisschreiben vom 23. September 1890 (Bundesbl. 1890, IV, S. 299) die Regierungen der Kantone eingeladen, die Civilstandsbeamten anzuweisen, von allen während jenes Zeitraumes errichteten Civilstandsurkunden, welche in Broc heimatberechtigte oder wohnhafte Personen betreffen, dem dortigen Civilstandsamte Abschriften zukommen zu lassen, 10. a. Zwei S c h e i d u n g s u r t h e i l e d e u t s c h e r G e r i c h te, welche uns behufs Eintragung in den Eheregistern schweizerischer Civilstandsämter auf diplomatischem Wege zugeleitet worden waren, sind durch Vermittlung der betreffenden Kantonsregierung zur Vormerkung gelangt.

b. Andererseits sind zwei S c h e i d u n g s u r t h e i l e s c h w e i z e r i s c h e r G e r i c h t e , betreffend E h e n , welche in F r a n k r e i c h z w i s c h e n S c h w e i z e r n u n d F r a n z ö s i n n e n eingegangen worden waren, durch Vermittlung unserer Gesandtschaft in Paris in den Civilstandsregistern am Trauungsorte in F r a n k r e i c h v o r g e m e r k t worden.

11. Unser Kreisschreiben vom 21. Dezember 1889 (Bundesbl.

1889, IV, 1339), betreffend die E r le i e h t e r u n g d e r E h e s c h l i e ß u n g v o n D e u t s c h e n i n d e r S c h w e i z , hatte, trotz der an die S o n d e r s t e l l u n g von B a y e r n erinnernden Notiz in unserem Geschäftsbericht für das Jahr 1889 (Bundesbl.

1890, II, 164, Ziff. 13), eine Kantonsregierung zu einer etwas zu freien Behandlungsweise derartiger Verehelichungsgesuche veranlaßt.

Wir haben die fragliche Regierung deßhalb darauf aufmerksam gemacht, daß bezüglich der Eingehung von Ehen seitens Angehöriger
des deutschen Reiches in der Schweiz neben den Vorschriften unseres Bundesgesetzes von 1874 die von der Bundesversammlung ratiflzirte Uebereinkunft vom 4. Juni 1886 (A. S. n. F. IX, 93)

551 maßgebend ist, und daß der Inhalt dieser Uebereinkunft durch das erwähnte Kreisschreiben vom 21. Dezember 1889 nicht abgeändert werden konnte, noch wollte.

In Art. 2 dieser Uebereinkunft ist nun aber ausdrücklich vorbehalten, daß die beiderseitigen Angehörigen, falls, dies in ihrer Heimat oder an dem Orte der Eheschließung gesetzlieh vorgeschrieben ist, eine Bescheinigung ihrer zuständigen Landesbehörde darüber vorlegen müssen, daß der Abschließung ihrer Ehe nach dem bürgerlichen Rechte der Heimat kein bekanntes Hinderniß entgegensteht. Die Tragweite dieses Vorbehaltes ist in unserem Kreisschreiben vom 27. August 1886 (Bundesbl. 1886, III, 56) näher ausgeführt und dabei namentlich auch mit Rücksicht auf B a y e r n darauf hingewiesen worden, daß diesem Staate vermöge der Reichsverfassung ein Reservatrecht zusteht, welches auch auf das Eherecht hinübergreift und diesbezüglich in dem bayerischen Gesetz vom 16, April 1868, resp. 23. Februar 1872, betreffend Heimat, Verehelichung und Aufenthalt, durch die Vorschrift geregelt ist, daß die rechtsrheinischen Bayern bei der Eheschließung, gleichviel ob die Ehe im lalande oder im Auslande eingegangen wird, neben dem Verkündsehein ein V e r e h e l i c h u n g s z e u g n i ß nöthig haben, und daß die ohne dieses Zeugniß geschlossene Ehe so lauge ungültig ist, als dasselbe nicht nachträglich beigebracht wird.

Dieses Rechtsverhältnis hat durch unser Kreisschreiben vom 21. Dezember 1889 keine A'enderung erlitten. Letzteres hat lediglich den Zweck, die Eheschließung der auf schweizerischem Gebiete sich aufhaltenden deutschen Staatsangehörigen zu erleichtern und den Kantonsregierungen eine milde Beurtheilung der thatsächlichen Verhältnisse, sowie eine freie Anwendung des Dispensationsrechles zu empfehlen. Selbstverständlich aber liegt es im Sinne dieses Kreisschreibens, daß überall da, wo nach der Gesetzgebung des deutschen Heimatstaates der Deutsche eine Bewilligung (Zeugniß) zur Ehe, nöthig hat, diese auch gemäß Art. 2 der Uebereinkunft vom 4. Juni 1886 beigebracht werden muß.

12. Verschiedenen Spezialfällen, welche auf dem Beschwerdeweg an uns gelangten, ist zu entnehmen, daß Gesuche um V e r k ü n d u n g von in der Schweiz wohnhaften b a d i s c h e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n in d e r e n H e i m a t o r t nur ;dann vollzogen werden, wenn
die Verkündung am Orte des letzten ständigen Aufenthaltes des Betreffenden in Baden bereits erwirkt, ist.

13. Unser G e n e r a l k o n s u l a t in L i s s a b o n hatte anläßlich des dort erfolgten Todes einer Schweizerin von sich aus die Todesbeurkundung vorgenommen.

552

Wir haben aber das genannte Generalkonsulat darauf aufmerksam gemacht, daß, wie die Erwahrung von Geburts- und Todesfällen, so auch der Abschluß von Ehen lediglich Sache der kompetenten portugiesischen Lokalbehörden sei, sowie daß für den Bundesrath vorläufig k e i n e G r ü n d e vorliegen, i m S i n n e v o n A r t . 13 des schweizerischen Civilstandsgesetzes f ü r das Königreich P o r t u g a l b e s o n d e r e M a ß r e g e l n im Interesse der dortigen Schweizer zu treffen.

lé. Mit der s p a n i s c h e n Regierung haben wir die Vereinbarung getroffen, daß C i v i l s t a n d s a k t e , welche auf d i p l o m a t i s c h e m W e g verlangt werden, g e g e n s e i t i g k o s t e n f r e i verabfolgt werden sollen.

15. In B r a s i l i e n ist laut Mittheilung unseres dortigen Generalkonsulates durch Dekret vom 24. Januar 1890 die C i v i l e h e eingeführt und durch ein weiteres Dekret vom 26. Juni jegliche religiöse Trauung vor Vollzug der Civiltrauung unter Strafandrohungverboten worden.

16. Am 24. Juni 1890 ertrank bei der Einmündung des Baches von Grandchamp in den Lemansee der zu V i l l e n e u v e wohnhaft gewesene Emanuel Gottlieb F l e u t i von S a a n e n . Der Leichnam konnte nicht aufgefunden werden.

Gestützt auf die von dem Friedensrichter des Kreises Villeneuve geführte Untersuchung erfolgte am 1. August 1890 durch die waadtländische Anklagekammer die Todeserklärung.

Bezüglich der Eintragung dieser Erklärung stellte die waadtländische Aufsichtbehörde in Civilstandssachen sieh auf den Boden von Nr. 106 des ,,Handbuches" und wollte dieselbe deßhalb in die Todtenregister B. der Kreise Villeneuve und Saanen veranlassen.

Die bernische Behörde dagegen berief sich auf Nr. 107 des ,,Handbuches"-, nach welcher an Hand des erwähnten gerichtlichen Erkenntnisses die Beurkundung des Todes von Fleuti zunächst in dem Kreise Villeneuve, wo das Unglück sich ereignet, in das Todtenregister A erfolgen müsse, worauf der dortige Civilstandsbeamte nach Art. 5, litt. 6, des Civilstandsgesetzes über diesen Todesfall Mittheilung nach Saanen zu machen habe.

Wir haben die letztere Ansicht für die richtige erklärt, da offenbar hier keine Todeserklärung über eine ab w e s e n d e Person im Sinne von Nr. 106 des ,,Handbuches" vorliegt, sondern einer derjenigen Fälle, die allerdings bei Erlaß des Civilstandsgesetzes nicht alle vorgesehen werden konnten, für welche aber Nr. 107 des ,,Handbuches" alle nöthigen Direktionen enthält.

553 17. Ein Kind, welches eine Bürgerin von O b e r e g g (Innerrhodenj zu Lebzeiten ihres von ihr faktisch getrennî lebenden ersten Ehemannes geboren hatte, war von dem Civilstandsbeamten zu Oberegg fälschlich als uneheliches Kind dieses Mannes auf dessen Namen eingetragen worden. Bei der Geburtsanzeige hatte ein Bürger von E n n e n d a (Glarus") sich als Vater bekannt. Als nach dem Ableben des ersten Ehemannes die Eltern des Kindes sich heiratheten, merkte der gleiche Civilstandsbeamte dasselbe ohne Weiteres als per subsequens matrimonium legitimirt vor. Hiergegen erhoben die Behörden des Kantons Glarus Einsprache.

Unter Hinweis auf die Nummern 61, 62 und 63 des ^Handbuches" luden wir die Regierung von Innerrhoden ein, die Rektifikation dieser beiden irrthümlichen Beurkundungen zu veranlassen.

Die Regierung antwortete wörtlich : ,,Unsererseits gedenken wir .,,derart vorzugehen, daß wir als kantonale Aufsichtbehörde dem ,,Civilstandsbeamten zu Oberegg die Weisung zugehen lassen, er ,,möge, da ein offenbarer Irrthum vorliegt, das fragliche Kind als ,,ehelichen Sohn des ersten Gatten eintragen. Als Randbemerkung ,,habe er, weil der zweite Gatte sich freiwillig als Vater dieses ,,Kindes erklärt hat und hierfür die Legitimationsbeurkundung ausgestellt worden ist, dieses uneheliche Kind als Sohn des zweiten ,,Ehegatten einzutragen.a Dem gegenüber mußten wir darauf aufmerksam machen, daß, bevor der zweite Ehegatte das fragliche Kind legitimiren könne, dasselbe durch Urtheil des kompetenten Richters unehelich erklärt sein müsse.

Ein sachbezügliches Urtheil erfolgte sodann in der That auf Veranlassung der Regierung durch das Kantonsgericht von Inneri-hoden.

Die Behörden von Glarus verweigerten aber diesem Urtheil ihre Anerkennung, indem bloß der frühere Ehemann oder dessen Erben auf Unehelicherklärung zu klagen berechtigt seien.

Wir haben eine weitere Intervention in dieser Angelegenheit abgelehnt und die Parteien, indem ein Burgerrechtsstreit zwischen zwei Gemeinden verschiedener Kantone vorliege, an das Bundesgericht gewiesen (Art. 110, letzter Absatz, der Bundesverfassung und Art. 27, letzter Absatz, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, A. S. n. F. I, S. 32 u. 143).

18. a. Eine. A n g e h ö r i g e des K au t o n s S c h w y z , deren Ehemann seit zirka 10 Jahren unbekannt abwesend, hatte einen von ihr in Zürich geborenen Knaben daselbst als ehelich eintragen lassen.

554 Auf die Einfrage des Civilstandsamtes Gersau, von wem und bei welchem Richter auf Unehelicherklärung des fraglichen Kindes zu klagen sei, haben wir uns dahin geäußert, daß in Abwesenheit des Ehemannes nach unserer Ansicht dessein Heimatgemeinde oder auch aus öffentlich-rechtlichen Gründen die Staatsanwaltschaft des Kantons Schvvyz die Klage anheben könne, sowie daß uns der Gerichtsstand im Kanton Schwyz begründet erscheine, woselbst der fragliehe Knabe zur Zeit heimatberechtigt und wohnhaft sei.

6. In einem ähnlichen Falle, in welchem die Anhebung der Klage auf Unehelicherklärung eines im Geburtsregister zu N e t s t a l (Glarus) als ehelicher Sohn eines gerichtlich geschiedenen S c h w y z e r s eingetragenen Knaben und dessen Legitimation durch den zweiten Ehemann seiner Mutter (einen Z ü r c h e r ) in Frage kam, haben wir uns ebenfalls für deu Gerichtsstand am damaligen Heimatorte des Knaben, also im Kanton Schwyz, ausgesprochen.

In beiden Fällen konnte es sich selbstverständlich bloß um eine Ansichtäußerung, nicht aber um eine direkte Weisung handeln, da wir zu einer solchen uns nicht kompetent hielten.

19. Anläßlieh der Verehelichung eines Bürgers des Kantons B äs e i l and mit einer Elsäßerin war die L e g i t i m a t i o n eines vorehelich geborenen Knaben u n t e r l a s s e n worden. Nachdem die Mutter bereits gestorben war, wollte der Vater den Legitimationsakt nachholen.

Auf die Einfrage der kantonalen Aufeichtbehörde, ob der Tod der Mutter dem Legitimationsakte nicht hindernd im Weg stehe (Art. 37 des Réglementes für die Führung der Civilstandsregister), haben wir, unter Hinweis auf Art. 18 deis Civilstandsgesetzes und Art. 54 der Bundesverfassung, geantwortet, daß die Legitimation vorehelicher Kinder durch die nachfolgende Verehelichung ihrer Bitern i p s o j u r e eintrete, daß also auch im gegebenen Fall dem fraglichen Knaben das Recht auf den formellen Legitimationsakt nicht wegen des Todes der Mutter in Frage gestellt werden dürfe.

20. Eine t e s s i n i s c h e Gemeindebehörde hatte einem ihrer Bürger, welcher sich im Kanton Neuenburg zum zweiten Mal ver. ehelichen wollte, s t a t t des v e r l a n g t e n G e b u r t s s c h e i n e s den Rath ertheilt, seine Aufführung in erster Ehe zu überdenken und sodann jeden weiteren Schritt zum Zweck seiner Wiederverehelichung
zu unterlassen, da er selbst zur Einsicht kommen müsse, daß er auch in zweiter Ehe kein guter Gatte noch Vater sein werde.

Auf eingelangte Besehwerde hin haben wir sofortige Verabfolgung des Geburtsaktes veranlaßt.

555 21. Das Civilstandsamt U n t e r s t a m m h e i m hatte gegen eine beabsichtigte Eheschließung eine E i n s p r a c h e angenommen, welche von der angeblichen früheren Verlobten des Ehekandidaten w e g e n S c h w ä n g e r u n g durch denselben geltend gemacht worden war.

Im Hinblick auf Art. 34 des Civilstandsgesetzes, nach welchem jede Einsprache, die nicht auf eine der in den Art. 26, 27, 28 und 48 dieses Gesetzes enthaltenen Vorschriften sich stützt, von Amtes wegen zurückzuweisen ist, haben wir das genannte Civilstandsamt unter Ertheilung einer ernstlichen Rüge angewiesen, den Eheabschluß, da gesetzliche Einsprachen nicht vorlagen, ohne Weiteres vorzunehmen.

22. In dem aargauischen Civilstandskreis W o h l e n war im September 1888 g e g e n e i n e V e r kil n d ü n g von dem Gemeinderathe des Heimatortes des Bräutigams E i n s p r a c h e erhoben worden, welche a b e r in F o l g e A b s t a n d e s durch Urtheil des Bezirksgerichtes Bremgarten im Februar 1890 als h i n f ä l l i g e r k l ä r t wurde.

Gestützt auf den Umstand, daß der Bräutigam in der Zwischenzeit 12 Monate lang in kantonalen Zwangsarbeitsanstalten untergebracht gewesen sei, so daß die Trauung fraglicher Ehe, auch wenn ein Einspruch nicht erfolgt wäre, innerhalb 6 Monaten von der stattgefundenen Eheverkündung an ohnehin nicht hätte vor sich gehen können, hatte die kantonale Aufsichtbehörde im Mai 1890 entschieden, daß die Verkündung nochmals vorgenommen werden müsse.

Da aber für die Berechnung der in Betracht kommenden sechsmonatlichen Frist in Art. 36 des Civilstandsgesetzes (,,Handbuch" Nr. 179) einzig der Termin in Betracht kommen kann, an welchem die gegen fraglichen Eheabschluß erhobene Einsprache rechtskräftig abgewiesen, resp. vom Einsprecher zurückgezogen worden ist, so haben wir auf geführte Beschwerde hin den Entscheid der kantonalen Aufsichtbehörde als verfrüht aufgehoben.

23. Ein s c h w y z e r i s c h e r Civilstandsbeamter hatte eine Trauung vorgenommen, während die V e r k ü n d u n g am H e i m a t o r t d e r B r a u t u n t e r b l i e b e n war.

Die in Folge dessen von dem schwyzerischen Departement» des Innern uns vorgelegten Fragen, ob diese Verehelichung al& gültig abgeschlossen betrachtet werden könne und ob eventuell die Verkündung am Heimatort der Braut nachträglich noch anzuordnen sei, haben wir dahin beantwortet, daß einerseits ein Eheabschluß Mangels der Verkündung am Heimatort der Braut an keiner Stelle

556

·des Civilsrandsgesetzes mit Ungültigkeit bedroht sei, weßhalb auch andererseits eine nachträgliche Verkündung an fraglichem Ort keinen praktischen Zweck hätte (,,Handbuch" Nr. 176 und 225); «in positiver Entscheid über die Gültigkeit der Eheschließung müsse übrigens dem kompetenten Richter vorbehalten bleiben.

Von einer Anwendung der Strafbestimmungen des Civilstandsgesetzes gegen den betreffenden Civilstandsbeamten haben wir abgesehen, da derselbe durchaus bona fide gehandelt hatte.

24. Ein u n g a r i s c h e r R e f r a k t ä r hatte am 1. April 1887 von dem Staatsrathe des Kantons G e n f,' gestützt auf geleistete Kaution und unter der Bedingung, sich naturalisiren zu lassen, zum Zwecke seiner Verheirathung mit einer Französin den im Schlussabsatz von Art. 37 des Civilstandsgesetzes vorgeseheneu Dispens erhalten. Derselbe ließ dann aber in Genf bloß die Verkündung .seiner Ehe erfolgen, zum Zwecke der Trauung dagegen vom dortigen Civilstandsbeamten an denjenigen in L u g a n o die Ermächtigung im Sinne von Absatz 3 des zitirten Artikels ausstellen. Die Trauung fand in der That am 18. März 1888 zu Lugano statt.

Selbstverständlich wurde diese Ehe in Ungarn weder kirchlich noch bürgerlich anerkannt. Wir luden.deßhalb, um einem Heimatlosenfall vorzubeugen, den Staatsrath von Genf zur Beförderung der noch nicht nachgesuchten Naturalisation fraglicher Eheleute ein.

-- Den Einwand der genannten Behörde, diese Angelegenheit berühre sie nicht, da die Trauung auf dem Gebiet des Kautons Tessin stattgefunden, haben wir mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, d a ß i n s o l c h e n F ä l l e n d e n j e n i g e n K a n t o n d i e Verantwortlichkeit trifft, von dessen Behörden die B e w i l l i g u n g z u r T r a u u n g a u s g e g a n g e n ist (vergi. ,,Handbuch" Nr. 182 und 183).

25. Am 7. Juni 1873 verehelichte sich zu I t a p e t i n i n g a (Brasilien) der Waadtländer François J o ë l mit einer dortigen Bürgerin, obschon er am 24. September 1868 bereits zu M o r g e s eine Ehe eingegangen war und letztere noch zu Recht bestand.

Um nach Art. 51 des Civilstandsgesetzes die N i c h t i g k e i t der fraglichen z w e i t e n E h e betreiben zu können, bedurfte die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt einer authentischen Bescheinigung der kompetenten brasilianischen Behörde, daß auch in Brasilien
Personen, welche schon verheirathet sind, keine weitere Ehe gültig eingehen können (Art. 54 des Civilstandsgesetzes).

Durch Vermittlung unseres Generalkonsulates in Rio de Janeiro haben wir eine solche Bescheinigung erhalten, ausgestellt vom bra-

silianischen Justizministerium. In derselben ist konstftirt, daß nach Art. 249 des brasilianischen Strafgesetzbuches (vom 8.Januar 1831) Doppelehe mit Zuchthaus bis auf 6 Jahre und einer der Zeithälfte entsprechenden Geldbuße bestraft wird und daß nach dem brasilianischen Gesetz vom 24. Januar 1890, durch welches die Civilehe eingeführt worden ist, die Wiederverehelichung vor Auflösung der ersten Ehe mit Nichtigkeit bedroht ist.

26. Eine R u s s i n h a t t e im Jahre 1886 d u r c h den e n g lischen K o n s u l zu Genf mit einem E n g l ä n d e r sich e h e l i c h v e r b i n d e n l a s s e n . Vom Standpunkte des englischen Gesetzes aus war der fragliche Konsul hierzu kompetent, selbstverständlich aber nicht nach schweizerischem Eherecht (vergi. Bundesbl. 1888, II, 8. 694). Die Bestimmungen des letzteren waren dabei ganz außer Acht gelassen worden. -- Gestützt hierauf hatte die durch diese Verbindung nach englischem Recht englische Staatsangehörige gewordene Frau im Jahre 1889 bei dem Civilgericht der Stadt Genf eine K lag e auf Nichtigkeit fraglicher Ehe eingereicht und zu deren Unterstützung nachgewiesen,..dassS nach russischer Ehegesetzgebung diese Ehe ungültig sei und sie ihres russischen Bürgerrechtes nichthabee verlustig machen können. Die Klage war jedoch mit der Begründung abgewiesen worden, ,,daß ,,diese Ehe nach schweizerischem Recht gar nicht existire, weß,,halb gemäß schweizerischem Gesetz g a r keine Mit Rücksicht auf Art. 56 des Civilstandsgesetzes, sowie auf die Thatsache, daß die englischen Behörden die in diesem Artikel verlangte Zusicherung der Anerkennung des schweizerischen Urtheils verweigern (vergi. Bundesbl. 1890, II, S. 165, Z. 15), haben wir auf gestellte prinzipielle Eintrage dahin uns ausgesprochen, daß es für ein schweizerisches Gericht nach unserer Ansicht keine Möglichkeit gebe, im konkreten Fall eine Scheidungs- oder Nichtigkeitsklage anzunehmen.

27. Auf Ansuchen des Herrn E m a n u e l C o r r a g i o n i d ' O r e 11 i in L u z e r n erließ der Vorsteher des luzernischen Departementes des Gemeindewesens, welchem die Aufsicht über das Civilstandswesen im dortigen Kanton, unter Vorbehalt endgültiger Entscheidung des Regierungsrathes in Beschwerdefällen, zusteht, am 9. November 1883 die Verfügung, es seien die Geburtseintragungen der beiden Söhne des Gesuchstellers
in dem beim Civilstandsamt Luzern liegenden Exemplar des früheren Geburtsregisters in dem Sinne zu ,,berichtigen", daß der Familienname umgestellt, d. h. statt ,,Corragioni d'Orelli", wie die Eintragung lautete, ,,d'Orelli Corragioni" Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

36

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geschrieben werde. Diese Weisung wurde vom Civilstandsbeamten von Luzern am 12. November 1883 vollzogen, indem derselbe bei den Geburtseintragungen Nr. 112 vom Jahre 1861 und Nr. 92 von 1862 die Randbemerkung machte: ,,Laut Weisung des Departementes des Gemeindewesens vom 9. November 1883 soll der Geschlechtsname dieses Kindes heißen: ,,d'Orelli Corragioni", und nicht: ,,Corragioni d'Orelli"'. Der Vater der Söhne, deren Familiennamen in dieser Weise umgestellt wurde, ist als ,,Emanuel Corragioni d'Orelli"1 im bürgerlichen Civilstandsregister eingetragen, eine18655 geborene Tochter desselben dagegen unter dem Namen ,,d'Orelli Corragioni".

Gegen dieses Vorgehen der luzernischen Civilstandsbehörde beschwerte sich die seit 1784 als Korporation organisirte Familie von Or e l i i in Zürich, zuerst (1 886) bei dem Ortsbürgerrath der Stadt Luzern, hierauf, als der Ortsbürgerrath es ablehnte, in die Sache einzutreten, (1887) bei dem Regierungsrath des Kantons Luzern.

Der luzernische Regierungsrath faßte jedoch am 21. März 1889 die Entscheidung, die Familie von Orelli in Zürich sei von der administrativen Instanz ab- und an den Civilrichter gewiesen.

Mit Eingabe vom 29. Mai 1889 erhob Herr Prof. Dr. Meili in Zürich für die Familie von Orelli gegen diesen Regierungsbeschluß eine Rekursbeschwerde bei dem Bundesrathe.

Die Rekursklage richtete sich gegen Herrn Emanuel Corragioni d'Orelli und dessen zwei Söhne Dr. Karl Corragioni d'Orelli, schweizerischen Vizekonsul, in London, und Dr. Emanuel Corragioni in Bern, als Gegenpartei, und bezeichnete als Gegenstand der Beschwerde die ,,Usurpation eines Namens" ; sie wurde sowohl der rekursbeklagten Partei, als auch der Regierung des Kantons Luzern und dem Vorsteher des luzernischen Departementes des Gemeindewesens, zur Beantwortung zugestellt.

Die Regierung beharrte auf ihrem Standpunkte und bestritt die Kompetenz des Bundesrathes zur Behandlung der Sache; der Vorsteher des Gemeindedepartementes dagegen wollte, wie er schon dem Regierungsrath vor dessen Entscheid vom 21. März 1889 beantragt hatte, die Départemental Verfügung vom 9. November 1883 als i r r i g zurückziehen und die angeordnete Aenderung der Geburtseintragungen der Söhne des Herrn E. Corragioni d'Orelli nichtig erklären, gestützt auf die Erwägung, daß das Departement sich bei seiner Verfügung mit
Bezug auf die Beweiskraft der ihm von E. Corragioni d'Orelli vorgelegten Urkunden, insbesondere hinsichtlich eines Bürgerbriefes von 1680, im Irrthum befunden habe.

Die Sache der Rekursbeklagten vertrat Herr Fürsprech Dr. J.

Zemp in Luzern.

559

Nachdem ein doppelter Schriftenwechsel der Parteien stattgefunden hatte und von diesen auch mehrere Vertreter der Rechtswissenschaft veranlaßt worden waren, sich gutachtlich über die Streitsache au äußern -- wobei Herr Professor Dr. Friedrich von Wyß in Zürich den Standpunkt der Rekursbeklagten guthieß, die Herren Professoren Dr. A. Sehneider in Zürich, Dr. J. Kohler in Berlin und Dr. P. Lahand in Straßburg dagegen zu Gunsten der Rekursklage sich aussprachen --, erledigte der Bundesrath am 19. Mai 1890 den Gegenstand durch eine Entscheidung, welche wir mit ihrer Begründung hier in extenso mittheilen zu sollen glauben.

Die Erwägungen des bundesrätlilichen Beschlusses lauten: I. In Betreff der K o m p e t e n z des B u n d e s r athes zur B e h a n d l u n g der Suche.

1.

Die -Kompetenz des Bundesrathes, über die vorliegende Streitsache eine Entscheidung zu fassen, wird von der rekursbeklagten Partei unter Hinweis auf den Wortlaut von Art. 12 des Bundesgesetzes vom 24. Dezember 1874 betreffend Feststellung und Beurkundung des Civilstandes und die Ehe*) bestritten.

*) Art. 12 des angeführten Gesetzes lautet in der deutschen amtlichen Ausgabe der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft : ,,Art. 12. Die Civilstandsbeamten sind für ihre Pflichterfüllung ihren kantonalen Behörden verantwortlich, welche ihnen nach Maßgabe dieses Gesetzes die nöthigen Instruktionen ertheilen. Die Kantonsregierungen sind verpflichtet, über die Amtsführung der Civilstandsbeamten alljährliche Inspektionen anzuordnen und über deren Ergebnisse dem Bundesrathe Bericht zu erstatten. Derselbe ist befugt, da, wo sich Mängel oder Uebelstände erzeigen, nach Erforderniß einzuschreiten und gegebenen Falles auf Kosten des betreffenden Kantons das Nöthige anzuordnen. Der Bundesrath ist ferner befugt, besondere Inspektionen vornehmen zu lassen."

In der französischen Ausgabe hat Art. 12 folgende Fassung : ,,Art. 12. Les officiers de l'état civil sont responsables de l'accomplissement de leurs devoirs envers les autorités cantonales, qui leur donnent les instructions nécessaires en conformité de la présente loi.

Le$ Gouvernements cantonaux sont tenus d'ordonner des inspections annuelles sur la gestion des officiers de l'état civil et d'adresser au Conseil fédéral un rapport sur le résultat de ces inspections.

En cas d'irrégularités ou d'abus, le Conseil fédéral a le droit d'intervenir et d'ordonner, aux frais des Cantons, telle mesure qu'il juge nécessaire.

Le Conseil fédéral est en outre autorisé à faire procéder à des inspections spéciales."

In dem vom schweizerischen Departement des Innern 1881 herausgegebenen ,,Handbuch für die schweizerischen Civilstandsbeamten" ist der Artikel der Eintheilung des Stoffes, wie sie sieh im französischen Texte findet, entsprechend abgedruckt.

560 Nach der Auffassung dieser Par tei begründet die angefühlte Gesetzesbestimmung nicht ein Rekursrecht von Privatpersonen sondern unterstellt die Amtswaltung im Givilstandswesen bloß i m A l l g e m e i n e n der Oberaufsicht dos Bundes das dem Bundesrathe nach Art. 12 des Gesetzes zustehende Recht der Intervention bezieht sich nach der Meinung der Rekursgegner ,,nicht auf einen einzelnen, der Weisung der kantonalen Aufsichtbehörde konform vorgenommenen Eintrag, sondern auf umfassendere, allgemeinere Uebelstände in der Amtsführung".

Diese Auffassung muß als eine irrige bezeichnet werden.

Es ist zwar zuzugeben, daß der deutsche Text des Gesetzes die drei Gedankenreihen, aus welchen der Inhalt des Art. 12 besteht, nicht so entschieden hervortreten läßt, wie der französische, indem jener dieselben in unmittelbarer Aneinanderreihung, ohne trennenden Absatz, bringt, wahrend dieser in drei Absätzen folgende Eintheilung des Stoffes aufweist: 1) Verantwortlichkeit der Civilstandsbeamten gegenüber den kantonalen, mit der Ertheilung der nöthigen Instruktionen betrauten Behörden ; 2) Verpflichtung der Kantonsregierungen zur Anordnung alljährlicher Inspektionen über die Amtsführung der Civilstandsbeamten und zur Berichterstattung an den Bundesrath über die Ergebnisse der Inspektionen; 3) Befugniß des Bundesrathes, gegen Uebelstände und Mängel nach Erforderniß einzuschreiten, gegebenen Falles auf Kosten eines Kantons das Nöthige anzuordnen und überdieß besondere Inspektionen vornehmen zu lassen.

Allein es wäre verfehlt, wenn aus dieser äußeren Ordnung des Stoffes im deutschen Gesetzestexte gefolgert, werden wollte, die Intervention des Bundesrathes dürfe, abgesehen von den seltenen Fällen besonderer eidgenössischer Inspektionen, nur im Anschlüsse und auf Grund der Inspektionsberichte der Kantonsregierungen und nicht auch außerhalb dieses Rahmens, von Fall zu Fall und aus Anlaß der Beschwerdeführung einer Privatperson, erfolgen. Eine solche Auslegung des Gesetzes würde die Bundesaufsieht in ungebührlichem Maße einschränken, ja dieselbe unter Umständen zu einer völlig illusorischen machen, und sie wäre mit der dem Bundesrathe durch Verfassung und Gesetz angewiesenen Stellung geradezu unverträglich.

Auf Grund des Art. 53 der Bundesverfassung, welcher die Feststellung und Beurkundung des Civilstandes als
Sache. der bürgerlichen Behörden erklärt und die Bundesgesetzgebung anweist, hierüber die näheren Bestimmungen zu treffen, und gestützt auf die positiven Vorschriften des Gesetzes selbst, insbesondere die Artikel 2, 12 und 60 desselben, hat der Bundesrath von jeher die Anwendung

561

des Bundesgesetzes vom 24. Dezember 1874 durch die Kantone seiner steteu Aufsicht und Kontrole unterstellt.

Es ist denn auch niemals und von keiner Seite bestritten worden, daß das Civiistandswesen ein der Bundesaufsicht unterworfener Zweig der Kantonal Verwaltung ist, auf welchen Art. 102 der Bundesverfassung Anwendung findet, der die Befugnisse und Obliegenheiten des Bundesrathes aufzählt und in Ziff. 13 als solche nennt: ,,Er (der Bundesrath) prüft die Gesetze und Verordnungen, welche seiner Genehmigung bedürfen; er überwacht diejenigen Zweige der Kantonalverwaltung, welche seiner Aufsicht unterstellt sind."

Darum hat die Bundesversammlung durch Bundesbeschluß über die Organisation und den Geschäftsgang des Bundesrathes vom 21. August 1878 (A. S. u. F. III, 480), provisorisch abgeändert kraft Bundesbeschlusses vom 9. Juni 1887 durch Bundesrathsbeschluß vom 8. Juli 1887 (A. S. n. F. X, 104), unter Vorbehalt des endgültigen Entscheides des Bundesrathes ,, d i e A u s f ü h r u n g des Bundesgesetzes über Civilstand und Ehe" in den Geschäftskreis des Departementes des Innern, nunmehr (vom \. Januar 1888 an) des Justiz- und Polizeidepartementes gestellt.

In diesem Sinn ist auch seit dem Beginn der Wirksamkeit des Kundesgesetzes über Civilstand und Ehe (1. Januar 1876) im Besondern die durch Art. 12 desselben begründete Kompetenz des Bundesrathes als eidgenössischer Oberaufsichtbehörde in Civilstandssachen vom Bundesrathe selbst aufgefaßt und, durch Genehmigung der bundesräthlichen Geschäftsberichte, von der Bundesversammlung anerkannt worden.

Dabei machten von Anfang an konkrete, durch amtliche A n - , frage oder Anzeige oder im Wege privater Beschwerdeführung der Bundesbehörde unterbreitete Fälle, die mittelst Departementalweisung oder durch Entscheid des Bundesrathes erledigt wurden, einen beträchtlichen Theil der Geschäfte aus. Namentlich hat die Auslegung des Gesetzes in Einzelfällen der eidgenössischen Aufsichtbehörde sehr häufig Veranlassung zu Weisungen oder Verfügungen geboten.

(Man vergleiche hierzu die bundesräthlichen Geschäftsberichte im Bundesblatt: 1877, II, 62 unten; 1878, II, 568; 1879, II, 176; 1880, II, 25; 1881, II, 98: 1882, II, 37; 1883, II, 42; 1884, II, 20 und 21; 1885, II, 21, 22, 25; 1886, I, 446; 1887, l, 522--525; 1889, II, 732--736; 1890, II, 160, 162--166.)

So sind z. B. 1889 und 1890 von der Bundesbehörde folgende Erlasse ausgegangen :

562 a. Das Civilstandsamt der tessinischen Gemeinde Vogorno, bestehend aus der Munizipalität, hatte ein Brautpaar vorzeitig getraut. Auf die deßhalb von der verlassenen früheren Verlobten des jungen Ehemannes bei den» eidg. Justizdepartemente erhobene Beschwerde leitete der Bundesrath dem Staatsrath von Tessin die Angelegenheit zur Untersuchung und Anwendung der gesetzlichen Strafbestimmungen zu, mit der Auflage, über das Geschehene Bericht zu erstatten (20. November 1889).

Der Staatsrath stellte das Verschulden der Civilstandsbehörde Vogorno fest und verhängte gegen dieselbe eine Buße, was er dem Bundesrath einberichtete.

Der Bundesrath erklärte sich mit dieser Erledigung der Sache einverstanden, unter Vorbehalt der weiteren Rechte der Beschwerdeführerin, verlangte jedoch, daß die Buße binnen kurzer Frist bezahlt werden müsse, worüber der Staatsrath wieder zu berichten habe (23. Dezember 1889).

b. Von Seite eines Bureau de contentieux in La Chaux-deFonds war die Berichtigung eines Geburtseintrages in dem Civilstandsregister der Gemeinde Môtiers, Kanton Neuenburg, bei dein eidg. Justizdepartement anbegehrt worden. Es wurde dem Bureau am 29. Januar 1890 erwidert: Es habe gemäß Art. 12 des Civilstandsgesetzes sein Begehren zunächst bei der kantonalen Aufsichtbehörde anzubringen; wenn diese Amtsstelle entschieden haben werde, stehe es ihm frei, sich unter Vorlegung des kantonalen Entscheides an die eidgenössische Aufsichtbehörde zu wenden.

c. Das Kind einer gewissen S. geb. B., das dieselbe zu Lebzeiten ihres von ihr faktisch getrennt lebenden ersten Ehemannes geboren hatte, war zu Oberegg (Appenzell I.-Rh.) als uneheliches Kind dieses Mannes und auf dessen Namen eingetragen worden. Spät or verehelichte sich die S. geb. B. mit dem Glarner A. Die neuen Ehegatten anerkannten das Kind vor dem Civilstandsamte Oberegg als das ihrige, und der Civilstandsbeamte legitimirte dasselbe, indem er es durch Randvormerkung als voreheliches Kind der Eheleute A.

bezeichnete.

Eine hiegegen bei dem Bundesrath eingelaufene Reklamation der Regierung von Glarus wurde vorn Bundesrathe am 17. Januar 1890 der Regierung von Appenzell I.-Rh. zur Einsicht mitgetheilt, mit der Einladung, eine Ergänzung der Akten vorzunehmen, und mit folgender Wegleitung: Da nach dein vorliegenden Thatbestand die Bezeichnung ,,unehelich*
im Geburtsakte offenbar falsch ist, so muß sie berichtigt werden. Hierfür stehen zwei Wege offen: Verfügung der kantonalen Aufsichtbehörde nach Art. 9, Abs. 3, des CivilstandsgesetzeS; oder Erwirkuug eines gerichtlichen Entscheides.

563 Die Regierung von Appenzelll.-Rh. antwortete hierauf: ,,Unsererseits gedenken wir derart vorzugehen, daß wir als kantonale Aufsichtbehörde dem Civilstandsbeamten zu Oberegg die Weisung zugehen lassen, er möge, da ein offenbarer Irrthum vorliegt, das fragliehe Kind als ehelichen Sohn des ersten Gatten eintragen. Als Randbemerkung habe er, weil der zweite Gatte sich freiwillig als Vater dieses Kindes erklärt hat und hierfür die Legitimationsbeurkundung ausgestellt worden ist, dieses uneheliche Kind als Sohn des A. einzutragen."

Der Bundesrath machte jedoch mit Schreiben vom 11. März 1890 die Regierung von Appenzell I.-Rh. auf die (Jnthunlichkeit des hinsichtlich der Legitimation von ihr beabsichtigten Vorgehens aufmerksam : Bevor der zweite Ehemann das Kind rechtsgültig legitimiren kann, muß dasselbe durch Urtheil des zuständigen Richters als ein uneheliches erklärt sein. Die Standeskommission wurde daher eingeladen, dem Civilstandsbeamten zu Oberegg in d i e s e m Sinne Weisung zu geben und demselben wegen seines Verhaltens in der Sache in Anwendung von Art. 59 des Civilstandsgesetzes einen Verweis zu ertheilen.

Ein sachbezügliches kantonsgerichtliches Urtheil ist am 17. April 1890 erfolgt, worauf die Kantonsregierung das Civilstandsamt Oberegg anwies, die Eintragungen in Gemäßheit desselben vorzunehmen, und der Bundesrath diesen Spezialfall als erledigt erklären konnte.*)

2.

Wenn die vorliegende Rekurssache von allem nicht dazu gehörigen Beiwerk losgelöst wird, so ergibt sich als Kern derselben die Frage, ob die Verfügung des luzernischen Regierungsdepartementes des Gemeiudewesens vom 9. November 1883 betreffend die Abänderung der Namensbezeichnung in den Geburtseintragungen Nr. 112 vom Jahre 1861 und Nr. 92 vom Jahre 1862 im Civilstaudsregister der Gemeinde Luzern mit dem eidgenössischen Civilslandsgesetze, insbesondere mit Art. 9 desselben, vereinbar sei.

Das Departement, welches die Verfügung als direkte kantonale Aufsichtbehörde erlassen hatte, war Willens, dieselbe zurückzunehmen, indem es erklärte, daß sie aus einem Irrthum des Departementsvorstehers hervorgegangen sei, und es stellte einen dahin zielenden Antrag an die Regierung des Kantons Luzern, als diese letztere infolge einer Rekursbeschwerde der Familie von Orelli gegen den Ortsbürgerrath von Luzern mit der Sache behelligt war.

*) Vergi, aber Nr. 17 hiervon

564 Die Regierung ging jedoch auf den Antrag ihres Gemeindedepartementes nicht ein, sondern hielt in Bezug auf die zwei in Frage stehenden Geburtseintragungen den gegenwärtigen, auf Grund der Departementalverfügung vom 9. November 1883 hergestellten Zustand aufrecht, darauf abstellend, daß in diesen Eintragungen kein offenbarer Irrthum zu finden sei; die Regierung erkannte durch Beschluß vom 21. März 1889, es sei die Rekursklägerin von der Administrativinstanz, ab- und an den Civilrichter gewiesen.

Dem Entscheid seiner kantonalen Oberbehörde fügte sich das Gemeindedepartement und es unterblieb die von ihm beabsichtigte Weisung an das Civilstandsamt Luzern, in Bezug auf die beiden streitigen Eintragungen den Zustand wieder herzustellen, der v o r derDepartementverfügungg vom 9. November 1883 vorhanden war.

Die Rekursklägerin aber wandte sich mit dem Begehren um Wiederherstellung des status quo ante ari den Bundesrath als eidgenössische Oberaufsichtbehörde in Civilstandssachen und es liegt infolge dessen dem Bundesrath die Eingangs formiulirte Frage vor.

Diese Frage betrifft die A u s l e g u n g u n d A n w e n d u n g , welche eine Bestimmung des eidgenössischen Civilstandsgesetzes s e i t e n s d e r o b e r s t e n k a n t o n a l e n A u f s i c h t b eh ö r d e g e f u n d e n h a t ; sie gehört, nach dem unter Ziffer l hiervor Gesagten, um so unzweifelhafter in die Zuständigkeit des Bundesrathes, als es sich um eine bei Anlaß eines Spezialfalles getroffene kantonale Entscheidung handelt, welche, wie unter Ziffer III näher erörtert werden soll, von allgemeiner prinzipieller Bedeutung ist, namentlich für die Abgrenzung der Kompetenzen der gerichtlichen und der administrativen Kantonsbehörden auf dem Gebiete des Civilstandswesens.

II. In B e t r e t' f d er L e g i t i m a t i o u d e r F a rn i l i e v o n 0 r e 11 i in Z ü r i c h z u r B e s c h w o r d u l ' ü h r u ng.

Das Bundesgesetz vom 24. Dezember 1874 hat in Ausführung des Art. 53 der Bundesverfassung bestimmt, daß die Civilstandsbeamten weltliehen Standes und die mit der Sorge für das Civilstandswesen betrauten Behörden bürgerliche Behörden sein müssen ; die Ernennung der Beamten und die Bezeichnung der Civiistandsbehörden wurde den Kantonen überlassen, die Kantonsregierungen als oberste kantonale Aufsichtbehörden jedoch in Art. 12 verpflichtet, die Amtsführung der Civilstandsbeamten zu überwachen und über diese ihre überwachende Thätigkeit dem Bundesrathe als der ihnen übergeordneten eidgenössischen Aufsicht- und Kontrolbehörde Bericht

565

zu erstatten. Wenn nun auch das Gesetz in Hinsicht auf diese Stellung des Bundesrathes bloß von der B e f u g n i ß desselben spricht, nach Erforderniß einzuschreiten und Anordnungen zu treffen und besondere Inspektionen vornehmen zu lassen, su ist doch klar, daß dem Bundesrath vom Gesetz die A m t s p f l i c h t übertragen ist, von seiner Befugniß Gebrauch zu macheu. Die Führung der Civilstandsregister ist eine dem öffentlichen Recht angehörende staatliche Aufgabe, sie liegt im allgemeinen öffentlichen Interesse.

Demzufolge würde sich eine mit dem Recht der Aufsicht und Kontrole über das Civilstandswesen ausgestattete Behörde einer Mißkenuung ihrer amtlichen Stellung, einer Vernachläßigung ihrer Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, dem Staat, schuldig machen, wenn sie auf diesem Gebiet vorkommende und zu ihrer Kenntniß gelangende Fehler, Uebelstände, Mißbräuche ungerügt hinnähme, wenn sie dieselben bestehen ließe.

Es ergibt sich aus den Ausführungen zu Ziffer l nicht nur, daß der Bundesrath und sein mit der speziellen Obsorge für das Civilstandswesen betrautes Departement ihre Stellung dießf'alls immer in diesem Sinn aufgefaßt, sondern auch, daß die Kantonsbehörden diese Auffassung stets als gesetzlich begründet anerkannt haben.

Es ergibt sich ferner aus der unter Ziffer l angeführten einschlägigen Praxis der Bundesbehörden, daß dieselben ihre kontrolirende, beziehungsweise entscheidende Amtstätigkeit jederzeit unweigerlich eintreten ließen, gleichviel ob sie von amtlicher oder von privater Seite auf eine Ungehörigkeit in der Führung des Civilstandes aufmerksam gemacht wurden, ob ihnen ein gesetzwidriges Vorgehen der kantonalen Beamten oder Behörden in Form einer Besehwerde oder in Form einer bloßen Anzeige zur Kenntniss gebracht worden war.

Diese Praxis entspricht durchaus der Natur des Civilstandswesens, als eines Zweiges der öffentlichen Verwaltung, an dessen richtiger Besorgung Jedermann im Staat in einem Grad interessili ist, wie kaum bei einem zweiten. Man kann sagen : Jeder einzelne Civilstandseintrag erfolgt im Interesse Aller. Denn er eri'olgt im Interesse eines geordneten gesellschaftlichen und rechtlichen Verkehrs der Bürger unter einander, indem er die bürgerliche Stellung des Einzelnen bestimmt. Mit vollem Recht ist bei Anlaß des gegenwärtigen Rekursstreites gesagt worden,
daß der Staat die Civilstandsgeschäfte ebenso sehr im Interesse der Individuen, wie zur Aufrechthaltung seiner eigenen rechtlichen und sozialen Ordnung besorge. (Laband.)

Demnach kaiin die Legitimation der Familie von Orelli in Zürich zu einer an zuständiger Amtsstelle angebrachten Anzeige

566 eines angeblich ungehörigen, dem Gesetz widerstreitenden civilstandsamtlichen Vorganges gar nicht in Zweifel fallen, und da der Bundesrath gemäß seiner Stellung und nach konstanter Praxis auf eine solche Anzeige stets in eine materielle Untersuchung des Falles eintritt, sofern die letztinstanzliche kantonale Aufsichtbehörde, wie es hier geschehen ist, in Sachen bereits erkannt hat, so dürfte jede weitere Erörterung der Legitimationslfrage als überflüssig erscheinen.

Immerhin mag bemerkt werden, daß, wie nicht Jedermann ein gleich nahes Interesse an einem bestimmten Civilstandseintrag hat, so auch nicht auf eine jede Eingabe in Civilstandssachen die Bezeichnung ,,Beschwerde" Anwendung finden kann. Es wird sich dies nach den thatsächlichen Verumständungen des einzelnen Falles richten. Wo eine persönliche Betheiligung des Anzeigers vorhanden ist und dessen Eingabe mit einem bestimraten Rechtsbegehren sehließt, wird sie sich eben dadurch als Beschwerde charakterisiren.

Anderenfalls handelt es sich um ein bloßes Anzeigen.

Ob in einem Fall eine zur "Beschwerdeführung" berechtigende persönliche Betheiligung vorliege, ist wiederum quaestio facti, eine von den Thatumständen abhängige Frage.

Ganz im Sinne dieser Ausführungen sagt das vom Schweiz.

Departement des Innern 1881 herausgegebene ,,Handbuch für die schweizerischen Civilstandsbeamten zu Artikel 9 des Gesetzes in Erläuterung Nr. 45 auf Seite 200 : ,,Ebenso kann die Berichtigung (sc. einer Eintragung in den Civilstandsregistern) von den betheiligten Parteien verlaugt werden.

Betheiligt ist vor Allem diejenige Person, auf welche die Eintragung sich bezieht, aber sie ist nicht die einzige. Andere Personen können ein vermögensrechtliches oder moralisches Interesse an der Berichtigung eines Namens, der Abstammung, eines Datums u. s. w.

haben. " Im vorliegenden Falle beschwert sich die Familie von Orelli in Zürich darüber, daß im Civilstandsregister von Luzern in Form der Berichtigung eines offenbaren Irrthums nach Art. 9, Absatz 3, des Gesetzes bei zwei Geburtseintragungen der Name ,,Corragioni d'0relli" in "d'Orelli Corragioni" umgeändert worden ist, und sie verlangt, daß der frühere Zustand wieder hergestellt werde.

In der Eingabe der Familie von Orelli liegt somit zweierlei: die Anzeige eines civilstandsamtlichen Vorganges, der nach Ansicht
der Anzeigern dem Gesetz zuwiderläuft, und eine mit einem bestimmten Rechtsbegehren schließende Beschwerde (Klage).

In der ersten Beziehung kann die Legitimation der Familie von Orelli gar nicht in Frage gezogen werden; in der zweiten ist

567

anzuerkennen, daß ihr, wenn auch vielleicht nicht ein privatrechtliches, so doch unzweifelhaft ein mit dem öfFentlichrechtlichen Interesse an der Wahrheit der Eintragungen im Civilstandsregister zusammentreffendes moralisches Interesse an der Sache zur Seite steht, insofern als es sich um die Führung ihres Namens durch Jemanden handelt, dem er nach ihrer Ansicht nicht zukommt.

Die Betheiligung einer Person an einer den Civilstand betreffenden Eintragung ist von dem Bundesrath als administrativer Aufsicht- und Rekursbehörde nach freiem Ermessen zu beurtheilen, ohne Rücksicht auf die Frage, ob es ein im Weg des Civilprozesses zu verfolgendes Namensrecht gebe. Diese Frage fällt somit hier außer Betracht.

III.

In d e r H a u p t s a c h e .

1.

Die zur Entscheidung vorliegende Frage ist so zu fassen: Entspricht die Verfügung des Departementes des Gemeindewesens des Kantons Luzern vom 9. November 1883 den Voraussetzungen, unter welchen das Civilstandsgesetz in Artikel 9, Absatz 3, gestattet, die Berichtigung einer in den Standesregistern enthaltenen Eintragung im Verwaltungsweg anzuordnen?

Ist diese Frage zu verneinen, so erscheint die zufolge der Departementalverfügung vom Civilstandsbeamten von Luzern vorgenommene ,,Berichtigung" der zwei Eintragungen Nr. 112 im Geburtsbuch von 1861 und Nr. 92 im Geburtsbuch von 1862 als eine gesetzwidrige und kann demnach nicht zu Recht bestehen.

Ist dagegen die Frage zu bejahen, so kann im Verwaltungsweg an dem berichtigten Eintrag nichts mehr geändert werden, es sei denn, daß die ,,Berichtigung" einen solchen Inhalt hat, daß in Bezug auf dieselbe wiederum eine ,,Berichtigung" von der Verwaltungsbehörde anzuordnen ist.

Der Regierungsrath des Kantons Luzern stellt die Frage unrichtig, wenn er von der Entstehung der ,,Berichtigung" vom 9. November 1883 absieht und sich nur fragt, ob dieselbe, an und für sich als Civilstandseintragung betrachtet, einen ,,offenbaren Irrthum" aufweise und deßhalb im Verwaltungsweg zu berichtigen sei. Es soll hierüber unter Ziffer 4 näher gesprochen werden, wo die Stellung, welche die Regierung zur Rekursfrage eingenommen hat, einer näheren Betrachtung unterworfen wird. Vorläufig mag nur bemerkt werden, daß es sehr wohl gedenkbar ist, daß eine im Verwaltungswege angeordnete Berichtigung eines Civilstandseintrages materielle Wahrheit enthält und doch ganz und gar der

568 Vorschrift des Gesetzes zuwider vorgenommen wurde; dann nämlich wird dies der Fall sein, wenn die Berichtigung irn Verwaltungs weg erfolgte, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen einer derartigen administrativen Verfügung vorhanden waren. Auch in einem solchen Fall könnte die ungesetzliche Verfügung nicht aufrecht erhalten werden; sie wäre durch eine dem Gesetz entsprechende zu ersetzen.

Diese Folgerungen ergeben sich aus Artikel 9 und Artikel 11 des Civilstandsgesetzes.

2.

Nach Artikel 11 des Gesetzes gelten die Civilstandsregister und die vorn Civilstandsbeamten ausgestellten und als richtig beglaubigten Auszüge als öffentliche Urkunden, denen volle Beweiskraft zukommt, so lange nicht der Nachweis der Fälschung oder der Unrichtigkeit der Anzeigen und Feststellungen, auf Grund deren die Eintragung stattgefunden hat, erbracht ist.

Auf dieser Eigenschaft der Civilstandsregister als mit voller Beweiskraft ausgestatteter öffentlicher Urkunden fußt der ganze Artikel 9 des Gesetzes. Darum ist in demselben dem Civilstandsbeamten nach einmal vollendeter und unterzeichneter Eintragung jede Aenderung, jeder Zusatz und jade Ausmerzung untersagt (,,Handbuch" Nr. 44, S. 199). Darum erklärt das Gesetz, daß Berichtigungen in deu Givilstandsregistern nur durch Urtheil der zuständigen kantonalen Gerichte angeordnet werden können, es wäre denn, daß ein ,,offenbarer Irrthum" vorläge, in welchem Falle die kantonale Aufsichtbehörde dessen Berichtigung irn Verwaltungswege anzuordnen befugt sei.

Daß das Gesetz die Beriehtigungsbefugniß der Verwaltungsbehörde auf die Fälle wirklichen offenbaren Irrthums beschränkt wissen will, geht sehr bestimmt aus der Entstehungsgeschichte des Artikels 9 hervor.

In der bundesräthlichen Vorlage vom 2. Oktober 1874 (Bundesblatt 1874, III, 21) hatte derselbe als -Artikel 10 folgenden Wortlaut : ,,Abänderungen au den einmal erfolgten Eintragungen in den Civilstandsregistern oder Ergänzungen derselben dürfen nicht von dem Civilstandsbeamten von sich aus vorgenommen werden.

,,Er hat vielmehr, wenn bezügliche Gesuche an ihn gelangen, der ihm vorgesetzten Behörde davon Kenntniss zu geben, unddiesea wird auf geeignete Weise, sei es durch Vorbescheidung oder öffent-

569 liehe Bekanntmachung, sich davon überzeugen, ob gegen die verlangte Aenderung von irgend einer Seite Einsprache erhoben werde.

Vllst letzteres nicht der Fall, so ordnet sie die Berichtigung oder Ergänzung von sich aus an.

,,Waltet dagegen ein Widerspruch, der sich auf gütlichem Weg nicht beseitigen läßt, so fällt der Entscheid den Gerichten anheim.

,,Der summarische Inhalt des Berichtigungsbeschlu.sses oder Urlheils ist mit dem Datum desselben iu dem Register nachzutragen."

Der Ständerath gab am 13. November 1874 dem Artikel folgende Fassung: ,,Art. 9. Der Civilstandsbeamte darf a a den in die Standesregister gemachten Eintragungen weder Aenderungen noch Ergänzungen vornehmen.

,,Berichtigungen in den Civil Standsregistern können nur durch Urtheil der zuständigen kantonalen Gerichte angeordnet werden.

,,Insoweit als jedoch ein offenbarer Verschrieb vorliegt, kann die kant.onale Aufsichtbehörde dessen Berichtigung nach vorgängiger Bekanntmachung im kantonalen Amtsblatt und, nachdem binnen einer anzusetzenden Frist keine Einsprache erfolgt ist, im Verwaltungsweg anordnen.

,,Alle die Berichtigung eines Civilstandsregisters anordnenden Entscheidungen oder Urtheile sind ihrem wesentlichen Inhalte nach bei der betreffenden Stelle am Rand vorzumerken." 1 Der Nationalrath änderte am 9. Dezember 1874 den dritten Absatz dahin ab, daß derselbe einfach lautete: ,,Sofern jedoch ein offenbarer Irrthum vorliegt, kann die kantonale Aufsichtbehörde dessen Berichtigung im Verwaltungsweg anordnen/ 1 Am 21. Dezember 1874 trat der Ständerath dieser Redaktion bei, und infolge dessen ist sie in den Text des am 24. Dezember 1874 von beiden Käthen endgültig angenommenen Bundesgesetzes aufgenommen worden.

Es wäre nun offenbar falsch, aus dieser parlamentarischen Entstehungsgeschichte des Art. 9 zu schließen, die gesetzgebenden Käthe haben die Berichtigungen im Verwaltungsweg erleichtern, an weniger strenge Voraussetzungen knüpfen wollen, als der Bundesrath und anfänglich auch der Ständerath, die eine Art von Aufrufsverfahren einführen und nur, wenn kein Einspruch erfolgte, die

570 Berichtigung gestatten wollten. Auch der vom Nationalrath angenommene Antrag, statt "offenbarer Verschrieb" zu sagen: ,,offenbarer Irrthum", schließt keine sachliche Aenderung in sich; er ist nur eine Redaktionsverbesserung. In der Sache selbst ist nichts Anderes beschlossen worden, als was der Bundesrath vorgeschlagen und der Ständerath in erster Berathung angenommen hatte: Abänderungen an einer Eintragung in dem Civilstandsregister dürfen nur erfolgen, wenn dieselbe ganz unbestreitbar, für Jedermann sofort erkennbar, auf einem Irrthum, einem Versehen des Schreibenden beruht. Das vom Bundesrathe und zuerst auch vom Ständerathe in Aussicht genommene Verfahren, durch welches das unbestrittene Vorhandensein des Irrthums förmlich festgestellt werden sollte, ist gegenüber dem Begriff des ,,offenbaren Irrlhums" als überflüssig fallen gelassen worden. Um so ernstlicher nnd gewissenhafter hat daher der Beamte gegebenen Falles sieh zu fragen, ob in der That bei einer Eintragung ein o f f e n b a r e r Irrthum vorliege. Dona überall, wo dies nicht der Fall ist, will das Gesetz die Garantien eines g e r i c h t l i c h e n V e r f a h r e n s , mit Zulassung des Einspruchs der Interessenten, mit wechselseitigem Gehör der Parteien, mit autoritativem Rechtsspruch nach ruhig abwägender Prüfung aller Verhältnisse gewahrt wissen.

Es stellt sich deßhalb die Vornahme einer Berichtigung im Verwaltungsweg in einem Fall, wo irgendwelcher Widerspruch erwartet werden konnte oder wo der Irrthum nicht außer allen und jeden Zweifel gestellt war, als eine Gesetzesverletzung dar.

In diesem Sinne legt auch das ,,Handbuch für die schweizerischen Civilstandsbeamten" die Vorschriften des Art. 9 aus, indem es unter Nr. 46 der Erläuterungen (S. 200) der kantonalen Aufsichtbehörde mit Bezug auf Berichtigungsbegehren einschärft: ,,Diese (Behörde) wird untersuchen, ob das Begehreu vor die Gerichte zu verweisen sei. Das letztere wird jedesmal dann zu geschehen haben, wenn es sich um Richtigstellung von Thatsachen handelt, oder wenn ein Punkt zweifelhaft oder streitig ist, und nur in den Fällen, wo offenbar ein e i n f a c h e r I r r t h u m , wie z. B. ein Schreibfehler oder eine Auslassung von untergeordneter Bedeutung u. dg]., vorliegt, wird die Aufsichtbehörde die Berichtigung von sich aus anordnen."

Dieser Anweisung läßt
das ,,Handbuch" eine Reihe .von Beispielen folgen, die geeignet sind, Jedermann klar zu machen, was das Gesetz unter einem offenbaren Irrthum versteht, und fügt dann bei : ,,In den Fällen, wo nicht ein offenbarer Irrthum vorliegt wird die Administrativbehörde dafür Sorge tragen, daß die Berichtigung bei den Gerichtsbehörden bewirkt wird", womit erklärt

571

wird, daß es der Aufsichtbehörde selbst dann nicht zustehe, eine Berichtigung anzuordnen, wenn sie von dem Vorhandensein eines Irrthums überzeugt ist, denselben jedoch nicht a"s einen ^offenbaren" bezeichnen kann.

3.

Wenn nun die Verfügung des luzernischen Departementes des Gemeindewesens vom 9. November 1883 im Lichte dieser Vorschriften auf ihre Gesetzmäßigkeit geprüft wird, so kann sie die Prüfung nicht aushalten.

Das hat jene Amtsstelle selbst in offiziellen Aktenstücken vor und nach dem Beschluß des Regierungsrathes vom 21. März 1889 unumwunden zugestanden, ja sie hat noch am 29. März 1889 formell erklärt, ihre Verfügung vorn 9. November 1883 sei ,,infolge eines hervorgerufenen Irrthums erlassen worden und werde darum zurückgezogen 1 - 0 . Sie hat nur mit Rücksicht auf den Beschluß der ihr übergeordneten Kantonsbehörde unterlassen, ihrer nunmehrigen Ansicht durch eine neue Weisung an das Civilstandsamt Luzern Geltung zu verschaffen.

In der That läßt sich die Verfügung vor dem Gesetze nicht rechtfertigen.

Es geht schon aus der Motivirung des Antrages des Gemeindedepartementes an den Regierurigsrath, vom März 1889, hervor, daß mit der Weisung von 1883 nicht im Sinne des Gesetzes (Art. 9 I. c.)

gehandelt wurde. Denn, wenn ein ,,offenbarer" Irrthum vorgelegen hätte, wäre das Departement darüber nicht in ,,Irrthum a versetzt worden.

Die Voraussetzungen eines offenbaren Irrthums waren thatsächlich nicht vorhanden.

Wenn die ganze männliche Verwandtschaft in aufsteigender Linie einer Familie in den Geburtsbüchern, soweit sich die bezüglichen Eintragungen in diesem und im vorigen Jahrhundert zurückverfolgen lassen, den Geschlechtsnamen Corragioni oder Corragioni d'Orelli aufweist, so kann die letztere Namensbezeichnung in zwei Geburtseintragungen von 1861 und 1862 schlechterdings nicht auf einem ,,offenbaren11 Irrthum beruhen.

Es geht aber auch nicht an, den Geschlechtsnamen von zwei Nachkommen wegen ,,offenbar irrthümlicher a Eintragung abzuändern, den Namen ihres Vaters, Großvaters u. s. f. dagegen in bisheriger, also (angeblich) falscher Form, in dem Register stehen zu lassen.

Auch nach § 65 des bürgerlichen Gesetzbuches des Kantons Luzern tragen die Kinder den Geschlechtsnamen ihres Vaters.

572

Gegenüber den mit alleiniger A u s n a h m e der Geburtseintragung von 1865 (Nr. 128), betreffend die Tochter Marie Mathilde, konsequent auf den Namen ,,Corragioni" oder "Corragioni d'0relli" lautenden Eintragungen in dem vom städtischen Archivar geführten und dem.

Civilstandsbeamten von Luzern 1875 kraft kantonalen Gesetzes als maßgehendes amtliches Exemplar übergebenen Civilstanderegister der Gemeinde Luzern konnten die wenigen Abweichungen von dem letzteren, die sich in Bezug auf die rekursbeklagte Familie in dem pfarramtlichen Exemplar des Taufbuches 1861 und 1862 und in dem pfarramtlichen Ehebuche 1860 finden, für die Administrativbehördenichtt in Betracht fallen; noch weniger Gewicht halte von ihr den in anderweitigen amtlichen und nicht amtlichen Büchern, Auszügen, Ausfertigungen, Bescheinigungen, Korrespondenzen u. s.w..

enthaltenen, mit denCivilstandsaktenn nicht übereinstimmenden Namensbezeichnungen beigelegt werden Hollen, ganz abgesehen davon, daß dieselben mit demOrtsbürgerregisterr der Stadt Luzern nicht im Einklänge standen, und daß einige Ausfertigungen, wie d i e Heimatscheine v o n 1875, auch d e n speziellen amtlichen Francisons Orell von 1680 anbelangt, so konnte die Vorlegung: desselben als Beweismittelzurr Richtigstellung einer Thatsache betrachtet werden, nämlich zur Feststellung der angebliehen Abkunft der FamilieCorragionii d'Orelli in Luzern von demtessinischenn Kanzler Orell, aus welcher Abstammung dieRekursbeklagtenn in d e r Lage wären, e i n Recht a u f Führung d e s Angesichts des Art. 9 des Gesetzes als Sache des zuständigen Gerichtes bezeichnet werden. Von gar keinem Relang endlich konnte die Erklärung des Herrn Bankdirektors L. Coraggioni, des Vetters des Gesuchstellers von 1883, sein, welche besagt, daß derselbe sich auch für berechtigt halte, den Namen d'Orelli zu führen, wenn auch aus jener E r k l ä r u n n o c h - h nicht sdeutlichch wie aus der Corragioni'soheKollektiverklärungng vom März 1888 hervorging, daß Herr Bankdirektor C. die Schreibweis,,Corragionini d'Orelli" und nicht ,,d'OrellCorragioni""1 für sich in Anspruch n i m m t u n d n d daß sämmtliche gegenwärtig lebende männliche Familienglieder d i e Bezeichnungen ,,d'Orelli Corragioni n n d gehoteu erachten.

Nach allen in Betracht fallenden Verhältnissen war es zum Mindesten z w e i f e i h a f t ,
ob die Schreibweise ,,d'Orelli Corragioni" richtiger sei als ,,Corragioni d'0relli", und der Vorsteher des luzernischen Gemeindedepartementes darum am 9. November 1883 nicht

573

in der Lage, in den zwei Geburtseintragungen von 1861 und 1862 einen offenbaren Irrthum zu konstatiren. Wenn trotzdem auf administrativem Weg die verlangte ,,Berichtigung" angeordnet wurde, so geschah es gegen die Vorschrift des Gesetzes.

4.

Bei dieser Sachlage bedarf es keiner historischen und genealogischen Untersuchungen über die Abstammung der Familien, welche die hierortigen Rekursparteien bilden, um zum Rechtsschluß zu gelangen. Der Bundesrath hat in casu so wenig als die kantonalen administrativen Aufsichtbehörden den Beruf, solche materielle Untersuchungen anzustellen; er hat bloß als Oberaufsichtbehörde zu prüfen, ob die kantonale Behörde ihre civilstandsamtliche Funktion dem Gesetz gemäß ausgeübt habe.

Diese Frage ist zu verneinen. Infolge dessen muß die kantonale Verfügung aufgehoben und der vorherige Zustand wiederhergestellt werden.

Wenn die Regierung von Luzern nicht zu diesem Schluß kommt, so ist dieß nur, wie schon unter Ziff. III, l, bemerkt wurde, daraus zu erklären, daß sie die Rechtsfrage unrichtig gestellt, die Berichtigung vom 9. November 1883 nicht als solche geprüft, sondern sich bloß gefragt hat, ob gegen die Eintragungen, wie sie nun (infolge jener Berichtigung) vorliegen, wegen offenbaren Irrthums im administrativen Weg etwas vorzukehren sei.

Diese Frage könnte aber erst dann gestellt werden, wenn auf die v o r h e r zu entscheidende Frage: Ob in den am 9. November 1883 vorhandenen Eintragungen ein offenbarer Irrthum zu erblicken war ? eine b e j a h e n d e Antwort ertheilt wäre. Wird die z w e i t e Frage ohne Rücksicht auf die e r s t e beantwortet, so liegt darin in der That eine Umkehrung der Sachlage und eine Angesichts der civilstandsgesetzlichen Bestimmungen unzuläßige Verrückung der Rechtsstellung der Parteien. Gegenüber den auf administrativem Weg nicht anfechtbaren Eintragungen von 1883 war der damalige Gesuchsteller und heutige Rekursbeklagte als Kläger an den Civilrichter zu verweisen. Durch die Fragestellung und den Entscheid der Luzerner Regierung wird die Beweislast vor dem Civilgericht dem Gesuchsteller abgenommen, entgegen dem Willen des Gesetzes (Art. 9 1. c.), welches im Zweifelfalle den durch den Civilstandseintrag begründeten Zustand vorläufig anerkennt und Behörden und Private, die ihn verändert wissen wollen, auf den Weg des gerichtlichen Verfahrens verweist. Ira Grund und in seiner Wirkung ist daher der Regierungsbeschluss eben doch nur Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

37

574

eine Bestätigung der den civilstandsmäßigen Zustand abändernden Departementalverfügung vom 9. November 1883, wenn er sich auch nicht äußerlich als solche zu erkennen gibt, ja, er bildet, nachdem der Departements Vorsteher sie hat füllen lassen, die einzige Stütze der letzteren. Der Regierungsbeschluß vom 21. März 1889 ist demnach ebensowenig haltbar als die Departementalverfügung selbst.

5.

Nach den vorstehenden Erörterungen liegt es in der Pflicht der eidgenössischen Oberaufsichtbehörde, mit Bezug auf die Geburtseintragungen Nr. 112 von 1861 und Nr. 92 von 1862 im Civilstandsregister der Stadt Luzern den Zustand wiederherstellen zu lassen, der am 9. November 1883 vorhanden war, d. h. sowohl die Verfügung des luzernischen Gemeindedepartementes vorn 9. November 1883 als auch die Regierungsschlußnahme vom 21. März 1889 sammt ihren Rechtsfolgen aufzuheben, und es wird Sache der Kantonsregierung sein, für die Vollziehung des Entscheides der eidgenössischen Oberaufsichtbehörde zu sorgen.

Es erscheint als geboten, den gegenwärtigen bundesräthlichenr Entscheid auf die Wiederherstellung des Zustandes vom 9. November 1883 zu beschränken, damit, eine allfâllige gerichtliche Untersuchung genau diejenige Lage der Dinge vorfindet, welche an jenem Tage bestanden hat, als die unrichtige Verfügung des Gemeindedepartementes erlassen wurde.

Aus den angeführten Gründen.hat der Bundesrath beschlossen: I. Die Verfügung des Departementes des Gemeindewesens des Kantons Luzern vom 9. November 1883 und der Beschluß des Regierungsrathes des Kantons Luzern vom 21. März 1889 betreffend die Geburtseintragungen Nr. 112 vom Jahre 1861 und Nr. 92 vom Jahre 1862 im Civilstandsregister der Gemeinde Luzern werdenaufgehoben.

II. Die Regierung des Kantons Luzern wird eingeladen, dafür zu sorgen, daß in Bezug auf die genannten Eintragungen der Zustand wieder hergestellt werde, welcher am 9. November 1883, vorhanden war, und dem Tit. Ortsbürgerrath und Tit. Stadtrath von Luzern gegenwärtigen Beschluß zur Kenntniß zu bringen. -- Wie einem Schreiben des luzernischen Departementes des Gemeindewesens an das eidg. Justiz- und Polizeidepartement vom 16. September 1890 zu entnehmen ist, hat der Bundesrathsbeschluß in dieser Sache seine Vollziehung gefunden.

575 Mit Zuschrift vom 14. März 1891 gab Herr Prof. Dr. Meili im Namen der Familie von Orelli in Zürich dem Bundesrath eine Rechtsverwahrung ein, durch welche er dagegen protestirt, daß aus der von Herrn Emanuel Corragioni d'Orelli und seiner Familie, trotz dem bundesräthliehen Beschluß vom 19. Mai 1890, weiter angewendeten ,,usuellen" Schreibweise ,,d'Orelli Corragioni"1 je ein wirkliches Privatrecht auf die Führung dieses letzteren Namens entstehen könne. Herr Prof. Meili verlangte, daß diese Rechtsverwahrung zu den Akten genommen werde.

Der Bundesrath hat dem Begehren unter Vormerkung am Protokoll entsprochen, wobei er sich dahin äußerte, daß, nachdem sein Beschluß vom 19. Mai 1890 vollzogen worden sei, es den Parteien anheimgestellt werde, allfällige weitere Rechtsansprüche in Bezug auf ihre Namensführung vor den zuständigen gerichtlichen oder administrativen Kantonsbehörden geltend zu machen.

VIII. Handelsregister.

1. Im Jahre 1890 wurden in sämmtlichen HandelsregisterBüreaux zusammen 7636 E i n r e g i s t r i r u n g e n vorgenommen.

Diese Ziffer überschreitet die Anzahl der Eintragungen des Jahres 1889 um mehr als 1000 und wurde seit 1883 nie auch nur annähernd erreicht. Der Grund dafür liegt in der neuen Verordnung über das Handelsregister, auf welche wir weiter unten zu sprechen kommen werden ; dieselbe enthält über die Pflicht zur Eintragung Bestimmungen, welche weiter gehen als die bisherige Praxis.

Infolge der vermehrten Eintragungen erhöhte sich auch der Antheil des Bundes an den Gebühreneinnahmen der Kantone.

Er beträgt: Fr. 8269. (1889: 7018. 20.)

Eingetragen wurden : 2453 620 286 93 77 766

a. Im H a u p t r e g i s t e r (A): Einzelfirmen (1889: 1866), Kollektiv- und Kommanditgesellschaften (1889 : 545), Aktiengesellschaften, Kommandit-Aktiengesellschaften und Genossenschaften (18b9: 320), Vereine (57), Zweigniederlassungen (67), Bevollmächtigungen (712).

576

&. Im b e s o n d e r e n R e g i s t e r (B): 14 Personen (1889: 25).

Gelöscht wurden: 1509 464 47 12 57 541 90

a. Im H a u p t r e g i s t e r : Einzelfirmen (1889: 1528), wovon 201 wegen Konkurs (1889: 219), Kollektiv- und Kommanditgesellschaften (446), wovon wegen Konkurs 19 (14), Aktien- und Kommandit-Aktiengesellsclaften, sowie Genossenschaften (44), wovon 3 wegen Konkurs (1889: --), Vereine (5), Zweigniederlassungen (32), wovon l wegen Konkurs (2), Bevollmächtigungen (499).

b. Im b e s o n d e r e n R e g i s t e r : Personen (1889: 34).

Veränderungen gelangten zur Eintragung : 139 betreffend Einzelfirmen (1889: 105), 143 betreffend Kollektiv- und Kommanditgesellschaften (89 : 105), 165 betreffend Aktiengesellschaften, Kommandit-Aktiengesellschaften und Genossenschaften (1889: 163), 43 betreffend Vereine (1889: 22), l betreffend eine Bevollmächtigung, 99 betreffend das Personal der Vorstände von Genossenschaften, 20 betreffend Zweigniederlassungen.

Auf 31. Dezember 1890 bleiben eingetragen: a. Im H a u p t r e g i s t e r : 28420 Einzelfirmen (1889: 27,477, 1883: 24,025), 3962 Kollektiv- und Kommanditgesellschaften (1889: 3806, 1883: 3666), 2956 Aktien- und Kommandit-Aktiengesellschaften und Genossenschaften (1889: 2720, 1883: 1497), 641 Vereine (1889: 560, 1883: 134), 567 Zweigniederlassungen (1889: 547, 1883: 368).

b. Im b e s o n d e r e :a R e g i s t e r : 1874 Personen (1889: 1908, 1883; 2052).

577

Während im Jahre 1889 nur bei 4 Bureaux k e i n e E i n t r a g u n g e n zu verzeichnen waren, sind im Berichtsjahr 6 Bureaux nie in den Fall gekommen, eine Registrirung vorzunehmen, nämlich : Saanen, Dornach, Biasca, Cevio, Leontica und Brig.

2. Zwölf Registerbüreaux wurden einer I n s p e k t i o n unterworfen.

3. Die O r g a n i s a t i o n der Handelsregister in den Kantonen ist bis Ende des Berichtsjahres dieselbe geblieben wie bis anhin. Die vorgekommenen Aenderungen traten erst mit Anfang des Jahres 1891 in Wirksamkeit, Immerhin muß jetzt schon auf die im Kanton St. Gallen getroffenen Aenderungen hingewiesen werden. Bisher wurden daselbst die Handelsregister durch die Bezirksamtmänner geführt. Es bestanden daher für diesen Kanton 15 verschiedene Bureaux. Durch Gesetz vom 22. November 1890 sind dieselben nunmehr aufgehoben worden. Es besteht seit 1. Januar 1891 nur noch ein einziges Handelsregister für den ganzen Kanton, das in St. Gallen durch den Sekretär des Justizdepartements geführt wird.

Die Anzahl der Registerbüreaux ist damit von 113 auf 99 gesunken.

4r. D a s ,, B u n d e s g e s e t z z u r E r g ä n z u n g d e r B e stimmungen des Obligationenrechtes über das H a n d e l s r e g i s t e r " , vom 11. Dezember 1888, machte eine Abänderung der ,,Verordnung über Handelsregister und Handelsamtsblatt''' nothwendig. In Aufhebung der Verordnung vom 29.

August/7. Dezember 1882, sowie des Abänderungsbeschlusses vom 13. März 1883 haben wir daher unterm 6. Mai 1890 eine neue ,, V e r o r d n u n g ü b e r H a n d e l s r e g i s t e r u n d H a n d e l s a m t s b l a t t " erlassen und dieselbe auf den 1. Januar 1891 in Kraft erklärt.

Unter demselben Datum haben wir auch das angeführte Bundesgesetz vom 11. Dezember 1888 in die Gesetzessammlung aufzunehmen beschlossen und ebenfalls auf den 1. Januar 1891 in Kraft erklärt.

Wir haben versucht, durch diese neue Verordnung die Aufgabe, welche uns durch das Bundesgesetz vom 11. Dezember 1888 gestellt wurde, zu lösen. Inwieweit uns dies gelungen ist, wird die Folge lehren. Gegenwärtig läßt sich ein Urtheil darüber noch nicht bilden. Immerhin glauben wir auf Grund der Erfahrungen, die sich in der kurzen Zeit der Anwendung der neuen Bestimmungen sammeln ließen, jetzt schon sagen zu dürfen, daß durch dieselben bedeutenden Uebelständen abgeholfen ist.

578 5. Zur Erläuterung der neuen Verordnung sahen wir uns veranlaßt, am 11. Juli ein K r e i s s c h r e i b e n an sämmtliche eidgenössischen Stände zu richten. Wir hoben in demselben die wesentlichsten Aenderungen hervor, welche die neue Verordnung mit sich brachte, indem wir den Kantonsregierungen gleichzeitig die nöthigen Erläuterungen zu den Bestimmungen derselben gaben.

Verordnung und Kreisschreiben sind sowohl im Bundesblatt als im Handelsamtsblatt veröffentlicht worden.

6. R e k u r s e wurden im Berichtsjahres anhängig gemacht; hiezu kam noch ein Geschäft, das bereits im Jahre 1889 anhängig war, aber erst 1890 erledigt werden konnte.

Von diesen 6 Rekursen fallen 2 auf den Kanton S. Gallen und je einer auf die Kantone Basel-Stadt, Appenzell A.-Rh., Neuenburg und Zürich. Fünf waren gegen Verfügungen kantonaler Aufsichtsbehörden gerichtet, einer gegen das schweizerische Handelsregisterbüreau. Einer wurde gegenstandslos, da die betreffende Aufsichtsbehörde ihren angefochtenen Entscheid fallen ließ; einer konnte durch das Departement erledigt werden. Von den übrigen vieren wurde einer als begründet erklärt, die andern drei dagegen als unbegründet abgewiesen.

Nachstehende 2 Entscheide sind von allgemeinem Interesse: I. Joseph Scheier und Fidel Dürtscher, sowie Emil Aider und Johann Jenui, Alle Baumeister in St. Gallen, haben an den Bundesrath rekurrirt gegen einen Entscheid der St. Galler Behörden, betreffend die Pflicht zur Eintragung in das Handelsregister.

Der Bundesrath hat diesen Rekurs abgewiesen, gestützt auf folgende Erwägungen: 1) Gemäß Art. 865, Absatz 4, O.-R. ist zur Eintragung in das Handelsregister verpflichtet, wer ein Handels-, Fabrikationsoder anderes nach kaufmännischer Art geführtes Gewerbe betreibt. Der rekurrirte Entscheid nimmt an, daß das Gewerbe der Rekurrenteu unter diese Gesetzesbesimmungen falle.

2) Um dies zu ermitteln, genügt es nicht, zu prüfen, ob die Rekurrenten eine Buchführung im kaufmännischen Sinne eingerichtet haben. Der Bundesrath hat schon am 3. Dezember 1883 entschieden, daß die Pflicht der Eintragung in das Handelsregister nicht allein davon abhänge, ob Jemand sein Geschäft thatsächlich nach kaufmännischer Art betreibe, sondern auch davon, ob die Natur des Gewerbes eine kaufmännische Art des; Betriebes erfordere.

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Es kann daher nicht lediglich darauf abgestellt werden, ob die Buchführung eines Geschäftes in kaufmännischer Weise eingerichtet sei. Ausschlaggebend muß vielmehr diejNatur des Ge- · Schaftes und die Art des Gewerbebetriebes sein.

3) Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß das Baugewerbe unter Art. 865, Absatz 4, O.-R. fällt, sobald es über den Handwerksbetrieb hinausgeht und auf das Gebiet der Spekulation übertritt. Der Bundesrath hat dies auch in seiner Botschaft an die Bundesversammlung vom 1. Mai 1888, betreffend Abänderung einiger Bestimmungen des Obligationenrechtes über das Handelsregister, festgestellt. Es heißt daselbst unter Anderem, daß als Gewerbe, die nach kaufmännischer Art geführt werden und deren Betrieb die Eintragung in das Handelsregister gemäß Art. 865, Absatz 4, O.-R. bedinge, zu betrachten seien: ,,Gewerbe, die durch ihren Umfang und Geschäftsbetrieb Handels- und Fabrikationsgewerben gleichgestellt werden, während sie beim Kleinbetrieb nicht zu denselben zählen ; Handwerker, die entweder ein Verkaufsmagazin halten oder ihr Geschäft im Großen betreiben, so daß dasselbe einer geordneten Buchführung bedarf; größere Maurer-, Zimmer- oder Schreinergeschäfte, Baugeschäfte etc." (vgl. Bundesblatt 1888, II, 985 unten).

4) In diese Kategorie gehört das von den Rekurrenten betriebene Baugewerbe. Ihre Geschäfsführung geht weit über den Handwerksbetrieb hinaus. Wie sie selbst zugeben, erstellen sie gewerbsmäßig auf eigenem Grund und Boden, den sie zu diesem Zwecke erwerben, für ihre Rechnung Häuser, um dieselben wieder zu verkaufen. Diese Gebäude werden somit nicht nach Bestellung, sondern auf Spekulation errichtet. Taglohn- oder Akkordarbeiten führen die Rekurrenten gar nicht aus (Mittheilungen über den Gesuhäftsumfang der Rekurrenten).

Art. 865, Absatz 4, O.-R. kommt somit hier zur Anwendung und es sind die RekurrentenJzur Eintragung in das Handelsregister verpflichtet. (28. Februar.)

. ; ,i;ï|j II. Edmund Schmoll, Handelsmann, Sohn des verstorbenen Herrn Salomon Schmoll allié Dreyfus in Basel, wurde- durch die Justizkommission des Kantons Baselstadt mittelst Erkenntniß vom 16. Dezember 1889 mit seinem Begehren, die Firma ,,SchmollDreyfus flls a führen zu dürfen, abgewiesen. Gegen dieses Erkenntniß, das sich auf Art. 867 O.-R. stützt, rekurrirt Namens des Herrn Schmoll Herr Dr. August
Sulger, Rechtsanwalt in Basel, in .einer Eingabe vom 18. Januar 1890 an den Bundesrath. Der Rekurs stützt sich insbesondere auf die Thatsache, daß nachfolgende Firmen

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durch die Praxis als zulässig erklärt worden seien: A. R. von Plantas Erben ; J. Sennhausers Erben ; Hoirs d'Emile Robadey ; Ferd. Lendis Erben; sowie ferner auf den Rekursentscheid des Bundesrathes vom 9. Juli 1886 in Sachen ,,Chr. Krüsi's Wittwe a .

Der Bundesrath, in Erwägung: 1) Wer ein Geschäft ohne Betheiligung eines Kollektivgesellschafters oder Kommanditäriä betreibt, darf gemäß Art. 867 O.-R.

nur seinen Familiennamen (bürgerlichen Namen) mit oder ohne Vornamen als Firma führen.

2) Der bürgerliche Name des Rekurrenten Edmund Schmoll ist unbestrittenermaßen nicht Schmoll-Dreyfus. Der Rekurrent darf demgemäß den Namen Schmoll-Dreyf'us auch nicht als Firma führen.

3) Es ist selbstverständlich, daß gegen die klare gesetzliche Bestimmung weder Pietätsgründe noch Gründe geschäftlicher Natur aufzukommen vermögen. Die Wünsche und Bedenken, welche der Rekurrent in dieser Beziehung vorbringt, können nicht in Betracht fallen, da das schweizerische Gesetz im öffentlichen Interesse, entgegen der Gesetzgebung anderer Länder, keine Uebertragung von Firmen zuläßt.

Dagegen kann der Rekurrent den Zusammenhang seines Geschäftes mit demjenigen seines verstorbenen Vaters zum Ausdruck bringen, wenn er seiner Firma gemäß Art. 867, Absatz 2, einen Zusatz beifügt, welcher zur näheren Bezeichnung seiner Person dienen kann.

4) Die vom Rekurrenten angerufenen analogen Fälle sind nicht zutreffend. Die vier erstangeführten beziehen sich auf Kollektivgesellschaften und müssen schon deßhalb hier außer Betracht fallen.

Allein auch die Gestattung der Firma ,,Chr. Krüsi's Wittwe a kann die Anschauung .des Rekurrenten nicht stützen. Jene Firma wurde als zulässig erklärt, weil sie den wahren Familiennamen der Petentin enthielt und über die Person der Inhaberin kein Zweifel möglich war. Diese Erwägungen treffen im vorliegenden Falle um so weniger zu, als der Rekurrent keineswegs der einzige Sohn des verstorbenen Emil Sehmoll allié Dreyfus ist, sondern nur der eine von fünf Söhnen, hat beschlossen: Der Rekurs ist abzuweisen. (12. Februar 1890.)

Auf einen grundsätzlichen Entscheid, den wir aus Anlaß eines weiteren Rekurses zu fassen in den Fall kamen, werden wir weiter unten (sub Ziffer 13) zu sprechen kommen.

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7. Die F i r m e n b i l d u n g gab auch im abgelaufenen Jahre wieder mehrfach zu Anständen Veranlassung. Indessen kamen keine Fälle vor, worüber wir uns nicht schon in früheren Berichten ausgesprochen hätten.

Der Umstand, daß die Anstände solche Firmenbildungen betreffen, hinsichtlich welcher Weisungen und Entscheidungen bereits veröffentlicht worden sind, darf indeß keineswegs lediglich zu Ungunsten der Registerführer ausgelegt werden. Es sind zwar auch jetzt wieder einige Fälle vorgekommen, in welchen die unrichtig gebildete Firma nicht hätte in das Handelsregister eingetragen werden können, wenn der Registerführer die publizirten Entscheide besser zu Rathe gezogen hätte. In der Mehrzahl der Fälle aber sind die Anstände durch das Publikum selbst verschuldet worden.

Der einzige Fall, in welchem der Bundesrath einen Entscheid zu fassen hatte, wurde oben (unter Ziffer 6, II) mitgetheilt.

Von allgemeinem Interesse ist nur nachstehender Fall, und auch dieser nicht der dabei in Betracht fallenden Gesetzesauslegung, sondern lediglich der besondern Umstände wegen.

Aus der Kollektivgesellschaft unter der Firma ,,Wagen freresa in Y o k o h a m a trat einer der zwei Gesellschafter aus. Der verbleibende bisherige Gesellschafter wollte das Geschäft unter der alten Firma allein weiterführen. Das Generalkonsulat in Japan verweigerte eine diesbezügliche Eintragung in das Handelsregister auf Grund des Art. 872 und 867 O.-R., indem es den Firmainhaber gleichzeitig auf Art. 864 O.-ß. aufmerksam machte, gemäß welchem er durch Ordnungsbußen zur Anpassung seiner Firma an das Gesetz verhalten werden könne. Die Anschauungsweise des Generalkonsulates wurde durch die Bundesbehörden als richtig anerkannt.

Durch Kreisschreiben vom 11. Juli 1882, an die schweizerischen Konsularbeamten in Japan, hat der Bundesrath nämlich als Regel aufgestellt, daß für die daselbst niedergelassenen Schweizer, in allen Fragen, welche das Handelsregister und das Firmenrecht betreffen, das Bundesgesetz über das Obligationenrecht, vom 14. Brachmonat 1881, maßgebend sei. Diese Regel stützt sich auf den mit Japan bestehenden Freundschafts- und Handelsvertrag, vom 6. Februar 1864, wonach die in Japan niedergelassenen Schweizerbürger der schweizerischen Jurisdiktion' unterstellt sind.

Es wird daher seit dem 1. Januar 1883 durch das Generalkonsulat in Yokohama für die in Japan niedergelassenen Schweizer ein Handelsregister in derselben Weise geführt wie im Heirnatlande.

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8. Anläßlich der Eintragung einer Genossenschaft wurde die Frage aufgeworfen : a. ob die Registerführer berechtigt seien, die Eintragung von Aktiengesellschaften, Kommandit-Aktiengesellschaften und Genossenschaften zu verweigern, falls sie in den Statuten solcher Gesellschaften Bestimmungen finden, welche den Vorschriften des Obligationenrechtes zuwiderlaufen, auch wenn diese Bestimmungen nicht solche seien, welche durch die Art. 616 und 680 als nothwendig für den Inhalt der Statuten bezeichnet sind, und b. ob den Registerführern die Pflicht auffalle, die Statuten in dieser Richtung zu prüfen.

Das schweizerische Handelsregisterbüreau gab seiner diesbezüglichen Anschauung folgenden Ausdruck: Eine P f l i c h t z u r P r ü f u n g d e r S t a t u t e n v o n A k tiengesellschaften und Genossenschaften besteht für die Registerführer allerdings nur insoweit, als es sich um den notwendigen Inhalt der Statuten handelt. Zum Zwecke dieser Prüfung werden aber die Statuten in der Regel vollständig durchgesehen werden müssen. Wenn nun hiebei Bestimmungen gefunden werden, die sich mit den Vorschriften des Gesetzes im Widerspruch befinden, so hat der Registerführer nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die Eintragung zu verweigern. Denn einerseits darf eine Behörde, welche über die richtige Anwendung eines Gesetzes zu wachen hat, eine Mißachtung dieses selben Gesetzes nicht gewissermaßen dadurch sanktioniren, daß sie über dieselbe stillschweigend hinweggeht, wenn sie ihr bei Ausübung ihrer amtlichen Thätigkeit bekannt wird. Anderseits können solche Gesetzwidrigkeiten bei Gründung einer Gesellschaft von keiner andern Behörde in Erfahrung gebracht werden, als gerade von den Registerbehörden.

9. Einige Private hatten sich vereinigt, um als ,, e i n f a c h e G es e l lschaf t" im Sione des Titels XXIII O.-R. eine Lastwaage zu betreiben. Sie suchten die Eintragung dieser Gesellschaft in das Handelsregister nach. Da das Obligationenrecht die Eintragung der einfachen Gesellschaft nicht kennt, was wir mittelst Schlußnahme vom 4. April 1884 festgestellt haben (vergl. diesfalls die Geschäftsberichte des Handels- und Landwirthschaftsdepartementes pro 1884 und 1886 -- Bundesbl. 1885, pag. 282, und 1887,pag.

382), so mußte die Eintragung verweigert werden.

10. Die Eintragung einer S t i f t u n gO wurde vom schweiO O zerischen Handelsregister-Bureau als unzulässig erklärt, da gemäß

583 Art. 719 0.-R. die Entstehung solcher Insitute zu ordnen dem kantonalen Rechte überlassen ist, weßhalb dieselben nicht auf Grund des Obligationenrechtes die juristische Persönlichkeit (durch Eintragung in das Handelsregister) erlangen können. Bei der fraglichen Stiftung hätte übrigens eine Eintragung in das Handelsregister um so weniger Sinn gehabt, als ihr durch den Staatsrath und den Großen Rath ihres Kantons die juristische Persönlichkeit nach kantonalem Rechte bereits ertheilt worden war. Bei allen im Titel XXVIII O.-R. genannten Personenverbänden aber kann die Eintragung in das Handelsregister einzig den Zweck haben, die juristische Persönlichkeit zu erwerben.

1 1 . Bezüglich einer E i n s p r a c h e S e i t e n s D r i t t e r gegen eine bereits vollzogene Eintragung mußte neuerdings betont werden {vergl. Schweiz. Handelsamtsbl. Nr. 59 vom 24. Juli 1884, pag.

533), daß solche Einsprachen die Publikation der bereits vorgenommenen Eintragung nicht hemmen können, und daß auch Einsprachen gegen erst bevorstehende Eintragungen die Registerbehörden nur dann bestimmen dürfen, einer den gesetzliehen Requisiten entsprechenden Registeranmeldung keine Folge zu geben, wenn ihr der Beweis geleistet wird, daß das in Art. 24 der bundesräthlichen Verordnung (neue Verordnung Art. 30) vorgesehene gerichtliche Verfahren bereits eingeleitet ist, oder daß dessen Einleitung unmittelbar bevorsteht.

1 2 . D i e L ö s c h u n g e n v o n A m t e s w e g e n gaben auch im Berichtsjahre wieder zu Erörterungen Anlaß : Ein Registerführer wollte die Firma eines zu krimineller Zuchthausstrafe Verurtheilten, der für die Dauer seiner Strafzeit unter Vormundschaft gestellt wurde, von Amtes wegen im Handelsregister löschen. Auf Grund der Verordnung über das Handelsregister mußte dieß als unzuläßig erklärt werden, da unter den in derselben genannten Gründen zur amtlichen Löschung weder kriminelle Verurtheilung noch daherige Bevormundung als Löschungsgrund genannt ist. Der Verurtheilte kann ein sehr großes Interesse daran haben, dass sein Geschäft während der Dauer seiner Strafzeit unverändert weitergeführt wird. Uebrigens steht es den Vormundschaftsbehörden jederzeit frei, die Löschung der Firma a o z u b e g e h r e n . (Fall Müller in Dagmersellen.)

13. Wie schon früher, so entstand auch im Berichtsjahr verschiedene
Male wieder die Frage, ob die E r h ö h u n g d e s G r u n d k a p i t a l s e i n e r A k t i e n g e s e l l s c h a f t i n d a s Handelsregister eingetragen werden dürfe, auch wenn den Registerbehörden keine

584 Bescheinigungen (im Sinne des Art. 618, bezw. 622, Ziff. l und 2, O.-R.) darüber vorgelegt werden, daß das neu zu emittirende Aktienkapital durch Unterschriften vollständig gedeckt sei und daß mindestens 20 % auf jede der neu gezeichneten Aktien einbezahlt seien.

Das schweizerische Handelsregisterbüreau hat diese Frage stets verneint und bei allen Kapitalerhöhungen in dieser Hinsicht die Erfüllung der nämlichen Formalitäten verlangt, wie bei der ersten Eintragung einer Aktiengesellschaft. (Art. 618, bezw. 622, Ziff.

l und 2, O.-R.)

Aus Anlaß eines Rekurses kamen wir in den Fall, uns u. A.

auch hierüber auszusprechen.

Wir haben dabei das Vorgehen des Handelsregisterbüreau als ein korrektes auerkannt.

Dieselben rechtspolitischen Gründe, welche zur Aufstellung der strengen Bestimmungen der Art. 618 und 622 O.-R. hinsichtlich der Gründung der Aktiengesellschaft führten, sind auch bei der Erhöhung des Gesellschaftskapitals zutreffend und fordern daher auch bei einer solchen die Beobachtung der genannten Bestimmungen.

14. Bei einem Begisterbüreau mußte eine Eintragung, welche am 13. Oktober 1886 vollzogen wurde, gemäß Verfügung des schweizerischen Handelsregisterbüreau acnullirt werden, da die eingetragene Firma den Vorschriften des Obligationenrechtes nicht entsprach.

Am 16. Oktober gleichen Jahres fand sodann die Eintragung in gesetzentsprechender Weise statt. In der Folge ertheilte das betreffende Registerbüreau dem lahaber der am 16. Oktober eingetragenen Firma auf dessen Verlangen einen R e g i s t e r a u s z u g über die annullirte Eintragung vom 13. Oktober. Aus dem Auszuge ergab sich keineswegs, daß die fragliche Eintragung als unzuläßig annullirt sei. Der Firmainhaber machte von diesem Auszuge in der Weise Gebrauch, daß er ihn dein eidgenössischen Amte für geistiges Eigenthum pväsentirte, als er eine Fabrikmarke hinterlegen wollte. Die genannte Amtsstelle gab dem schweizerischen Handelsregisterbüreau hievon Kenntniß Narh Prüfung der Angelegenheit sah sich das Justiz- und Polizeidepartement veranlaßt, der Aufsichtsbehörde des betreffenden Registerführers zu dessen Händen Folgendes mitzutheilen : Die am 13. Oktober 1886 vorgenommene Eintragung war ungesetzlich (O.-R. 867). Sie mußte daher annullirt werden. Infolge dessen ist sie als gar nicht existirend zu betrachten. Es können über dieselbe daher auch keine Ausstüge, weder an die Person,

585 welche die Eintragung anbegehrte, noch an Dritte ertheilt werden.

Einzig die am 16. Oktober stattgehabte, mit dem Gesetze im Einklang stehende Eintragung ist als existent zu betrachten. Sie ist nicht etwa bloß eine Berichtigung oder Ergänzung der Eintragung vom 13. Oktober, sondern sie ist der Ersatz für dieselbe und tritt vollständig an deren Stelle. An denjenigen, welcher jene gesetzwidrige Eintragung anbegehrt hatte, durfte unter keinen Umständen eine Abschrift derselben ertheilt werden, sobald deren Ungesetzlichkeit erkannt war. Nur an eine öffentliche Behörde könnte auf Verlangen eine Bescheinigung betreffend den Inhalt der annullirten Eintragung ertheilt werden.

15. Von einigen Seiten wurde dem Wunsche Ausdruck gegeben, es möchte von Bundes wegen ein Ve r z e i c h n iß d e r i m H a n d e i s r e g i s t e r e i n g e t r a g e n e n F i r m e n herausgegeben werden.

Diesen Anregungen konnte einstweilen keine Folge gegeben werden.

Schon im Jahre 1883 wurden von zwei Verlagshandlungen, unabhängig von einander, Verzeichnisse der im Handelsregister eingetragenen Firmen herausgegeben, welche sich streng an die Veröffentlichungen des Handelsamtsblattes hielten. Beide Unternehmen wurden indessen nicht weiter geführt, und die ausgegebenen Bände und Supplemente dürften gegenwärtig ihren Werth verloren haben.

Der Grund für das Eingehen scheint uns darin zu liegen,' daß die Unternehmungen keine Rendite abwarfen.

Letzteres dürfte selbstverständlich für den Bund kein Abhaltungsgrund sein, ein offizielles Firmen verzeichniß herauszugeben, wenn sich ein solches als ein Bedürfniß erweisen sollte.

Inzwischen darf aber Folgendes nicht außer Acht gelassen werden.

. Bisher wurden bei den Registerbüreaux nur Verzeichnisse der im Hauptregisfer eingetragenen Firmen und der im besonderen Register eingetragenen Personen, welche sieh freiwillig hatten eintragen lassen, geführt. Aus diesen Verzeichnissen selbst war nicht ersichtlich, ob die in denselben aufgeführten Firmen oder Personen thatsächlich noch im Handelsregister eingetragen oder ob sie bereits gelöscht seien. Um dies zu eruiren, mußten die Register selbst nachgeschlagen werden.

Um die Vollziehung des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs zu ermöglichen, werden diese Verzeichnisse nun bereinigt, so daß aus ihnen jederzeit ersehen werden kann, wer effektiv

586 im Handelsregister eingetragen ist. Im Weitern werden Verzeichnisse aller derjenigen Personen angelegt, welche im Handelsregister figuriren und gegen welche die Schuldbetreibung gemäß Art. 39 des Betreibungs- und Konkursgesetzes auf dem Wege des Konkurses oder der Wechselbetreibuug zu erfolgen hat Von diesen Verzeichnissen werden vom 1. Januar 1892 ab in jedem Betreibungsamt Doppel geführt, soweit es Personen oder Firmen betrifft, die in dem betreffenden Betreibungskreise domizilirt sind. (Wir verweisen diesfalls auf die Art. 16, 31 und 35 der Verordnung vorn 6. Mai und auf Ziffer V des Kreisschreibens vom 11. Juli 1890.)

IX. Rekurswesen.

1. Statistik.

Im Jahre 1890 waren mit Einrechnung der aus dem Vorjahre anhängig gebliebenen Fälle 148 Rekurse (1889: 154; 1888:'l49> K u behandeln, von welchen 138 ihre Erledigung fanden und 10 als unerledigt auf das Jahr 1891 übertragen wurden.

In 64 Rekurse (1889: 71 ; 1888 : 96) traten wir materiell nicht ein, theils weil ausschließlieh die kantonalen Behörden oder das Bundesgericht für den Entscheid kompetent waren, theils weil da, wo unsere Kompetenz materiell wirklich begründet gewesen wäre, die kantonalen Instanzen noch nicht erschöpft waren.

Die übrigen 74 Rekurse (1889: 30; 1888: 47) betrafen dem Gegenstande nach : 60 Beeinträchtigung der Handels- und Gewerbefreiheit j 5 Verweigerung oder Entzug der Niederlassung; 7 Verweigerung von Ausweisschriften durch die Heimatbehörde oder Rückhaltung von solchen am letzten Wohnort; l betreffend die Schächtfrage (israelitische Schlachtmethode); l Steuerwesen. ' 6 Rekurse wurden zurückgezogen und 6 dadurch erledigt, daß die kantonalen Behörden von sich aus den Rekurrenten entsprachen.

Es blieben demnach 62 Beschwerden übrig, welche materiell zu entscheiden waren (1889: 17; 1888: 43); 40 derselben wurden abgewiesen und 22 begründet erklärt.

Die Bundesversammlung hatte sich im Jahre 1890 mit 7 Beschwerden und Rekursen gegen Entscheid e aus dem Geschäftskreise des Justiz- und Polizeidepartements zu befassen (1889: 6; 1888: 6).

In 5 Fällen hat sie uusern Entscheid bestätigt; in 2 Fällen wurde,

587

gemäß unserm Antrag, Nichteintreten beschlossen. Ein bei der Bundesversammlung anhängig gewesener Rekurs (Mariahilfkirche) wurde im Berichtsjahre zurückgezogen.

2. Rekursgegenstände.

a. Handels- und Gewerbefreiheit.

aa. Statistik.

Die Zahl der Rekurse betreffend die Handels- und Gewerbefreiheit beträgt im Berichtsjahre 70 (1889: 61; 1888: 28). Ueber die Rekursgegenstände und deren Erledigung gibt die nachstehende Aufstellung Auskunft.

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Wirthschaftswesen .

Marktverkehr (Vorkauf) .

Staatliche Kontrolirung der Ankündigung von Heilmitteln durch Zeitungsanzeigen . . . . .

Hausirwesen Fabrikation von Stockschraubenflinten(j3teckengewehren)

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bb. Grundsätzliche Erörterung der Bundeskompetenz in Rekurssachen betreffend das Wirthschaftsgewerbe.

In unserm Geschäftsberichte für das Jahr 1885 haben wir (Bundesbl. 1886, I, 935) die Frage aufgeworfen, ob nach der am 25. Oktober 1885 beschlossenen und am 22. Dezember jenes Jahres in Kraft getretenen Revision des Art. 31 der Bundesverfassung in Wirthschaftssachen noch ein Bundesrekursrecht auf juristischer Grundlage sich erhalten könne. Ohne im Mindesten zu verkennen, daß die kantonale Autonomie auf diesem Gebiete erheblich ver-

588 stärkt worden ist, fanden wir doch, es dürfte gerade aus dieser Erweiterung des Rechts der Kantone dem Bunde die Pflicht erwachsen, um so aufmerksamer den Grundsatz des Art. 31 gegen eine möglicherweise unbegründete Anwendung der kantonalen Befugnisse zu wahren und um so entschiedener denselben da aufrecht zu erhalten, wo das öffentliche Wohl eine beschränkende Maßnahme nicht rechtfertigen sollte.

Als unser Justiz- und Polizeidepartement .mit. Vortrag vom 29. Juni 1889 in einer Wirthschaftsrekursessache aus dem Kanton St. Gallen uns diAbweisungug des Rekurses aus dein Grunde beantragte, daß es sich um eine thatsächlich gerechtfertigte Anwendung des mit Art. 31 der Bundesverfassung wohl vereinbarlichen St. Gallischen Gesetzes handle, welches vom Bewerber volle Gewähr für polizeilich klaglosen Wirthschaftsbetrieb verlangt, beauftragten wir am 23. Juli 1889 das Departement, uns vorläufig einen einläßlichen Berieht über d i e Kompetenz d e s Bundesrathes z u r Behandlung der Bundesverfassung zu erstatten.

Dieser Berieht, vom 6. August datirend, ist uns am 13. August jenes Jahres eingereicht worden. Das Departement kommt darin zu folgenden Schlüssen : ,,Wo das kantonale Gesetz selbst die Ertheilung der Bewilligungen von einem bestimmten Verfahren und festen Regeln abhängig macht, braucht die Bundesgewalt nicht einzuschreiten, so lange diese Regeln, wie sie auch lauten mögen, ohne Unterschied der Person beobachtet werden (ausgenommen der sehr seltene Fall, daß diese Regeln der öffentlichen Wohlfahrt offenbar zuwiderliefen).

,,Wo -dagegen das kantonale Gesetz eine unbestimmte und dehnbare Fassung hat, welche dem Ermessen der Regierung einen weiten Spielraum läßt, da wird der Bundesrath in jedem einzelnen Falle zu prüfen haben, ob bei Vollziehung des Gesetzes die verfassungsmäßigen Rechte des Rekurrenten hinlänglich gewahrt worden seien. Diese Rechte sind, wie man nicht genug wiederholen kann, durch die Revision des Art. 31 nicht aufgehoben worden. Der Bürger kann zwar nicht mehr eine unbeschränkte Freiheit im Wirthschaftswesen beanspruchen ; aber er kann nach wie vor verlangen, daß die Beschränkungen, welche man ihm auferlegt, aus dem nämlichen Grunde und in gleichem Masse auch diejenigen Bürger treffen, die sich in gleichen Umständen befinden wie er. Muß die kantonale gesetzgebende oder vollziehende Gewalt gern oder ungern einer beschränkten Zahl von Bürgern ein Vorrecht einräumen, um

589 die Zahl der Schenken zu vermindern, so ist immerhin diese Vergünstigung an klar bestimmte, für Jedermann gleichlautende Bedingungen thatsächlicher Natur zu knüpfen, und es ist ein Bürger, welcher unter gleichen Verhältnissen einem Mitbewerber hintangesetzt wird, wie bisher berechtigt, den Grundsatz des Art. 31 anzurufen."

Wir haben uns am 13. September 1889 mit diesen Schlüssen einverstanden erklärt.

Bald darauf waren wir in der Lage, die von uns als Richtschnur bei Behandlung von Wirthschaftsrekursen gutgeheißenen Grundsätze aur praktischen Anwendung zu bringen.

Gestützt auf das am i. Januar 1889 in Kraft getretene kantonale Wirthschaftsgesetz vom 28. September 1888 verweigerte der Staatsrath von Freiburg in 98 Fällen die Erneuerung der Wirlhschaftspatente. 45 freiburgische Wirthe erhoben gegen diese Maßregel, unter Berufung auf Art. 31 der Bundesverfassung, Beschwerde beim Bundesrathe. Wir haben dieselben durch Entscheid vom8. Januarl890 erledigt (Bundesbl. 1890, I, 369 bis 404).

Der Staatsrath hatte die Kompetenzeinrede gegen uns erhoben: Der Art. 31 der Bundesverfassung sei seit der Revision von 1885 auf das Wirthschaftswesen nicht mehr anwendbar.

Wir erwiderten : Der Staatsrath stützt sich zwar auf ein seit 1885 erlassenes kantonales Gesetz ; allein dieses Gesetz stellt keine festen und gleichmäßig anwendbaren Normen auf, es überläßt Zahl und Auswahl der aufzuhebenden Wirtschaften dem freien Ermessen der Regierung. Gegenüber einem so elastisch abgefaßten Gesetze muß sich der Bundesrath vorbehalten, in jedem Spezialfalle zu prüfen, ob die kantonale Regierung von ihrer Kompetenz einen gerechtfertigten, mit dem Grundsatz der Gleichstellung der Bürger vereinbarlichen Gebrauch gemacht habe. Die Gleichbehandlung der Bürger bildet ein wesentliches Merkmal der Handels- und Gewerbefreiheit, und von einer gänzlichen Aufhebung dieses Freiheitsrechtes kann keine Rede sein (vgl. Bundesblatt 1890, I, 373 und 374).

Unser Entscheid vom 8. Januar 1890 ist vom Staatsrath des Kantons Freiburg nicht weitergezogen worden.

Dagegen hat die Regierung des Kantons Luzern gegen den Bundesrathsbeschluß vom '29. Juli 1890 in Rekurssache des Thierarztes M. Muff in Neuenkirch den Rekurs an die Bundesversammlung ergriffen, mit der Begründung: ,,Durch die Revision des Art. 31 der Bundesverfassung ist die Freiheit
im Wirthschaftsgewerbe nicht e i n g e s c h r ä n k t , sondern das Prinzip der Gewerbefreiheit für ·dasselbe a u f g e h o b e n worden Die Kantone sind in dieser Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

38

590

Beziehung nach Art. 3 der Bundesverfassung wieder souverän geworden Wir müssen das Wirthschaftsgewerbe vollständig für das kantonale Recht in Anspruch nehmen. a Die Luzerner Regierung berief sich zur Erhärtung ihrer Reclitsansicht auf die Verhandlungen der eidgenössischen Käthe über die Revision des Art. 31 der Bundesverfassung.

In gleichem Sinne wurde unsere Kompetenz in Wirthschaftsrekurssachen im Laufe des letzten Jahres von den Regierungen von Obwalden und Zug bestritten.

Wir beschlossen daher am 23. Januar des laufenden Jahres, den Bericht des Justiz- und Polizeideparternents vom 6. August 1889 in extenso im Bundesblatte zu veröffentlichen. Dies ist geschehen, (ßundesblatt 1891, I, 145 bis 157.)

Die Bundesversammlung ist durch die am 3./18. Dexember 1890 erfolgte Bestätigung unserer Schiußnahme über den Rekurs Muff unserer Auffassung beigetreten; sie liât dies, wie namentlich die Diskussion im Ständerathe beweist, in ganz unzweideutigem Sinne gethan.

Damit kann dieser staatsrechtliche Streit als endgültig entschieden betrachtet werden. Der Entscheid ist in dem von uns von Anfang an vertretenen Sinne ausgefallen.

Es erübrigt uns noch, mit wenigen Worten einen formellrechtlichen Punkt zu berühren, der anläßlich der Diskussion im Ständerathe über den Rekurs der Regierung von Luzern in Sachen Muff zur Sprache gebracht wurde: wir meinen die Frage, ob vor dem 22. Dezember 1885 erlassene kantonale Gesetze, welche ausdrücklich die Ertheilung von Wirthschaftspatenten von dem vorhandenen öffentlichen Bedürfnisse abhängig machen, seit der Revision des Art. 31 der Bundesverfassung Anwendung finden können.

Wir haben in einem Kreisschreiben an sämmtliche eidgenössischen Stände, vom 1. Juni 1886 (Buadesbl. 1886, II, 664), die Ansicht ausgesprochen, daß eine solche Bestimmung da, wo sie nicht durch einen formellen Akt der Kantonsbehörden als dahingefallen oder aufgehoben erklärt worden sei, nach dem Wegfall des durch die bundesrechtliche Praxis ihr entgegengestellten Hemmnisses wieder auflebe und vollziehbar werde, andern Falles aber zur Geltendmachung der Bedürfnißfrage ein neuer legislativer Akt der kantonalen Behörden erforderlich sei. Allein diese Ansicht ist im Jahre 1889 vom Bundesgerichte durch zwei Entscheidungen auf dem ihm unterstellten Kompetenzgebiete, nämlich bei Beurtheilung der Frage, ob durch Anwendung solcher vor 1885 erlassene gesetzliche Bestim-

591 mungen ein kantonalverfassungswidriger Uebergriff der vollziehenden Gewalt in das Gebiet der Gesetzgebung stattfinde, als irrig erklärt worden, indem das Bundesgericht annahm, es seien gemäß Art. 2 der Uebergangsbestimmungen der Bundesverfassung auch die bloß m i t d e r bundesrechtlichenPraxis;^ a l s d e r logischen Entfaltung Annahme der Bundesverfassung ohne Weiteres aufgehoben worden (Amtl. Samml. derbundesgerichtl..Entsch.. XV, 157 ff.).

Demnach werden diejenigen Kantone, welche in Anwendung des revidirten Art. 31 dem Inhalte ihrer früheren Gesetze von Neuem Gesetzeskraft verleihen wollen, dies nur durch einen neuen gesetzgeberischen Erlaß bewerkstelligen können.

Nun ist aber wohl zu beachten, daß die bundesrechtliche Praxis nach 1874 den Kantonen keineswegs alle und jede Rücksichtnahme auf das öffentliche Wohl bei der. Bewilligung, beziehungsweise Verweigerung oder Entziehung von Wirthschaftsrechten, sondern ausdrücklich nur die Beschränkung der Wirthschaften auf eine Normalzahl untersagte. (Vgl. Kreisschreiben des Bundesrathes, vom 11. Dezember 1874; Bundesbl. 1874, III, 888 ff.). In anderen Beziehungen, in denen die Rücksicht auf das öffentliche Wohl ebenfalls von entscheidender Bedeutung istwiee z. B. in Betreff der lokalen Wirthschaftseinrichtungen, der Moralität der Wirtschaftsführung u. s. w., haben die Bundesbehördendena Kantonen seit 1874 bis auf den heutigen Tag sozusagen freie Hand gelassen. Es kann also nicht gesagt werden, daßkantonalgesetzlichee Bestimmungen, welche ganz allgemein für die Bewilligung von Wirthschaftsrechten die Rücksichtnahme auf das öffentliche Wohl vorschreiben, mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874 einfach aufgehoben worden seien; solche Bestimmungen konnten auch vor 1885 zu Recht bestehen 5 es wurde nur als mit Art. 31 der Bundesverfassung unvereinbar und daher als unzuläßig betrachtet, im Interesse des öffentlichen Wohls die Zahl der Wirtschaften von der Bedürfnißfrage abhängig zu machen. Demnach war die Anwendung jener Bestimmungen nur in e i n e r g e w i s s e n R i c h t u n g ausgeschlossen; seit 1885 ist sie auch in dieser Richtung möglich geworden.

Wir haben diesen Satz in einer Erwägung zu unserem Beschlüsse über den Rekurs Muff (Bundesbl. 1890, III, 1153) ausgeführt, um darzuthun, daß die §§ l und 15 des luzernischenWirthschaftsgesetzess
vom 22. November 1883zui Recht bestehen und anwendbar sind, und wir glauben, daß der "Rekurs der Luzerner Regierung nicht, wie von einem Mitgliede des Ständerathes angenommen wurde, wegen Nichtanwendbarkeit des kantonalen Gesetzes als unbegründet : zu erklären war.

592 ce. Einzelne Rekursfälle.

i. Wirthschaftswesen.

1. In konsequenter Festhaltung der vom Bundesrathe für seine Praxis als maßgebend erklärten Grundsätze wurden eine Reihe von Rekursen gegen kantonale Regierungsbeschlüsse über Verweigerung oder Entziehung von Wirthschaftspatenten als unbegründet abgewiesen, andere dagegen als begründet erklärt.

Wir verzichten hier auf eine Aufzählung derselben, indem wir auf die vorstehenden statistischen Angaben verweisen ; wir glauben auch, einer Schilderung der konkreten Verhältnisse, die den einzelnen Rekursen zu Grunde lagen, uns enthalten zu dürfen. Wo die Sache an die Bundesversammlung weitergezogen wurde, wie von einigen Freiburger Wirthen und von der Regierung des Kantons Luzern in Sachen Muff, haben Sie unsere Beschlüsse aufrecht erhalten.

In einigen Fällen aus dem Kanton Freiburg sind wir auf unsere Beschlüsse zurückgekommen, nachdem Seitens der Rekurrenten neue thatsächliche Momente rechtserheblicher Natur geltend gemacht worden waren (Bundesbl. 1890, IV, 69 ff.).

Auf einen Rekurs gegen eine Wirthschaftspatentertheilung sind wir materiell nicht eingetreten. Es handelte sich um ein Erkenntniß des KleinenRathess des K a n t o n s G r a u b ü n d e n vom 18. Mai und 7. Juni 1889 gegen die Verfügung des Polizeiausschusses der S t a d t C h u r , vom 10. Januar 1889, durch welche die Stadtbehörde, in Anwendung von Art. 5, litt, c, der s t ä d t i s c h e n Wirthschaftsverordnung, dem J. B. L a n g - E n d e r das Patent auf das Café Rhätia in Chur nicht mehr zu ertheilen beschloß. Der städtische Polizeiausschuß hatte gefunden, es sei dem J. B. LangEnder das Patent zu verweigern im Hinblick auf die allegirte Verordnung, welche diePatentevtheilungg Denjenigen versagt wissen will, deren Persönlichkeit nicht veille Sicherheit für polizeilich klaglose Betreibung eines Wirthschaftsgeschäftes darbietet; der KleineRathh aber hob diese Verfügung auf, weil thatsächlich nicht bewiesen sei, daß die Wirthschaft seit der Patenterteilung an Herrn J. B. Lang-Ender nicht klaglos betrieben worden und auch dafür kein Beweis vorliege, daß das Café Rhätia nicht auf Rechnung und unter Leitung des Patentinhabers geführt werde.

Gegen den kleinräthlichen Entscheid ergriff der Polizeiausschuß der Stadt Chur den- Rekurs an den Bundesrath Wir haben am 15. April 1890 das
Nichteintreten auf diesen Rekurs beschlossen, gestützt auf folgende Erwägungen : ,,Es handelt sich im Rekursfall nicht um eine Beeinträchtigungder Handels- und Gewerbefreiheit durch den Entscheid der obersten

593 Verwaltungsbehörde eines Kantons; denn der Kleine Rath des Kantons Graubünden hat ja am 18. Mai 1889, entgegen der Verfügung der Stadtbehörde von Chur, vom 10. Januar 1889, dem Begehren des Wirthschaftspatentbewerbers Lang-Ender entsprochen und somit im Sinne der Freiheit des Gewerbebetriebes entschieden.

T,Wenn daher die städtische Polizeibehörde sich diesem Regierungsbeschluß nicht fügen will, so kann sie gegen denselben nicht mit einer auf Art. 31 der Bundesverfassung gegründeten staatsrechtlichen Beschwerde an den Bundesrath: aufkommen.

,,Der Streit zwischen der Stadt- und' der Regierungsbehörde eignet sich überhaupt nicht zu einer Beschwerde an die administrative Bundesbehörde ; denn er dreht sich um eine Frage des kantonalen Staatsrechts, um die Frage nämlich, ob der Kleine Rath von Graubunden befugt sei, eine von der Stadtbehörde Chur, auf Grund ihrer Verordnung über die Betreibung von Wirtschaften und den Kleinverkauf geistiger Getränke, vom 28. Dezember 1877, getroffene Verfügung umzustoßen.11 2. Vorkauf von Lebensmitteln.

2. Bekanntermaßen hat der Bimdesrath durch zwei Beschlüsse (vom 11. Oktober 1875 in Betreff des Polizeireglements von LaChauxde-Fonds, Bundesbl. 1876, II, 582, .und vom 7. September 1877 in Betreff des Polizeireglements von Delsberg, Bundesbl. 1877, IV, 723) erkannt, es seien Bestimmungen, durch welche der Vorkauf (l'accaparement) der Marktwaaren untersagt oder zeitlich beschränkt wird, mit dem in Art. 31 der Bundesverfassung ausgesprochenen Grundsatze der Handelsfreiheit nicht verträglich.

Dieser vom Bundesrathe ohne nähere Begründung aufgestellte Satz ist im zweitangeführten Falle (Delsberg) angefochten und durch Weiterziehung des bundesräthlichen Beschlusses der Bundesversammlung zur Beurtheilung unterbreitet worden. Es konnten sich jedoch die beiden gesetzgebenden Räthe darüber nicht einigen. Der Nationalrath beharrte am 16. Dezember 1878 definitiv auf der Abweisung des Rekurses (in Zustimmung zum bundesräthlichen Entscheid), der Ständerath hielt am 19. Dezember 1878 definitiv an der Begründeterklärung des Rekurses (Zulassung des Vorkaufsverbotes) fest.

Wie unser Justiz- und Polizeidepartement schon im Jahre 1883 auf eine Anfrage des Polizeipräsidenten von Rornont (Kanton Freiburg) erklärte, ist demzufolge der das Verbot des Vorkaufs als verfassungswidrig erklärende Bundesrathsbeschluß vom 7. September 1877 in Kraft geblieben. (Vgl. Geschäftsbericht pro 1883 im Bundesblatt 1884, II, 749 und 750.)

591

Wir waren nun im Berichtsjahre veranlaßt, uns von Neuem mit dieser Frage zu befassen.

Am 1. Oktober 1889 hat der Generalrath der S t a d t F r e i b u r g ein neues Marktreglement erlassen. In Art. 8 desselben wird den Wiederverkäufern von Früchten, Gemüse, Eiern, Butter und Geflügel im Sommer vor 9 Uhr und im Winter vor 10 Uhr Morgens im ganzen Gebiete der Stadtgemeinde Freiburg der Ankauf dieser Lebensmittel bei Strafe untersagt.

Gegen die genannte Bestimmung erhob Herr Charles Blain, Negotiant in B u l l e , für sich und Namens einer Anzahl anderer Interessenten im November 1889 bei dem Staatsrathe des Kantons Freiburg Beschwerde. Am 7. Februar 1890, noch bevor der Staatsrath in der Angelegenheit Beschloß gefaßt hatte, reichte Herr.

Advokat Morard in Bulle Namens der Herren Charles Blain und Konsorten gegen dieselbe Bestimmung auch bei dem Bundesrathe einen Rekurs ein, wobei er folgende Bogehren stellte: 1. Der Art. 8 des Marktreglementes der Gemeinde Freiburg sei als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Die auf diesen Artikel sich stützenden Bußenerkenntnisse und Konfiskationen seien als nichtig zu erklären.

Nachdem wir all' die Erwägungen, welche für und gegen reglementarische Bestimmungen wider den Vorkauf sprechen, reiflich erwogen hatten, entschlossen wir uns, mit der bisherigen Praxis zu brechen. Durch Beschluß vom 1. Juli 1890 haben wir den Rekurs als u n b e g r ü n d e t abgewiesen, das Verbot des Vo r k a u f s v o n L e b e n s m i t t e l n also a l s z u l ä ß i g e r k l ä r t .

Unsere Motive sind in extenso abgedruckt im Bundesbl. 1890, III, 1095 ff.

Seither ist in mehreren Schweizerstädten das Vorkaufsverbot entweder wiederum in Kraft gesetzt oder neu eingeführt worden.

3. Hausirhandel.

3. Ferdinand H u r ni, Handelsmann in Altdorf, wurde durch Verfügung des Polizeidepartements des Kantons S c h w y z , vom 15. April 1890, verhalten, ein Hausirpatent mit Dauer bis 30. Juni gegen Erlegung ,von Fr. 50. 40 zu beziehen, da.er bei Nichtgewerbegenossen (Wirthen,. Hoteliers) auf Spiegel, Thürvorlagen, Glas- und Porzellanwaaren, unter Vorweisung von Mustern, Bestellungen aufsuche, ein Gewerbe; das nach § l der kantonalen Hauairverordnung vom 27. Juli 1877 unter den Begriff des Hausirverkehrs falle.

595

Am 7. Mai 1890 wies der Regierungsrath des Kantons Schwyz die gegen besagte Departementalverfügung von Ferdinand Huroi erhobene Beschwerde ab.

Mit Eingabe vom 18. Mai 1890 hat Herr Dr. Franz Schmid in Altdorf Namens des Ferdinand Hurni gegen diesen Regierungsbeschluß den Rekurs an den Bundesrath ergriffen.

Der Rekurreot wollte vor Allem wissen, ob er von der Schwyzer Regierung auch zu einer Patentsteuer angehalten werden könne, wenn er inskünftig auf das Mitfuhren von Mustern verzichte und sich damit begnüge, seinen Kunden ein photographisches Album seiner Artikel vorzulegen.

Im konkreten Falle möge sich, sagt derselbe, das kantonale Departement formell im Rechte befunden haben. Aber materiell sei es gewiß äußerst unbillig und stoßend, wenn für eine höchstens zwei bis drei Tage beanspruchende Geschäftsreise eine Patenttaxe von Fr. 50 auferlegt wird.

Der Bundesrath hat unterm 18. November 1890 den Rekurs als unbegründet abgewiesen, gestützt auf folgende Erwägungen : 1. Der Buadesrath befaßt sich nach feststehender Praxis nur mit solchen Rekursfragen, die einen konkreten, thatsächlich vorhandenen Fall zur Entscheidung bringen, und hat es von jeher abgelehnt, Entscheiduagen über Verhältnisse zu fassen, die möglicherweise in der Zukunft vorliegen und zu erledigen sein werden.

Es wird daher auch in casu der Entscheid des Bundesrathes sich auf die Frage beschränken, ob unter Zugrundelegung des aktenmäßig festgestellten Thatbestandes durch den Regierungsbeschluß vom 7. Mai 1890 ein bundesrechtlicher Grundsatz, nämlich der in Art. 31 der Bundesverfassung gewährleistete Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit, verletzt sei.

2. Diese Frage ist zu verneinen. Es herrscht zwischen den Parteien kein Streit darüber, daß der Geschäftsverkehr des Rekurre.nten im Kanton Sehwyz unter §§ 6 und 7 der Verordnung dieses Kantons fällt, d. h. als Hausirverkehr sich darstellt, der durch Aufsuchung "von Bestellungen bei Privaten (Niehtgewerbegenossen) ausgeübt :wird.<~: .

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Dagegen wird von Seite des Rekurrenten die Patentgebühr mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit während welcher derselbe den Kanton Schwyz bereist, als unvernältnißmäßig hoch befunden.

In dieser Beziehung ist zu berücksichtigen, daß dem Kanton grundsätzlich vom Bunde nicht verwehrt werden kann, die Zeitdauer

596

für die Gültigkeit der Patente festzusetzen und die Höhe der Taxe» nach der Gültigkeitsdauer des Patentes verschieden zu gestalten.

Immerhin dürfen solche Festsetzungen nicht derart getroffen werden, daß dadurch die Ausübung eines Gewerbes, sei es mit Rücksicht auf die Zeit eines Betriebes, sei es wegen allzu hoher finanzieller Belastung, thatsächlich verunmöglicht wird.

Der dem Rekurrenten auferlegten Verpflichtung, für die Zeit vom 15. April bis zum 30. Juni für den Vertrieb seiner Waaren im Kanton Schwyz ein mit einer Taxe von Fr. 50 belastetes Patent zu erwerben, kann indessen eine solche Wirkung nicht zugeschrieben, werden.

4. Oeffentliche Ankündigung von Heilmitteln.

4. In einer b e r n i s c h e n Zeitung, dem ,,Emmenthaler Blatt", ließ Herr August C a s p a r i , Inhaber der St. Martina-Apotheke in V i v i s , das von ihm verfertigte Präparat ,,Le Dépilatoire" ankündigen. Das Dépilatoire soll die Tasche Beseitigung von mißbeliebigen Haaren am menschlichen Körper bewirken. Die Wiederholung der Insertion wurde aber von der Behörde des Kantons B e r n (Direktion des Innern, Abtbeilung Sanitätswesen) als dem kantonalen Medizinalgesetze zuwiderlaufend verboten.

§ 8 des bernischen Medizinalgesetzes bestimmt, daß Ankündigungen von angeblichen Arzneimitteln zum Gebrauche ohne spezielle ärztliche Verordnung nur auf Bewilligung der Direktion des Innern zuläßig seien. Der Rekurrent beeilte sich, bei der genannten Direktion diese Bewilligung nachzusuchen. Mit Schreiben vom 28. September 1889 erklärte jedoch die heroische Direktion des Innern, daß sie die Ankündigung und den Verkauf des Dépilatoire im Kanton Bern nicht gestatten könne, indem der für das Präparat geforderte Preis mit dem wahren Werthe der darin enthaltenen Substanzen in keinem Verhältniß stehe.

Gegen diese Schlußnahme rekurrirte Herr Caspari wegen Verletzung der in Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Gewerbefreiheit an den Bundesrath.

In ihrer Vernehmlassung vom 23. November 1889 hielt die Regierung ,,des Kantons Bern unter Hinweisung auf den von der Bundesversammlung bestätigten Bundesrathsbeschluß vom 29. Juni 1888 (Bundesbl. 1889, IV, 712 ff.) in Sachen Haller und Gubler die von ihrer Direktion des. Innern getroffene Schlußnahme im ganzen Umfang aufrecht. Laut dem beigegebenen Berieht eines Pharmazeuten würde das Präparat im .Kanton Bern, auf ärztliches

59T

Rezept bereitet, 60 Cls. kosten, während es vom Rekurreuten zu.

Fr. 2. 30 verkauft wird.

Der Bundesrath hat am 4. Februar 1890 den Rekurs für begründet erklärt, unter Aufstellung folgender Entscheidungsgründe ; 1. Es liegt außer Zweifel und ist auch vom Rekurrenten nicht bestritten worden, daß das Dépilatoire zu der Gattung von Arzneimitteln gehört, für welche nach Maßgabe des § 8 des bernischen Medizinalgesetzes bei der Direktion des Innern eine Bewilligung zur Ankündigung und zum Verkaufe im Kantone nachgesucht werden muß. Demnach waltet zwischen den Parteien bloß darüber Streit, ob die heroischen Behörden wirklich da» Recht hatten, diese Bewilligung zu verweigern, das heißt, ob nicht im vorliegenden Falle die Verweigerung der Bewilligung eine Beeinträchtigung der Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 der Bundesverfassung) involvire.

2. Es muß als erwiesen angesehen werden, daß das in Fragestehende Arzneimittel nicht wirkungslos und auch nicht gesundheitsschädlich ist. Ebensowenig handelt es sich um eine gegen die Sittlichkeit verstoßende Ankündigung. Fraglich ist bloß, ob in der Ankündigung des Dépilatoire mît Rücksicht auf den für das Präparat geforderten Preis der Versuch einer ^Ausbeutung", einer Uebervortheilung des Publikums liege.

3. In Anbetracht des geringen Werthes der Substanzen erscheint allerdings der Verkaufspreis hoch. Allein man darf nicht außer Acht lassen, daß dem Rekurrenten durch den Vertrieb de» Präparates (Versendung, Verpackung, Reklame etc.) nicht unbedeutende Kosten erwachsen.

Das Dépilatoire ist zudem ein reiner Luxusartikel. Die Konsumenten desselben dürften beinahe ausschließlich Leute sein, die den dafür verlangten Preis sehr wohl bezahlen können und auch gerne bezahlen.

Alles dies in Betracht gezogen, kann von einer Ausbeutung: und UebervortheiluDg des Publikums in diesem Falle nicht wohl die Rede sein.

4. Die der bundesräthlichen Entscheidung im Rekursfalle Haller und Gubler zu Grunde liegende Auffassung geht dahin, daßaus öffentlichen Interessen, zum Schutze des Publikums vor Gesundheitsschädigung oder finanzieller Ausbeutung durch unwahre,, haltlose und daher betrügliche Anpreisungen und Ankündigungen von Arzneimitteln eine staatliche Kontrole der Zeitungsannoncen und eventuell ein " behördliches Verbot der Veröffentlichung von solchen gerechtfertigt erscheine.

598

Im gegenwärtigen Rekursfalle treffen, diese Voraussetzungen nicht zu und es erweist sich die Verfügung der bernischen Behörde in der That als eine Beeinträchtigung 'o der Handels- und Gewerbefreiheit.

b. Niederlassungsreoht.

aa. trenehmigimg kantonaler Gesetze.

5. Der Große Rath des Kantons T es si n hat am 11. November 1890 den Art. 6 des Gesetzes vorn 15. Juli 1880 über die Ausübung der politischen Rechte aufgehoben.

Mit Schreiben vom 21. November unterbreitete der tessinische Staatsrath diesen Beschluß mit Rücksicht auf Absatz 6 des Art. 43 der Bundesverfassung der Genehmigung des Bundesrathes.

Der aufgehobene Art. 6 lautete: ^Bei kantonalen Abstimmungen, jedoch mit Ausnahme von Wahlen, kann der Bürger in derjenigen Gemeinde stimmen, in welcher er sich eben befindet, sofern er sich hiefür beim Ortsgemeinderath an dem der Abstimmung vorhergehenden Tage anmeldet."

Diese Bestimmung bezweckte, dem Bürger, der sich zur Zeit einer Abstimmung nicht in der Gemeinde befindet, in welcher er im Stimmregister eingeschrieben ist, die Stimmabgabe zu erleichtern oder zu ermöglichen.

Wir erklärten uns am 3. Dezember 1890 mit der Ansicht der tessinischen Regierung einverstanden, daß die Aufhebung des gedachten Artikels keinen Grundsatz des Bundesrechts verletze, insbesondere nicht Art. 43 der Bundesverfassung, welcher ausschließlich von den politischen Rechten der Niedergelassenen handelt, während die Regelung der Rechte der Aufenthalter durch Art. 47 der Bundesverfassung einem besondern Bundesgesetze vorbehalten wurde, das zur Zeit noch nicht erlassen ist.

6. Durch Beschluß vom 25. November 1890 nahm der Kantonsrath von S c h w y z eine Revision der kantonalen Verordnung über Niederlassung und Aufenthalt vom 1. Dezember 1881 vor. Die frühere Verordnung war vom Bundesrathe am 30. Mai 1882 genehmigt worden. Mit Schreiben vom 29. November/2. Dezember 1890 suchte der Regjerungsrath von Schwyz die bundesrärhliche Genehmigung für die neue Verordnung nach.

Die Differenzpunkte zwischen der neuen und der alten Verordnung sind nicht zahlreich und betreffen hauptsächlich die Gleichstellung von Solchen, die ein Geschäftsdomizil zu verzeigen haben,

599

mit den eigentlichen Niedergelassenen. Als Niedergelassene werden sodann auch diejenigen betrachtet, welche in eigenem oder fremdem Namen in einer Gemeinde, in der sie nicht Bürger sind, eine Waarenniederlage halten.

Der Bundesrath erblickte in den neuen Bestimmungen nichts den Art. 43 der Bundesverfassung oder sonstigen.bundesrechtlich anerkannten Rechten der Niedergelassenen Zuwiderlaufendes und ertheilte am 15. Dezember 1890 der neuen schwyzerischen Verordnung seine Genehmigung.

bb. Verweigerung und Rückhaltnug von Ausweisschriften.

7. Durch Beschluß vom 21. Februar 1890 in Rekurssache des Johann Baptist B u t t l er, von Müßwangen, Kantons Luzern, gegen einen Entscheid der Regierung des Kantons Solothurn vom 18. November 1889, hat der Bundesrath neuerdings anerkannt, daß das Recht der Freizügigkeit des Schweizerbürgers innerhalb des schweizerischen Gebietes für den Träger eines Heimatscheines die Befugniß der freien Verfügung über denselben behufs der Ermöglichung des Domizilwechsels in sich schließe, weßhalb eine Polizeibehörde nicht berechtigt sei, einen Heimatschein bis zur Entrichtung einer rückständigen Kanzleigebühr zurückzubehalten oder denselben nur gegen Entrichtung der Gebühr (unterNachnahme) dem Hinterleger zur Verfügung zu stellen.

Die Erwägungen zum bundesräthlichen Beschlüsse sind abgedruckt im Bundesblatt 1890, I, 474 und 475.

8. Die f r e i b u r g i s c h e Gemeinde Maules weigerte sieh im Einverständniß mit ihrer Kantonsregierung, den minderjährigen Kindern M. einer im Kanton N e u e n b u r g wohnenden und durch Heirat Bürgerin des Kantons Neuenburg gewordenen Freiburgerin Heimatscheine zuzusenden. Die Freiburger Behörden erklärten, die Ausweisschriften seien ausgefertigt und dem vom freiburgischen Friedens; gerichte Vaulruz den Kindern bestellten Vormunde zugestellt wordendieser, von der Heimatbehörde ernannte, Vormund habe Ausschließlich die elterliche Gewalt über die Kinder M.auszuüben^ und derselbe finde es im Interesse der Kinder liegend, dieselben in der Heimat erziehen zu lassen.

' ' Der neuenburgische Staatsrath verlangte dagegen", daß die Behörden von Freiburg angehalten werden, den Kindern M. zur Regulirung ihres Wohnsitzes in Travers Heimatscheine zu verabfolgen.

, "· (Die Kinder M. waren theils in Bigamie, theils außerehelich erzeugt worden.)

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Gegen dieses Verhalten der freiburgischen Behörden beschwerte sich der Staatsrath des Kantons Neuenburg, wobei er geltend machte, die Gemeinde Maules bezwecke lediglich, die Kinder H. zur Wohnsitznahme im Kanton Freiburg zu zwingen, um denselben eine katholische Erziehung geben zu lassen; die Kinder wohnen in Travers bei ihrer Mutter, deren nunmehriger Gatte sie in seine Haushaltung aufgenommen habe; unter solchen Umständen wäre es geradezu unmenschlich, die Kinder ihrer Mutter wegzunehmen und im Kanton Freiburg bei fremden Leuten unterzubringen.

Der Staatsrath von Freiburg erwiderte, es liege ein Streit über die Frage vor, ob die elterliche Gewalt über die Kinder M. von dem heimatlichen (freiburgischen) oder von dem durch die (neuenburgische) Wohnsitzbehörde ernannten Vormunde auszuüben sei.

Dieser Streit gehöre vor das Forum des Bundesgerichts und es sei jegliche weitere Verfügung auszusetzen, so lange nicht das Bundesgericht hierüber geurtheilt habe.

Der Bundesrath hat durch Schlußnahme vom 28. Februar 1890 erkannt, es könne zur Zeit auf das Begehren des Staatsrathes von Neuenburg nicht eingetreten werden, unter Annahme folgender Entscheidungsgründe : 1. Nachdem der Staatsrath von Freiburg in formeller Weise die Kompetenz der neuenburgischen Behörden zur Anordnung einer vormundschaftlichen Vertretung der minderjährigen Kinder M. bestritten hat, steht fest, daß zwischen den Kantonen Freiburg und Neuenburg Streit darüber waltet, welchem von beiden es zukomme, in dem vorliegenden Falle das Recht der Vormundschaft auszuüben.

2. Diese Frage erscheint im Hinblick auf die Rekursfrage betreffend die Ausstellung von Heimatschriften an die im Kanton Neuenburg wohnenden Kinder M. als eine Vorfrage.

Denn es gehört zu den Befugnissen der vormundschaftlichen Gewalt, den Wohnsitz der bevormundeten Personen zu bestimmen.

Nun hängt eben von der Frage, ob die Kinder M. im Kanton Neuenburg rechtmäßig, d. h. infolge einer Verfügung der z u s t ä n d i g e n Vormundschaftsbehörde wohnen, die Entscheidung der weitern Frage ab, ob die Heimatbehörde denselben behufs der Regulirung ihres Wohnsitzes im Kanton Neuenburg Ausweisschiiften zuzustellen habe.

Zur Erledigung eines vormundschaftlichen Ânstandes zwischen zwei Kantonen ist aber nicht der Bundesrath, sondern das Bundesgericht die zuständige Behörde.

601 3. Die freiburgischen Behörden haben den Wohnsitz der Kinder M. im Kanton Neuenburg, seitdem diese letztern durch bundesgerichtliches Urtheil vom; 1. Juli 1887 als Bürger von Maules (Freiburg) erklärt worden sind, niemals, weder ausdrücklich noch stillschweigend, als einen rechtmäßigen anerkannt. Es kann deßhalb nicht die Analogie des Bundesrathsentscheides vom 28.

Februar 1882 in Sachen Troxler (Bundesbl. 1883, II, 860) herbeigezogen werden, wie dies die Regierung von Neuenburg versucht.

Der Bundesrath stellte in jenem Falle ausdrücklich fest, daß die luzernische Heimatgemeinde gegen die Wohnsitznahme der ihr angehörenden Kinder Troxler im Kanton St. Gallen keinerlei Einwendungen erhoben hatte, .so daß angenommen werden konnte, sie habe die Thatsache stillschweigend genehmigt.

4. Demgemäß ist der Bundesrath nicht in der Lage, dermalen auf die von Neuenburg aufgeworfene Streitfrage betreffend die Ausstellung von Heimatschriften an die Kinder M. materiell einzutreten.

9. Daniel R u f e n e r von Sigriswyl. (Kt. Bern), Sesselmacher in Vicques bei Delsberg, erhielt trotz seiner Reklamation den von ihm in G r e n c h e n , Kt. Solothurn, hinterlegten Heimatschein nicht zurück und wandte sich deßhalb am 22. Juni 1890 an den Bundesrath.

Das solothurnische Polizeidepartement theilte am 28. Juni mit der fragliche Heimatschein sei von ihm am 6. Mai 1890 an die Gemeindekanzlei Grenchen versandt worden ; es ergebe sich nun aber aus dem Bericht dieser Amtsstelle, daß derselbe dort vermißt werde. Da nicht wohl ausgemittelt werden könne, durch wessen Verschulden der fatale Umstand herbeigeführt worden sei, so müsse wohl der Rekurrent die Folgen dieses Zufalls auf sich selbst tragen.

Unser Justiz- und Polizeidepartement erwiderte mit Schreiben vom \. Juli an das kantonale Departement: ,,Wir halten es für angezeigt, daß Sie die Heimatgemeinde des Rufener, Sigriswyl, von dem "Vorgänge in Kenntniß setzen und um Ausstellung eines neuen Heimatscheines für ihren Mitbürger ersuchen. Die bezüglichen Kosten dürften von der Gemeinde Grenchen, welcher das Abhandenkommen des Papiers zur Last fällt, zu tragen sein. Da indessen die Ausstellung eines neuen Heimatscheines für Rufener erst nach Amortisation des alten geschehen wird, dieses Verfahren aber einige Zeit in Anspruch nimmt, so wird es nöthig sein, daß Sie dem Rufener einen Interimsschein ausstellen, welcher demselben ermöglicht, überall in der Schweiz bis auf Weiteres ungehindert Wohnsitz zu nehmen. a

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Die Kantonsbehörde verfuhr sodann in diesem Sinne, womit die Angelegenheit erledigt war.

10. Mit Zuschrift vom 3. Dezember 1890 übermachte der Regicrungsrath des Kautons St. G a l l e n dem Bundesrathe eine Rekurseingabe des Gemeinderathes von S t r a u b e n z e l l gegen einen Beschluß der Regierung vom 7. .November abhin, betreffend Vorenthaltung von Heimatschriften wegen Nichtentrichtung einer Bussenrestanz v o n F r . 8 . --, d i e e i n gewisser Joh. Josef K ü n z l e , Tagwerker, zahlen hatte.

Der Bundesrath zog in Erwägung : Wenn auch nach der bundesrechtlichen Praxis feststeht, daß aus strafrechtlichen und strafprozessualischen Gründen Heimutschriften zurückbehalten werden dürfen, so ist doch diese Rücksicht nicht gerechtfertigt, wenn es sich um Geldbußen handelt, die auf Grund von bloß polizeilichen oder fiskalischen Gesetzen ausgesprochen worden, selbst dann nicht, wenn die Buße im Nichtbezahlungsfall in Gefängniß (Strafarrest) umgewandelt werden kann.

Dieser Standpunkt wurde von der Bundesbehörde schon im Jahre 1878 gegenüber der Regierung des Kantons Schwyz eingenommen, als einer gewissen M. K. von G. der Heimatschein zurückbehalten werden wollte, weil dieselbe eine Buße von Fr. 50. --, zu der sie wegen außerehelicher Niederkunft verurtheilt worden war, nicht bezahlt, bezw. die eventuelle Gefängnißstrafe von 6 Tagen nicht abgebüßt hatte.

Den gleichen Satz vertrat das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement in einem militärpolizeilichen Bußenfalle im Jahre 1886 (vergi. Bundesbl. 1879, II, 591; 1887, II, 692, 39 und 40).

Aus diesen Gründen wurde der Beschluß der Regierung voa St. Gallen vom 7. November 1890 in Sachen Künzli als bundesrechtlich nicht anfechtbar und der gegen denselben erhobene Rekurs des Gemeinderathes Straubenzell als unbegründet erklärt (Bundesrathsbeschluß vom 10. Dezember 1890).

cc. Verweigerung und Entzug der Niederlassung.

11. Am 29. Mai 1888 hat der Bundesrath einen Rekurs der Eheleute Josef Martin We i b e l und Rosalie geb. Rühle, verwittwete Breitenstein und Ott, von S c h o n g a u ( L u z e r n ) , wohnhaft in

603

Biel, gegen einen Entscheid des b e r n i s c h e n Regierungsrathes vom 16. Februar 1887, betreffend Entzug der Niederlassung, als unbegründet abgewiesen.

Dieser Beschluß stützte sich auf die Thatsache, daß die Rekurrenten an ihrem Niederlassungsorte sich eines unsittlichen Wirthschaftsbetriebes schuldig gemacht hatten, und daß Weibel zweimal (wegen betrügerischen Bankerotts und wegen Kuppelei) gerichtlich bestraft worden war. Aus dem nämlichen Grunde ist dem rekurrirenden Ehemann auch das Wirthschaftspatent auf 1. Januar 1888 entzogen worden.

Gegen die Ehefrau Weibel fiel als entscheidend in die Waagschale, daß dieselbe bereits im Jahr 1885 von der bernischen Polizeidirektion aus Biel weggewiesen worden war, nachdem sich herausgestellt hatte, daß sie mit der 1883 bleibend aus dem Kanton Bern verwieseneu Rosalie Breitenstein geb. Kühle identisch, d. h. eine Person ist, die von 1872--1883 in vier Kantonen zusammen 7 gerichtliche Bestrafungen erlitten hat (4 wegen gewerbsmäßiger Vorschubleistung zur Unzucht -- Kuppelei --, l wegen Fälschung, l wegen Diebstahl und l wegen Ruhestörung und Ueberwirthen) und 1880 wegen Kuppelei und Prostitution aus der Stadt Zürich weggewiesen worden war.

Der Rekurrent, im Jahr 1876 in Luzern in Konkurs gerathen und am 13. Oktober 1877 vom Kriminalgericht des Kantons Luzern wegen betrügerischen Bankerotts zu einer Gefängnißstrafe von 14 Tagen verurtheilt, strengte nach der Ausweisung aus dem Kanton Beni die Revision dieses Strafurtheils an ; sein Konkurs war inzwischen im Kanton Luzern aufgehoben worden. Am 16. April 1889 hat das luzernische Kriminalgericht dem Begehren des Weibel entsprochen. Das Urtheil vom 13. Oktober 1877 wurde aufgehoben und Josef Weibel von Schuld und Strafe freigesprochen.

Weibel stellte hierauf an die Regierung des Kantons Bern das Gesuch um Aufhebung seiner Ausweisung, indem nunmehr nur noch ein einziges Strafurtheil gegen ihn vorliege, seine Ausweisung daher nach Art. 45 der Bundesverfassung nicht mehr zulässig sei.

Am 6. Juli 1889 wies jedoch der Regierungsrath des Kantons Bern das Gesuch Weibel ab.

Gegen diesen Beschluß des bernischen Regierungsrathes rekurrirte J. M. Weibel an den Bundesrath.

Nach Einsichtnahme der Vernehmlassung der Regierung des Kantons Bern vom 31. August 1889 wurde der Rekurs am 28. Märe 1890 als unbegründet abgewiesen.

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Erwägunge n: 1. Wie der Rekurrent selbst wiederholt erklärt, geht sein Begehren dahin, es möge der Regierungsrath des Kantons Bern von Bundes wegen angehalten werden, sein am 16. Februar 1887 erlassenes und am 29. Mai 1888 vom Bundesrath als Rekursbehörde bestätigtes Ausweisungsdekret zurückzunehmen, weil eines der Argumente, auf welchen dasselbe beruht, die Verurtheilung des Rekurrenten wegen betrügerischen Bankerotts im Jahre 1877, inzwischen durch Aufhebung des fragliehen Urtheils hinfällig geworden sei.

2. Der Bundesrath muß es ablehnen, diesem Begehren stattzugeben. Das Ausweisungsdekret der Regierung des Kantons Bern ist auf formell und materiell durchaus unanfechtbarer verfassungsrechtlicher Grundlage erlassen und darum auch s. Z. vom Bundesrath bestätigt worden. Wenn die Verhältnisse, welche zur Zeit «des Erlasses des Dekrets bestanden haben und auf welche dasselbe abgestellt hat, seither in einem Punkt sich geändert haben, so kann {lieser Umstand für die Bundesrekursbehörde keinen Grund bilden, die Kantonsbehörde zur Zurücknahme ihres Beschlusses anzuhalten.

3. Uebrigens hat sich, wie aus neuerlichen wiederholten Mitteilungen der bernischen Polizeidirektion an das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hervorgeht, in dem sittenpolizeiwidri.gen Thun und Treiben des Rekurrenten und seiner Ehefrau, also in demjenigen Punkte, der sowohl beim Wirthschaftspatententzug als bei der Ausweisung Beider aus dem Kanton Bern von der Kantonsbehörde namentlich in Betracht gezogen wurde, seit 1887 nichts geändert, weßhalb es auch materiell als gerechtfertigt angesehen werden kann, wenn die heroische Regierung das Ansinnen um Aufhebung des Ausweisungsdekretes von der Hand weist.

12. In Sachen des Kasimir Ditzler-König von Dornach, Kanton S o l o t h u r n , wohnhaft gewesen in R h e i n f e l d e n, Kanton A a r g a u , wurde unser Beschluß vom 25. Januar 1889 .im Berichtsjahre auch vom Nationalrathe bestätigt. Die Bundesversammlung hat die Ausweisungsverfügung der aargauischen Regierung in Uebereinstimmung mit dem Bundesrathe bestätigt, weil als festgestellt angenommen wurde, daß die Familie Ditzler in Rheinfelden der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last gefallen sei. (Vergi.

Bundesbl. 1890, I, 800 ff.)

c. Konfessionelle Verhältnisse.

13. M a r i a h i l f k i r c h e in L u z e r n. Wie bereits im vorjährigen Geschäftsbericht mitgetheilt wurde, war infolge der Rekurse

605

des Stadtrathes von Luzern und der christkatholischen Genossenschaft Luzern gegen den Bundesrathsbeschluß vom 25. März 1889 die Frage der Benutzung der Mariahilfkirche in Luzern zu ehristkatholischen Kultuszwecken neuerdings an die Bundesversammlung gezogen worden.

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. .

Der luzernische Regierungsrath hätte-am 10. Januar 1889 den Stadtrath angewiesen, nicht zu dulden, daß ohne besondere regierungsräthliche Bewilligung ein altkatholischer oder ein anderer vom hochw. Bischof von Basel nicht admittirter Geistlicher in der Mariahilfkirche geistliche Verrichtungen vornehme. Durch Beschluß vom 25. März 1889 wiesen wir die Rekurse des Stadtrathes und der christkatholischen Genossenschaft Luzern gegen diesen Regierungsbeschluß , theils wegen Unbegründetheit, theilä wegen unserer : Inkompetenz, ab.

.

' .

Gegen den Regierungsbeschluß war voto Stadtrathe nicht bloß an die politische Bundesbehörde, sondern auch an das Bundesgericht rekurrirt worden, an dieses letztere mit der Behauptung, derselbe verstoße gegen das kantonale Verfassungsrecht, insbesondere gegen die in § 9 der Kantons Verfassung ausgesprochene Eigenthumsgarantie (in casu zum Nachtheil der Stadtgemeinde Luzern in Hinsicht auf die in ihrem Eigepthum stehende Mariahilskirche) und gegen die in § 87 ibidem gewährleistete Gemeindeautonomie.

Der Nationalrath, dem die Priorität der Behandlung zustand, verschob, mit Rücksicht auf die Anhängigkeit der Sache heim Bundesgerichte, deren Behandlung am 14. Dezember 1889 auf die nächstfolgende Session. Das Bundesgericht wies durch Urtheil vom 10. Mai 1890 die Beschwerde des Stadtrathes alsunbegründet ab.

Hierauf wurde der Rekurs an die Bundesversammlung sowohl vom Stadtrathe, als von der christkatholischen Genossenschaft Luzern zurückgezogen.

14. H e i l s a r m e e . Mit Bericht vom 2. Juni 1890 beantragten wir der Bundesversammlung, von einer weitem Behandlung und Berücksichtigung der für oder gegen die Heilsarmee eingelaufenen Petitionen Umgang zu nehmen. Unser Bericht ist enthalten im Bundesbl. 1890, III, 289-315. Der Nationalrath hat am '24. September, der Ständerath am 1. Oktober 1890 diesen Antrag genehmigt.

Wir verweisen auf den angeführten Bericht. In demselben haben wir folgende, durch die verschiedenen Petitionen für und wider die Heilsarmee veranlaßte Fragen beantwortet : 1. Ist der Art. 51 der Bundesverfassung auf die Heilsarmee anwendbar?

Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

39

606

2. Falls der Art. 5l nicht in Anwendung kommt, sollten nicht neue Verfassungsbestimmungen erlassen werden, kraft deren die Uebungen der Heilsarmee auf dem ganzen Gebitte der Eidgenossenschaft verboten werden könnten?

3. Sollte endlich nicht der Bund in Anwendung von Art. 50, Abs. 2, der Bundesverfassung einheitliche Maßnahmen treffen, ähnlich denjenigen der verschiedenen Kantone, in denen die Heilsarmee aufgetreten ist, oder erscheint es im Gegentheil geboten, nicht nur von jeder Vorschrift Umgang zu nehmen, sondern auch die Kantone, welche solche aufgestellt haben, zu deren Abschaffung zu veranlassen?

Wir haben alle drei Fragen mit Nein beantwortet und die Bundesversammlung gab, wie schon erwähnt, durch Annahme unseres Schluliantrages ihre Zustimmung zu unseren Ausführungen zu erkennen.

d. Beerdigungswesen.

15. Nach Einsicht einer Vorstellung der p r o t e s t a n t i s c h e n K o l o n i e v o n L o c a r u o u n d U m g e b u n g , datirt d e n 6. Oktober 1889, sowie der Vernehmlnssung des Staalsrathes von T e s s i n vom 12./13. Dezember 1889 und des Berichtes des Regierungskommissärs von Locamo an die tessinische Kultusdirektion vom 29. /30. November 1889, betreffend die Art der Beerdigung von Protestanten auf den Friedhöfen von Muralto und Ascona, wurde der Kolonie am 21. Februar 1890 erwidert: Der Bundesrath habe den Berichten der Regierung des Kantons Tessin und des Regierungskommissärs von Locamo entnommen, daß die Protestanten in Muralto und in Ascona nach Anordnung der bürgerlichen Behörde auf dem öffentlichen Friedhofe, jedoch in einer besondern Abtheilung desselben bestattet werden. Der Bundesrath sei nicht im Falle, auf Grund von Art. 53 der Bundesverfassung oder des von den Rekurrenten angerufenen Bundesgesetzes über Civilstand und Ehe gegen eine solche Benutzungsweise eines Friedhofes einzuschreiten. Er habe schon im Jahr 1875 in einem an die Bundesversammlung gerichteten und von ihr genehmigten Berichte ^Bundesbl. 1875, III, 4--22) sich dahin ausgesprochen, daß es wohl und gut vväre, wenn die Kantone solche Ausscheidungen untersagen würden, daß aber eine Einmischung des Bundes diesfalls nicht angezeigt sei. In konsequenter Festhaltung dieser Anschauungsweise könne sich der Bundesrath auch in Betreff der von den Rekurrenten erwähnten Beerdigungsfälle von Muralto und Aseona zu keinen weitern Verfügungen veranlaßt sehen.

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e. Wahlen und Abstimmungen.

16. Im t e s s i n i s c h e n K r e i s e Sessa fand am 7. Aprill889 der zweite Wahlgang für die Bezeichnung der Kandidaten für das Bezirksgericht und die Beamten des Friedensgerichts statt. Es waren noch vier Kandidaten für das Bezirksgericht zu wählen, da einer bereits im ersten Wahlgang am 31. März 1889 das absolute Mehr erhalten hatte; für das Friedensgericht waren drei Beamte -- der Friedensrichter, sein Stellvertreter und der Beisitzer-Aktuar -- zu ernennen. Auf zwei Stimmzetteln fanden sieh nun für das Bezirksgericht fünf Namen geschrieben, während nur noch vier Kandidaten zu bezeichnen waren. Diese zwei Zettel wurden vom Wahlbüreau als ungültig erklärt, in Anwendung des tessinischen Gesetzes vom 19. September 1872, welches in Art. 16, litt, c, diejenigen Stimtnzeddel als ungültig erklärt, welche mehr Namen enthalten, als Personen zu wählen sind. Auf denselben zwei Stimmzetteln waren, staatsräthlicher Verordnung gemäß, auch die drei Personen bezeichnet, welchen die Wähler für das Friedensgericht ihre Stimme geben wollten. Das Wahlbüreau kassirte jedoch die beiden Zettel ganz und gar, ohne Rücksicht zu nehmen auf den durchaus fehlerlosen Wahlakt für das Friedensgericht. Und von dieser Kassation hing das Resultat der Wahl des Friedensrichters ab. Denn es standen sich zwei Kandidaten gegenüber, von denen der eine (konservative) 293, der andere (liberale) 292 Stimmen auf sich vereinigte. Auf den letztem waren die beiden Stimmen gefallen, die vom Bureau infolge der Kassation der Stimmzettel als ungültig erklärt, d. h. nicht in Rechnung gezogen wurden. Deiliberale Kandidat hätte also mit Zurechnung dieser zwei Stimmen 294 Stimmen, d. h. die Mehrheit, erhalten und wäre gewählt gewesen.

Wir sahen uns auf erhobene Beschwerde veranlaßt, dem Staatsrathe für ihn und zu Händen des Großen Käthes von Tessin am 9. Juni 1890 unsere Meinung dahin auszusprechen, daß das Gesetz unzweifelhaft die Nichtigkeit des Zettels nur für denjenigen Wahlakt vorschreiben will, in Bezug auf welchen mehr Namen sich aufgeschrieben finden, als Personen zu wählen sind, nicht aber für einen von jenem ganz unabhängigen, besondern Wahlakt. Denn nur für jenen besteht eine Unsicherheit über die Willensmeinung des Wählers, nicht aber für diesen. Es darf daher der Umstand, daß die zwei Wahlakte auf einem
und demselben Zettel stattfinden, nicht dazu führen, die Fehlerhaftigkeit des einen Aktes auf den andern einwirken zu lassen, sondern es ist so anzusehen, als ob jeder Wahlakt auf einem besondern Zettel vorgenommen worden wäre.

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17. Fridolin M i n n i g in Betten und César de Sépibus, Arzt, in Siders, Kantons W a 11 i s, beschwerten sich gegen einen Entscheid des Großen Rathes des Kantons Wal lis vom 21. Mai 1889, betreffend dieGültigerklärungg der Wahlen vom 3. März 1889 der Herren Fridolin Albrecht und Joseph Ritz als Mitglieder und der Herren Franz de Sepibus und AdrianStuckyy als Ersatzmänner dos Großen Rathes für den BezirkOst-Raronm (Mörel), indem sie behaupteten, es müssen diese Wahlen verschiedener Unregelmäßigkeiten wegen, dievorgefallenn seien, kassirt werden.

Der Staatsrath des Kantons Wallis hestritt in seiner Vernehmlassung dem Bundesrathe die Kompetenz, sich mit diesen Wahlrekursen zu befassen, da keine durch die Bundesverfassung oder durch Bundesgesetze oder durch die kantonale Verfassung gewährleisteten Rechte dabei in Frage kommen.

Wir haben uns durch Beschluß vom 29. Mai 1890 für kompetent erklärt, auf die Beschwerden materiell einzutreten, sodann aber dieselben als unbegründet abgewiesen.

Unsere Erwägungen sind abgedruckt im Bundesbl. 1890, III, 137 und 138.

18. Tessiner Angelegenheiten, a. E i d g e n ö s s i s c h e I n t e r v e n t i o n von 1889 a n l ä ß l i c h der G r o ß r a t h s w ahl en vom 3. M ä r z j e n e s J a h r e s . Das Urtheil des Bundesgerichts in dem Kompetenzkonflikte zwischen dem Bundesrathe und dem Staatsrathe des Kantons Tessin, betreffend die Erledigung der tessinischen Stimmrechtsrekurse von 1889 und die Eröffnung einer mit der eidgenössischen Intervention von 1889 zusammenhängenden strafgerichtlichen Untersuchung, ist am 19. April 1890 erlassen worden. Dasselbe wurde in unserm Berichte vom 2. Juni 1890 der Bundesversammlung in extenso mitgetheilt. (Bundesbl. 1890 III, 191--197.) Das Bundesgericht trat auf das Begehren der Tessiner Regierung betreffend die Stimmrechtsbeschwerden der, Tessinerbrüger bei kantonalen Wahlen nicht ein, weil der Bundesrath sich über seine eigene Kompetenz hinsichtlich der einzelnen Beschwerden noch nicht ausgesprochen habe; auf die Begehren der Tessiner Regierung betreffend die Strafuni ersuchungen trat das Gericht nicht ein, weil die in Art. 29, 30, 31 und 40 der Bundesstrafprozeßordnung vorgesehenen Beschlüsse der eidgenössischen Anklagekammer noch nicht gefaßt seien ; auf das Begehren der Regierung betreffend die Freilassung Belloni's trat es überhaupt nicht ein.

Wir geben hier die Schlußsätze unseres Berichtes wieder:

609 ,,Infolge dieser bundesgerichtlichen Entscheidung werden wir nun die bei uns anhängig gemachten Stimmrechtsbeschwerden -- die Zahl der Eingaben beläuft sich auf etwa 150 -- einläßlich prüfen, uns über unsere Kompetenz zur Erledigung derselben bei jeder einzelnen Beschwerde schlüssig machen und eventuell die uns richtig scheinende Entscheidung fassen.

,,In Bezug auf die strafgerichtlichen Voruntersuchungen können wir Ihnen nur sagen, daß sie dermalen noch nicht ihren definitiven Abschluß gefunden haben. a Unser Justiz- und Polizeidepartement machte sich sofort an die Prüfung der Stimmrechtsbeschwerden und widmete dieser mühevollen Arbeit diejenige Zeit, die ihm hierfür bei seiner vielfachen anderweitigen Inanspruchnahme verfügbar war.

Schon die äußere Ordnung, Vervollständigung, soweil eine solche möglich war, und Zusammenstellung des sehrlücken- und mangelhaften Aktenmaterials erforderte eine geraume Zeit. Als sodann das Departement nach eingehender Prüfung der einzelnen Eingaben sich in die Lage versetzt glaubte, einen Bericht an dea Bundesrath und Anträge zur Erledigung derselben entwerfen zu können, wurde seine Arbeit unterbrochen durch die Septemberereignisse des Jahres 1890.

Es leuchtet ein, daß die durch diese Ereignisse im Kanton Tessin geschaffene Situation den Beschwerden betreffend die Großrathswahlen des vorhergegangenen Jahres sofort die Aktualität benahm und es fraglich erscheinen ließ, ob denselben überhaupt noch eine meritorische Behandlung zu Theil werden solle. Mochte man indessen hierüber denken, wie man wollte, das Justiz- und Polizeidepartement war nun fortan durch die neuen politischen Verhältnisse des Kantons Tessin bis in das Jahr 1891 hinein so sehr io Anspruch genommen, daß ihm zur Behandlung des vorjährigen Stoffes keine Zeit übrig blieb.

Wenn im Jahre 1891 die Aufgabe der Erledigung der Stimmrechtsrekurse von 1889 neuerdings an das Departement herantritt, so wird es sich derselben als einer dura nécessitas unterziehen, mit der sichern Aussicht, eine Arbeit zu vollbringen, für welche ihm Niemand Dank wissen wird.

In Bezug auf die eidgenössische strafgerichtliche Untersuchung hat der Bundesrath nach Einsicht der zwölf Berichte, welche Herr Nationalrath Bezzola vom 1. September 1889 bis zum Juli 1890 in seiner Eigenschaft als Generalanwalt ad hoc für alle auf die
Wahlen vom 3. März 1889 im Kanton Tessin bezüglichen Strafuntersuchungen ihm vorgelegt hat, sowie nach Prüfung der Anträge des eidgenössischen Untersuchungsrichters, Herrn Dedual, und der

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Untersuchungsakten, -- in Anwendung des Artikels 29, letzten Absatzes, des Bundesgesetzes über die Buudesstrafrechtspflege vom 27. August 1851 und auf Antrag des Justiz- und Polizeidepartementes folgenden Beschluß gefaßt: 1. Herr Generalanwalt Be/zola ist angewiesen, .denjenigen Untersuchungen keine Folge zu geben, welche betreffen : a. Versuche, welche verschiedene Personen gemacht haben sollen, auf dem Monte Cenere die Eisenbahnschienen aufzureißen oder die Eisenbahn in widerrechtlicher Weise zu benutzen; b. bewaffnete Zusammenrottungen, welche am 4. März 1889 in der Magliasina in angeblich verbrecherischer Absicht vorgekommen sein sollen ; c. die Vorfälle in Intragna am 4. März 1889; d. die Anklagen gegen die Gemeindebehörden von Fescoggia, Arogno, Castagnola, Gentilino und Noranco.

2. Der Herr Generalanwalt ist ermächtigt, die Untersuchung gegen den oder die noch unbekannten Urheber der am Abend des 5. März 1889 gegen Herrn Advokat Soldati verübten Thätlichkeiten offen zu lassen.

3. Was die anderen Anträge anbelangt, welche Herr Generalanwalt Bezzola dem Bundesrath unterbreitet hat und welche betreffen : a. die Inanklageversetzung der Urheber der am 5. März 1889 in Lugano an Molinari und seinen Gefährten verübten Mißhandlung (Angelegenheit Belloni); b. den Fall des Regierungsstatthalters Masella; c. die Angelegenheit Clericetti; d. die Gemeindebehörden von Vacallo, Carasso, Preonzo, Osco, Quinto, Brissago, Bissone, Caslano, Ponte Tresa und Lugano ; e. die Wahlumtriebe, die Wahlbestechungen und Wahlbeeinflussungen, so wird es dem Herrn Generalanwalt Bezzola überlassen, dieselben der eidgenössischen Anklagekammer zu weiterer Amtshandlung vorzulegen.

b . E i d g e n ö s s i s c h e I n t e r v e n t i o n v o n 1890 i n f o l g e des A u f s t a n d e s vom 11. S e p t e m b e r . Die Ereignisse, deren Schauplatz der Kanton Tessin im Jahr 1890 war und welche den Bundesrath nöthigten, derjenigen des Jahres 1889 so bald eine neue bewaffnete Intervention in diesem Kantone folgen zu lassen, stehen noch Jedermann lebhaft vor Augen. Wir brauchen daher dieselben mit keinem Worte zu berühren.

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Bios zur Orientirung wollen wir hier bemerken, daß unser Beschluß vom 13. September 1890 betreffend die Ansetzung der Volksabstimmung über die Frage einer Partialrevision der Verfassung des Kantons Tessin sich im Bundesblatt 1890, Band IV, Seite 128 ff., abgedruckt findet; unsere Botschaft vom 22. September betreifend die bewaffnete eidgenössische Intervention im Tessin und die politische Lage dieses Kantons im Bundesblatt des gleichen Jahres, Band IV, Seite 153 ff.; unser Beschluß vom 28. Oktober 1890 betreffend die Volksabstimmung im Kanton Tessin vom 5. Oktober 1890 über die Frage einer Partialrevision der Kantonsverfassung im Bundesblatt des gleichen Jahres, Band IV, Seite 723 ff.; unsere zweite Botschaft über die Tessiner Angelegenheiten vom 3. Dezember 1890 im Bundesblatt desselben Jahres, Band IV, Seite 309 ff.

Am 5. Dezember traf der Große Rath des Kantons Tessin drei Ersatzwahlen in den Staatsrath. Es wurden neben einem Vertreter der (konservativen) Mehrheit zwei Vertreter der (liberalen) Minderheit des Großen Käthes gewählt. Damit ist erreicht, was wir wiederholt als erste Bedingung der Beruhigung des Kantons erklärt haben. Die nach dem Proportionalsystem vorzunehmenden Verfassungsrathswahlen wurden auf den 11. Januar 1891 angesetzt.

Infolge dieser eine weitere Verständigung der Parteien verheißenden Vorgänge wurde eine von liberaler Seite gegen die im 44. eidgenössischen Wahlkreis erfolgte Wahl des Herrn Gatti in den Nationalrath erhobene Einsprache, sowie der Rekurs der Herren Censi und Gabuzzi vom 20. September und 7. Oktober 1890 gegen das Verfassungsgesetz vom 8. Januar 1880 zurückgezogen.

Durch Beschluß vom 17. Dezember 1890, im Bundesblatt 1890, Band IV, Seite 470 ff., aufgenommen, haben wir im Hinblick auf die bevorstehenden Verfassungsrathswahlen einige Verfügungen getroffen, die wir als im Interesse der Paziflkation des Landes liegend erachteten. Wir heben daraus nur hervor, daß wir den eidgenössischen Kommissär anwiesen, sich vor den Verfassungsrathswahlen in den Kanton Tessin zurück zu begeben, sich jedoch darauf zu beschränken, von den Stimmrechtsentscheidungen des Staatsrathes Kenntniß zu nehmen und nur im Allgemeinen die Wahlen zu überwachen. In Bezug auf das Stimmrecht der Tessiner im Auslande hielten wir an den im Sehreiben unserer Abordnung vom 15. November 1890
entwickelten Grundsätzen fest.

Wir haben den von uns zitirten Aktenstücken in diesem Berichte nichts beizufügen. Die weitere Betrachtung der Tessiner Verhältnisse fällt in das Jahr 1891.

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B. Polizeiverwaltung.

I. Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten.

1. Die Gesammtzahl der Auslieferungsangelegenheiten, welche uns im Berichtsjahre beschäftigt haben, beläuft sich auf 288 (1889 : 243,1888:295). 108 (1889: 97,1888:118) dieser Auslieferungsbegehren wurden von der Schweiz bei auswärtigen Staaten und 180 (1889: 146, 1888: 177) von auswärtigen Staaten bei der Schweiz gestellt. Von den letzteren kamen aus Deutschland 70 Frankreich 53 Italien 46 Oesterreich 8 Belgien 3 138 dieser Begehren konnten bewilligt werden; in 32 Fällen blieben die Nachforschungen nach den Verfolgten resultatlos; in einem Falle wurde die Auslieferung verweigert, 5 Begehren wurden zurückgezogen und 4 Fälle waren am Jahresschluß noch pendent.

Was die von der Schweiz bei auswärtigen Staaten gestellten Auslieferungsbegehren betrifft, so gingen davon an Frankreich 64 Deutsehland 18 Oesterreich 7 Belgien 7 Großbritannien 4 Italien 2 Außerdem wurden 4 Personen in Deutschland, Frankreich und Belgien und 2 andere in Belgien, Großbritannien und Frankreich gleichzeitig verfolgt.

Von den seitens der Schweiz bei fremden Staaten gestellten Begehren hatten 59 die Bewilligung der Auslieferung zur Folge; in 26 Fällen blieben die Verfolgten unentdeckt; in 3 Fällen wurde die Auslieferung verweigert; 16 Begehren wurden zurückgezogen; 4 Fälle sind noch pendent.

2. An der bisherigen Praxis festhaltend, haben wir die in 5 Fällen als Einspruchsgrund gegen die Bewilligung der Auslieferung von den Verfolgten vorgebrachte Behauptung, daß sie die i h n e n vorgeworfenen Handlungen nicht begangen haben, nicht als Einrede gegen die Anwendbarkeit des betreifenden Aus-

613 lieferungsvertrages betrachtet. Wir haben daher von einer Ueberweisung dieser Fälle an das Bundesgericht im Sinne von Art. 58 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege abgesehen, da die Frage der Schuld oder Unschuld des Verfolgten nicht- durch die Behörden des um die Auslieferung angegangenen Staates, sondern einzig durch den in der Hauptsache zuständigen Richter zu beantworten ist. Da im Uebrigen die formellen Erfordernisse, wie sie die in Frage kommenden Verträge aufstellen, erfüllt waren, so konnten wir die Auslieferung in den genannten 5 Fällen ohne Weiteres bewilligen.

Von den gleichen Grundsätzen ausgehend, erledigten wir auch die Einsprache der wegen Diebstahls verfolgten deutscheu Reichsangehörigen F r a n z i s k a Sch w e i g e r t , welche sich dem Auslieferungsbegehren des großherzoglich badischen Staatsministeriums widersetzte, weil das als Auslieferuugsbeleg eingesandte verurtheilende Erkenntniss des Amtsgerichts Lörrach die R e c h t s k r a f t n o c h n i c h t b e s c h r i t t e n habe. Wir bewilligten die Auslieferung ohne Ueberweisung des Falles an das Bundesgericht, weil diese Einrede die Anwendbarkeit des Auslieferungsvertrages mit dem deutschen Reiche vom 24. Januar 1874 nicht in Frage steilen konnte und der Thatbestand der eingeklagten Handlung durch jenes Urtheil hinreichend festgestellt erschien.

W i r k l i c h e Einsprachen gegen die A n w e n d b a r k e i t d e r i u F r a g e kommenden Auslieferungsverträge wurden in vier Fällen erhoben, in welchen gemäß Art. 58 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege der Entscheid des Bundesgerichtes angerufen wurde. Dieses bewilligte in allen vier Fällen die Auslieferung, fügte aber in einem derselben einen Vorbehalt betreffend die Nichtverfolgung des Angeschuldigten wegen Fahnenflucht bei. Für das Nähere verweisen wir auf den Geschäftsbericht des Bundesgerichtes.

3. Hat sich ein Verfolgter, dessen Auslieferung wegen eines gemeinen Deliktes verlangt wird, in dem requirirenden Staate außerdem eines reinen Militärvergehens oder eines andern im Auslieferungsvertrage nicht vorgesehenen Deliktes schuldig gemacht, so wird bei Bewilligung der Auslieferung stets der Vorbehalt beigefügt, daß der Auszuliefernde wegen dieser letztern Vergehen weder verfolgt, noch bestraft werde. Solche
Klauseln wurden im Berichtsjahre betreffend M i l i t ä r p f l i c h t v e r s ä u m n i ß u n d F a h n e n f l u c h t bei 7 Deutschen und 5 Franzosen, betreffend Vergehen wider die öffentliche Ordnung bei einem Deutschen aufgestellt.

614 Die bayerische Gesandtschaft hat in derartigen Fällen die Gewohnheit, schon bei der Stellung des Auslieferungsbegehrens eine bezügliche Zusicherung beizufügen.

Aehnlich gab auch die italienische Gesandtschaft, indem sie die Auslieferung eines durch das korrektioneile Gericht von Como wegen Urkundenfälschung und wegen Betruges im Betrage von weniger als Fr. 1000 verurtheilten und im Kanton Tessin zur Haft gebrachten Italieners ( L u i g i E s p o s i t o ) verlangte, von vorneherein die Erklärung ab, die wegen Betruges gegen den Verfolgten ausgesprochene dreimonatliche Gefängnißstrafe werde beim Urtlieilsvollzug nicht in Rechnung gebracht werden.

4. Einen Gegensatz hiezu bildet der Standpunkt, welcher von der k. und k. ö s t e r r e i c h i s c h - u n g a r i s c h e n R e g i e r u n g in einem analogen Falle eingenommen wurde. Der Bundesrath hatte die Auslieferung eines in Zürich verhafteten Oesterreichers ( F r a n z S t e i n b i c h l e r), welcher vom Kreisgerichte St. Polten wegen Diebstahls verfolgt wurde und sich überdieß der S t e l l u n g s f l u c h t schuldig gemacht hatte, wegen des erstem Verbrechens unter dem Vorbehalt bewilligt, daß er wegen Nichterfüllung der Militärpflicht weder verfolgt, noch bestraft werde.

Die k. und k. Regierung ersuchte uns, von dieser conditio sine qua non für die Auslieferung Abstand zu nehmen; sie erklärte, grundsätzlich daran festhalten zu müssen, daß keine auf die Entziehung von der Wehrpflichterfüllung abzielende Handlung oder Unterlassung der gesetzlichen Bestrafung entgehe, und sei daher nicht in der Lage, auf die Verfolgung und Bestrafung des Steinbichler wegen Stellungsflucht zu verzichten. Uebrigens handle es sich hiebei nicht um eine gerichtliche, sondern um eine AdministrativMaßregel, und es komme daher Art. 11 des Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und Oesterreich vom 17. Juli 1855 nicht in Anwendung.

Wir erklärten, den der Auslieferung beigefügten Vorbehalt nicht fallen lassen zu können, da die Auslieferung eines Ausländers behufs Bestrafung wegen Stellungs- oder Fahnenflucht, wie überhaupt wegen reiner Militärvergehen, einem oftmals ausgesprochenen und stets befolgten, den hierseitigen konstitutionellen Einrichtungen entsprechenden Grundsatze zuwiderlaufen würde. Es komme dabei für uns nicht in Betracht, ob die Handlung im
Auslande durch die Gerichte oder durch Administrativbehörden untersucht und bestraft werde. Auch könne schon desswegen an eine Auslieferung wegen Stellungsflueht im Ernste nicht gedacht werden, weil gemäß Art. l und Art. 2, letztes Alinea, des Auslieferungsvertrages von

615 1855 niemals bloße Uebertretungen, sondern nur im Verbrechensgrade strafbare Delikte die Auslieferung zu rechtfertigen vermögen.

Die österreichische Regierung zog hierauf ihr Auslieferungsbegehren zurück, weßhalb wir unserseits die bedingt ertheilte Auslieferungsbewilligung als dahingefallen erklärten.

5. Gegen einen in Luzern niedergelassenen Franzosen (Jules Léon L e d o u x ) stellte die f r a n z ö s i s c h e B o t s c h a f t ein Auslieferungsbegehren wegen B i g a m i e unter Anbietung der Reziprozität. Ledoux protestirte gegen seine Auslieferung, weil im Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Frankreich vom 9. Juli 1869 das Verbrechen der Bigamie nicht als Auslieferuugsgrund vorgesehen sei. Wir gaben hievon der französischen Botschaft Kenntniß mit dem Bemerken, wir können auf das Anerbieten der Reziprozität nicht eintreten, da die Kompetenz des Bundesrathes zum Abschlüsse solcher Vereinbarungen in den eidgenössischen Käthen angezweifelt worden und das Bundesgesetz betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland, wodurch dem Bundesrathe diese Kompetenz zugesprochen würde, noch nicht zu Ende berathen und in Kraft getreten sei.

6. Ein außerdem für die Interpretation des schweizerisch-französischen Auslieferungsvertrages vom 9. Juli 1869 wichtiger Spezialfall zeigt, daß die Anschauungsweise der französischen Regierung über die Frage des Austausches von Reziprozitätszusicherungen auf dem Wege der diplomatischen Korrespondenz mit der unserigen im Wesentlichen übereinstimmt. Im Kanton Waadt waren zwei Schweizerbürger, M a r c T i r e f o r t und A l ois G r e n i e r , wegen Bel eid i gung und Bedrohung von Beamten bei A u s ü b u n g ihrer A m t s p f l i c h t e n verurtheilt worden. Da sie sich dem Strafvollzug durch die Flucht nach F r a n k r e i c h entzogen hatten, so ersuchte uns der Staatsrath des Kantons Waadt, bei der französischen Regierung, ,,sei es gestützt auf Art. l, Ziffer 15, des Auslieferungsvertrages vom 9. Juli 1869, sei es unter Anerbietung der Reziprozität", die Verhaftung und Auslieferung der beiden Verurtheilten zu beantragen.

Unsere Gesandtschaft in Paris berichtete jedoch auf Grund eingezogener Informationen, daß nach Ansicht des französischen Justizministeriums Art. l, Ziffer 15, des vorerwähnten Vertrages sich nicht auf einfache ,,Drohungen" beziehe,
sondern auf die ,,Androhung von Gewaltanwendung", und zwar überdieß ,,mit der Aufforderung, eine Summe Geldes zu hinterlegen oder irgend welche andere Bedingung zu erfüllen"1; Art. l, Ziffer 15, scheine eher gewisse Arten von Erpressung im Auge zu haben, und es könnte daher die Auslieferung

616 auf Grund dieser Vertragsbestimmuug in casu nicht bewilligt werden.

Die fraglichen Handlungen würden in Frankreich unter den Begriff der ,,Beschimpfung öffentlicher Beamten bei Ausübung ihrer Amtspflicht" fallen. Es erscheine nun unmöglich, den Auslieferungsvertrag auf dem Wege der diplomatischen Korrespondenz auf dieses Vergehen auszudehnen. Noch kürzlich sei die Frage erörtert worden, inwiefern eine Regierung berechtigt sei, die Liste der in einem vom Parlament genehmigten Ablieferungsverträge vorgesehenen Auslieferungsdelikte zu vermehren, ohne daß diese, die Ausdehnung des Vertrages bezweckende Uebereinkunft gleichfalls den Kammern zur Genehmigung unterbreitet würde. Wie dem auch sein möge, sei es zum Mindesten unwahrscheinlich, daß die französische Regierung einwilligen würde, die einfachen Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen unter die Auslieferungsdelikte aufzunehmen, zumal dieselben auch häufig einen politischen Charakter tragen, und -- wenigstens in Frankreich -- ganz besonders während der Wahlkämpfe begangen werden.

Angesichts dieser Ausführungen glaubten wir, nicht weiter auf dem Ausliefenrungsbegehren beharren 211 sollen, um so weniger, da wir dasselbe vorwiegend deßhalb anhängig gemacht hatten, um zu erfahren, ob die französische Regierung die Auslieferung wegen der fraglichen Delikte auf Grund des bestehenden Vertrages würde bewilligen können.

7. Auch im Berichtsjahre sind wiederum eine Anzahl von Fällen zu unserer Kenntniß gelangt, in welchen auf direktes Ansuchen auswärtiger Amtsstellen verhaftete Ausländer von den kantonalen Behörden den ausländischem Polizeiorganen zugeführt wurden, bevor der Bundesrath die Auslieferung bewilligt hatte. Wir sind längst darüber orientirt, daß von Seite der Polizeibehörden der Grenzkantone diese direkte Auslieferung geübt wird, ohne daß wir uns ohne Noth in dieses Vorgehen hätten einmischen mögen, da wir die Vortheile des rascheren Verfahrens mit Bezug auf Zeit- und Kostenersparniß vollkommen würdigen. Indeß haben wir stets angenommen und den Kantonen gegenüber wiederholt betont (vergi.

Bundesbl. 1883, U, 896; 1885, II, 709; 1886,1, 973; 1888,11, 813), daß dieses Verfahren nicht als Regel betrachtet und gehandhab t werden dürfe. Wir haben hieran in den uns bekannt gewordenen Fällen festgehalten und die Kantone nachdrücklich darauf
hingewiesen , es sei die Auslieferung ,,brevi manu" nur ein geduldetes Mittel, um in besonders dringenden Fällen, in welchen ein Abgehen von der Regel gerechtfertigt erscheine, wünschbare Abhülfe zu gewähren. Es sei immer davon auszugehen, daß das durch die Staatsverträge vorgeschriebene Verfahren des diplomatischen Ver-

617 kehrs mit dem Auslande gemäß Art. 10 der Bundesverfassung durch den Bundesrath, als Repräsentanten des ganzen Landes, zu erfolgen habe. Dabei machten wir darauf aufmerksam,i daß die Auslieferungsangelegenheiten sowohl bei den Bundesbehörden, als in allen angrenzenden Staaten zu denjenigen Geschäften gehören, welche besonders behandelt und schnellstens erledigt werden, so daß die Kosten für die Kantone sich auf ein Minimum reduziren.

Eine Abweichung von der Regel setze voraus, daß entweder der Verfolgte auf Beförderung dringe, oder die requirirende Behörde aus besondern Gründen schnelle Erledigung des Verfahrens beantrage.

Die direkte Auslieferung dürfe aber jedenfalls nur nach Vorlage eines gültigen Haftbefehles oder eines andern vertragsmäßigen Auslieferungsbelegs und nur auf Grund einer vom Verfolgten unterzeichneten Erklärung stattfinden, daß er in seine Auslieferung an die requirirende Behörde behufs, Verfolgung wegen der zu bezeichnenden strafbaren Handlung eingewilligt habe. Selbstverständlich müsse diese Handlung ein Auslieferungsdelikt sein. -- Wir machten schließlich darauf aufmerksam , daß aus dem unregelmäßigen Verfahren Bedenken gegen die Kompetenz des urtheilenden Gerichtes hergeleitet werden könnten, für welche wir uns jeder Verantwortlichkeit entschlagen müßten.

8. Es kommt nicht selten vor, daß Personen, welche zum Zwecke ihrer Auslieferung vorläufig verhaftet sind, das Gesuch um p r o v i s o r i s c h e F r e i l a s s u n g stellen. Die Frage, welche»Behörde zur Entscheidung über ein solches Gesuch zuständig ist, kann grundsätzlich entweder zu Gunsten der die Auslieferung verlangenden Amtsstelle oder zu Gunsten der Behörden desjenigen Landes, wo sich der Verfolgte in Haft befindet, beantwortet werden. Wir haben bisher in derartigen Fällen, wenigstens so lange die Angelegenheit bei uns liegt und im Stadium der diplomatischen Verhandlungen sich befindet, die Kompetenz der requirirenden Behörden anerkannt (vergi. Botschaft des Bundesrathes zum Entwurf des Bundesgesetzes betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland, vom 9. Juni 1890, Bundesbl. 1890, III, S. 360) und daher Gesuche um provisorische Freilassung jeweils der die Auslieferung verlangenden Regierung zur Vernehmlassung zugeleitet. Ist dagegen der Fall gemäß Art. 58 des Bundesgesetzes über die Organisation der
Bundesrechtspflege einmal dem Bundesgerichte überwiesen, so werden dieser Behörde auch alle derartigen Begehren des Verfolgten zugestellt.

Ein Spezialfall zeigte, daß die französischen Behörden von ähnlichen Grundsätzen ausgehen: Das Begehren, womit ein in Grenoble verhafteter Schweizer ( P o i r a u l t de la P o r t e " ) , dessen Auslieferung die Regierung des Kantons Freiburg nachgesucht hatte, um

618

vorläufige Freilassung gegen Kaution ersuchte, wurde von der dortigen Staatsanwaltschaft dahin beantwortet, sie sei geneigt, auf dasselbe einzugehen, werde aber ohne Weisung der schweizerischen Behörden keine Anordnungen treffen. Wir übermittelten das Gesuch der frei burgischen Regierung, welche demselben stattzugeben beschloß, den kompetenten französischen Behörden überlassend, eine genügende Kaution festzustellen.

9. Ueber das für die Stellung eines Auslieferungsbegehrens bei der belgischen Regierung zu beobachtende Verfahren sah sich das schweizerische Generalkonsulat in Brüssel in einem Spezialfalle ( C h a r l e s V al l i e r ) zu folgenden grundsätzlichen Erörterungen veranlaßt: ^Handelt es sich um eine Auslieferungsangelegenheit dringlicher Natur, so wendet sich das Generalkonsulat mit einem von mündlichen Erläuterungen begleiteten direkten Sehreiben, sei es an die Staatsanwaltschaft, sei es an die Polizeibehörde. Bis auf die jüngste Zeit wartete das Konsulat in solchen Fallen mit der Einreichung des offiziellen Auslieferungsbegehrens bis nach Eingang der Meldung zu, daß die Verhaftung des Verfolgten stattgefunden habe. In den neuesten Fällen ging nun die Nachricht über den Erfolg der Fahndung dem Generalkonsulate regelmäßig durch Vermittelung des Minister?, der Auswärtigen Angelegenheiten zu, und zwar in einer Form, aus welcher Herr Rivier eine Krilik seines bisherigen Vorgehens glaubte entnehmen zu sollen. Das Generalkonsulat hat seither nicht ermangelt, jedem dringlichen Begehren bei der Staatsanwaltschaft oder der Polizeibehörde unverzüglich nach Eintreffen des Haftbefehls ein offizielles Fahndungsgesuch an das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten nachfolgen zu lassen. Sobald nun die Fahndung und Verhaftung in offizieller Weise nachgesucht wird, erscheint es einfacher, sogleich auch ,,schon jetzt auf den Fall, daß die Verhaftung vollzogen werden sollte", den Auslieferungsantrag zu stellen. Ist die Angelegenheit nicht dringlich , d. h. hat man keine Angaben oder Vermuthungen über den möglichen Aufenthalt des Verfolgten, so richtet das Generalkonsulat, sobald ihm der Bundesrath einen bezüglichen Auftrag ertheilt, ein einziges, das Gesuch um Fahndung, Verhaftung und eventuell um Auslieferung umfassendes Begehren an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten." Unser Justiz-
und Polizeidepartement erklärte sich mit dem vom Generalkonsulat angenommenen Vorgehen durchaus einverstanden, mit dem einzigen Vorbehalt, daß ein offizieller Schritt bei der belgischen Regierung nicht ohne Auftrag des Bundesrathea oder des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartemen'ts unternommen werde.

619 10. Die schon in den Kreisschreiben des Bunde&rathes und des eidg. Justiz- und Polizeidepartementes vom 14. Januar 1870 und 12.Dezember 1874 (Bundesbl. 1870, I, 61, und 1874, III, 885) dargelegten und seither (vergleiche Bundesbl. 1880, U, S. 639) wiederholt in Erinnerung gebrachten \ 7 orschriften betreffend das V e r f a h r e n bei t e l e g r a p h i s c h e n F a h n d u n g s g e s u c h e u an ausländische Behörden werden von einzelnen Kantonen vielfach noch außer Acht gelassen. Danach haben jedem polizeilichen Begehreu um provisorische Verhaftung eines Angeschuldigten die Bestätigung dieses Begehrens und das Auslieferungsgesuch so rasch wie möglich auf diplomatischem Wege, unter Vorlage der Belege, zu folgen. Die Notwendigkeit dieses Verfahrens ergibt sich schon daraus, daß den direkten Ansuchen um provisorische Verhaftung eines Individuums jeweilen beigefügt werden muß, daß ein Verhaftsbefehl besteht und das Auslieferungsgesuch gestellt werde, eine Zusage, welche nicht unerfüllt bleiben darf. Der Gedanke, zuwarten zu wollen, bis die Verhaftung gemeldet ist, muß daher aufgegeben werden. Es entstehen dadurch nur Kosten und unangenehme Inkonveuienzen. Unsere diplomatischen Vertreter im Ausland sind nämlich, um die Verhaftung eines Individuums bei der auswärtigen Regierung verlangen zu können, jeweilen genöthigt, uns von dem seitens einer kantonalen Behörde au sie gerichteten Fahndungsbegehren in Kenntniß zu setzen und anzufragen, ob, die Auslieferung des Verfolgten durch den Bundesrath verlangt werde, was uns hinwiederum zur Einleitung einer Korrespondenz mit der betreffenden Kantonsregierung zwingt. Von direkten Fahndungsgesuchen an ausländische Behörden ist daher gleichzeitig unserm Justiz- und Polizeidepartement Kenntniß zu geben, worauf dasselbe das gestellte Begehreu bei unserm diplomatischen Agenten im Ausland bestätigt, mit der Zusicherung, daß die Stellung des Auslieferungsbegehrens durch den Bundesrath nachfolge.

Wenn die Auslieferungsvertrage nach erfolgter provisorischer Verhaftung für die Stellung des diplomatischen Begehrens um Auslieferung eine Frist einräumen, so geschieht dies nur, um die Sammlung der Auslieferungsbelege zu ermöglichen, und mit Rücksicht auf den mit dem diplomatischen Verkehr, besonders im Auslande, nothwendig verbundenen Zeitverlust.

11. Besonderes
Interesse beanspruchen drei Auslieferungsfälle, in welchen die Verfolgten nach E n g l a n d sich'geflüchtet hatten; die Durchführung des umständlichen und von dem unserigen wesentlich verschiedenen Auslieferungsverfahrens, wie es auf Grund des englischen Auslieferungsgesetzes von 1870 in Verbindung mit der bekannten Habeas-Corpus-Akte von der englischen Praxis ausge?

(520 bildet worden ist, erforderte umsichtige Vorbereitung der Auslieferungsbelege und verursachte sowohl unserm Justiz- und Polizeidepartement, als auch dem schweizerischen Generalkonsulat in London nicht unbedeutende Arbeit.

Die wichtigste dieser Auslieferungsangelegenheiten betraf den A n g e l o C a s t i o n i von Stabio, welcher vom eidgenössischen Untersuchungsrichter für die Tessiner Unruhen vom Herbst 1890 mit Haftbefehl vom 18. September beschuldigt wurde, am 11. September 1890 den Tod des Staatsrathes Rossi durch einen in der Absicht, ihn zu tödten, gegen ihn abgefeuerten Revolverschuss herbeigeführt und dadurch das nach Artikel 287 und ff. des tessinischen Strafgesetzbuches mit Zuchthausstrafe bedrohte Verbrechen der absichtlichen Tödtung (omicidio volontario) begangen zu haben.

Wir haben Ihnen in unserm Bericht Über die Tessiner Angelegenheiten vom 3. Dezember 1890 (Bundesbl. 1890, V, S. 3091 den Verlauf dieser Auslieferungsangelegenheit dargestellt (vergleiche 1. c., S. 326/7) und Ihnen von der Abweisung unseres Begehrens durch Urtheil der zuständigen Abtheilung (,,Queen's Bench"') des obersten Gerichtshofs vom 11. November 1890 Kenntniss gegeben.

Was die Motiviruug dieses Urtheils betrifft, so war das Generalkonsulat inLondonn erst nach Abfassung unseres zitirten Berichtes in der Lage, uns einen vollständigen stenographischen Bericht über die sehr einläßlichen Verhandlungen des genannten Gerichtshofes zugehen zu lassen. Bemerkenswerth darin ist, daß das Urtheil formell gar nicht die Bewilligung oder Verweigerung der Auslieferung zum Gegenstand halte, sondern lediglich die Krage erörterte, ob dieVerhaftungg des Castioni zum Zwecke seiner Auslieferung gerechtfertigt und daher aufrecht zu erhalten sei oder nicht. Demgemäß lautete dennauchi der Spruch des Gerichtshofes kurzweg dahin, es sei der Befehl zu erlassen, den Verhafteten auf freien Fuß zu setzen. Die Erwägungen, welche zu diesem Entscheide führten, lassen sich dahin zusammenfassen, daß zwar die Thäterschaft Castioni's nicht in Zweifel zu ziehen sei, daß aber sein Verbrechen einen politischen Charakter an sich trage, weil er es mitten in einem auf seinem Höhepunkt angelangten politischen Aufstand begangen habe, und zwar mit der Absicht, diesen Aufstand durch seine That zu fördern.

Vor der ,,Queen's Bench" wurde der Bundesrath,
gemäß der Vorschrift von Artikel IX des schweizerisch-englisch Auslieferungsvertrages vom 26. November 1880, durch einen der Kronanwälte vertreten. Mit der Anzeige von der Bewilligung des daherigen Gesuches verband die großbritannische Regierung den Vorbehalt, es solle dadurch ihrem Rechte, die Auslieferung des Castioni, gestützt

621 auf Artikel XI des Vertrages auch dann noch zu verweigern, wenn sie durch die Gerichte bewilligt würde, kein Eintrag gethan werden.

Wir erklärten, uns umgekehrt eventuell die Reziprozität vorbehalten zu müssen, wenn in einem analogen Falle das Bundesgericht eine Auslieferung an England bewilligt hätte.

12. Die beiden andern an die großbritannische Regierung gerichteten Auslieferungsbegehren betrafen : 1. den Geschäftsagenten R o b e r t F l u r y von Stans, welcher schon seit Anfang des Jahres 1888 nach Begehung einer ganzen Anzahl von Diebstahls- und Betrugsvergehen und von Veruntreuungen, sowie mit Hinterlassung bedeutender Schulden das Weite gesucht hatte. Flury wurde seither von den Nidwaldner Behörden in Frankreich, den Niederlanden und England verfolgt und endlich Anfangs 1890 in London verhaftet ; 2. einen gefährlichen Hochstapler unbekannter Nationalität, welcher unter den Namen D. F a k i r i und W. B r e t h e r ton im Laufe des Sommers 1890 in verschiedenen Städten der Schweiz sich der Wechselfälsohung und des Betruges schuldig gemacht hatte. Nachdem er auf Betreiben der Basler Behörden in London verhaftet worden, wurde seine Auslieferung sowohl von der Regierung des Kantons Baselstadt, als auch von derjenigen von Waadt nachgesucht.

In beiden vorgenannten Fällen gelang es, genügende Belege zu sammeln und dieselben in solcher Form vorzulegen, daß der englische Richter die Auslieferung bewilligte. Sowohl Flury als Fakiri-Bretherton wurden hierauf über Dover-Calais und durch das Gebiet d e r . französischen Republik an die Schweizergrenze verbracht, und zwar wurde Letzterer zufolge einer zwischen den interessirten Amtsstellen getroffenen Vereinbarung zunächst den waadtländischen Gerichten zur Verfügung gestellt.

13. Ein Zürcher Namens G r o t t l i e b N i e v e r g e l t war auf unser Gesuch wegen Betruges und betrügerischen Bankerotts von den f r a n z ö s i s c h e n Behörden zur Beurtheilung durch die zürcherischen Gerichte ausgeliefert worden. Später ergab es sich, daß Nievergelt auch der Verletzung der Vaterpflichten und der Unterschlagung sich schuldig gemacht hat. Indem die Regierung des Kantons Zürich uns hievon Mittheilung machte, fügte sie bei, daß Nievergelt seine Zustimmung zur Aufnahme dieser letztern Punkte in die Anklage gegeben habe, und ersuchte uns, die französische Regierung von diesem Sachverhalt nach Maßgabe von Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

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622 Artikel 8, Lemma 2, des Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich vom 9. Juli 1869 zu verständigen. Wir sahen uns indeß veranlaßt, eine nähere Darlegung insbesondere derjenigen Handlungen oder Unterlassungen zu verlangen, welche das Delikt der Verletzung der Vaterpflichten bilden, um der französischen Regierung die nöthigen Elemente an die Hand geben zu können zur Prüfung der Frage, ob eine Bestrafung dieses Vergehens auch nach französischer Gesetzgebung zuläßig wäre. Nach Vorlage der erforderlichen Belege erklärte die französische Regierung, es stehe, soviel an ihr, der Bestrafung des Nievergelt auch wegen Unterschlagung und Verletzung der Vaterpflichten (,,abandon de famille") nichts entgegen.

lé. Auf Gesuch der f r a n z ö s i s c h e n B o t s c h a f t und nach Vorlage der nöthigen Belege gestatteten wir den D u r c h t r a n s p o r t eines vom Appellhofe in Riom wegen mehrfacher Unterschlagung verfolgten Franzosen Namens M i g n o t , dessen Auslieferung seitens d e r ö s t e r r e i c h i s c h e n « R e g i e r u n g bewilligt worden war. Mignot wurde in Buchs von der st. gallischen Polizei übernommen, von ihr bis nach Bellegarde eskortirt und dort gegen Empfangsschein dem französischen Polizeiposten, übergeben.

15. Von den 4 am Schluß des Jahres 1889 noch pendent gebliebenen Fällen, in welchen wir die V e r f o l g u n g von A u s l ä n d e r n wegen in der S c h w e i z von ihnen b e g a n g e n e r D e l i k t e bei der Regierung ihres Heimatstaates beantragt hatten,, sind 3 durch Verurtheilung der Betreffenden erledigt worden, während im vierten Fall die Untersuchung durch gerichtliche Verfügung, dahingestellt wurde.

Im Berichtsjahre waren wir veranlaßt, 5 derartige Untersuchungen in F r a n k r e i c h anhängig zu machen. In zwei Fällen wurden die Verfolgten verurtheilt; in einem Falle wurde die Untersuchung aufgehoben, da der Angeschuldigte sein Alibi beweisenkonnte; in einem fernem Fall blieb der Verfolgte unentdeckt. Der letzte Fall endlich betraf einen Franzosen, L o u i s B r i s s e n , alias Louis Mauraby, welcher in Lausanne, wo er eine fünfjährige Gefängnißstrafe zu verbüßen hatte, aus der Haft entflohen war, dann in Genf mehrere Einbruchsdiebstähle begangen hatte und schließlich in Lyon verhaftet werden konnte. Es wurden nun der französischen Regierung
sowohl diejenigen Untersuchungsakten übermittelt, auf Grund deren Brisson in Lausanne verurtheilt worden war, als diejenigen, welche die Behörden des Kantons Genf über die daselbst verübten Strafthaten aufgenommen hatten. Die französischen Be--

623 hörden erklärten, die strafrechtliche Verfolgung des Brisson nur für die in Genf begangenen Delikte übernehmen zu können, da in Lausanne bereits ein rechtskräftiges Urtheil ergangen sei und die französischen Gerichte nach der herrschenden Lehre einer Person gegenüber, welche im Ausland rechtskräftig verurtheilt sei und als französischer Staatsangehöriger nicht ausgeliefert werden könne, infolge von Artikel 5 des. Strafprozeßgesetzes sich im Zustand völliger Wehrlosigkeit befinden. Dieser Artikel besage nämlich : ,,Jeder Franzose, welcher außerhalb des französischen Staatsgebietes sich eines nach französischem Recht mit Strafe bedrohten Verbrechens schuldig gemacht hat, kann hiefür in Frankreich verfolgt und bestraft werden . . . . Indeß kann weder für ein Verbrechen, noch für ein Vergehen irgend welche Verfolgung stattfinden, wenn der Angeschuldigte den Beweis erbringt, daß er im Ausland rechtskräftig beurtheilt worden ist." Bekanntlich wird es nach dem der Deputirtenkammer vorliegenden Entwurfe einer neuen französischen Strafprozeßordnung möglich sein, gegen einen im Auslande verurtheilten Franzosen vorzugehen, welcher sich dem Strafvollzug durch die Flucht nach Frankreich entzogen hat.

16. Im Jahr 1887 hatte das g roß h. b a d i s c h e S t a a t s m i n i s t e r i u m die Auslieferung eines angeblichen I g n a z S o b i e s k y aus Warschau zum Zwecke des Vollzugs einer von den Assisen des 4. Geschwornenbezirkes des K a n t o n s B e r n im Jahre 1886 gegen ihn erkannten Freiheitsstrafe bewilligt und den Vollzug dieser Auslieferung auf den Zeitpunkt zugesichert, an welchem Sobiesky eine ihm in Baden auferlegte 3 Va.jährige Zuchthausstrafe verbüßt haben werde.

Inzwischen stellte sich heraus, daß dieser vermeintliche Russe in Wirklichkeit der deutsche Staatsangehörige Otto König von Segeberg (Regierungsbezirk Altona) sei. Es konnte daher von seiner Auslieferung nach der Schweiz nicht mehr die Rede sein. Dagegen erklärten sich die badischen Behörden nach Vorlage der in Bern erhobenen Untersuchungsakten bereit, die strafrechtliche Verfolgung und Beurtheilung des Sobiesky, recte König, für diejenigen Handlungen durchzuführen, welche den Gegenstand des in Bern gegen ihn ergangenen Urtheils gebildet hatten; König wurde in der Folge wegen dieser Handlungen zu einer Zusatzstrafe von l Jahr Zuchthaus
verurtheilt.

Ein ähnliches Gesuch um strafrechtliche Verfolgung eines Italieners in seiner Heimat ist bisher noch nicht erledigt.

17. Andererseits leitete uns die k. r u s s i s c h e G e s a n d t s c h a f t umfangreiche Untersuchungsakten gegen den Neuenburger H e n r i M a i 11 e r zu, welcher in Rußland sich der B i g a m i e

624 schuldig gemacht hatte. Maillei1 konnte zwar in Neuenburg nicht aufgefunden werden, wurde aber vom dortigen Geschwornengericht in contumaciam zu 4jähriger Gefängnißstrafe verurtheilt.

Ein ähnliches Gesuch der französischen Regierung gegen einen in Vevey wohnhaften Schweizerbürger führte wegen mangelnder Beweise zu einer Sistirungsverfügung.

II. Bundesstrafreeht.

18. Nach Anleitung des Gesetzes über die Bundesanwaltschaft werden die Geschäfte auf dem Gebiete des Bundesstrafrechts dieser Amtsstelle zur selbständigen Erledigung oder zur Begutachtung übertragen.

Zur Behandlung gelangten : 97 Fälle betreffend Gefährdungen des Eisenbahnbetriebes, 4 r ,, ,, ,, Postbetriebes, 2 ,, ,, ,, ,, Telephonbetriebes, 15 ,, ,, Fälschungen von Militärdienstbuchlein, 13 weitere Fälle des Bundesstrafrechts, wie Wahlvergehen u. A.

Total 131 Fälle.

Von diesen wurden 91 Fälle zur Untersuchung und Beurtheilung an die kantonalen Gerichte und 2 Faille an die Militärgerichte überwiesen.

Gegen 7 erstinstanzliche Urtheile wurde appellirt und gegen zwei von dem Rechtsmittel der Kassation Gebrauch gemacht.

19. Die verschiedenen Fälle von E i s e n b a h n g e f ä h r d u n g e n geben keinen Anlaß zu besonderen Bemerkungen; bezügliche grundsätzliche Fragen sind bereits in früheren Jahresberichten behandelt worden.

Es kommt noch hie und da vor, daß in Fällen, in welchen das Bundesstrafreeht zur Anwendung kommen muß, kantonale Gerichte ohne die nach Art. 74 des Bundesstrafrechts nöthige Delegation Recht sprechen; wir haben jeweilen die erforderlichen Verfügungen getroffen, um dem Gesetze Nachachtung zu verschaffen.

Auch übersehen einzelne kantonale Gerichte die gesetzliche Vorschrift, wonach kumulativ auf Freiheitsstrafe und Geldbuße zu erkennen ist. Wir haben je nach Umstanden die Kassation des Urtheils nachgesucht oder die Kantone eingeladen, die Gerichte

625 anzuweisen, die Strafen nach den Vorschriften des Bundesgesetzes auszusprecben.

Eine auffallende Erscheinung bilden bei den überwiesenen Eisenbahngefährdungen die häufigen Freisprechungen in der französischen Schweiz, namentlich in den Kantonen Waadt und Neuenburg, und zwar in Fällen, in welchen sowohl nach unserer Auffassung, als nach Ansicht der kantonalen Staatsanwaltschaft, genügende Gründe für eine Verurtheilung vorgelegen hätten.

Von den waadtländischen Gerichten wurden im Berichtsjahr ungefähr die Hälfte der überwiesenen Fälle durch Freisprechung der Angeschuldigten erledigt --. die Gerichte des Kantons Neuenburg sprachen die Angeschuldigten in allen Fällen frei.

Die kantonale Strafprozeßordnung läßt eine Weiterziehung an ein höheres Gericht nicht zu und ebenso wenig steht uns zur Romedur solcher Urtheile ein selbständiges Rechtsmittel zur Verfügung.

Die Schaffung einer bundesstrafgerichtlichen Instanz, welche ohne den schwerfälligen Apparat der eidgenössischen Assisen solche Fälle beurtheilen kann, oder die Einführung eines Kassationsverfahrens gegen die erwähnten kantonalen Urtheile beim Bundesgericht wird die Möglichkeit bieten, solchen Uebelständen in wirksamer Weise abzuhelfen.

20. Am '27. Juli 1890, Abends nach 7 Uhr, stürzte beim Landen des Dampfschiffes in Arth (Schwyz) die Dampfschiffbrücke wegen Baufälligkeit ein.

Es fielen über 50 Personen in den See, wovon säramtliche gerettet wurden.

Wir haben die weitere Behandlung dieses Falles den Gerichten des Kautons Schwyz übertragen, in der Meinung, daß diejenigen Personen, denen die Aufsicht über die Brücke und deren Instandhaltung oblag und welche in Nichterfüllung ihrer Dienstpflicht die Brücke in ihrem baufälligen Zustand belassen haben, wegen Gefährdung des Postbetriebes (Art. 67 b des Bundesstrafrechts) bestraft werden.

Wir gingen dabei von folgenden Gesichtspunkten aus : Die einschlagenden Bestimmungen des Art. 67, lit. a und b, , des Bundesstrafrechts lauten : ,,Wer leichtsinniger oder fahrlässiger Weise durch irgend eine ,,Handlung oder durch Nichterfüllung einer ihm obliegenden Dienstpflicht Personen oder Waaren, die sich auf einem zur Beförderung ,,der Post dienenden Schiffe befinden, einer erheblichen Gefahr ,,aussetzt, wird bestraft . . .a

626

Der Unfall ist nicht auf dem Schifile selbst passirt und das Schiff als solches wurde auch nicht getährdet, allein eine solche Landungsbrücke muß im Zeitpunkt de« Anlandens als ein integrirender Bestandtheil des Schiffes betrachtet werden und sind Gefährdungen des Schifisbetriebes auf der Landungsbrücke anzusehen, als ob sie auf dem Schiffe stattgefunden hätten.

Das fragliche Schiff hat allerdings nicht zur Beförderung der Post gedient, aber verschiedene andere Dampfschiffkurse, welche an der betreffenden Dampfschiffbrücke landen, werden zur Postbeförderung benutzt.

Das Gesetz verlangt zum Thatbestand der Gefährdung im Sinne des Art. 67 des Bundesstrafrechts nicht einen /Unfall, eine Katastrophe, sondern lediglich das Vorhandensein einer erheblichen Gefahr, welche durch eine absichtliche oder fahrlässige Handlung einer Person herbeigeführt wurde.

Eine solche Gefahr hat, wenigstens für die kurze Zeit vor dem Einsturz der Brücke landenden Dampfschiffe mit Postbetrieb, ohne Zweifel bestanden.

Das allgemeine Interesse erfordert es, daß solche Vorkommnisse, welche die Sicherheit des Postbetriebes auf den Dampfschiffen erheblich gefährden, der Beurtheilung des Richters unterstellt werden.

Von der Erledigung dieser Angelegenheit sind wir zur Zeit noch ohne Mittheilung.

21. Eine Reihe Fälschungen von Militärdienstbüchlein (Fälschungen der An- und Abmeldungen, Ausradiren oder Verändern von pädagogischen Noten und Bemerkungen, die sanitarische Untersuchung berührend) gelangten zur Anzeige.

Sofern die Fälschungen verübt wurden von militärpflichtigen Personen, welche persönlichen Dienst zu leisten hatten, wurde die Erledigung dieser Fälle nach Maßgabe des Art. l, litt. 5, der Militärstrafgerichtsordnung, den Militärbehörden übertragen, da es sich um Vergehen militärpflichtiger Personen außerhalb ihres Dienstes mit Bezug auf dienstliche Pflichten handelte.

Anders, wenn das Vergehen von Ersatzpflichtigen begangen worden.

Es ist allerdings fraglich, ob nicht auch in solchen Fällen, mit Rücksicht auf den Charakter des Vergehens als Militär v ergehen und im Interesse einer gleichartigen Behandlung richtiger die Militärstrafbehörden zu funktioniren hätten.

Bei Anlaß eines Spezialfalles haben wir grundsätzlich dahin entschieden :

627 ,,Es seien die von persönlichem Militärdienst gänzlich Befreiten ^als dem Art. l, Ziffer 5, der Militärstrafgerichtaordnung nicht unter,,stellt zu betrachten", indem wir von der Auffassung ausgingen, daß unter dem Begriff ,,militärpflichtige Personen" in Art. l, Ziffer 5, cit., nur solche Personen verstanden werden können, welche wirklich persönlich Dienst leisten, eingetheilt sind. (Beschluß vom 18. April 1890.)

Zu dei' Kategorie der gänzlich Befreiten zählen die nur auf Zeit Zurückgestellten oder zeitweilig vom Dienste Befreiten nicht.

In weiterer Folgegebung dieses grundsätzlichen Entscheides wurden die eingeklagten Fälschungen von Militärdienstbüchlein, welche durch gänzlich Befreite verübt worden, als Fälschungen von Bundesakten (Art. 61 des Bundesstrafrechts) im Sinne von Art. 74 des Bundesstrafrechts den kantonalen Gerichten zur Beurtheilung delegirt.

Es erscheint etwas hart, solche untergeordnete Vergehen, wie Aenderung von pädagogischen Noten etc., als Fälschung von Bundesakten strafrechtlich verfolgen zu lassen, um so mehr, als gleichartige Fälle von den Militärstrafbehörden unter Umständen disziplinarisch erledigt werden. Allein im Hinblick auf den Wortlaut des Gesetzes, die von uns erfolgte Interpretation, und wenn man diese Handlungen, die doch immerhin rechtswidrige sind, nicht ungeahndet lassen will, steht zur Zeit kein anderer Weg offen.

22. Bezüglich des Verfahrens bei Behandlung von Fälschungen der MilitärdienstbüchleiQ wurde von uns ein Kreisschreiben an die Kantone erlassen mit folgenden Vorschriften: 1. Wird die Fälschung eines Dienstbüchleins im Instruktionsdienst oder im aktiven Dienst begangen, so ist die Voruntersuchung nach Artikel 110, Ziffern l und 2, der Militärstrafgerichtsordnung durch die Schul- oder Kurskonimandanten, beziehungsweise die Chefs der Truppeneinheiten, Kommandanten der Stäbe etc. zu verfügen und weiter zu bebandeln.

2. In allen übrigen Fällen sind Fälschungen von Dienstbüchlein, gleichviel, ob sie von Eingetheilten oder Ersatzpflichtigen begangen worden sind, durch die kompetenten kantonalen Behörden beim schweizerischen Militärdepartement unter Beilegung des Dienstbüchleins zur Anzeige zu bringen.

3. Das Militärdepartement wird im einzelnen Falle vorerst untersuchen, ob es sich um Eingetheilte oder gänzlich Dienstbefreite handelt.

Im erstem Falle verfügt das Militärdepartement das Weitere nach Anleitung der Militärstrafgesetze. Bei Fällen der zweiten

,628 Kategorie übermittelt das Militärdepartement die Akten zu weiterer Behandlung dem Justizdepartement, welches im Sinne von Art. 74 des Bundesstrafrechts in jedem einzelnen Falle eine Entscheidung, des Bundesrathes betreffend den Gerichtsstand veranlassen wird.

23. Ein J. J. M. von B. wurde beschuldigt, in der Eigenschaft als Präsident einer Schützengesellschaft bei Vereinsmitgliedern behufs Erlangung der Berechtigung zum Bezüge der eidgenössischen Munitionsvergütung falsche Eintragungen in die Schießtabelle gemacht zu haben.

Diese Handlung wurde als Fälschung von Bundesakten qualiflzirt und die Beurtheilung den betreffenden kantonalen Gerichten delegirt. (Beschluß vom 16. Mai 1890.)

2e. Ein gewesener Briefträger F. A. in J. war der fälschlichen Beisetzung der Unterschrift eines Adressaten im Postbuch als Empfänger eines Postgegenstandes beschuldigt.^ Wir haben, in Erwägung, daß das Postbuch, welches dem Briefträger zur Ausübung seiner amtlichen Funktionen übergeben wurde, unzweifelhaft als eine Bundesakte im Sinne von Artikel 61 des Bundesstrafrechts betrachtet werden muß, daß eine Fälschung dieser Urkunde nicht blos in dem Eintragen einer zwar ächten, aber von einer nicht berechtigten Hand herrührenden Unterschrift, sondern auch durch das Beisetzen einer falschen Unterschrift verübt werden kann, da in beiden Fällen die Postverwaltung getäuscht werden soll, beschlossen, es sei gemäß Vorschrift des Artikel 74 des Bundesstrafrechts die Beurtheilung der fraglichen Fälschung dem kompetenten kantonalen Gericht zu übertragen. (Beschluß vom 2. Juni 1890.)

25. Die Anfangs März 1889 im K a n t o n T e s s i n vorgefallenen Ereignisse haben, wie bekannt, die Einleitung einer eidgenössischen Strafuntersuchung veranlaßt. DerBundesrath hat der Bundesversammlung bereits in seiner Botschaft vom 25. März 1889 (Bundesblatt 1889 I, S. 901, ff.) über die damalige eidgenössische Intervention Mittheilungen gemacht. Die Nr. 85 (1. c., pag. 995) der ersten Beilage zu diesem Bericht gibt den Text des Beschlusses wieder, durch welchen am 7. März 1889 der Bundesrath gestutzt auf Artikel 4 des Gesetzes über die Bundesstrafrechtspflege die Eröffnung einer Strafuntersuchung anordnete zur Ermittlung der Vergehen, welche Ursache oder Folge der mit den Großrathswahlen des Kantons Tessin vom 3. März 1889 in Beziehung stehenden Vorgänge waren, sowie zur Entdeckung der Urheber dieser Handlungen. Dieser

629 Beschluß bezeichnete als Bundesauwalt ad hoc den Herrn Nationalrath Bezzola (die ständige Bundesanwaltschaft war damals noch nicht wiederhergestellt). Unterm 25. März ergänzte der Bundesrath seinen Beschluß vorn 7., indem er den Herrn Bundesanwalt Bezzola beauftragte, die Untersuchung auszudehnen : a. auf die itn Tessiner Großen Rath behauptete Thatsache, daß dortige Gemeindebehörden Leute zum Stimmen zugelassen haben, welche von den Regierungskommissären und von der Regierung selbst als nicht stimmfähig erklärt worden waren ; b. gegen die Behörden oder Einzelne, welche versucht haben sollten, die Wahlen vom 3. März durch Geschenke, Versprechungen oder Drohungen zu beeinflussen, sowie gegen solche Wähler, die Geschenke oder Vortheile mit Rücksicht auf ihre Stimmabgabe angenommen hätten.

Herr Generalanwalt Bezzola und Herr Untersuchungsrichter Dedual gingen mit Muth an diese große Aufgabe; allein die Untersuchung wurde ungewöhnlich schwierig gemacht durch die eigenthümlichen Verhältnisse, in welchen sich damals der Tessin befand, und nahm unglücklicher, aber nothwendiger Weise eine ungewöhnliche Ausdehnung an. Der Herr Bundesanwalt legte dem Bundesrath nicht weniger als 12 umfangreiche Berichte vor, die sich auf die Zeit vom 1. September 1889 bis 1. Juli 1890 vertheilen. Hinsichtlich einiger Punkte befanden sich die beiden Herren Bundesbeamten nicht in Uebereinstirnmung, bezüglich anderer beantragten sie übereinstimmend Verfolgung, während bei einer dritten Kategorie sie darüber einig waren, daß der Untersuchung keine Folge zu geben sei. Diese letztern und diese letztern allein mußten nach Artikel 29 i. f. des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege eine besondere Schlußnahme des Bundesrathes veranlassen. Der Bundesrath war daher genöthigt, seinerseits die weitschichtigen Berichte und die zahllosen Aktenstücke der Untersuchung zu studiren. Am 3. Dezember 1890 beschloß er das Fallenlassen der Untersuchung über diejenigen Punkte, bezüglich welcher Bundesanwalt und Untersuchungsrichter dies einhellig beantragten. Bezüglich der übrigen Punkte fehlte dem Bundesrathe die Zuständigkeit, da dieselbe ausschließlich der Anklagekammer des Bundesgerichtes zukam. Dieser letztern überwies daher der Herr Bundesanwalt Bezzola die Untersuchung sammt den Protokollen und seinen Berichten sofort nach
Fassung des obigen Beschlusses, und diese Behörde ist daher seit dem 3. Dezember 1890 mit dieser ganzen Angelegenheit befaßt, und es bleibt uns nur übrig, deren Entscheid abzuwarten.

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26. Die neuen Ereignisse vom 11. September 1890 im K a n t o n T e s s i n gaben auch ihrerseits Veranlassung zur Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung. In diesem Zeitpunkte war der neue Genevalanwalt der Eidgenossenschaft in Funktion getreten.

Bezüglich des Thatsächlichen verweisen wir auf die Spezialbotschaften vom 22. September und 3. Dezember 1890 (Bundesbl.

1890, IV, 153; V, S. 309).

Die Untersuchung wurde noch im Laufe des Jahres zu Ende geführt und die Akten nebst den Anträgen der Bundesanwaltschaft der Anklagekammer des Bundesgerichces zugestellt. Auch hier müssen wir noch den Beschluß der Anklagekammer abwarten. Die Erledigung dieser Angelegenheit fällt übrigens in das folgende Jahr.

27. Auch die Vorgänge vom 27. Oktober 1890 in Lugano bildeten Gegenstand einer Untersuchung. Dieselbe blieb jedoch resultatlos; es gelang der Untersuchung nicht, mit Bezug auf das subjektive Verschulden, die Frage der Urheberschaft d°er Widersetzung und Körperverletzungen genügende Anhaltspunkte zu schaffen, um gegen bestimmte Personen eine Anklage beim Strafrichter begründen zu können.

Bekanntlich wurde namentlich auch von den Gemeindebehörden von Lugano versucht, das Verschulden an den Vorkommnissen auf die eidgenössischen Truppen zu wälzen, welche sich provokatorisch benommen haben sollen. Die Untersuchung hat die Grundlosigkeit dieser Anschuldigung dargethan.

Aus dem Berichte des Generalanwaltes entnehmen wir: flAus der Untersuchung ergeben sich keine Anhaltspunkte, ,,daß die Truppen durch ihr Verhalten irgendwie Anlaß gegeben ,,für die Annehme, daß sie den Luganesen feindselig gestimmt seien, ,,oder in pflichtwidriger Weise für die Konservativen Partei ge,,nommen. Die Bevölkerung von Lugano war offenbar von einem ^bedauerlichen Vorurtheil beherrscht und in einer Gemüthsverfas,,sung, welche ruhiges Ueberlegen ausschloß.

,,Die Vorgänge vom 27. Oktober, Nachmittags und Abends, ,,waren nicht vorbedacht vorbereitet, sondern sie stellen sich dar Ausbruch der Tlals ein momentanes Aufbrausen, ein spontaner ,,Leidenschaft einer Volksmenge, welche leicht erregbar und in ,,hohem Grade aufgeregt war. Unter diesen Umständen wäre es .pwohl auch nicht richtig, nur einzelne Personen für das Vorgefallene verantwortlich zu machen."

In Uebereinstimmung mit den Anschauungen des Untersuchungsrichters und des Generalanwaltes haben wir nach Anleitung des

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Artikel 29 der Bundesstrafrechtspflege die Weisung ertheilt, der Angelegenheit keine weitere Folge zu geben.

Wir erinnern nur daran, daß das Bundesgericht den eidgenössischen Untersuchungsrichter Herrn Dedual, welcher seine Demission einreichte, für die in Rede stehende Untersuchung durch Herrn Professor Dr. Schneider in Zürich ersetzte.

III. Lotterie nnd verbotene Spiele.

28. Schon wiederholt ist unser Justiz- und Polizeidepartement genöthigt gewesen, dem Polizeidepartement des Kantons G e n f von Klagen Kenntniß zu geben, wodurch gewisse Etablissemente beschuldigt wurden, unter dem Namen g e s c h l o s s e n e r G e s e l l s c h a f t e n (,,cercles") eigentliche Spielhöllen zu hetreiben. Im Berichtsjahre wurden wir nun durch das Vorgehen des im Jahre 1889 gegründeten ,,Vereines für Aufhebung der Spielhäuser" veranlaßt, die Regierung des Kantons Genf zur Einleitung einer strengen Untersuchung und eventuell zum Einschreiten gegen derartige geheime Spielhäuser aufzufordern.

Infolge hievon verfügte der Staatsrath des Kantons Genf mit Beschluß vom 27. Mai 1890, gestützt auf Art. 10 des genferischen Polizeireglementes vorn 11. Dezember 1888, auf Art. 208 des Strafgesetzbuches für den Kanton Genf und auf Art. 35 der Bundesverfassung, die s o f o r t i g e S c h l i e ß u n g von vier d e r a r t i g e n ,, c e r c l e s u , in Anbetracht: ,,daß dieselben sieh zu Vereinigungen qualifiziren, welche unter der Bezeichnung als geschlossene Gesellschaften unter Art. 35 der Bundesverfassung und Art. 208 des Strafgesetzbuches fallen ; ,,daß mit diesen Gesellschaften Croupiers in enger Verbindung stehen, und daß -die Vorwegnahme von Geldern auf dem Spielertrag den Thatbestaod einer Spekulation auf dem Hazardspiel im Sinne von Art. 208 des Strafgesetzbuches bildet."

IV. Fremdenpolizei.

29. Von Seite der waadtländischen Behörden wurde dem deutschen Reichsangehörigen G. W e y l a n d , welcher gestützt auf einen fünf Jahre lang gültigen Heimatschein die Niederlassung in Njon nachgesucht hatte, gemäß Art. 9 des Fremdengesetzes des Kantons Waadt vom 25. Mai 1867 nur für vier Jahre der Aufent-

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halt bewilligt. Sie gingen dabei von der Erwägung aus, daß gegenüber den Ausländern in der Schweiz eine zeitliche Beschränkung der Aufenthaltsbewilligung statthaft sei, da auf sie die Grundsätze der Bundesverfassung betreffend das Heimatrecht nicht Anwendung finden.

Unser Justiz- und Polizeidepartement konnte sich jedoch mit dieser Begründung nicht einverstanden erklären und machte darauf aufmerksam, daß die Berufung auf das kantonale Gesetz über die Fremden von 1867 außer Betracht fallen müsse, weil nioht ein bloßes Aufenthaltsverhältniß, sondern eine förmliche Niederlassung hier in Frage liege, hinsichtlich deren die Bestimmungen des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Deutschland von 1876 in Anwendung kommen. Nach Art. \ desselben sind aber die Deutschen in Bezug auf Person und Eigenthum in jedem Kantone der Eidgenossenschaft auf dem gleichen Fuße zu behandeln und aufzunehmen, wie die Angehörigen der anderen Kantone. Nun ist infolge der Grundsätze der Bundesverfassung von 1874 durch Kreisschreiben und Entscheide des Bundesrulhes (Bundesbl. 1875, IV, 1001; 1876, l, 245; 1888, II, 795) festgestellt worden, daß das Bundesgesetz betreifend die Dauer und die Kosten der Niederlassungsbewilligung von 1849 (A. S. I, 271) in dem Sinne außer Kraft gesetzt ist, daß die einmal erworbene Niederlassung nicht bloß auf vier Jahre beschränkt werden kann; die Kantone sind nur berechtigt, die Dauer der Niederlassung auf die Zeit zu beschränken, für welche die Legitimationspapiere gültig sind, während andererseits der Bürger das Recht hat, die Anerkennung der Gültigkeit seiner Niederlassung für diese ganze Zeitdauer zu verlangen.

Da nun Weyland als Deutscher nach Vorschrift des Niederlassungsvertrages wie der in einem andern Kanton niedergelassene Schweizer behandelt werden muß, so kann er auch begehren, daß ihm die Niederlassungsbewilligung für die Zeitdauer der Gültigkeit seiner Ausweisschrift ertheilt wird.

30. Ein Speziatali veranlaßte uns, durch eine Publikation im Bundesblatte (1890, IV, 1075) die Kantone darauf aufmerksam zu machen, daß als g ü l t i g e s A u s w e i s p a p i e r für die r u s s i s c h e n S t a a t s a n g e h ö r i g e n zur Berechtigung ihres Aufenthaltes in der Schweiz, wie überhaupt im Auslande, einzig die Pässe von dem bekannten Formate mit braunem Umschlag angesehen
werden können. Bei Vorweisung irgend eines andern Ausweispapieres könne daher die Aufenthaltsbewilligung ohne Weiteres verweigert sverden.

31. Auf dem Pilatus waren zwei in Luzern domizilirte deutsche Arbeiter verunglückt und mußten während längerer Zeit auf öffent-

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liehe Kosten verpflegt werden. Anläßlich dieses Falles legte uns die Regierung des Kantons Luzern die Frage zur Entscheidung vor, ob und welche Vertheilung hinsichtlich der K o s t e n für den Transport, die Verpflegung und ärztliche Behandl u n g v e r u n g l ü c k t e r a r m e r A u s l ä n d e r einzutreten habe, wenn der Unfall in einem anderen Kanton stattgefunden, als in demjenigen, wo der Verunglückte seinen ordentlichen Wohnsitz gehabt.

Wir traten auf diese Angelegenheit nicht ein, da, im Falle dieselbe nicht auf friedlichem Wege zwischen den betreffenden Kantonsregierungen erledigt werden kann, die Ansprüche im Prozeßwege vor dem Bundesgerichte geltend zu machen sind, indem eine Frage öffentlichrechtlicher Natur vorliegt, deren Entscheid gemäß Art. 113, Ziff. 2, der Bundesverfassung in die Kompetenz des Bundesgerichtes fällt (Bundesbl. 1888, II, 828, Ziff. 25).

32. J o s e p h Li e c h t , i aus dem Kanton Schwyz hatte, nachdem er sich mehrere Jahre in Genf aufgehalten, anläßlich seiner Verehelichung den von ihm deponirten Heimatschein für Unverheiratete zurückgezogen, konnte aber nachher, trotz mehrfacher Aufforderung, zur Hinterlegung neuer Ausweispapiere nicht veranlaßt werden. Die Behörden des Kantons Genf stellten nun die Anfrage, ob dem Liechti gestützt auf Abs. l des Art. 45 der Bundesverfassung die Niederlassung verweigert werden könne.

Unser Justiz- und Polizeidepartement antwortete, daß sich dem Liechti gegenüber die Niederlassungsverweigerung ohne Zweifel rechtfertige, da das in Art. 45 der Bundesverfassung garantirle Recht des Schweizerbürgers, sich an irgend einem Orte der Schweiz niederzulassen, zur Voraussetzung habe, daß von demselben gehörige Ausweisschriften vorgewiesen werden. Der Umstand, daß Liechti früher einen Heimatschein besessen, sei ohne Bedeutung, indem derselbe das betreffende Papier zurückgezogen und dieses zudem durch die Verehelichung seines Inhabers seine Kraft verloren habe.

V. Politische Polizei.

33. Das Berichtsjahr war auf diesem Gebiete eia verhältnißmäßig ruhiges; wir kamen nur selten in die Lage, einzuschreiten und die uns nöthig scheinenden Verfügungen zu treffen.

In zwei Fällen, in welchen Fremde durch Proklamationen, welche ausländische Verhältnisse betrafen, sich bemerkbar machten oder die innere Ordnung zu stören versuchten, begnügten wir uns

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mit einer Verwarnung. Diese Maßregel war von Erfolg begleitet, wenigstens wurde seither über die Betreifenden nichts Nachtheiliges mehr berichtet.

34. Schon seit längerer Zeit hatten ausländische Anarchisten, welche sich in Genf aufhielten, durch ihr Treiben die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als diese Personen öffentlich zu gewaltsamen Handlungen aufforderten, wurde eine Polizeiuntersuchung eingeleitet. Die Untersuchung hat ergeben, daß diese Fremden theils wegen gefährlicher anarchistischer Umtriebe bereits aus andern Ländern ausgewiesen, theils wegen Aufreizung zu Mord, Brandstiftung und Plünderung gerichtlich verurtheilt waren und auf unser Gebiet sich geflüchtet hatten. Es wurde konstatirt, daß die betreffenden Personen in Genf zum Aufruhr, zum gewaltsamen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung aufreizten, als geeignete Mittel zur Erreichung dieses Zweckes Diebstahl, Falschmünzerei, Brandstiftung, Dynamit, -Mord etc. empfahlen, überhaupt in bekannter Weise zur Propaganda der Tliat aufforderten.

Gestützt auf diese Untersuchung und auf den Bericht des Generalanwaltes haben wir mit Beschluß vom 15. Dezember 1890 6 Angeschuldigte, in Anwendung von Artikel 70 der Bundesverfassung, aus dem Gebiete der Eidgenossenschaft ausgewiesen (Bundesbl. 1890, V, 465).

Dieser Beschluß fand sofort seine Vollziehung.

35. Am Schluß des Jahres ging ans die Mittheilung zu, daß italienische Sozialisten beabsichtigen, im Kanton Tessin einen Kongreß zu halten. Zeit und Ort des Kongresse» waren damals noch nicht bekannt. Als Zweck wurde angegeben: Vereinigung der verschiedenen italienischen sozialistischen Schulen (Legislatäre, Possibilisten, Kollektivisten, Anarchisten etc.) zu einem Bunde, um gemeinsam und mit vereinten Kräften den Kampf gegen das Kapital aufzunehmen.

Obgleich nach den erhaltenen Berichten anzunehmen war, daß bei dem Kongresse die anarchistische Partei das Uebergewicht haben werde, sahen wir uns doch nicht veranlaßt, die Abhaltung des Kongresses zu verbieten.

Die Besprechung solcher sozialen Fragen, auch im extremen Sinne, die Berathung über die Art des Vorgehens im Allgemeinen, um zum Ziele zu gelangen, ist an sieh nichts Unerlaubtes und bildet auch keine Gefährde weder für die äußere noch innere Sicherheit der Eidgenossenschaft.

635 Immerhin haben wir nicht unterlassen, die erforderlichen Maßregeln zu treffen, um gegebenen Falles die Interessen des Landes ausreichend wahren zu können.

a Der Kongreß wurde dann wirklich am 4. und 5. Januar 1891 in Capolago abgehalten. Der Bericht über den Verlauf desselben fällt in das nächste Jahr.

VI. Heimatrecht.

36. In 71 Fällen hatte unser Justiz- und Polizeidepartement m i t Untersuchungea betreffend F e s t s t e l l u n g d e s H e i m a t r e c h t e s von Familien und einzelnen Individuen sich zu befassen (im Ganzen über 180 Personen). Ueberdies war bei den zahlreichen Hei m S c h a f f u n g e n Geisteskranker, verlassener Kinder und anderer hülfsbedürftiger Personen die Frage der Heimathörigkeit jeweilen genau zu prüfen. Viele Bürgerrechtsfalle sind abgeschlossen und die übrigen thunlichst dem Abschlüsse nahe gebracht worden.

Die Brüder Cesare und Evaristo T o g n o l a in Biasca, deren auch unser letzter Geschäftsbericht erwähnte (Bundésbl. 1890, II, 210), sind durch Urtheil des Bundesgerichtes vom 7. Februar 1891 dem Kanton Tessin zur Einbürgerung zugesprochen worden. Durch dieses Urtheil ist somit der Entscheid des Bundesrathes vom 22. Dezember 1888 (Bundesbl. 1890, I, 7 u. 18) bestätigt worden.

Diplomatische Verhandlungen behufs Anerkennung des a u s l ä n d i s c h e n Heimatrechtes fanden über 25 statt und zwar mit Frankreich, Deutschland, Italien, Oesterreich und den Vereinigten Staaten von Amerika ; in 8 Fällen konnten wir die Anerkennung auswirken, in 4 waren unsere Bemühungen erfolglos ; 2 Fälle haben wir wegen Wegzuges der Betreffenden sistirt. Von den circa 30 Fällen, in welchen das s c h w e i z e r i s c h e Heimatrecht streitig geworden war, fanden 12 ihre Erledigung dadurch, daß die betreffenden Kantone die in Frage stehenden Personen auf Grund des gesammelten Beweismateriales anerkannten ; in 4 Fällen wurde diese Anerkennung dagegen verweigert und in 2 wiesen wir die Parteien an das Bundesgericht.

-cg==t=^g=3-£=

636

Gebührentarif zum

Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs.

(Vom 1. Mai 1891.)

Der schweizerische Bundesrat h, in Ausführung des Art. 16 de.ä Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs, beschließt: I. Allgemeine Bestimmungen.

1. Für die im Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vorgesehenen Verrichtungen dürfen die hienach festgesetzten Gebühren und Entschädigungen berechnet werden. Außer denselben dürfen den Parteien von den Behörden keine weitern Kosten angerechnet werden.

2. Alle durch Vermittlung der Post übersandten Eingaben an Behörden sind vom Absender zu frankiren.

. Die Zustellungen oder Anzeigen der Behörden an die Partei, welche durch die Post besorgt werden, sind ebenfalls zu frankiren. Die Frankatur ist, wo nicht das Gregentheil bestimmt wird, in der Zustellungs- oder Anzeigegebühr inbegriffen.

Ausgenommen hievon sind Zustellungen und Anzeigen nach dem Auslande ; für solche dürfen die Posttaxen, sowie allfällige Gebühren der in Anspruch genommenen ausländischen Behörden in Rechnung gebracht werden.

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3. Wird eine Zustellung auf Ansuchen einer schweizerischen Amtastelle durch eine andere schweizerische Amtsstelle besorgt, so fällt die Zustellungsgebühr dieser letztern zu. Den Parteien dürfen in diesem Falle keine besondern Kosten erwachsen, mit Ausnahme der Portoauslagen für die Korrespondenz zwischen den beiden Amtsstellen.

4. Für jede vorgeschriebene, hienach nicht besonders erwähnte schriftliche Anzeige, Mittheilung, Aufforderung oder Einladung dürfen, Zustellung inbegriffen, 50 Cts. berechnet werden; für jede vorgeschriebene, hienaeh nicht besonders erwähnte öffentliche Bekanntmachung, Aufforderung u. s. w., ohne Rücksicht auf die Zahl der Publikationen, Fr. l nebst den notwendigen Auslagen für Porti, Inserate und andere Publikationsmittel.

Hat die öffentliche Bekanntmachung die Zustellung an eine bestimmte Person zu ersetzen (Bundesgesetz Art. 66, Abs. 4), so fällt dafür die Gebühr für die Zustellung weg.

5. Für Auszüge, Bescheinigungen oder Abschriften, wenn solche von den Parteien besonders verlangt werden, pro ganze Folioseite 30 Cts., pro halbe oder angefangene halbe Folioseite 15 Cts.

Eine Folioseite muß wenigstens 24 Zeilen und jede .Zeile durchschnittlich wenigstens 30 Buchstaben enthalten.

6. Soweit in diesem Tarif die Höhe einer Gebühr vom Betrag der betriebenen Forderung abhängig gemacht ist, kommen laufende Zinsen nicht in Betracht.

Ist eine Gebühr nach der auf eine Verachtung verwendeten Zeit zu berechnen, so fällt die auf den Gang, bezw. auf die Reise verwendete Zeit nicht in Rechnung, und es ist in der über die Handlung aufzunehmenden Urkunde (z. B. Pfändungsurkunde) die Zeit des Beginnes und des Schlusses vorzumerken. Dabei werden Bruchtheile einer halben Stunde für eine volle halbe Stunde berechnet.

Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. II.

41

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Besonders berechnet werden die notwendigen Auslagen für Transport, Verwahrung und Erhaltung von gepfändeten Vermögensstücken oder von Massagut, sowie für die Einbringung von Ernten, für Grundbuch- und Hypothekenbuchgebühren, für Entschädigung Sachverständiger und dergleichen.

7. Beamte und Angestellte des Betreibungs- und Konkursamtes, welche zur Vornahme einer Pfändung, eines Arrestes oder einer Verwerthung sich mehr als 2 Kilometer von ihrem Amtssitze entfernen müssen, beziehen eine Entschädigung von 15 Rappen per Kilometer des einfach berechneten Weges. Kilometer-Bruchzahlen fallen dabei nicht in Betracht.

Falls mehrere Verrichtungen miteinander besorgt wurden, wird die Reiseentschädigung auf die verschiedenen Geschäfte zu gleichen Theilen verrechnet.

II. Gebühren des Betreibungsamtes.

8. Für Eintragung und doppelte Ausfertigung des Zahlungsbefehls: bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . . Fr. --. 30 ,, ,, über Fr. 100 ,, --. 50 Sind mehr als zwei Ausfertigungen nothwendig, für jedes weitere Stück 10 Cts.

9. Zustellung des Zahlungsbefehls an einen Schuldner oder Pfandeigenthümer : bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . . Fr. --. 30 ,, ,, über Fr. 100 ,, --. 50 10. Zustellung des Doppels des Zahlungsbefehls an den Betreibenden : bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . . Fr. --. 20 ,, ,, über Fr. 100 . . . . . ,, --. 50

639 11. Sämmtliche mit einem Rechtsvorschlag verbundenen Besorgungen sind kostenfrei.

Nur bei der Wechselbetreibung sind für die Mittheilung des Rechtsvorschlages an das Gericht zu berechnen: Fr. --. 50 12. Abnahme einer Zahlung und Ablieferung derselben an den Gläubiger oder an die Depositenanstalt : bei Zahlungen bis auf Fr. 100 Fr. --. 30 ,, ,, über Fr. 100 bis Fr. 1000 . ,, --. 50 ,, ,, ,, Fr. 1000: Va °/oo.

Die Frankatur der Sendung an den Gläubiger oder an die Depositenanstalt ist besonders zu bezahlen.

L.&V,

13. Vollzug einer Pfändung, Abfassung der Pfändungsurkunde Inbegriffen : bei einem Forderungsbetrag bis auf Fr. 100 . Fr. 1. -- ,, ,, ,, über Fr. 100 . ,, 2. -- Erfordert der Vollzug mehr als eine Stunde, so darf für jede weitere halbe Stunde ferner berechnet werden Fr. --. 50 Hiezu kommt die nach Nr. 7 zu verrechnende Reiseentschädigung.

Wird für mehrere Forderungen gleichzeitig gepfändet, so dürfen diese Gebühren nur einfach berechnet werden, und es ist für deren Berechnung der Gesammtbetrag der Forderungen maßgebend. Die gesammten Pfandungskosten sind in diesem Falle auf die einzelnen Betreibungen im Verhältnisse des Betrages zu vertheilen.

Im Fernern für jede im Pfändungsverfahren vorgeschriebene Anzeige an die Parteien oder an Dritte, Zustellung Inbegriffen . Fr. --. 50 Wird zum Vollzug einer Pfändung ein Gemeinde- oder Polizeibeamter oder eine andere Hülfsperson beigezogen, so darf für diese im Ganzen berechnet werden: wenn die Pfändung nicht mehr als eine Stunde erfordert Fr. --. 50 für jede weitere halbe Stunde ,, --. 25

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Handelt es sich lediglich um Pfändung von Lohnguthaben oder Diensteinkommen, so darf für den Vollzug der Pfändung mit Inbegriff der Anzeige an den Gläubiger des Betriebenen nur berechnet werden Fr. 1. -- Ist kein pfändbares Vermögen vorhanden, so darf für den Vollzug der Pfändung ebenfalls nur berechnet werden Fr. 1. -- 14. Für Vormerkung der Theilnahme eines weitem Gläubigers an der Pfändung, sofern keine Ergänzung der Pfändung erforderlich wird Fr. -- . 5 0 15. Für Ergänzung einer Pfändung (Bundesgesetz Art. 110, 111, 145) gleiche Gebühr wie für den Vollzug einer Pfändung (Nr. 13).

16. Für eine Abschrift der Pfäudangsurkunde (Bundesgesetz Art. 112) oder eines Nachtrages (Bundesgesetz Art. 114), Zustellung Inbegriffen Fr. --. 30 Erfordert die Abschrift mehr als eine Folioseite (Nr. 5), für jede weitere halbe oder angefangene Folioseite ferner Fr. -- . 1 5 Zur Vermeidung der betreffenden Kosten können die Parteien auf diese Abschrift verzichten.

Ist kein pfändbares Vermögen vorhanden, so erhält der Schuldner keine solche Abschrift.

17. Für Aufstellung der Steigerungsbedingungen und des Lastenverzeichnisses : bei Versteigerung von Fahrhabe oder Guthaben kostenfrei, bei Versteigerung von Liegenschaften. . . Fr. 5. -- Umfaßt das Schriftstück mehr als zehn Folioseiten, für jede weitere halbe oder angefangene halbe Folioseite Fr. --. 25 18. Für.Abhaltung einer Versteigerung . Fr. 2. -- Erfordert die Versteigerung mehr als eine Stunde, für jede weitere halbe Stunde ferner Fr. --. 50

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Hiezu kommt die nach Nr. 7 zu verrechnende Reiseentschädigung.

Ferner für die nöthigen Hülfspersonen, welche von dem Leiter der Versteigerung beigezogen werden : Wenn die Steigerung nicht mehr als eine Stunde erfordert, pro Person und Stunde Fr. 1. -- Für jede weitere halbe Stunde ferner . . ,, --. 50 Werden in einer und derselben Versteigerung Gegenstände verwerthet, welche verschiedenen Pfändungen angehören, so sind die Versteigerungskosten auf die einzelnen Gegenstände im Verhältnisse des Erlöses zu vertheilen.

19. Für Einzug des Erlöses, Aufstellung des Vertheilungsplanes und Ablieferung des Ergebnisses an einen Gläubiger oder zu dessen Handen an die Depositenanstalt: Wenn der auf den betreffenden Gläubiger entfallende Erlös bis Fr. 100 beträgt Fr. --. 50 Ueber Fr. 100 bisFr. 1000 ,, 1. -- Darüber: l %o des betreffenden Gläubigerantheils.

Bei Verkauf aus freier Hand oder Anweisung von Forderungen des Betriebenen gemäß Art. 130 und 131 des Gesetzes: die gleiche Gebühr.

20. Für einen Auszug aus dem Vertheilungsplan oder einen Verlustschein, Zustellung inbegriffen . . Fr. --. 50 21. Für Eintragung und Ausfertigung einer Konkursandrohung : bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . . Fr. --. 30 ,, ,, über Fr. 100 ,, --. 50 22. Für Zustellung der Konkursandrohung : bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . .

Fr. --. 30 ,, ,, über Fr. 100 ,, --. 50 23. Für Zustellung des Doppels der Konkursandrohung an den Gläubiger: bei Forderungen bis auf Fr. 100 . . . .

Fr. --. 20 über Fr. 100 ,, --. 50

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24. Für Aufnahme eines Güterverzeichnisses (Bundesgesetz Art. 162 und 163): gleiche Gebühren wie für die Pfändung (Nr. 13).

III. Gebühren des Richteramts in Betreibungsand Konkurssachen.

25. Für Vorladung einer Partei, sowie für jede andere vorgeschriebene Anzeige, Zustellung inbegriffen, Fr. --. 50 26. Für einen Entscheid betreffend Konkurseröffnung auf Grund vorangegangener Betreibung: in nicht streitigen Fällen Fr. 1. -- in Streitfällen ,, 5. -- Für die nach Art. 190 bis 192 dus Bundesgesetzes ohne vorgängige Betreibung erlassenen Konkursentscheide sind die Gebühren nach den kantonalen Tarifen zu berechnen.

27. Für Mittheilung des Konkurserkenntnisses un das Konkursamt und an den Handelsregisterführer, zusammen Fr. --. 50 28. Für einen Entscheid betreffend Rechtsöffnung oder Bewilligung des Rechtsvorschlages : bei einem Streitbetrage bis auf Fr. 100 . . . Fr. 1.-- ,, ,, ,, übet-Fr. 100 bis Fr. 1000 ,, 2 . -- » ,, " ,, Fr- 1000 . . . . ,, 5. -- 29. Wenn die in Nr. 26 und 28 vorgesehenen Entscheidungen von einem Richter-Collegium gefallt werden, betragen die Gebühren das Doppelte.

30. Die unter Nr. 26, 28 und 29 aufgeführten Gebühren werden im Falle der Berufung, der Kassationsklage oder der Nichtigkeitsbeschwerde, unter Zuschlag einer Appellationsgebühr von Fr. 5, von der obern Gerichtsinstanz nochmals bezogen.

In diesen Gebühren ist die Gebühr für Protokollirung, allfällige Z wischen urtheile u. s. w. in begriffen.

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31. Für eine vorsorgliche Verfügung gemäß Art. 162 oder 170 des Bundesgesetzes Fr. 1. -- 32. Für den Widerruf des Konkurses .

. Fr. 1. --

33. Für die nöthigen oder besonders verlangten Auszüge oder Abschriften, wie in Nr. 5.

34. In andern als den in Nr. 26 und 28 genannten Streitsachen, namentlich auch in den Streitigkeiten betreffend Kollokation, gelten die kantonalen Gebührentarife.

Für alle in diesem Kapitel vorgesehenen Gebühren ist der Vorschuß von derjenigen Partei zu leisten, welche dea Richter angerufen hat; im Falle einer Berufung, von der Partei, welche Berufung einlegt.

IV. Gebühren im Arrest- und Miethexekutionsverfahreii.

35. Für Bewilligung und Ausfertigung eines Arrestbefehles, nebst Zustellung an den vollziehenden Beamten Fr. 2. -- 36. Vollzug eines Arrestes, wie in Nr. 13 bis 16.

Hiezu kommt die nach Nr. 7 zu verrechnende Reiseentschädigung.

37. Für Erlaß eines Ausweisungsbefehls, Zustellung inbegriffen Fr. 1. -- 38. Für den Vollzug einer Ausweisung, sowie Beschlagnahme und Aufzeichnung der dem Retentionsreeht unterworfenen Gegenstände, ist eine einzige Gebühr zu berechnen, wie für den Vollzug einer Pfändung (Nr. 13).

39. Für die mit Arrest oder Miethexekution verbundenen Betreibungen werden die gewöhnlichen Gebühren (Kapitel II) berechnet. c

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V. Gebühren im Konkursverfahren.

40. Für Aufnahme des Inventars, Schätzung, Schließung und Versieglung, wenn dazu nicht mehr als eine Stunde erforderlich ist . Fr. 2. -- für jede weitere halbe Stunde ferner . . . ,, --. 50 für das nöthige Hülfsperson,al, \vie in Nr. 18.

41. Bekanntmachung der Konkurseröffnung (Bundesgesetz Art. 232) nebst Aufstellung eines vorläufigen GläubigerVerzeichnisses und Zustellung eines Exemplars der Bekanntmachung an jeden Gläubiger : eine fixe Gebühr von Fr. 2. -- nebst 10 Rp. Zuschlag per Gläubiger.

Hiezu kommen die Auslagen für Druck, Insertion und Porti.

42. Für Leitung einer Gläubigerversammlung, Inbegriffen Berichterstattung : wenn die Aktiven bis Fr. 10,000 betragen . Fr. 10. -- ,, ,, ,, Fr. 10,000 übersteigen . ,, 20. -- für Prokollführung die Hälfte obiger Gebühren.

43. Für Einschreibung und Prüfung jeder Konkurseingabe, inbegriffen die Entwerfung und Auflegung des Kollokationsplanes Fr. --. 40 44.

Nr. 17.

45.

Für Aufstellung der Steigerungsbedingungen, wie Für Abhaltung einer Versteigerung, wie Nr. 18.

46. Für Einzug des Erlöses, Aufstellung der Vertheilungsliste und Schlußrechnung und Ablieferung des Ergebnisses an die Gläubiger, wie in Nr. 19.

47. Für einen Auszug aus der Vertheilungliste oder einen Verlustschein, Zustellung inbegriffen . . Fr. --. 50 48.

Für den Schlußberieht an das Konkursgericht Fr. 5. --

64549. Für nachträgliche Vertheilung und Verwerthung von Massavermögeo, wie Nr. 19.

50. Außer den in diesem Kapitel vorgesehenen Gebühren beziehen die Konkursverwaltung und der Gläubigerausschuß je nach Umständen für ihre Mühewaltung eine Vergütung, deren Höhe von der Gläubigerversammlung, unter Vorbehalt der Beschwerde an die Aufsichtsbehörde, festgesetzt wird.

VI. Gebühren im Nachlaßverfahren.

51. Für einen Entscheid betreffend Bewilligung, Verlängerung oder Widerruf der Stundung : nach Ermessen der Nachlaßbehörde, jedoch höchstens Fr. 5. -- 52. Für einen Entscheid über Bestätigung oder Nichtbestätigung eines Nachlaß Vertrages : nach Ermessen der Nachlaßbehörde, jedoch höchstens Fr. 10. -- 53. Für Aufnahme des Inventars und Schätzung der Aktiven, wie in Nr. 40.

54. Für Leitung einer Giäubigerversammlung, Inbegriffen Berichterstattung, sowie für Protokollführung, wie in Nr. 42.

55. Für Einschreibung und Prüfung einer Forderungsanmeldung Fr-. --. 40 56. Für Prüfung des Nachlaßvertrages, Berichterstattung und Antragstellung bei der Nachlaßbehörde und andere in diesem Tarife nicht erwähnte Verrichtungen bezieht der Sachwalter, beziehungsweise die Konkursverwaltung, eine Vergütung, vvelche von der Nachlaßbehörde nach Maßgabe der Leistungen in jedem einzelnen Falle festzusetzen ist.

VII. Gebühren im Beschwerdeverfahren.

57. Die an die Aufsichtsbehörde gerichteten Beschwerden sind kostenfrei.

Im Falle offenbarer Verletzung bestehender Vorschriften kann jedoch der fehlbare Beamte -- abgesehen von der Ver-

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Wirkung einer Ordnungsstrafe (Bundesgesetz Art. 14) -- zur Vergütung der verursachten Kanzleikosten angehalten werden.

Ebenso kann im Falle mißbräuchlicher oder trölerischer Beschwerdeführung der Beschwerdeführer zum Ersatz der Kanzleikosten, sowie zu einer Buße bis auf Fr. 25 verfallt werden.

Die Aufsichtsbehörde hat in ihrem Entscheid den Betrag der zu ersetzenden Kanzleikosten festzustellen.

T HI. Entschädigung der Parteien.

58. In Streitfällen über Rechtsöffnung, Bewilligung des Rechtsvorschlages, Konkurseröffnung oder Nachlaßvertrag kann der Richter einer in ihrem Rechte erfundenen Partei auf deren Verlangen für Zeitversäumnisse und Auslagen auf Kosten der unterliegenden Partei eine billige Entschädigung zusprechen, deren Höhe im Hauptentscheid festzusetzen ist.

IX. Uebergangsbestimmung.

59. Dieser Gebuhrentarif tritt mit dem 1. Januar 1892 in Kraft. Auf die vor diesem Tage angehobenen Betreibungen, ausgewirkten Arreste und eröffneten Konkurse findet er nur insoweit Anwendung, als das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, vom 11. April 1889, auf dieselben anwendbar ist.

B ern,

den 1. Mai 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1890.

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Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1891

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

19

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

13.05.1891

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525-646

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