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Bundesrathsbeschluß über

die Rekursbeschwerd betreffend die Grossrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Lugano.

(Vom 5. August 1891.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r ath hat in Sachen der Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinisehen Wahlkreise Lugano nach dem Bericht des Justiz- und Polizeidepartements folgenden T h a t b e s t a n d gefunden: I. Durch Sehreiben vom 5. Februar 1889 verlangte der Advokat Elv. Battaglini vom Regierungskommissär, er möchte anordnen, daß in das Stimmregister für die Großrathswahlen vom 3. März 18 mit Namen angeführte Bürger eingetragen werden.

Die Munizipalität erklärte sich damit einverstanden. Ferner verlangte am nämlichen Tage der Advokat Agost. Soldati, daß er auf dem Stimmregister von Lugano gestrichen werde, da er in Neggio, seinem Heimatort, domizilirt sei. Er führt dafür Folgendes aus : Ich bestreite nicht, daß ich den größeren Theil des Jahres hindurch in Lugano wohne; aber ich habe nie den Willen kund gegeben, da meinen Haushalt einzurichten; meine übrige Familie, mit der ich zusammenlebe, ist in Neggio; dahin kehre ich zurück jeden Tag, an dem ich nicht durch meine Berufsgeschäfte in Lugano festgehalten werde; die ganzen Ferien bringe ich dort z u , die

116 Steuern zahle ich dort, nicht nur das focatico, sondern auch das testatico; auf dem Steuerregister von Lugano dagegen stehe ich nicht, da habe ich nie an einer Abstimmung theilgenommen, mau hat mich auch nicht dazu eingeladen.

Die Munizipalität entgegnete, Soldati besitze ein Haus in Lugano, in weichern sich sein Advokatur- und Notariatsbureau befinde, sei also in Wahrheit hier domizilirt.

Endlich wandten sich auch Dr. Fedele Moroni und Streitgenossen an den Kommissär mit dem Gesuche, derselbe möchte die Steuerlisten der letzten 10 Jahre durchgehen, und mit dem formellen Begehren, daß er auf dem Stimmregister alle diejenigen streiche, welche unter Art. 4, litt, e, des Gesetzes vom 15. Juli 1880 fallen, insbesondere diejenigen, welche in einem beigefügten Verzeichnisse aufgeführt waren.

Die Munizipalität antwortete, sie halte sich nicht für verpflichtet, frühere Steuerregister vorzulegen, welche Rückstände aufweisen, über die schon bei den Großrathswahlen von 1885 entschieden worden sei; es gelten zudem die Bestimmungen über die Verjährung von Schulden auch für die Steuerschulden; überhaupt könne, wer mit den Steuern der beiden letzten Jahre in Ordnung sei, nicht wegen Steuerrückständen von der Wahl ausgeschlossen werden.

So anerkannte sie nur den Ausschluß von 11 Bürgern, mit dem Vorbehalt, daß auch diese noch aufzunehmen seien, wenn sie ihre Rückstände noch bezahlen.

II. Der Kommissär fand den Ausschluß wegen Steuerrückstandes begründet mit Bezua; auf 10 auch von der Munizipalität als im Rückstand slehend bezeichnete Bürger, ferner mit Bezug auf weitere 57 Bürger, deren Rückstände im Einzelnen angegeben werden.

Es genügt nicht, sagte er, daß ein Bürger von einem ^gefälligen Gemeindegutsverwalter, auch selbst mit Zustimmung der Munizipalität, eine Quittung für 1887 erhalten habe"; es müssen vielmehr alle rückständigen Steuern bezahlt sein, bevor dem Burger das Stimmrecht zuerkannt werden kann.

Angenommen, fährt er fort, die Theorie sei richtig, daß Art. 147, Ziff. l, des schweizerischen Obligationenrechtes sich auch auf Steuern beziehe, so fällt hier das Jahr 1888 außer Betracht, weil nach dem Vorbringen der Munizipalität die Steuerregister für dieses Jahr noch nicht vollendet sind; also handelt es sich um die Jahre 1883--87.

Eine nachträgliche Steuerzahlung kann den Schaden nicht mehr heilen. Dieß Alles wird in eingehender Begründung weiter ausgeführt.

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Demgemäß werden die erwähnten 67 Bürger vom Stimmregister gestrichen.

Betreffend Sol d a ti zog der Kommissär in Betracht: Wenn er auch ein Haus in Lugano besitzt, in welchem er sein Bureau hält, so hat er darin keine Familie, keine Dienerschaft, noch weniger eigenen Haushalt, das Alles befindet sich im Gegentheii in Neggio, wo er mit Mutter und Geschwistern zusammenlebt in gemeinsamem Haushalt. Er ist also nicht in Lugano domizilirt, so wenig als die Advokaten und Notare Censi, Buzzi, Lubiui u. A., die sich in ganz gleicher Lage befinden.

Demgemäß wurde seine Streichung vom Stimmregister von Lugano angeordnet.

III. Die Munizipalität rekurrirte gegen diese Dekrete an den Staatsrath : a. Betreffend die 18 Bürger des Rekurses Battaglila: Das Dekret ist, sagt sie, nichtig, weil erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist erlassen und mitgetheilt. Eventuell wird in materieller Beziehung der Rekurs nur ergriffen mit Bezug auf folgende Bürger : Plattner, Hermann ; er hat seine regelrechte, in Bellinzoua ausgestellte Niederlassungsbewilligung, d. d. 27. März 1888.

Mazzucchelli, Giovanni, ist in Ordnung mit seinen Steuern ; er lebt bei seiner Mutter in Lugano, treibt einen Handel neben dem Hôtel Beau-Séjour und hat immer die Steuern bezahlt. Nur voriges Jahr zahlte er das testatico nicht, weil er in Basel war, und die Munizipalität konnte es nicht fordern, weil er nicht hier wohnte und nicht Luganeser Bürger ist. Seit mehr als 3 Monaten ist er aber wieder hier domizilirt.

Morandi, Giuseppe, ist ebenfalls mit den Steuern in Ordnung.

Vor 1887 wohnte er bei seinem mütterlichen Großvater Giuseppe Pusteria und stand daher nicht auf dem Steuerregister. Für 1887 hat er die Steuern bezahlt.

Giani, Francesco, ist beim Kreisingenieur in Lugano; nach Ponte Tresa zu seinem Vater geht er nur selten und jeweilen nur für wenige Stunden; er steht dort auch nicht auf dem Stimmregister.

Es wird daher die Bewilligung zur Eintragung dieser 4 Bürger verlangt.

118 b. Betreffend die 67. Bürger des Rekurses Moroni: Zunächst formelle Einwendung wie bei litt. a. In materieller Beziehung werden die früheren Standpunkte festgehalten. Die 5 Jahre der Verjährungsfrist gehen nicht zurück bis 1883, sondern nur bis 1884; denn die Frist ruht nicht, wenn auch für das Jahr 1888 noch keine Steuer bezogen ist. Mit dem Ausschluß der 10 erstgenannten Bürger sind wir einverstanden, wie schon dem Kommissär erklärt. Zu den übrigen ist dagegen Folgendes zu bemerken : Adamina, Andrea, fu Giuseppe, ist von Steuerzahlung befreit als Krankenwärter im Spital.

Andreotti, Andrea, fu Domenico, verheirathete sich 1884, lebte vorher bei seiner Mutter; er würde nur mit einem Jahre, 1883, im Rückstande sein, und dieses ist verjährt.

Bariffi, Giuseppe, fu Gius., heirathete 1886, erschien vorher in der elterlichen Familie, ist mit den Steuern in Ordnung.

Bariffi, Pietro, di Giuseppe, geb. 1867, erzogen von Schuster Baldini, der immer für ihn zahlte.

Bazzurri, Pietro, fu Giovanni, nur mit einem Jahr, 1883, im Rückstand, und dieses ist verjährt.

Belloni, Antonio, fu Vittore, geboren 1867, lebt bei seiner Mutter und hat für 1887 bezahlt.

Bertoni, Mosè, fu Angelo, im Rückstande für 1886; 1883 ist verjährt.

Belloni, Pietro, fu Francesco, ebenso.

Colombo, Luigi, fu Giuseppe, hat 1887 bezahlt, ist nur für 1884 im Rückstand.

Fi-apolli, Napoleone, di Antonio, nicht im Rückstand mit den Steuern.

Gaietti, Albino, fu Luigi, nur für 1885 im Rückstand mit den Steuern.

Gaietti, Alessandro, fu Luigi, nur für 1885 im Rückstand mit den Steuern.

Gasparini, Giuseppe, fu Carlo. Die Steuer für 1884 wurde ihm erlassen, die übrigen hat er alle bezahlt.

Gianini, Antonio, fu Antonio, nur .im Rückstande mit 1884, da 1883 verjährt ist, Gianini, Pietro Antonio, di Antonio, lebt bei seinem Vater, der für ihn bezahlt hat.

Gianini, Giovanni Enrico, di Antonio, ebenso.

11& Lingeri, Giuseppe, fu Pietro, nui- mit 1884 im Rückstand, 1883 ist verjährt.

Laghi, Pietro, fu Giovanni Battista,. lebte bis zu seiner Verehelichung, die im Jahre 1885 stattfand, bei seiner Familie und hat von da an seine Steuern bezahlt.

Macchi, Carlo, fu Antonio, nur mit 1885 im Rückstand, '1883ist verjährt.

Neuroni, Attilio, fu Manfredo, nur mit 1884 im Rückstand, 1883 ist verjährt.

Rossi, Agostini, fu Giuseppe, nur mit 1884 im Rückstand, hat 1887 bezahlt.

Talleri, Angelo, fu Ignazio, nur mit 1884 im Rückstand, hat 1887 bezahlt.

Würmli, Ulrico, di Giacomo, nur mit 1884 im Rückstand,.

1883 ist verjährt.

Von 24 ändern Bürgern wird anerkannt, daß sie mit den Steuern zweier Jahre, 1884 und 1885, 1884 und 1887, oder 1885 und 1887, im Rückstande sind. Auch mit dem Ausschluß von neun weiteren Bürgern erklärt sich die Munizipalität einverstanden.

c. Betreffend Soldati: Formelle Einwendung, wie bei litt. a. Im Uebrigen Wiederholung der früheren Ausführungen. Daß Soldati seine Mahlzeiten nicht in seinem Hause in Lugano, sondern in einer Wirthschaft daselbst einnimmt, ist gleichgültig. Der nämliche Kommissär hat Vitaliano Berrà auch als in Lugano domizilirt erklärt, der alle seine Steuern in Montagnola bezahlt.

IV. Der Staatsrath traf folgende Entscheidungen: Die Verspätung der Entscheidung des Kommissärs hat nicht die Nichtigkeit der .letzteren zur Folge, denn ad impossibilia nemo tenetur. Im Uebrigen a. Betreffend Platner, Mazzuchelli, Morandi und Giani: Der Entscheid des Kommissärs ist der Munizipalität am 23. Februar mitgetheilt, ihre Appellation aber erst am 26. Februar, also nach Ablauf der Frist von drei Tagen eingereicht worden, sie wird daher wegen Verspätung abgewiesen.

b. Betreffend den Rekurs Moroni: Der Entscheid des Kommissärs ist der Munizipalität am 20. Februar mitgetheilt, ihre Appellation aber erst am

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23. Februar, also nach Ablauf der Frist von drei Tagen eingereicht worden, sie wird daher wegen Verspätung abgewiesen; ,,übrigens müßte auch in materieller Beziehung das Dekret des Kommissärs vollständig bestätigt werden".

c. Betreffend Soldati : a wird T Aus den vom Kommissär angeführten Gründen dessen Dekret bestätigt.

V. Am 28. Februar und 1. März wandte sich die Munizipalität an den Bundesrath urn Hülle. Die Appellationsfrist, sagt sie, ist von uns innegehalten, und es hätte daher materiell auf unsere Appellationen eingetreten werden sollen. Erst am 20. Februar, Abends 6 Uhr, haben wir das eine Dekret erhalten, und dieser Tag soll uns angerechnet werden? Das ist eine nagelneue Theorie für den Kanton Tessin. Betreffend Soldati wird früher Gesagtes wiederholt.

Am 4. März protestirte Foppa, Lionardo, fu Felice, schriftlich gegen seinen Ausschluß von der Stimmurne und fügte bei, daß er für die liberalen Kandidaten gestimmt haben würde. Als bürgernutzungsberechtigt und vier Jahre im Auslande sich aufhaltend habe er seinen Bürgernutzen nie bezogen, gerade um damit seine Steuern zu zahlen. .

VI. Am 5. März richteten sechs Bürger an den Großen Rath eine Beschwerde über gesetzwidrige Zulassung von Bürgern zur Wahlurne der Stadt Lugano, wenn auch diese Zulassung am Resultate der Wahl allerdings nichts geändert habe; und zwar seien .zugelassen worden : 1. Vom Staatsrath gestrichene 20 Bürger, 2. Vom Staatsrath gestrichene und von der Munizipalität selbst als wahlunfähig erklärte . . . 16 ,, 3. Nicht in das Stimmregister aufgenommene 39 ,, Die Munizipalität antwortete : Das so wohlgemeinte Gesetz vom 3. Dezember 1888 hat sich in der Praxis schlecht-bewährt. Am 5. Februar erhielt die Munizipalität zahlreiche Reklamationen verschiedenster Art, die etwa 300 Bürger betrafen. Zur Untersuchung standen ihr nur drei Tage zu Gebote. Daher eine Anzahl Eintragungen, deren Streichung sie nachher selbst zustimmte. Wäre der Staatsrath auf unsere Appellationen eingetreten, so würden wir trotz unserer Anrufung des Bundesrathes provisorisch die Streichung der betreffenden Bürger

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ausgeführt haben ; da er das aber nicht gethan hat, haben wir diese Bürger provisorisch stimmen lassen, vorbehaltlich des Bndentscheides über ihr Stimmrecht, namentlich auch in Anbetracht des Umstandes, daß das Gesetz vom 3. Dezember 1888 die Genehmigung des Bundes nicht erhalten hat.

Die unter Nr. 2 und 3 angeführten Bürger wurden zugelassen, weil man fürchtete, daß ein Ausschluß derselben bei der großen Aufregung der Gemüther zu Unordnungen führen könnte; ein Theil von den unter Nr. 3 angeführten Bürgern stand übrigens in der That im Stimmregister, andere waren lediglich vergessen worden, und das darf doch dem Bürger nicht zum Schaden gereichen; freilich hätte der Bürger auf dem ausgestellten Register nachsehen sollen, ob er darauf stehe^; es hatte aber bis dahiu ein solches Versehen den Ausschluß von der Urne nicht zur Folge, und darum wurde nicht nachgesehen.

Nach den gedruckten Protokollen des Großen Käthes ist von dieser Behörde der Beschwerde eine Folge nicht gegeben worden.

VII. Vor dem Bundesdelegirten wurden von der Munizipalität die laut dem Obigen mit Bezug auf einzelne Bürger gemachten Angaben wiederholt und dem Kommissär mitgetheilt.

Soldati wiederholte die in seinem Rekurse gemachten Bemerkungen und machte noch speziell darauf aufmerksam, daß er nie eine Einladung zu einer Gemeindeversammlung in Lugano erhalten habe. Der Kommissär erklärte auf die Frage des Delegirten über die verschiedene Behandlung von Soldali und Berrà, Vitaliano, Letzterer wohne seit zwei Jahren ständig mit Frau und zwei Kindern in Lugano und sei daher allerdings hier domizilirt, Ersterer nicht.

Poppa wurde nicht eingetragen, weil nicht in Lugano domizilirt und mit den Steuern seit mehr als drei Jahren im Rückstand.

Im Uebrigen wurde nichts Neues vorgebracht, als etwa der Verdacht des Kommissärs, daß die Munizipalität nachträglich Aenderungen am Steuerregister angebracht habe.

Der B u n d e s r ath z i e h t in E r w ä g u n g : 1. Wenn auch das Gesetz vom 3. Dezember 1888 gewiß seine großen Mängel hat, so ist doch das Vorgehen der Munizipalität von Lugano ganz entschieden zu mißbilligen. Wie man auch denken mochte über die Art, -wie der Staatsrath die eiügereichten Rekurse glaubte -behandeln oder nicht behandeln zu sollen, so lag es doch ohne Zweifel in der Pflicht der Munizipalität, nachdem sie die Bundesbiatt. 43. Jahrg. Bd. IV.

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Rechte der .Bürger beim Bundesvathe vertreten hatte, sich einstweilen den Anordnungen des Staatsrathes zu fügen, und wenn sie diese Rechte noch besonders wahren zu sollen glaubte, so hätte sie dies thun können durch die Ermöglichung einer Abstimmung in besonderer Urne. Geradezu unbegreiflich aber ist, daß eine schweizerische Behörde sich dazu verstanden hat, eine Gesetzwidrigkeit zuzulassen lediglich aus Furcht vor Unruhen, welche sonst entstehen könnten.

2. Durch diese Zulassungen sind nun freilich die beim Bundesrathe erhobenen Beschwerden gegenstandslos geworden ; allein es rechtfertigt sich doch, eben weil jene formell ungerechtfertigt waren, wenigstens mit Bezug auf die zu befolgenden Grundsätze noch auf dieselben einzutreten.

Zunächst ist zu sagen betreffend Soldati : Sein Ausschluß in Lugano erscheint als gerechtfertigt. Sein wahres Domizil ist bis dahin nicht von Neggio weg verlegt worden, wenn er sich auch seines Berufes wegen während der Woche in Lugano aufhält. Es trifft hier das Nämliche zu wie bezüglich des Professors Pedrotta von Intragna in Locamo.

Foppa. Auch sein Ausschluß erscheint als gerechtfertigt, da er offenbar nicht seit 3 Monaten in Lugano domizilirt ist. Uebrigens fällt der Bundesrath in Bezug auf ihn keinen Entscheid, da er sich dazu nicht berufen hält, weil von Foppa die kantonalen Instanzen nicht angerufen worden sind.

3. Die Abweisung der Beschwerden der Munizipalität wegen Verspätung war ungerechtfertigt. Es bestimmt nämlich Art. 4 des Gesetzes über die Abfassung der Stimmregister für die periodische Wahl des Großen Rathes vom 3.'Dezember 1888 Folgendes: ,,Gegen den Entscheid des Kommissärs steht innerhalb drei Tagen von der Mittheilung an die Appellation an den Staatsrath offen, welchem die Gegenparteien ihre Bemerkungen innerhalb dreier Tage einreichen können. u Es fragt sich nun, wie diese Appellationsfrist von drei Tagen zu berechnen ist. Das Gesetz selbst sagt hierüber lediglich in Art. 10: ,,Die in diesem Gesetz bestimmten Fristen sind ununterbrochene (sogenanntes tempus continuum)"1. Das Gesetz vom 15.

Juli 1880 über die Ausübung des Aktivbürgerrechts enthält gar keine direkte Bestimmung hierüber. Dagegen sagt dasselbe in Art. 8, daß alle Fragen betreffend seine Anwendung gemäß dem Gesetze über das Administrativ verfahren vom 27. November 1863 zu behandeln seien. In diesem letzteren Gesetze spricht Art. 2 vom Rekurs an den Staatsrath, und Art. 12 lautet:

123 ,,Die Fristen dieses Gesetzes sind tempus continuum, ohne Ausschluß der Festtage; jedoch werden in die Frist weder der Tag der Zustellung noch derjenige des Ablaufes mit eingerechnet (non computandosi però nel termine ne quello dell'intimazione né quello della scadenza)."1 Danach ist also nicht nur der Tag der Zustellung der Verfügung des Kommissärs, sondern auch derjenige der Einreichung der Rekursschrift an die Munizipalität zu Händen des Staatsrathes nicht mitzurechnen. Wenn dem gegenüber in den Dekreten des Staatsrathes betont wird, daß das Gesetz ausdrücklich sage ,, i n n e r t drei Tagen" ( e n t r o tre giorni), so kann dieser Umstand hiegegen nicht in's Gewicht fallen; denn auch das zitirte Gesetz vom 27.

November 1863 selbst, welches bestimmt, daß die Fristen in der angegebenen Weise berechnet werden sollen, bedient sich für deren Bezeichnung des nämlichen Ausdruckes (so art. l, § 1: entro 10 giorni; art. 2: entro giorni quindici dalla comunicazione; art. 7 : entro il perentorio termine di 15 giorni), der eben nur sagen will ,,vor Ablauf der Frist". Noch weniger gerechtfertigt aber und kaum zu begreifen ist die Argumentation der Dekrete des Staatsrathes, daß der Gesetzgeber in der Frist von drei Tagen beide Tage, den der Insinuation des appellirten Entscheides und den der Einreichung der Appellationsschrift, mit Inbegriffen haben müsse, weil er, wenn er etwas Anderes gewollt hätte, das gesagt haben würde, wie in dem Gesetz von 1863; denn der Staatsrath erklärt ja selbst mit Recht, das Gesetz vorn Jahre 1880 stehe noch in Kraft, und dieses verweist ja gerade auf jenes von 1863. Uebrigens wenn das nicht der Fall wäre, so dürfte daraus gewiß nicht geschlossen werden, daß nun gerade das Gegentheil gelte. Berechnet doch auch das schweizerische Obligationenrecht Art. 88, das gemeine Recht Deutschlands, der Codice di Pi-oc. Civ. 1 tal. art. 43, wie das Gesetz von 1863 bei Fristen den Tag der Zustellung nicht, und sagt doch das tessinische Civilprozeßgesetz in Art. 567 ausdrücklich, daß in die Fristen weder der Tag der Zustellung noch derjenige des Auslaufes der Frist einzurechnen sei.

e. Es muß also in der That auf das Materielle der Sache eingetreten werden, und zwar fällt diesfalls nur die Frage in Betracht, ob diejenigen Bürger, deren Stimmrecht beanstandet worden ist, wirklich mit
Steuern im Rückstande seien oder nicht.

Art. 4 des tessinisehen Gesetzes über die Ausübuifg des Aktivbürgerrechtes sagt: ,,Ausgeschlossen von der Ausübung des Aktivbürgerrechtes ist:

124 ,,e. Wer seit zwei Jahren die Kantons- und die Gemeindesteuern nicht bezahlt.

,,Diese Ausschließungsgrunde hören mit ihrer Beseitigung auf zu wirken."

Danach ist klar, daß ein Bürger nicht ausgeschlossen werden kann wegen des Rückstandes von Steuern nur eines Jahres, oder wegen des Rückstandes nur eines Theils der Steuern für die zwei letzten Jahre.

Auch kann von einem Rückstande dann nicht mehr gesprochen werden, wenn die Steuerforderung verjährt ist, was mit dem Ablauf von 5 Jahren der Fall ist. Es kann sich also bei diesem Ausschließungsgrunde nur um Rückstände aus den letzten 5 Jahren handeln.

Es ist ferner die Frage, wie es sich verhalte mit denjenigen Bürgern, die gar nicht um Zahlung ihrer Steuern angegangen' worden sind. Dabei ist zu beachten, daß in den tessinischen Gemeinden nicht, wie anderwärts, jedem einzelnen Steuerpflichtigen eia Steuerzettel in's Haus geschickt zu werden scheint, sondern lediglich eine öffentliche Aufforderung, die Steuern zu bestimmter Zeit beim Einnehmer zu bezahlen, erlassen wird. Man kann also wohl daraus schließen, daß eben jeder Steuerpflichtige, welcher dieser Aufforderung nicht Folge leistet, unter Art. 4, litt, e, falle. Allein bei näherem Zusehen erscheint dieser Schluß doch bedenklich. Es ist ja leicht möglich, daß ein Aktivbürger gar nicht weiß, oder nicht daran denkt, daß er steuerpflichtig sei, meint, daß er schon bezahlt habe, oder daß ein Anderer für ihn bezahlt habe, oder sogar mit Recht sich für nicht steuerpflichtig hält, während die Gemeindebehörde ihn unter die Pflichtigen aufgenommen hat; hieran aber ohne Weiteres die so weit gehende Folge des Entzuges des Aktivbürgerreehtes zu knüpfen, erscheint nicht als gerechtfertigt. Zahlt Jemand nicht, während er auf dem Steuerregister steht, so ist es wahrhaftig nicht zu viel verlangt, daß er eine spezielle Aufforderung zur Zahlung erhalte, bevor man ihn seines Stimmrechtes verlustig erklärt; das Gegentheil würde einer Gemeindebehörde von politischer Parteifarbe das Mittel an die Hand geben, bei einem Wähler von der Gegenpartei zur Nichtzahlung der Steuer einfach fein stillzuschweigen, um ihn dann nachher unversehens seines Wahlrechtes zu berauben. Schon der Schein eines solchen Manövers ist zu vermeiden. Der Bundesrath kann daher die Auslegung des Gesetzes, wonach es einer erfolglosen Aufforderung
an den Rückständigen, die Steuer zu bezahlen, gar nicht bedürfte, um ihn des Aktivbürgerrechtes zu berauben, nicht theilen. Vollends kann von einem Entzuge des Aktivbürgerrechtes, wenn der Bürger

125 gar nicht auf dem Steuerregister erscheint, also von ihm auch nicht einmal durch das öffentliche Register eine Steuer verlangt worden ist, keine Rede sein.

6. Was endlich die Frage betrifft, wie die 5 Jahre zu berechnen seien, so ist der Ansicht der Munizipalität durchaus beizustimmen, daß vom 3. März 1889 an rückwärts zu rechnen sei, es sich also nur frage, ob die seit dem 5. März 1884 entstandenen Steuerforderungen bezahlt seien oder nicht; denn Art. 147, Ziffer l, des schweizerischen Obligationenrechtes kennt keine Unterbrechung der Verjährung aus dem Grunde, daß irgend eine spätere Rate der periodischen Leistungen noch nicht konstatirt sei, sondern rechnet wie bei jeder ändern Verjährungsfrist einfach vom Momente der Erhebung des Anspruches an rückwärts. Demnach erscheinen die von der Munizipalität erhobenen Reklamationen allerdings als gerechtfertigt.

D e m n a c h hat der B u n d e s r ath beschlossen: 1.

werden 2.

und zu

Die von der Munizipalität von Lugano erhobenen Beschwerden im Sinne der obigen Erwägungen entschieden.

Mittheilung an den Staatsrath des Kantons Tessin für sich Händen der betheiligten Behörden und Bürger.

B e r n , den 5. August 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesrathsbeschluß über die Rekursbeschwerden betreffend die Grossrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Lugano. (Vom 5. August 1891.)

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12.08.1891

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