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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung über die Tessiner Angelegenheiten.

(Vom 20. Juni 1891.)

Tit.

Dem letzten, vom 3. Dezember 1890 datirten Bericht des Bundesrathes über die eidgenössische Intervention im Kanton Tessin vom Jahre 1890 war ein Beschlußentwurf beigelegt, womit Ihnen die Genehmigung der vom Bundesrathe getroffenen Maßnahmen und die Erneuerung der ihm durch Bundesbeschluß vom 9. Oktober 1890 ertheilten Vollmacht beantragt wurde.

Die Bundesversammlung vertagte indeß die Prüfung dieses Berichtes, sowie des beigelegten Beschlußentwurfes, in der Hoffnung, es werde uns schon in der nächstfolgenden Session (derjenigen vom April abhin) möglich sein, ihr von der Aufhebung der Okkupation und zugleich auch von der Herstellung eines gerechten und für die dauernde Aufrechterhaltung des Friedens und die Beruhigung der Gemüther völlige Gewähr bietenden Verfassungszustandes im Kanton Tessin Kenntniß zu geben.

Jene Hoffnung ist aber nur theilweise in Erfüllung . gegangen.

Zwar ist an die Stelle der alten Verfassung eine neue getreten, aber auch diese ist wiederum ausschließlich das Werk der einen jener beiden Parteien, in welche sich das Tessiner Volk spaltet.

Ja noch mehr ; bekanntlich ist, zunächst von 8728 freisinnigen Bürgern und bald nachher von 63 konservativen Mitgliedern des Großen Räthes, d. h. von der Mehrheit dieser Behörde, der Antrag auf partielle Revision der Tessiner Verfassung gestellt und am 14. Juni 1. J.

628 vom Tessiiier Volke fast einstimmig angenommen worden, so daß auch jenes neue Verfassungswerk, und zwar von Seite beider Parteieit wiederum, in Frage gestellt ist.

So steht denn der Kanton Tessin von Neuem vor einer Verfassungskrisis. Die Verfassungsrathswahl ist allerdings durch eiû neulich erlassenes Gesetz auf den Monat Marsi 1892 verschoben; wir können überdieß die Bemerkung machen, daß die politische Thätigkeit, bei aller ihrer Fieberhaftigkeit, sieh doch in gesetzlichen Schranken scheint bewegen zu sollen, und wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß der Versuch gemacht werden wird, diese Schranken zu durchbrechen.

Schon am 3. April hat der Bundesrath der Bundesversammlung mittheilen können, daß es ihm möglich gewesen sei, seinea Kommissär, Herrn Oberst Künzli, auf Grund des von ihm eingereichten Berichtes und der übereinstimmenden Ansicht sämmtlicher Mitglieder der tessinischen Regierung, zurückzurufen. Seither ist nun die Ruhe in keinem Theile des Kantons Tessiu mehr gestört oder auch nur in Frage gestellt worden, und wir hegen auch für die Zukunft in dieser Richtung keine Befürchtungen mehr.

Obschon der Gang der Dinge seit unserer letzten Botschaft vom 3. Dezember 1890 allgemein bekannt sein dürfte, wollen wir doch die wichtigsten Ereignisse dieser letztverflosseneu Periode kurz in Erinnerung bringen.

Jene denkwürdige Sitzung des tessinischen Großen Käthes vom 25. November schien den Abschluß des Friedens zwischen den Parteien zu bedeuten. Nachdem man die Unmöglichkeit einer 'Einigung auf dem Boden der Bezirke oder der Kreise eingesehen hatte, war für die Wahlen in den Verfassungsrath das Proportionalverfahren von beiden Parteien genehmigt worden. Es bestanden nun nur noch einzelne Gegensätze über die Abgrenzung der Bezirke,, welche freilich beinahe den Ausgleich zum Scheitern gebracht hätten, allein auch in dieser Beziehung wurden durch gegenseitige Opfer, womit beide Parteien einander eben in jener Sitzung vom 25. Xovember unter lebhaftem Beifall der öffentlichen Meinung entgegenkamen, die letzten Schwierigkeiten beseitigt.

Seither schien Alles nach Wunsch gehen zu sollen. Ein Gesetz über die kantonale Volkszählung ist erlassen worden. Durch dasselbe wurde, wenigstens theilweise, einer langjährigen Beschwerde der liberalen Partei Genüge geleistet, welche dahin ging, daß ejue gute
Zahl in den Thälern gelegener Gemeinden ihre Bevölkerungsziffer und damit die Anzahl der ihnen zukommenden Großrathssitze vergrößern, indem sie fortfahren, seit vielen Jahren außer

629 Landes befindliche Bürger auf ihren Registern aufzutragen. Anderseits ist durch dieses Gesetz, auch dem Wunsche der konservativen Partei, es möchten die im Kanton niedergelassenen Ausländer bei der die Grundlage der Vertretungsverhältnisse bildenden Volkszählung nicht berücksichtigt werden, entsprechende Rechnung getragen worden.

Es kam sodann das Gesetz an die Reihe, wodurch das Proportionalwahlverfahren eingeführt wurde, begleitet von den wesentlich die feste Regelung des Stimnmrechts der Aperiodischen Auswanderer" bezweckenden Uebergangsbestimmungen. Damals gewärtigte man keinen sehr lebhaften Kampf über diesen Entwurf, dessen prinzipielle Grundlage seither eine so scharfe Kritik erfahren und dessen Anwendung so zahlreiche Beschwerden hervorgerufen hat. Die Großrathskommission empfahl sogar einstimmig das Projekt zur Annahme. Indeß machte sieh von liberaler Seite ein Widerstand gegen Art. 3 der Uebergangsbestimmungen geltend, weil dadurch das Stimmrecht der Ausgewanderten zu sehr beschränkt werde, und es wurde denn auch dieser Art. 3 von 10 der anwesenden 17 liberalen Großrathsmitglieder verworfen; allein bei der Schlußabstimmung wurde das Gesetz mit allen gegen 4 Summen bei 3 Enthaltungen angenommen. Am gleichen 5. Dezember 1890 setzte der Große Rath eine gemischte Regierung ein. Da die Herren Respini und Agostino Bonzanigo ihre Demission eingereicht hatten, so waren drei Sitze neu zu besetzen mit Einschluß desjenigen, welchen der unglückliche Staatsrath Rossi innegehabt hatte. Der Große Rath bezeichnete hiefür Herrn Advokat Soldati, der kurz nachher Staatsrathspräsident wurde und als Vertreter der Opposition die Herren Advokat Rusconi und Dr. Luigi Colombi.

Voll Freude über das Ergebniß dieses Tages und voll Hoffnung für die Zukunft richtete Herr Kommissär Künzli am 5. Dezember beim Verlassen der Großrathssitzung folgendes Schreiben an den Bundesrath : ,,Ueber das Ergebniß der heutigen Großrathssitzung habe ich Ihnen telegraphisch Bericht erstattet. Das Wahlgesetz wurde also angenommen mit allen gegen vier Stimmen bei drei Enthaltungen.

Diese sieben gehören der liberalen Partei an. Siebenzehn der liberalen Partei haben dafür gestimmt. Die Herren Soldati und Rusconi wurden beinahe einstimmig, Herr Colombi mit 55 gegen 21 Stimmen in die Regierung gewählt. Die neuen Regierungsräthe werden
morgen beeidigt werden. Die Verträglichkeit unter den Parteien gewinnt an Boden und ein erster wichtiger Schritt zur Pazifikation des Landes ist gethan. Dieses Resultat ist vor Allem zu verdanken den unabläßigen Bemühungen der Herren Soldati,

630 Borella, Censi, Gabuzzi und Perucchi. Auch die Haltung des Herrn Respiui hat zu dieser Lösung beigetragen. Die Herren Bertoni und Colombi ziehen ihren Rekurs gegen die Wahl Gatti's zurück, die bezügliche Erklärung lege ich bei. Die Herren Censi und Gabusszi \verden ihren Rekurs ebenfalls sofort zurückziehen.

,,Wenn auch noch allerlei Unvorhergesehenes vorkommen kann, so hege ich doch nun gute Hoffnungen für die Zukunft des Kantons.

,,Wenn es mir erlaubt ist, vor meiner Abreise aus dem Tessin noch einen Wunsch auszusprechen, so ist es der, es möchte nun auch der hohe Bundesrath Großmuth üben und den Räthen eine haldige Vorlage für Amnestie und Uebernahme der Okkupationskosten durch die Eidgenossenschaft machen. Es würde dies einer weitern friedlichen Entwicklung der Dinge sehr förderlich sein . . . ."· In diesem Augenblick konnte man glauben, daß über dem Kanton Tessin eine neue Aera aufgehen werde, während welcher die Ruhe nicht nur in den Gassen, sondern auch in den Gemüthern herrschen werde. Die Wahl eines Verfassungsrathes, in welchem die Vertretung beider Parteien ungefähr, soweit dies überhaupt im Bereiche der Möglichkeit liegt, ihrem Stärkeverhältniß entsprechen würde, stand in sicherer Aussicht. Niemand zweifelte daran, daß diese Behörde es sich werde angelegen sein lassen, allen gerechtfertigten Begehren Genüge zu leisten und diesen so lange beunruhigten Kanton einem gerechten und damit auch dauerhaften Zustand entgegen zu führen.

Allein diese Hoffnung war nicht von allzu langer Dauer.

Auch über den Ausgleich vom 5. Dezember hinaus glimmte aus Gründen, auf die wir hier nicht näher eintreten wollen, die Mißstimmung unter der Asche weiter. Sodann war es das Gesetz vom 5. Dezember, das, wie wir bereits angedeutet haben, bei näherer Prüfung sehr scharfe Anfechtungen hervorrief. Die erhobenen Vorwürfe gingen insbesondere dahin, man habe denn doch die eingewurzelten Traditionen des tessinischen Volkes über die ,,Attinenza" allzu leichten Kaufes hingegeben, und bei der Behandlung der verschiedenen Gruppen von Tessinern, die zwar ihr Brod im Ausland verdienen, allein dem Heimatkanton ihre Anhänglichheit bewahren und periodisch dahin zurückkehren, nicht überall mit gleicher Elle gemessen.

Indeß war noch nicht alle Hoffnung auf Versöhnung geschwunden. Wenn auch der Bundesrath den Gedanken
einer sofortigen Aufhebung des Kommissariats aufgeben mußte, und nicht einmal auf alle und jede militärischen Vorsichtsmaßregeln verzichten konnte, so war es doch möglich, diese letztern auf ein Minimum zu re-

631 duziren, und es wurde die Instruktion des Kommissärs den neuen Verhältnissen angepaßt. Die Lage der Dinge im damaligen Zeitpunkt wird durch das Schreiben des Herrn Oberst Kiinzli vom 17. Dezember 1890 und den Beschluß des Bundesrathes vom gleichen Datum genau gekennzeichnet. Wir lassen daher diese Aktenstücke wörtlich folgen : Schreiben des Herrn Oberst Künzli an den Bundesrath, vom 17. Dezember 1890: ,,Im Anschlüsse an meine mündliche Berichterstattung habe ich noch einige ergänzende Bemerkungen über einzelne Punkte zu machen : ,,1. O k k u p a t i o n . Das Bataillon 30 wird am 19. d. M. nach Bern zurückkehren und der Kanton Tessin von jenem Tage an ohne Okkupationstruppen bleiben. Da das Land ruhig ist und ernstere Unruhen kaum zu befürchten sind, so bin ich der Meinung, es solle die Okkupation nicht erneuert werden. Dagegen finde ich, und ich stimme hierin mit Herrn Regierungspräsident Soldati überein, daß es zweckmäßig wäre, auf den Zeitpunkt der Verfassungsrathswahlen irgend einen gewöhnlichen Militärkurs nach Bellinzona zu verlegen.

,, 2 . I n s t r u k t i o n e n f ü r d e n K o m m i s s ä r . Nachdem eine gemischte Regierung, in welcher Vertrauensmänner beider Parteien sitzen, im Tessin amtet, dürfte es angezeigt sein, die Instruktionen für den Kommissär zu modifiziren. Ich bin der Ansicht, daß es genüge, wenn der Regierungsrath von seinen RekursEntscheiden dem Kommissär jeweilen sofort Kenntniß gibt und wenn der Kommissär nur im Allgemeinen mit der Ueberwachung der Verfassungsrathswahlen beauftragt wird.

,,3. E i n s c h r ä n k u n g d e s S t i m m r e c h t s d e r A u s g e w a n d e r t e n . Schon bei der Berathung des Wahlgesetzes erhob sieh aus der liberalen Partei lebhafter Widerstand gegen den Art. 3 der Uebergangsbestimmungen des Wahlgesetzes für den Verfassungsrath. Die ,,Attinenza" wurzelt noch tief im Tessiner Volk; die Anhänglichkeit, welche der ausgewanderte Tessiner für seine engere Heimat bewahrt, und das lebhafte Interesse, welches er an allen Vorgängen in derselben nimmt, gereicht ihm zur hohen Ehre.

Anderseits aber würde es bei diesem System nie möglich sein, Ordnung und Zuverläßigkeit in die Stimmregister zu bringen, und die ,,Attinenza" steht auch im Widerspruch mit dem Art. 43 der Bundesverfassung. Der Art. 3 der Uebergangsbestimmungen des Wahlgesetzes befindet sich im Einklang mit dem Kreisschreiben der bundesräthlichen Delegation an die Konferenzmitglieder. Trotz-

632 dem macht sieh auch jetzt wieder eine lebhafte Agitation und Opposition gegen diesen Art. 3 geltend, die so weit geht, in Zeitungsartikeln die Munizipalitäten aufzufordern, den Bestimmungen dieses Artikels nicht nachzukommen.

,,Bei dieser Sachlage halte ich es für nothwendig, daß der h. Bundesrath iu einer ihm passend erscheinenden Weise seine Ansichten über die Stimmberechtigung der Ausgewanderten kundgebe.

Die Frage der Stimnmberechtigung wird um wichtiges Traktandum des Verfassungsrathes bilden ; Ihr Entscheid wird daher dem Verfassungsrath zur Wegleitung dienen und das Tessiner-Volk über Ihre Ansichten belehren.

,,Zum Schlüsse theile ich ihnen mit, daß ich mich, für den Fall, daß Sie nichts Anderes verfügen, den 4., 5. oder 6. Januar 1891, je nach Umständen, wieder in den Tessin begeben werde."

Auf Grund dieses Berichtes faßte der Bundesrath folgende Beschlüsse: ,,1. Vom 8. Januar hinweg soll in Bellinzona eine UnteroffiZiersschule stattfinden. Diese Truppe steht dem Kommissär aur Verfügung. Bis auf Weiteres sollen keine anderen Truppen in's Tessin geschickt werden.

,,2. Die dem Herrn Kommissär unterm 11. Oktober ertheilten Weisungen werden in dem Sinne abgeändert, daß derselbe, statt die Wahlen in den Verfassungsrath in gleicher Weise wie die Abstimmung vom 5. Oktober und die. eidg. Wahlen vom 26. Oktober zu leiten, sich darauf zu beschränken hat, von den Beschlüssen des Staatsrathes Kentniß zu nehmen und in allgemeiner Weise darüber O zu wachen, daß diese Wahlen in regelrechter und ruhiger Weise vor sich gehen.

,,3. Was das Stimmrecht der tessinischen Auswanderer betrifft, so wird der Herr Kommissär beauftragt, der Kantonsregierung, sowie den Vertretern beider Parteien mitzutheilen, daß die im Schreiben der bundesräthlichen Abordnung vom 15. November (siehe Botschaft an die Bundesversammlung vom 3. Dezember, Bundesbl.

1890, V, 340 ff.) entwickelten Grundsätze als die äußersten Zugeständnisse, welche in dieser Hinsicht gemacht werden können, zu betrachten sind.

,,Es ist, vom Standpunkt der guten Ordnung aus betrachtet, unzuläßig, daß die im Ausland oder in andern Kantonen niedergelassenen Tessiner Bürger ihre Eintragung in die Stimmregister und das damit zusammenhängende Stimmrecht erlangen können, wenn sie sich am Tage vor der Abstimmung oder am Abstimmungs-

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tage selbst einfinden. Von diesem bedauerlichen System rühren größtenteils die Wirren und Unruhen her, vvelche seit langer Zeit jede einigermaßen wichtige Wahl oder Abstimmung im Tessin begleitet haben. Diesem Uebelstande muß durch Aufstellung bestimmter Regeln für die Abfassung der Stimmregister abgeholfen werden ; insbesondere ist dafür zu sorgen, daß die Stimmrechtsrekurse genau geprüft und in genügender Frist vor der Eröffnung der Wahlverhandlung entschieden werden können. In dieser letztern Hinsicht ist die Frist eines einmonatlichen wirkliehen Domizils das Minimum dessen, was verlangt werden muß. Diese Regeln festzustellen, hat die bundesräthliche Abordnung in ihrem Kreisschreiben vom 15. November abbin (Bundesbl. 1890, V, 340 ff.) sich zur Aufgabe gemacht, und der Bundesrath hat mit Befriedigung wahrgenommen, daß dieselben in dem Gesetze vom 5. Dezember, betreffend die Wahlen in den Verfassungsra.th, ihrem wesentlichen Inhalte nach befolgt worden sind.

,,Diese gleichen Regeln müssen auch für die Zukunft als eine Gewähr für Ordnung und Ruhe aufrecht erhalten werden. Wenn dieß nicht der Fall wäre, so sähe sich der Bundesrath genöthigt, jedem Wahlgesetz seine Genehmigung zu versagen oder die Verweigerung der Garantie für jede Verfassungsbestimmung zu beantragen, welche das bis jetzt geltende System wieder einführen wollte. Der Bundesrath ist übrigens überzeugt, sich in diesem Punkte in völliger Uebereinstimmung mit der Bundesversammlung zu befinden, welche sich bei verschiedenen Gelegenheiten, und speziell, als sie im Jahre 1879 dem Verfassungsdekret vom 9.-März des gleichen Jahres die Garantie verweigerte, im gleichen Sinne ausgesprochen hat.

,,4. Der Bundesrath ist mit der Rückkehr des Herrn Kommissärs auf den 5. oder 6. Januar 1891 einverstanden."

So kam das Jahr 1891 heran und gleich in dessen ersten Tagen kehrte der Kommissär, Hr. Künzli, in den Kanton Tessin zurück.

Allein dort fand er den Geist der Versöhnung nicht mehr vor, unter dessen Eindruck er den Kanton verlassen hatte. Den bei der Rückkehr des Kommissärs herrschenden Geisteszustand können ·«v'ir nicht besser charakterisiren, als er dieß in seinem ersten Bericht aus dem Jahre 1891 gethan hat. Wir lassen ihm daher das Wort.

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,,Bellinzona, 5. Januar

1891.

«Der eidgenössische Kommissär im Kanton Tessin au das eidgenössische Justiz- und Polizeideparternent in Bern.

,,Hochgeachteter Herr Bundesrath!

,,Ich habe hier eine gänzlich veränderte politische Lage gefunden. Die Liberalen sind entmuthigt und empört, weil durch verschiedene Mittel versucht wird, die ihnen nach ihrer Stärke zukommende Vertretung im Verfassungsrath herabzumindern.

,,Das erste Mittel, das die Konservativen zu diesem Zweck anwenden, ist dasjenige mehrerer Kandidatenlisten ; sie haben findie Kreise Pregassona, Agno-Vezia, Masliasina, Isole-Gainbarogno, ßellinzona-Ticino und Giubiasco je 2 und für Vallemaggia 3 Listen eingereicht. Sie wollen damit verhindern, daß die Liberalen in einigen Kreisen durch größere Bruchzahlen einen Vertreter gewinnen, und sich selbst in anderen Kreisen eine größere Vertretung verschaöen. Es ist in der That möglich, daß die Konservativen mit diesem Verfahren im Kreis Giubiasco, wo sie in der Minderheit sich befinden, von 5 Vertretern 3 erhalten, im Kreis Bellinzona-Ticino, wo 1000 liberale Stimmen 750 konservativen gegenüberstehen, 3 von 6 Vertretern und in der Vallemaggia, bei einem Verhältuiß von 635 zu 377, 5 von 7 Vertretern. Die Liberalen stellen je 2 Listen auf in Bellinzona-Ticino und in der Vallemaggia.

Im ersten dieser Kreise werden sie damit hinsichtlich der Zahl der Vertreter nichts gewinnen, es handelt sich nur darum, die Wahl Gabuzzi's zu sichern. In der Vallemaggia reichten sie 2 Listen ein, nachdem sie vernommen, daß die Konservativen dies thun werden ; sie werden vielleicht die zweite Liste wieder zurückziehen, um wenigstens 2 Verfassungsräthe zu bekommen. Durch dieses Manöver der zweiten Liste wird die Zahl der liberalen Vertreter auf 49 herabsinken. Das Manöver ist schlau, aber nicht ehrenhaft, nicht von einem versöhnlichen Geiste eingegeben und beweist, da li das Proportionalverfahren allen Umtrieben Thür und Thor öffnet, in höherem Grade als das jetzige Wahlsystem.

,,Das zweite Mittel bilden die Stimmrechtsrekurse, die konservativerseits im ganzen Kanton eigentlich organisirt waren. Der Ausschluß einer großen Zahl von Emigranten durch das Gesetz vom 5. Dezember hätte eine offizielle Prüfung der sämmtlichen Stimmregister gerechtfertigt, wodurch eine große Zahl von Rekursen und großer Lärm vermieden worden wäre. Statt dessen wurde Alles der actio populari überlassen. Die Konservativen reichten eine Menge von Rekursen ein, die Liberalen viel weniger, weil sie grund-

635 sätzlich gegen Einschränkung des Stimmrechts der Emigranten sind.

Die Folge ist, daß unter gleichen Verhältnissen Liberale von den Stimmregistern gestrichen werden, Konservative dagegen nicht.

Auch wird, wie mir vorläufig scheint, den Art. 2 und 3 der Uebergangsbestimmurigen des Wahlgesetzes eine sehr weitgehende Auslegung gegeben. Rekurse wurden erhoben gegen das Stimmrecht von Schweizern aus andern Kantonen, die seit vielen Jahren hier wohnen, ihr Stimmrecht ausüben und Steuern bezahlen. Sogar das Stimmrecht des Herrn Ingenieur Gruber, der seit 6 Jahren Sladtrath von Bellinzona ist und seit mehr als 10 Jahren im Kanton Tessin wohnt, wurde angefochten. Eine Anzahl dieser Rekurse wurde vom Staatsrath begründet erklärt, weil die Angefochtenen keine Niederlassungsbewilligung besitzen. Nun bin ich der Ansicht, das Gesetz vom 5. Dezember Isonne nicht rückwirkend erklärt werden und wenn Schweizer aus andern Kantonen hier seit Jahren Steuern bezahlen und ihr Stimmrecht ausüben, so sei es mehr Schuld der Polizei, wenn, sie keine Niederlassungsbewilligung besitzen.

,,Die Liberalen werden Mittwoch oder Donnerstag hier eine kantonale Versammlung abhalten, und es ist stark die Rede davon, daß sie ihre Kandidatenlisten zurückziehen und sich der Wahl enthalten werden. Ich werde natürlich mein Möglichstes thun, um einen solchen Schritt, der wieder Alles in Frage stellen wurde, zu verhüten, aber andererseits muß etwas geschehen, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Dies läßt sich erreichen durch Interpretation des Art. 18 des Wahlgesetzes und durch Aufhebung von Rekursentscheiden des Regierungsrathes, welche über das Gesetz hinausgehen.

,,Was das Proportional verfahren betrifft, so war vereinbart worden, daß dasselbe nach Nr. IV der Genfer Broschüre stattfinden solle. Diese Nr. IV zieht nur Bruchtheile in Berücksichtigung von Listen, welche den Wahlquotient überschreiten, und nach dem Wortlaut des Art. 18 kann angenommen werden, daß auch dieser so zu verstehen sei. Es wäre denn doch widersinnig, wenn eine Minderheit durch künstliche Theilung in mehrere Gruppen den größern Theil der Vertretung eines Kreises erhalten könnte.

,,Bezüglich der Stimmrechtarekurse schreibt Ihre Instruktion vor, daß der Staatsrath seine Entscheide jedes Mal sofort dem Kommissär zur Kenntniß zu bringen und dieser im Allgemeinen
die Wahlen zu überwachen habe. Ich fasse diese Instruktion in dem Sinne auf, daß mir die Rekui-sentscheide zuzustellen seien, damit ich dieselben prüfe und eventuell aufhebe, vorbehaltlich den Rekurs des Staatsrathes an den Bundesrath. Ich werde die ersten Ent-

636 scheide erst morgen erhalten, die letzten erst Freitag oder Samstag, und ich bitte Sie deßhalb, falls meine Auffassung der Instruktion getheilt wird, Herrn Weber oder Herrn Brüstlein auf einige Tage zu meiner Unterstützung hieher zu senden. Eine Reihe von Rekursen werden bald erledigt sein, wie z. B. diejenigen, welche Tessiner in Amerika und Australien oder periodische Auswanderer, die in andern Kantonen ihr Stimmrecht ausüben, betreffen. Andere Rekurse sind aber, nicht so einfach, Alles muß angesehen werden und die Rekurse richten sich im Ganzen gegen circa 2000 Personen.

,,Den Liberalen kann ich den Vorwurf nicht ersparen, daß sie ob dem Gezänk im eigenen Lager und dadurch, daß sie ihre ganze Aufmerksamkeit nur der Eniigrantenfrage zuwendeten, wichtige Interessen vernachlässigten.

,,Zum Schlüsse resümire ich meine Ansicht dahin: ,,1. Durch bundesräthliehe Verfügung sollte dem Mißbrauch, der durch Aufstellung verschiedener Listen aus einer und derselben Partei getrieben wird, ernsthaft entgegengetreten werden, was um so eher zulässig ist, da das Wahlgesetz vom o. Dezember vom h. Bundesrathe bis jetzt nicht sanktionirt wurde ; ,,2. daß dem Kommissär ausdrücklich das Recht einzuräumen sei, Rekursentscheide des Staatsrathes aufzuheben.

,,Genehmigen Sie, Herr Bundesrath, die Versicherung meiner vollkommenen Hochachtung.

,,Der eidg. Kommissär im Kanton Tessili : ,,Künzli."

Am darauf folgenden Tag, 6. Januar, sandte der Kommissär einen neuen, hienach abgedruckten Bericht, worin er dringend um sofortiges Eingreifen des Bundesrathes ersuchte.

,,Bellinzona, 6. Januar

1891.

,,Der Eidg. Kommissär im Kanton Tessin an das Eidg. Justizund Polizeidepartement in Bern.

,,Herr Bundesrath !

,,Meine Auffassung der Sachlage im Kanton Tessin wurde mir heute von verschiedenen Seiten als richtig bestätigt. Ich lege, mit der Bitte um Rücksendung nach gemachtem Gebrauche, einen Brief des Herrn Sindaco Borella von Mendrjsio bei, den ich heute Nachmittag erhielt und der die gleichen Punkte bespricht, die ich in meinem Bericht an Sie erörtert. Die Rede des Herrn Regierungs-

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Präsidenten Soldati am Bankett in Lugano war nach verschiedenen Seiten unvorsichtig, und was er von den gemäßigten Liberalen dort sagte und im Privatgespräch gelegentlich äußerte, ist für diese nicht nur unangenehm, sondern geradezu kompromittirend. ,,Er macht uns unmöglich l>ei unserer Partei", klagte mir einer der betreffenden Herren selbst. Die Stellung der liberalen Regierungsmitglieder wird durch die Vorgänge der letzten Tage auch sehr erschwert.

,,Ich begreife nicht und bedaure, daß Herr Soldati, der sich die letzten 2 Monate redlich für eine Verständigung bemühte, zu dem kleinen Kniff der mehrfachen Listen Hand bot und mit so großer Schärfe bei der Erledigung der Stimmrechtsrekurse vorgeht.

Bald fürchte ich, die Pazifikation des Landes sei nur eine ,,Fata morgana".

,,Nur das kräftige Eingreifen der Bundesgewalt kann dem Eintritt einer trostlosen Situation vorbeugen. Wenn der Bundesrath mir aber diesbezügliche Vollmachten geben will, so sollte es morgen geschehen. Die Zeit drängt; später könnte ich in den Gang dei- Dinge Dicht mehr mit Erfolg eingreifen.

,,Ich benutze diesen Anlaß, Sie, Herr Bundesrath, meiner vollkommenen Hochachtung zu versichern.

,,Der eidg. Kommissär im Kanton Tessi u : Künzli."

Am nächstfolgenden Tage, 7. Janaar, bestätigte der Kommissär telegraphisch diese beiden Berichte und ersuchte um unverzügliche Entschließung.

Der Bundesrath glaubte der Anschauungsweise seines Kommissars nicht beitreten zu können, sondern faßte nach reiflicher Diskussion am 8. Januar denjenigen Beschluß, welcher nebst den nöthigen Erläuterungen in seinem hienach folgenden Telegramm vorn gleichen Tage enthalten ist.

,,Oberst Künzli, eidgenössischer Kommissär, Bellinzona.

,,Wir haben die Ehre, Ihre gestrige Depesche an unser Justinlind Polizeidepartement in folgender Weise zu beantworten: ,,1. Der Bundesrath hatte, wie Sie erwähnen, in seiner Botschaft vom 3. Dezember die Hoffnung ausgedrückt, daß bei dem Versuch mit dem Proportionalwahlsystem, welcher zum ersten Mal im Tessin angestellt werden soll, diejenige gegenseitige Loyalität walte, welche allein den guten Erfolg zu sichern vermag. Er beBundesblatt. 43. Jahrg. Bd. III.

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dauert, jetzt sehen zu müssen, daß durch Aufstellung von doppelten und sogar dreifachen Listen für die gleiche Partei Gelegenheit gegeben worden ist, die Korrektheit dieses ersten Versuches in Zweifel zu ziehen. Aber er glaubt nicht, daß er diese doppelten oder dreifachen Listen verbieten könne, denn es liegt im Wesen des Systems selbst, daß es jeder Gruppe freistellt, ihre eigene Liste aufzustellen, sei es nun, daß sie wirklich eine besondere Partei bildet oder daß sie sich im gegebenen Falle wirklich oder scheinbar aus Gründen, denen die Behörde nicht nachzufragen hat, von ihrer Partei trennt.

Das tessinische Gesetz über die Wahl des Verfassungsrathes anerkennt dieses Recht ausdrücklich, indem es besagt, daß jede aus 10 oder mehr Personen bestehende Gruppe ihre Liste einreichen könne.

,,Der Bundesrath erkennt nicht ganz klar den Vortheil, den man mit diesen für die gleiche Partei aufgestellten doppelten oder dreifachen Listen erzielen will. Aber er glaubt, daß dieser Vortheil nicht groß sein kann und daß die Kombinationen, Über die man sich beklagt, mehr dem zu erprobenden System als der Partei, gegen welche sie gerichtet sind, schaden werden. Auf jeden Fall scheinen sie nicht von so großer Tragweite zu sein, daß deßhalb die Aufregung, welch sie verursacht haben, gerechtfertigt wäre.

,,2. Was das Stimmrecht der Angehörigen anderer Kantone betrifft, so ist der Bundesrath der Ansicht, das dasselbe denjenigen Personen, welche seit drei Monaten im Kanton wohnhaft sind, nicht verweigert werden darf, vorausgesetzt, daß dieselben jetzt ihre Niederlassungsbewilligung einholen, falls sie noch keine solche besitzen. Man kann in der That nicht verlangen, daß die dreimonatliche Frist erst mit dem Datum der Bewilligung beginnen solle, «denn das Gesetz, welches diese Bedingung aufstellt, datirt vorn 5. Dezember 1890, und die Abstimmung, für welche allein dieses Gesetz erlassen worden ist, wird am 11. Januar 1891, also binnen weniger als drei Monaten nach dem Erlaß des Gesetzes, stattfinden.

,,Wollen Sie von diesem Beschlüsse dem Staatsrath Kenntniß geben und denselben einladen, sich darnach zu richten, und wollen Sie für dessen Bekanntmachung besorgt sein.

,,Bundesrath: Welti."

Diese Antwort des Bundesrathes hatte zur Folge, daß das liberale Komite, in Verbindung mit den Bezirksdelegirten, die Enthaltung der Partei bei den Verfassungsrathswahlen beschloß, was durch eine Proklamation vom gleichen 8. Januar im ganzen Kanton bekannt gemacht wurde.

639 Wir glauben, hier kein Uiiheil über diesen folgenschweren Entschluß abgeben zu solleu, welcher den Ausgleich zwischen den beiden Parteien wiederum in Frage stellte und die Opposition für den Augenblick um den Vortheil brachte, der ihr aus der Abstimmung vom 5. Oktober 1890 erwachsen war. Die öffentliche Meinung in der ganzen Schweiz hat dieses Gebahren mit großer Strenge beurtheilt. Der Bundesrath konnte von seinem Standpunkte aus nicht anders entscheiden, als er es gelhan hat; wollen wir jedoch gerecht sein, so müssen wir anerkennen, daß die Opposition, welche aus Friedensliebe in die Einführung des ihr im Grunde wenig zusagenden Proportionalvrahlsystems gewilligt hatte, sich durch den damit versuchten Mißbrauch tief verletzt fühlen mußte. Gewiß hat sie aber bei dieser Gelegenheit bloßen Gefühlsfragen einen übertriebenen Einfluß auf ihr Vorgehen eingeräumt und dadurch die Lösung von Fragen weit wichtigerer Art gefährdet, als es der unbedeutende Zwischenfall mit den doppelten Listen gewesen ist.

Freilich ist dabei nicht zu vergessen, daß schon damals die Frage des Stimmrechts unter den Begehren» der liberalen Partei eine Rolle spielte, welche seither immer mehr in den Vordergrund getreten ist.

Infolge der Proklarnation des liberalen Parteikomites wurden einige Befürchtungen rege, es könnte die auf drei Tage später angesetzte Wahlverhaiidluug nicht ungestört verlaufen und es wurden Gerüchte über beabsichtigte Störung derselben herumgeboten. In Bellinzona stand die Unteroffiziersschule zur Verfügung des Kommissärs. Arn 10. Januar nun lelegraphirte Herr Oberst Küuzli von Bellinzona: ,,Situation nicht besser. Soldati fürchtet Unruhen. Sende morgen auf sein Gesuch drei Sektionen Lugano. Heute Volksversammlung Lugano". Er selbst begab sich sodann persönlich nach Lugano.

Diese Befürchtungen -- nebenbei bemerkt, die letzten, welche aufgetaucht sind -- erwiesen sich als grundlos. Der 11. Januar verlief in bester Ordnung. Während die Liberalen im ganzen Kanton sich von der Wahl fern hielten, eilte die konservative Partei in geschlossenen Gliedern, wie zu einem Enlscheidungskampfe, an die Urnen ; sie hatte nicht an die Aufrichtigkeit der von den Liberalen ausgegebenen Losung geglaubt.

Aus der Wahl ging, wie das nun nicht mehr anders möglich war, ein ausschließlich aus Vertretern der konservativen
Partei gebildeter Verfassungsrath hervor.

Herr Oberst Eünzli war der Ansicht, daß nunmehr seine Aufgabe beendigt sei und verständigte hievon den Buudesrath, welcher auch seinerseits die Anwesenheit eines eidg. Kommissärs im T essin

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im gegebenen Augenblick nicht mehr für nothwendig hielt, und deßhalb Herrn Künzli zur Rückkehr ermächtigte. Dagegen ersuchte ihn der Bundesrath, seine. Stellung als Kommissär noch ferner beizubehalten, um im Nothfall rasch nach dem Tessin zurückkehren zu können (23. Januar 1891).

Unterdessen machte sich der Verfassungsrath an seine Aufgabe heran. Dieselbe gründete sich bekanntlich auf jene vielumstrittene Abstimmung- vom 5. Oktober 1890, in welcher sich die Mehrheit des Tessiner Volkes für eine partielle Verfassungsrevision und für Vornahme derselben durch einen Verfassungsrath ausgesprochen hatte. Diese partielle Verfassungsre vision war durch die liberale Partei verlangt worden und zwar auf Grund eines bestimmten Programms, welches folgende drei Begehren enthielt: 1. Wiederherstellung der alten Kreise; 2. Volkswahl der erstinstanzlichen Richter; 3. Volkswahl des Regierungsrathes.

Diese Programmpunkte waren auf den Stimmzeddeln abgedruckt, und man hat daher viel über die Frage gestritten, ob hiedurch der dem Verfassungsrathe ertheilte Revisionsauftrag in dem Sinne eingeschränkt werde, daß ihm einerseits zur Anhandnahme anderer Verfassungsfragen die Vollmacht fehlen würde, und daß er auf der andern Seite sogar verpflichtet wäre, alle drei aufgestellten Betrehren der VolksabstimmungO 7.11 unterbreiten. Obschon diese AufO fassung in beiden Parteien Verfechter fand, drang sie doch schließlich nicht durch; man hat vielmehr allgemein angenommen, der Verfassungsrath sei zwar moralisch verpflichtet, alle Punkte (les Programms vom 5. Oktober in Berathung zu ziehen, aber gemäß dem im Kanton Tessin dermalen bestehenden Verfassungsrechte keineswegs gehalten, die sämmtlichen Begehren des Revisionsprogramms der Volksabstimmung zu unterstellen.

Der aus den Berathungen des Verfassungsrathes hervorgegangene und am 9. Februar endgültig festgestellte Entwurf einer partiell revidirten Verfassung wurde am darauf folgenden 8. März von der Mehrheit des Tessiner Volkes angenommen. Diese Verfassung ist der Bundesversammlung bekannt, da sie ihr mit unserer Botschaft vom 31. März vorgelegt worden ist und die eidgenössische Garantie erhalten hat. Hatten wir aber damals die neu eingeführten Verfassungsbestimmungen einzig und allein von dem Gesichtspunkte der Uebereinstimmung mit dem Bundesrechte uns zu prüfen, so dürfen
wir uns heute nun die Frage vorlegen, ob sie aueh geeignet waren, den von der Mehrheit vom 5. Oktober ausgesprochenen Wünschen in billiger Weise entgegenzukommen und damit der Aufregung den Boden zu entziehen.

641 Das erste und unstreitig weitaus wichtigste der drei durch die Volksinitiative vom Jahr 1890 aufgestellten Revisionsbegehren ist dasjenige, wodurch die Rückkehr 211 den alten "Kreisen" verlaugt wird. Wir haben bei anderer Gelegenheit schon betont, daß die konservative Partei dieser Forderung sich mit Entschiedenheit widersetzte und au den "Bezirken" vielleicht mit ebenso großem Eifer festhielt, wie die Liberalen an den Kreisen. Man hatte vergeblich versuch!, für die kantonale Wahlkreiseintheilung einen Mittelweg zu finden, und gerade die Fruchtlosigkeit der daherigen Bestrebungen war es, welche beide Parteien veranlaßt hatte -- allerdings mit mehr oder weniger freudigem Entgegenkommen, -- sich auf das System der Proportional vert ret ung zu einigen. Wie schon bemerkt, hatte dieses Verfahren bei der liberalen Partei infolge des Manövers mit den doppelten Listen sein Bischen Popularität noch vollends eingebüßt, obgleich diesem Mißbrauch im Grunde genommen eher die Bedeutung einer Inkorrektheil als einer Schädigung der Gegenpartei zukam und ihm auf dem Wege der Gesetzgebung für die Zukunft leicht hätte vorgebeugt werden können. Es leuchtet ein, daß unter den gegebenen Umstanden der Verfassungsrath nicht anders handeln konnte, und der Einführung des Proportionalwahlverfahrens als der Grundlage des Ausgleichs vom Dezember 1890 seine Einwilligung ertheilen mußte. Es wäre übertrieben, wenn man einer ausschließlich nus Konservativen bestehenden Behörde einen Vorwurf daraus machen wollte, daß sie die Rückkehr zu den alten Kreisen nicht beantragt habe; doch können wir nicht umhin, hier festzustellen, daß das Tessiner Volk noch nicht in die Lage versetzt worden ist, sich in Form einer Verfassungsabstimmung fest und bestimmt darüber auszusprechen, ob es die Kreise als Grundlage für die Großrathswahlen wiederum einführen will oder nicht.

Die Verfassungszustände im Kanton Tessi n sind derart, daß die Mehrheit des Volkes, so lange wenigstens der Große Rath oder der Verfassungsrath naeh Bezirken gewählt wurden, Gefahr lief, eine von ihr beharrlich verlangte Neuerung niemals durchsetzen zu können, und man muß sieh bei dieser Sachlage denn doch fragen, ob eine derartige Beschränkung des Iniativrechts wirklich mit dem lebhaften und, gestehen wir es frei, wenig zur Geduld geneigten Temperament der Tessiner
Bevölkerung vertraglich ist. -- Von den beiden weitern Initiativ begehren des Jahres 1890, welche die Volkswahl der erstinstanzlichen Richter und des Regierungsrathes zum Gegenstande hatten, wurde das erste vorn Verfassungsrathe angenommen, das zweite dagegen verworfen. Es handelt sich eben hier um Fragen, zu welchen Jeder nach seiner persönlichen Anschauung Stellung nimmt.

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Bis hierher ist, nach unserer Ansieht das Vorgehen des Verfassungsrathes unanfechtbar. Dagegen gelangen wir nun zu verschiedenen Punkten, wo wir einen Vorbehalt anbringen müssen: nachdem nämlich der Verfassungsrath sich für die Wahl des Großen Rathes mittelst eines neuen Verfahrens ausgesprochen hatte, das jeder Partei die ihr gebührende Vertretung zu sichern und den gegenwärtigen Zustand, wonach die eine Hälfte der Bevölkerung zwei Drittel der gesammten Volksvertretung wählt, zu beseitigen geeignet schien, hat er die Durchführung dieser Neuerung bis 1893 verschoben.

Ebenso hat er das Inkrafttreten seines Beschlusses, wodurch die Volkswahl der erstinstanzlichen Richter für die Zukunft angeordnet wird, auf mehrere Jahre vertagt, so daß nun eine gesetzgebende Behörde u n d einRichterstandd weiter amten, welche aus Anfechtungen gewesen und schließlich allgemein verurtheilt und über Bord geworfen worden ist. Es erscheint zweifelhaft, oh dies Weiterleben grundsätzlich verworfener Einrichtungen gesunden verfassungsrechtlichen Grundsätzen entspricht; gewiß aber ist,dassß es die Beruhigung des Lindes nicht gefördert hat.

Der Verfassungsrath beendigte seine Arbeit am 9. Februar O O und die Volksabstimmung wurde auf den 8. März angesetzt. Nun konnte man wiederum jene Vorgänge sieh abspielen sehen, die im Kanton Tessin jeder Volksabstimmung vorangehen und denen man glücklicher Weise in keinem andern Kantone begegnet: es begann die Jagd auf Stimm berechtigte, welche darin besteht, dass die Parteileitungen Alles anwenden, um eine möglichst große Anzahl der Gegenpartei Angehöriger Stimmberechtigter aus den Stinmregistern streichen zu lassen. Hatte man als Zweck des Gesetzes vom 5. Dezember 1890 angegeben, diese Umtriebe durch klare und bestimmte Regelung der Stimmrechtsverhältnisse einzudämmen, so mußte jetzt der Bundesrath die Wahrnehmung machen, daß das Gesetz die mit Bezug auf dasselbe gemachten Versprechungen nur in sehr ungenügender Weise erfüllte. Wir können diesbezüglich hier auf keine, nähereu Erörterungen eintreten, da dieselben außerhalb des Rahmens dieser Botschaft liegen würden, und gestatten uns nur, Sie auf die Entscheide des Bundesrathes über die Rekurse in Sachen Messi, Marliani, Crivelli und Bobbia, Ramponi undFranchinii(Bundesbl..

1891, I, 421 ff.) und denjenigen betreffend die GebrüderBrunii
und den Dr. Piazza (letzterer wird demnächst veröffentlicht werden") zu verweisen. Ans dein Studium dieser Entscheide werden Si«, wie wir glauben, die Ueberzeugung gewinnen, daß die im Gesetze vom 5. Dezember niedergelegten Normen den gehegten Erwartungen nicht entsprochen haben, indem sie die Probe der Praxis schlecht

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bestanden und trotz ihrer anscheinenden Klarheit der Willkür viel zu weiten Spielraum ließen.

So entschloß sich denn die liberale Partei, auf die Verwerfung des Revisionsentwurfes hinzuarbeiten, nicht nur, weil sie die Einführung des Proportionalwahlverfahrens für die Gemeindewahlen mißbilligte, sondern auch weil sie mit der Verschiebung der Vornahme der Richterwahlen und ganz besonders der Großrathswahlen nach dem neuen System unzufrieden war. Dazu kam noch, daß die Klagen dei- Ausgewanderten unter den Forderungen der liberalen Partei je länger je mehr in den Vordergrund traten; auch hatten einige Streichungen von Stimmberechtigten Staub aufgeworfen und sogar bedeutende Erbitterung erzeugt. Kurz, die liberale Partei entschloß sich, wie gesagt, das Werk des Verfassungsrathes, trotzdem ihr darin für einen Theil ihrer Wünsche Befriedigung geboten war, zu verwerfen ; sie blieb jedoch in Minderheit und der Entwurf wurde am 8. März mit 11,291 gegen 10,764 Stimmen angenommen. Die neue Verfassung erhielt, wie wir soeben erwähnt haben, die eidgenössische Garantie.

Nun schien die Mission des Kommissärs am Ziele angelangt zu sein. Unser Justiz- und Polizeidepartement ersuchte daher Herrn Oberst Künzli sieh zum letzten Mal noch in den Kanton Tessin zu verfügen , um sich über den Zustand der Gemüther zu orientiren und sodann dei- Behörde seinen Schlußbericht einzureichen.

Herr Oberst Künzli begab sieh am 24. März nach dem Tessin, wo er einige Tage verblieb und sich mit den Mitgliedern der Regierung und den hervorragendsten Persönlichkeiten beider Parteien in Verbindung setzte. Nach seiner Heimkehr richtete er sodann an unser Justiz- und Polizeidepartement einen Bericht, welchem wir folgende Stellen entnehmen : g

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*

,,Das Ergebniß meiner Besprechungen und Informationen ist folgendes : Von einer eigentlichen Pazifikation des Landes ist zur Zeit keine Rede. Die gemischte Regierung arbeitet zwar sehr fleißig und, wie mir scheint, vielfach in gutem Einverständnis. Sie hat einige Gesetze vorbereitet, die geeignet sind, die Wohlfahrt des Landes wesentlich zu fördern, so z. B. die Gesetze über den Kataster und über das Hypothekarwesen. Auch das Einführungsgesetz zum Bundesgesetz über Betreibung und Konkurs liegt im Entwurf vor.

Leider findet dieses Beispiel der Verträglichkeit wenig. Nachahmung.

Was die eine Partei gut heißt, verwirft die anderò, und so wird manches Gute vereitelt.

,,Diese Zustände werden sich einstweilen kaum ändern. Die beiden Parteien sind annähernd gleich stark, und die eine sucht

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das Uebergewicht mit derselben Energie zu erhalten, mit der die andere dasselbe zu gewinnen sucht und hofft. Gegenwärtig stehen mehrere Fragen im Vordergrund, die geeignet sind, die Parteien im Athem zu erhalten, so die von den Liberalen ungebahnten neuen Initiativbegehren, die von den Konservativen beschlossene Massenpetition für Prozessirung der Urheber der Revolution vom 11. September und endlich der Scazziga-Prozeß, von kleinern Zwischenfällen, wie demjenigen von Pambio, nicht zu sprechen. Ich habe wohl den Gründen der Parteibeschlüsse nachgefragt und nicht verhehlt, daß in der übrigen Schweiz das Verständniß für einzelne Aktionen fehle, aber im Ue.brigen sah ich davon ab, Rathschläge zu ertheilen. Ich beschränkte mich auf die eindringliche Mahnung, den Boden der Gesetzlichkeit nicht zu verlassen, und von allen Seiten wurde mir die Zusicherung gegeben, daß in dieser Beziehung nichts zu befürchten sei.

,,Gestützt auf die vorangegangenen Verhandlungen gab ich deßhalb in der Konferenz mit dem Tit. Staatsrath die Erklärung ab, daß, wenn auch von einer eigentlichen Pazifikation des Landes nicht gesprochen werden könne, und obst'hon es an aufregenden Fragen nicht fehle, die Spannung doch ziemlich nachgelassen habe und nach den erhaltenen Berichten eigentliche Ruhestörungen nicht zu befürchten seien. Es sei zu erwarten, daß die Parteien den gesetzlichen Boden nicht verlassen werden, und der Staatsrath sei zudem stark #enug, die öffentliche Ordnung aufrecht au erhalten.

Ich werde deßhalb, wenn der Tit. Staatsrath meine Ansichten theile,' dem hohen Bundesrath die Aufhebungö des Kommissariats beantragen.. Allerdings könne dann keine Rede mehr davon sein, eine zweite Rekrutenschiile nach Bellinzona zu verlegen, wie das von einigen Seiten gewünscht werde. Eine Abänderung des Schultableau's hätte sich nur durch zwingende Gründe rechtfertigen lassen, und es würde im Fernern die Stadt Chur sich mit Kecht beschweren, wenn eine Verlegung der Rekrutenschule ohne Nothwendigkeit stattfände. Ich fügte beij es sei in der Presse von einer nochmaligen Berufung von Delegirten beider Parteien nach Bern die Rede gewesen, zum Zweck eines Verständigungsversuchs unter Mitwirkung von Mitgliedern des Bundesrathes. Nach meiner Ansicht würde ein solcher Schritt erfolglos sein, und ich könne denselben deßhalb dem hohen Bundesrath
nicht empfehlen. Eine versöhnlichere und ruhigere Stimmung sei nur von der Zeit zu erwarten und könne nur nach und nach eintreten.

,,Der Tit. Staatsrath erklärte sich einstimmig und in allen Theilen mit meinen Anschauungen einverstanden.

645 ,,Schließlich machte ich den Staatsrath noch darauf aufmerksam, daß die Bevölkerung sich beunruhigt fühle durch die Gerüchte über Waffenaustheiliiügen an Schützengesellschaften und Errichtung von Waffendepots im Kanton herum, die von der Zeughausverwaltung aus in größerem Maßstab stattfmden sollen. Herr Militärdirektor Dr. Casella erwiderte, diese Gerüchte seien theils grundlos, theils übertrieben. Die Militärdirektion sei dem im letzten Herbst vom schweizerischen Militärdepartement erlassenen Befehl, ohne Bewilligung des eidgenössischen Kommissärs keine Waffen an Schülzengesellschaften zu verabfolgen, pünktlich nachgekommen.

,,Ich kann meinen Bericht nicht beendigen, ohne den Wunsch auszusprechen, es möchten sich diesseits des 8t. Gotthard Männer finden, welche sich entschließen würden, in» Kanton Tessin industrielle Geschäfte in's Leben zu rufen. Die Bedingungen für eine günstige industrielle Entwicklung wären vorbinden: ,,Große Wasserkräfte, eine arbeitsame, nüchterne Bevölkerung, gUnstige Eisenbahnverbindungen mit den italienischen Häfen und die Gotthardbahn, welche sich ohne Zweifel herbeilassen würde, durch entsprechende Tarife die Industrie zu fördern, und mittelst der man in einigen Stunden Luzern, Zürich, Bern und Basel erreicht. Die Alpen bilden kein Hindernilä mehr für industrielle Thätigkeit im Tessin, und die Zahl der Feiertage ist nicht derart, um Schwierigkeiten zii bieten. Im Kanton Tesain selbst besteht zu wenig industrieller Unternehmungsgeist, und doch wäre es ein Glück, wenn ein größerer Theil der tessinischen Bevölkerung im eigenen Land seinen Lebensunterhalt gewinnen und wenn dadurch die Auswanderung eingeschränkt werden könnte. Auch wäre es ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vortheil, wenn die intelligente Jugend ein neues Feld der Thätigkeit fände und weniger darauf angewiesen wäre, sich den wissenschaftlichen Berufsarten und den Beamtungen zuzuwenden.

,,Eine Frage, die noch Anlaß zur Erörterung böte, wäre die der Amnestie und der Uebernahme der Okkupationskosten durch die Eidgenossenschaft. Ich unterlasse es, hier darauf einzutreten, weil sich anderweitig Gelegenheit bieten wird, darüber zu sprechen.

,,Ich schließe mit dein Autrag: ,,Ea sei das eidgenössische Kommissariat im Kanton Tessin sofort und definitiv aufzuheben."

Nach Prüfung dieses Berichtes faßte der Bundesrath am 3. April den nachfolgenden Beschluß, welchen er der damals gerade besammelten Bundesversammlung mittheilte*.

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,,Der schweizerische Bundesrath, nach Einsieht des Berichts des eidg. Kommissärs, Herrn Oberst Künzli, vom 30. vorigen Monats, aus welchem hervorgeht, daß gegenwärtig im Kanton i'essin vollständige Ruhe herrscht und daß, wenn auch eine Beruhigung der Gemüther noch nicht eingetreten ist, doch keine Veranlassung vorliegt, neue Ruhestörungen zu befürchten, ,,in Erwägung, daß nach der Ansicht des Kommissärs kein Grund vorhanden ist, noch länger ein eidg. Kommissariat im K anton Tessin beizubehalten, und daß diese Ansicht von allen Mitgliedern des tessinischen Staatsrathes gutheilt wird, beschließt: ,,1. Das im Kanton Tessin bestellte Kommissariat wird mit heute als aufgehoben erklärt. Herr Oberst Künzl wird demgemäß seiner Funktionen als eidg. Kommissär enthoben, wovon ihm und dem tessinischen Staatsrath Mittheilung gemacht wird.

,,2. Dieser Beschluß wird der Bundesversammlung mit, dem Bemerken mitgelheilt, dass demzufolge der Beschlußentwurf vom 3.Dezemberr 1890, welcher gegenwärtig der Bundesversammlung vorliegt,zuurückgezogen und nächstens durch einen neuen E n t w u r f ersetzt werdenwird." 1 Am gleichen 3. April richtete der Bundesrath den folgenden Abschiedsbrief an seinen Kommissär: "HerrnOberstdivisionärr Künzli, Nationalrath, derzeit in Bern.

,,Wir haben die Ehre, Ihnen hiemit den heutigen Beschluß des Bundesrathes mitzutheilen, womit er auf Ihren Bericht hin das eidgenössische Kommissariat im Kanton Tessin aufgehoben und Sie Ihrer Stellung als Kommissär enthoben hat, "Wir wollen nicht von Ihnen Abschied nehmen, ohne Ihnen unsern wärmsten Dank dafür auszusprechen dass Sie unserm Rufe so rasch entsprochen und Ihre schwierige Aufgabe in so ausgezeichneter Weise erfüllt haben.

,,Genehmigen Sie, etc."

Durch die oben angeführten Entschließungen wurde die eidgenössische Intervention im Kanton Tessin beendigt, so daß wir in Ihrer Session vom April abhin die Erneuerung der uns am 9. Oktober 1890 ertheilten Vollmacht nicht mehr nachzusuchen brauchten. Wir ziehen daher, wie wir Ihnen dies schon in unserm Schreiben vom 3. April mitgetheilt haben, den mit unserer Botschaft vom 3. Dezember 1890 vorgelegten Beschlußentwurf zuriiek und ersetzen denselben nun durch den hienach folgenden Entwurf, den wir Ihnen zur Genehmigung empfehlen.

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Was die sowohl durch die Vorgänge des Jahres 1889 als durch diejenigen des Jahres 1890 veranlagten Strafuntersuchungen betrifft, so brauchen wir hier auf dieselben nicht mehr zurück- .

zukommen, da sie in der von uns kürzlich vorgelegten Botschaft über die Frage der Amnestie erschöpfend dargelegt sind. Indeß müssen wir hier erwähnen, daß die sehr bedauerlichen Ruhestörungen, welche sich am 27. Oktober 1890 in Lugano ereignet haben, ebenfalls zum Gegenstande einer Strafuntersuchung gemacht worden sind. Leider haben wir zu unserm größten Bedauern uns überzeugen müssen, daß die eifrigsten Nachforschungen seitens unseres Generalanwaltes, Herrn Scherb, sowie seitens des die Stelle des eidgenössischen Untersuchungsrichters vertretenden Herrn Professor Schneider nicht zur Entdeckung der Schuldigen geführt haben.

Bevor wir diesen Bericht abschließen, müssen wir noch mit einem Wort der Gesuche gedenken, welche von Seiten unserer im Ausland niedergelassenen tessinischen Landsleute an uns gelangt sind. Die Bundesversammlung kennt schon 4 Eingaben gegen die Amnestie; da dieser Gegenstand den Räthen zur Behandlung unterbreitet ist, so haben wir ihnen unverzüglich von diesen Wünschen einiger im Auslande befindlichen Tessiner Kenntniß gegeben. Andere unserer Landsleute haben sich an uns gewendet, um die Aufrechterhaltung ihres Stimmrechts au erwirken. Es sind dies in erster Linie die sehr zahlreichen, mit dem Verein liberaler Tessiner in Mailand in Verbindung stehenden Schweizer. Mit Sehreiben vom Januar 1891 haben uns der Präsident (Herr Antonio Soldini) und die übrigen Vorstandsmitglieder dieses Vereins ein von mehr als 1000 in den verschiedenen Erdtheilen wohnenden Tessinern unterstütztes Gesuch eingereicht, womit dieselben die Aufhebung von Art. et des tessinischen Gesetzes vom 5. Dezember 1890 verlangen, weil diese Bestimmung die Ausgewanderten vom Stimmrecht ausschließt. Am 14. März übermittelte uns sodann unser Konsul in Mailand eine neue Zuschrift des genannten Vereins, welcher weitere Exemplare der gleichen Eingabe mit noch 600 Unterschriften beigelegt waren. Am 11. April endlich stellte uns Herr Advokat Ernst Bruni in Bellinzona die von einer Tessinerversammlung in Montevideo (unter dem Vorsitz von Herrn Ch. A. Giovanetti) angenommene Resolution zu, worin gleichfalls gegen den erwähnten Art. 3 protestirt
wird, ,,da derselbe in betrübender Weise das geliebte Erbtheil der Tessiner im Auslande, ihr Stimmrecht, vernichtet" Der Bundesrath wird nicht ermangeln, diese Wünsche der Tessiner Regierung zukommen zu lassen da er selbst bei dem gegenwärtigen Stande der Frage hierüber nicht entscheiden kann. Diese Eingaben gehören zu demjenigen Material, das der (wie wir,schon im Ein-

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gang dieses Berichtes bemerkt haben) im März 1892 zu ernennende Verffassungsrath wird prüfen und das die Bundesbehörden seiner Zeit ihren infolge der künftigen Tessiner Verfassungsrevision nothwendig werdenden Beschlüssen werden zu Grunde legen müssen.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 20. Juni 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d espräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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(Entwurf.)

Bundesbeschluß betreffend

die Tessiner Angelegenheiten.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaften des Bundesrathes vom 3. Dezember 1890 und vom 20. Juni 1891, beschließt: Die vom Bundesrathes in Bezug auf die Tessiner Augelegenheiten getroffenen neuen Maßnahmen werden genehmigt.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung über die Tessiner Angelegenheiten.

(Vom 20. Juni 1891.)

In

Bundesblatt

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Jahr

1891

Année Anno Band

3

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27

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01.07.1891

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627-649

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