17.062 Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen vom 11. Oktober 2017

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen, mit dem das Schweizerische Zivilgesetzbuch (Schutz der Persönlichkeit), die Zivilprozessordnung, das Strafgesetzbuch und das Militärstrafgesetz geändert werden.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2011

M

09.4017

Geschlagene Frauen schützen (N 03.03.2010, Perrin; S 30.05.2011)

2013

M

12.4025

Opfer häuslicher Gewalt besser schützen (S 14.03.2013 Keller-Sutter; N 23.09.2013)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

11. Oktober 2017

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2016-3101

7307

Übersicht Mit dem Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen sollen das Zivilgesetzbuch (ZGB), die Zivilprozessordnung (ZPO), das Strafgesetzbuch (StGB) und das Militärstrafgesetz (MStG) angepasst werden.

Dadurch sollen die Schwachstellen des geltenden Rechts behoben und Personen noch besser vor häuslicher Gewalt und Stalking geschützt werden.

Der Bundesrat will den Schutz vor häuslicher Gewalt und Stalking verbessern. Zu diesem Zweck schlägt er verschiedene Massnahmen vor.

Im Zivilrecht stehen Verbesserungen bei Artikel 28b ZGB im Vordergrund. Die Bestimmung erlaubt es den Betroffenen, auf dem zivilrechtlichen Weg gegen häusliche Gewalt und Stalking vorzugehen, indem sie unter anderem Schutzmassnahmen wie Annäherungs- und Kontaktverbote vorsieht.

Um die angeordneten Schutzmassnahmen besser durchsetzen zu können, schlägt der Bundesrat vor, eine gesetzliche Grundlage für die gerichtliche Anordnung einer elektronischen Überwachung bei häuslicher Gewalt und Stalking zu schaffen. Der Bundesrat geht davon aus, dass sich Tatpersonen dank der elektronischen Überwachung verstärkt an ein Annäherungs-, Kontakt- oder Rayonverbot halten. Missachten sie das Verbot, verbessert sich dank der Überwachung zumindest die Beweislage für das Opfer, da die Bewegungen der Tatperson aufgezeichnet werden. Mit der Massnahme wird das Anliegen der Motion Perrin «Geschlagene Frauen schützen» (09.4017) erfüllt.

Um die Wirksamkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutznorm von Artikel 28b ZGB zu erhöhen, schlägt der Bundesrat vor, gewisse zivilprozessuale Hürden abzubauen, die sich bei der Evaluation von Artikel 28b ZGB gezeigt haben. So sollen der verletzten Person im Erkenntnisverfahren keine Gerichtskosten mehr überbunden werden und ein Schlichtungsverfahren in allen Fällen entfallen. Um die Schnittstellenproblematik zu entschärfen, soll das Gericht seinen Entscheid den Strafverfolgungsbehörden, der zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), der kantonalen Interventionsstelle sowie gegebenenfalls weiteren betroffenen Personen mitteilen.

Im Strafrecht sollen die Sistierung und die Einstellung von Strafverfahren wegen einfacher Körperverletzung, wiederholter Tätlichkeiten, Drohung oder Nötigung in Paarbeziehungen (Artikel 55a StGB und 46b MStG) neu geregelt werden. Ziel ist es,
das Opfer zu entlasten und der Behörde mehr Ermessen einzuräumen. So soll der Entscheid über den Fortgang des Strafverfahrens nicht mehr ausschliesslich von der Willensäusserung des Opfers abhängen. Vielmehr soll die Verantwortung bei der Behörde liegen, die neben der Erklärung des Opfers auch weitere Umstände berücksichtigen und würdigen muss. Das Verfahren soll nur sistiert werden können, wenn dies zu einer Stabilisierung oder Verbesserung der Situation des Opfers beiträgt.

Zudem soll die Behörde anordnen können, dass die beschuldigte Person für die Zeit der Sistierung ein Lernprogramm gegen Gewalt besucht. Bei Verdacht auf wiederholte Gewalt soll das Verfahren nicht mehr sistiert werden können. Schliesslich soll

7308

eine abschliessende Beurteilung vor Ablauf der Sistierungsdauer ermöglichen, das Opfer noch einmal anzuhören und die massgeblichen Umstände zu eruieren, damit die Behörde ihren definitiven Entscheid fällen kann. Mit diesen Gesetzesänderungen werden die Anliegen der Motion Keller-Sutter «Opfer häuslicher Gewalt besser schützen» (12.4025) und die aus dem Bericht zur Motion Heim «Eindämmung der häuslichen Gewalt» (09.3059) gewonnenen Erkenntnisse aufgenommen und im Lichte der Vernehmlassungsergebnisse umgesetzt.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

Ausgangslage 1.1 Ziele der vorliegenden Revision 1.2 Häusliche Gewalt 1.2.1 Begriff 1.2.2 Statistik 1.2.3 Instrumente des geltenden Rechts zum Schutz von Personen vor häuslicher Gewalt 1.2.4 Zivilrechtlicher Schutz vor häuslicher Gewalt 1.2.5 Strafrechtlicher Schutz vor Gewalt in Paarbeziehungen 1.2.6 Kantonales Recht 1.3 Stalking 1.3.1 Begriff 1.3.2 Statistik 1.3.3 Zivilrechtlicher Schutz vor Stalking 1.3.4 Strafrechtlicher Schutz vor Stalking 1.3.5 Kantonales Recht 1.4 Parlamentarische Vorstösse 1.4.1 Ankündigung einer Evaluation zur Umsetzung von Artikel 28b ZGB 1.4.2 Vollzug mittels elektronischer Vorrichtungen: Motion Perrin (09.4017) 1.4.3 Untersuchung der Einstellungspraxis: Motion Heim (09.3059) 1.4.4 Anhörung des Opfers: Motion Keller-Sutter (12.4025) 1.5 Evaluation und Untersuchung der bestehenden Instrumente 1.5.1 Evaluation von Artikel 28b ZGB 1.5.2 Untersuchung der Praxis zu Artikel 55a StGB

7313 7313 7314 7314 7315

2

Weitere Arbeiten 2.1 Vorentwurf und Vernehmlassung 2.2 Ergebnisse der Vernehmlassung 2.2.1 Allgemeine Beurteilung 2.2.2 Zivilgesetzbuch und Zivilprozessordnung 2.2.3 Strafgesetzbuch und Militärstrafgesetz

7336 7336 7337 7337 7337 7339

3

Die Grundzüge der beantragten Neuregelung 3.1 Überblick und Ziele der Vorlage 3.2 Die beantragte Neuregelung im Zivilrecht und im Zivilprozessrecht 3.2.1 Mitteilung von Gewaltschutzentscheiden und verbesserte Weiterbildung 3.2.2 Vereinfachung und Kostenlosigkeit

7340 7340

7310

7317 7318 7321 7325 7326 7326 7326 7327 7327 7328 7328 7329 7329 7330 7331 7331 7331 7335

7342 7342 7343

BBl 2017

3.3

3.4 3.5 3.6

3.2.3 Elektronische Überwachung Die beantragte Neuregelung im Strafrecht 3.3.1 Einleitung 3.3.2 Umfassende Prüfung bei der Sistierung, Wiederanhandnahme und Einstellung des Strafverfahrens 3.3.3 Verknüpfung der Sistierung mit Lernprogrammen 3.3.4 Fortsetzung des Strafverfahrens bei Verdacht auf wiederholte Gewalt 3.3.5 Verzicht auf Umsetzung der Motion Keller-Sutter (12.4025): Keine obligatorische Anhörung des Opfers vor der Einstellung des Strafverfahrens 3.3.6 Verzicht auf die Einführung einer besonderen Strafnorm gegen Stalking 3.3.7 Verzicht auf eine Übergangsbestimmung Fehlende Kompetenz für den Erlass eines nationalen Gewaltschutzgesetzes Umsetzung Erledigung parlamentarischer Vorstösse

7344 7349 7349 7351 7353 7354 7355 7357 7362 7362 7363 7363

4

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln 4.1 Zivilgesetzbuch (ZGB) 4.2 Zivilprozessordnung (ZPO) 4.3 Strafgesetzbuch (StGB) 4.4 Militärstrafgesetz (MStG)

7364 7364 7370 7372 7380

5

Auswirkungen 5.1 Auswirkungen auf den Bund 5.2 Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden 5.2.1 Zivilrechtliche und zivilprozessuale Neuerungen 5.2.2 Strafrechtliche Neuerungen 5.3 Auswirkungen auf die Gesellschaft

7381 7381 7381 7381 7382 7383

6

Verhältnis zur Legislaturplanung

7383

7

Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungs- und Gesetzmässigkeit 7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 7.2.1 Europäische Menschenrechtskonvention 7.2.2 Istanbul-Konvention 7.3 Erlassform 7.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 7.5 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 7.6 Datenschutz

7384 7384 7385 7385 7386 7386 7387 7387 7387

7311

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Anhang I: Elektronische Überwachung im Zivilrecht anderer Staaten

7388

Anhang II: Gewalt in Paarbeziehungen im Strafrecht anderer europäischer Staaten

7395

Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen (Entwurf)

7397

7312

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Ziele der vorliegenden Revision

Ziel der vorliegend beantragten Gesetzesrevision ist die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen. Besser geschützt werden sollen einerseits Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind; andererseits sollen die Instrumente zum Schutz vor Stalking ausgebaut werden.

Häusliche Gewalt und Stalking wurden während langer Zeit als Privatsache betrachtet und allgemein tabuisiert. Erst in den letzten Jahren hat ein Umdenken auf breiter Ebene stattgefunden: Die Bekämpfung der häuslichen Gewalt und des Stalking wird auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zunehmend thematisiert und als Aufgabe der Gemeinschaft anerkannt.1 Im Rahmen der breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der häuslichen Gewalt und des Stalking wurden auch zahlreiche parlamentarische Vorstösse eingereicht, die sich in unterschiedlicher Form mit dem Thema befassen. Als Folge der veränderten Wahrnehmung der Thematik kam es einerseits zu verschiedenen Gesetzesänderungen auf Bundes- und Kantonsebene. Diese haben zum Ziel, häusliche Gewalt und Stalking wirksamer zu bekämpfen, die Opfer besser zu schützen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.2 Anderseits wurden auch auf der praktischen Ebene, in der konkreten Arbeit mit den von Gewalt betroffenen und den Gewalt ausübenden Personen, massgebliche Verbesserungen erzielt.

Gemäss verschiedenen internationalen und nationalen Studien und Statistiken sind die Fälle von häuslicher Gewalt und Stalking in den vergangenen Jahren jedoch trotz der zahlreichen dagegen unternommenen Anstrengungen und Massnahmen nicht zurückgegangen.3 Der Bundesrat hat deshalb teilweise in Erfüllung parlamentarischer Vorstösse verschiedene Gesetzesbestimmungen, die mit dem Ziel der Verbesserung der Situation der betroffenen Personen eingeführt worden sind, einer Untersuchung unterzogen.4 Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchungen sowie in Erfüllung verschiedener parlamentarischer Vorstösse5 schlägt der Bundesrat nachfolgend eine Reihe von Massnahmen vor, mit denen der Schutz von Personen, die von häuslicher Gewalt oder Stalking betroffen sind, weiter verbessert werden soll.

1

2

3

4 5

Vgl. dazu ausführlich den «Bericht über Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen (in Erfüllung des Postulats Stump 05.3694 vom 7. Oktober 2005)», BBl 2009 4092 ff.

Vgl. dazu die Übersicht des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, «Gegen häusliche Gewalt ­ Stand Gesetzgebung und Umsetzung in der Praxis», abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Themen > Häusliche Gewalt > Gesetzgebung (Stand 08.2017).

Vgl. dazu die Informationsblätter Nr. 9 und 10 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt > Informationsblatt 9/10 (Stand: 12.09.2017); vgl. ferner die Ausführungen unter Ziff. 1.2.2 und 1.3.2.

Dazu ausführlich Ziff. 1.5.

Vgl. dazu die Ausführungen unter Ziff. 1.4.

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1.2

Häusliche Gewalt

1.2.1

Begriff

Der Begriff häusliche Gewalt im Sinne des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 20116 (sog. «Istanbul-Konvention») umfasst «alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte» (Art. 3 Bst. b des Übereinkommens).

Häusliche Gewalt ist eine besondere Form der Gewalt, die sich von anderen Gewalthandlungen in folgenden Punkten unterscheidet:7

6

7

­

Bei häuslicher Gewalt besteht zwischen der gewaltausübenden Person und dem Opfer eine emotionale Bindung. Auch bei einer Trennung dauert diese Bindung oft noch an.

­

Die Gewalt wird meist in der eigenen Wohnung ausgeübt, die eigentlich als Ort von Sicherheit und Geborgenheit verstanden wird.

­

Häusliche Gewalt verletzt die körperliche und/oder psychische Integrität durch Ausübung oder Androhung von physischer, sexueller und/oder (schwerer) psychischer Gewalt durch eine nahestehende Person.

­

Häusliche Gewalt dauert meist über einen längeren Zeitraum an und nimmt mit der Zeit häufig an Intensität zu. Ausnahmen sind einmalige, situativ übergriffige Gewalthandlungen.

­

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Dominanz und Kontrollverhalten in der Beziehung und Gewaltausübung. Bei häuslicher Gewalt nützt die gewaltausübende Person oft ein Machtgefälle in der Beziehung aus.

Wenn Paare gleichberechtigt zusammenleben, ist die Gewaltgefährdung am geringsten.

­

Die spezifische Gewaltdynamik bei häuslicher Gewalt ­ die Gewaltspirale ­ sowie die verschiedenen Täter- und Opfertypen müssen berücksichtigt werden, um Beratung und Intervention effektiv und bedürfnisgerecht ausgestalten zu können.

SEV-Nr. 210. Der aktuelle Stand über die Unterzeichnung, Ratifizierung und das Inkrafttreten des Übereinkommens in den Mitgliedstaaten des Europarates ist abrufbar unter: www.coe.int > Mehr > Vertragsbüro > Gesamtverzeichnis > 210 Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt > Unterzeichnungen und Ratifizierungen. Bisher haben 24 Staaten das Abkommen ratifiziert und weitere 20 Staaten sowie die EU haben es unterzeichnet (Stand: 18.09.2017). Vgl. dazu auch Ziff. 7.2.2.

Vgl. dazu das Informationsblatt Nr. 1 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt > Informationsblatt 1 (Stand: 25.09.2017).

7314

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Diese Besonderheiten müssen auch vom Gesetzgeber, der Massnahmen gegen häusliche Gewalt treffen will, berücksichtigt werden und verlangen jeweils besondere, auf die spezifische Form der Gewalt zugeschnittene Regelungen.

1.2.2

Statistik8

Obwohl die Statistik von periodisch verlaufenden Schwankungen geprägt ist, machen die aktuellen Zahlen deutlich, dass häusliche Gewalt weiterhin ein grosses gesellschaftliches Problem darstellt. Während 2009­2011 ein Rückgang der Anzahl polizeilich registrierter Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt zu beobachten war, stieg die Zahl in den Jahren 2012 und 2013 wieder an. Im Jahr 2013 wurden 16 495 Straftaten im häuslichen Bereich polizeilich registriert. Im Jahr darauf ging die Zahl um 5 % auf 15 650 zurück. Seit dem Jahr 2015 steigt sie jedoch wieder an, 2015 auf 17 297 und 2016 auf 17 685 Straftaten, was gegenüber dem Vorjahr einer Zunahme von 10,5 % bzw. 2 % entspricht. Wie schon in den vergangenen Jahren sind auch 2016 die Tätlichkeiten (über 30 %) und Drohungen (knapp 24 %) die hauptsächlich registrierten Straftaten. Im Jahr 2016 starben 19 Personen infolge häuslicher Gewalt, davon 18 weibliche Personen und 1 männliche Person; dies ergibt durchschnittlich alle 19 Tage einen Todesfall. Dazu kommen 52 versuchte Tötungen. 9 Für die statistische Erfassung der häuslichen Gewalt wird in einer Auswahl von für den häuslichen Bereich relevanten Straftaten die Beziehung zwischen der beschuldigten und der geschädigten Person erfasst. In 38 Prozent dieser Straftaten wurde im Jahr 2016 eine häusliche Beziehung registriert.

8

9

Die folgenden statistischen Angaben basieren auf der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundesamtes für Statistik. In der PKS werden ­ im Gegensatz zur Verurteiltenstatistik ­ auch Daten zu den geschädigten Personen erfasst, was Angaben zur häuslichen Gewalt ermöglicht. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der PKS um eine Anzeigestatistik handelt. Sie gibt Auskunft über Umfang, Struktur und Entwicklung polizeilich registrierter Straftaten und nicht über die Taten, die zu einer gerichtlichen Verurteilung geführt haben. Für die in der PKS erfassten beschuldigten Personen gilt bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung.

Vgl. dazu die Publikationen des Bundesamtes für Statistik «Polizeilich registrierte häusliche Gewalt 2009 ­ 2013» sowie die Polizeilich Kriminalstatistik. Jahresbericht 2016», beide abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > Kriminalität und Strafrecht > Polizei > Häusliche Gewalt.

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Fast die Hälfte der polizeilich registrierten Straftaten im häuslichen Bereich ereignet sich in einer bestehenden Partnerschaft (48,8 %) und etwa ein Viertel in einer ehemaligen Partnerschaft (26 %). Die restlichen der polizeilich registrierten Straftaten verteilen sich auf die Eltern-Kind-Beziehung (15 %) und andere Verwandtschaftsbeziehungen (10 %).10 10

Vgl. dazu die Publikation des Bundesamtes für Statistik «Polizeilich registrierte häusliche Gewalt 2009­2013» (Fn. 9).

7316

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Eine nicht repräsentative Studie aus dem Jahr 2011 zur häuslichen Gewalt in der Schweiz hat aufgezeigt, dass rund 1,3 % der befragten Frauen und 0,5 % der befragten Männer häusliche Gewalt erfahren.11 In 22 % der Fälle häuslicher Gewalt wurde die Polizei (vom Opfer oder von Dritten) eingeschaltet, was indessen nicht wesentlich seltener ist als bei anderen ausserhäuslichen Delikten.12

1.2.3

Instrumente des geltenden Rechts zum Schutz von Personen vor häuslicher Gewalt

Mit verschiedenen Gesetzesanpassungen hat der Bundesgesetzgeber in den letzten Jahren versucht, dem Problem der häuslichen Gewalt besser beizukommen. Als wichtige Schritte zu nennen sind dabei die Revision des Zivilgesetzbuches13 (ZGB) vom 23. Juni 200614, die am 1. Juli 2007 in Kraft getreten ist und mit der ein besonderer Gewaltschutzartikel geschaffen wurde, sowie die bereits am 1. April 2004 in Kraft getretene Revision des Strafgesetzbuches15 (StGB) vom 3. Oktober 2003,16 11

12 13 14 15 16

Killias Martin/Staubli Silvia/Biberstein Lorenz/Bänziger Matthias, Häusliche Gewalt in der Schweiz, Analysen im Rahmen der schweizerischen Opferbefragung 2011, Kriminologisches Institut der Universität Zürich, Zürich 2012, 23, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen. Die Studie ist eine Zusatzstudie im Rahmen der Schweizerischen Opferbefragung 2011, die im Auftrag des Bundesamtes für Justiz und des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann durchgeführt wurde.

Killias/Staubli/Biberstein/Bänziger (Fn. 11), 18 sowie Tabelle 19.

SR 210 AS 2007 137 SR 311.0 AS 2004 1403

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mit welcher verschiedene Straftatbestände im Strafgesetzbuch zu Offizialdelikten gemacht wurden, wenn sie in einer Paarbeziehung begangen wurden. Seit dem 1. Januar 2015 besteht bei einer Verurteilung zu bestimmten Straftaten ausserdem die Möglichkeit, ein Kontakt- oder Rayonverbot als strafrechtliche Massnahme anzuordnen und den Vollzug einer solchen Massnahme mit Hilfe elektronischer Geräte, die mit dem Täter fest verbunden sind, durchzusetzen.17 Ein solches Verbot dient gerade auch der Verhinderung von häuslicher Gewalt und zwanghafter Belästigung.18 Schliesslich finden sich im Bundesrecht eine Reihe weiterer Bestimmungen, die direkt oder indirekt dem Schutz gewaltbetroffener Personen dienen.19

1.2.4

Zivilrechtlicher Schutz vor häuslicher Gewalt

Gewaltschutznorm im ZGB Die heute geltende Fassung von Artikel 28b ZGB geht auf die parlamentarische Initiative 00.419 zurück. Absicht dieser Initiative war die Schaffung eines Gewaltschutzgesetzes, «das die von Gewalt betroffenen Personen schützt und die sofortige Wegweisung von gewalttätigen Personen aus der Wohnung und das Betretungsverbot über eine bestimmte Zeitdauer festlegt».20 Der Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) vom 21. Februar 2001 hielt fest, dass die neu zu erlassenden Bestimmungen sowohl zivil- als auch strafrechtlicher Natur sein sollten.21 Das damalige Recht bot keine spezielle Handhabe, um Opfern häuslicher Gewalt genügend Schutz zu bieten. Die rechtliche Situation hing vom Wohnort der betroffenen Personen ab, da sich die Gesetze wie auch die Praxis ­ insbesondere mit Blick auf polizeiliche Massnahmen ­ von Kanton zu Kanton unterschieden. Gemäss dem Bericht der RK-N vom 18. August 200522 stand dabei das folgende Ziel im Vordergrund: «Die Opfer müssen wirksam geschützt werden, dies umso mehr, als sie mit der Person, die gegen sie Gewalt ausübt, zusammenwohnen.» In der Folge wurde mit Artikel 28b ZGB eine zivilrechtliche Gewaltschutznorm geschaffen, die sowohl Opfer häuslicher Gewalt als auch Stalkingopfer schützen sollte. Auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Bestimmung am 1. Juli 2007 bezeichneten alle Kantone die von Absatz 4 verlangte Interventionsstelle für den Krisenfall und regelten das Verfahren. Viele Kantone hatten dazu ihre Polizeigesetze und -verordnungen entsprechend angepasst, einige Kantone hatten eigene Gewaltschutzgesetze erlassen. Die Aufforderung an die Kantone, die Intervention im Krisenfall zu regeln, brachte in denjenigen Kantonen, in denen zuvor keine entsprechenden Bestimmungen erlassen worden waren, eine Verbesserung des Schutzes 17 18 19 20 21 22

AS 2014 2055 Vgl. Ziff. 1.2.5.

Vgl. dazu Fn. 2.

Parlamentarische Initiative Vermot-Mangold «Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft» (00.419) vom 14. Juni 2000.

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 21. Februar 2001, abrufbar unter der Geschäftsnummer 00.419 auf: www.parlament.ch.

Parlamentarische Initiative 00.419. Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 18. August 2005, BBl 2005 6871.

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bei häuslicher Gewalt. In Kantonen, in denen bereits vor Erlass der Bundesnorm entsprechende Schutzbestimmungen erlassen worden waren, führte Artikel 28b ZGB in erster Linie zu einer Erweiterung der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten.23 Grundsätzliches Mit Artikel 28b ZGB wurde auf Bundesebene eine Norm geschaffen, die es betroffenen Personen ermöglichen soll, sich mittels zivilrechtlicher Massnahmen gegen eine Beeinträchtigung und Gefährdung ihrer physischen, psychischen, sexuellen und sozialen Integrität durch Gewalt, Drohungen und Nachstellungen24 im engeren und weiteren sozialen Nahraum zu schützen. Als zivilrechtliche Norm ist Artikel 28b ZGB nicht auf die Bestrafung der Tatperson ausgerichtet, sondern will der bedrohten oder verletzten Person einen persönlichkeitsrechtlichen Schutz vor weiterer Gewalt, weiteren Drohungen oder weiteren Nachstellungen bieten.

Um dieses Ziel zu erreichen, erlaubt Artikel 28b ZGB die Anordnung von Massnahmen unabhängig davon, in welcher rechtlichen und tatsächlichen Beziehung die betroffenen Personen zueinander stehen. Ob Opfer und Tatperson verheiratet sind oder nicht, ob sie (noch) zusammenleben oder je zusammengelebt haben, ist ebenso irrelevant wie die Form ihrer Beziehung, das heisst, ob es sich um Paare handelt oder um eine Wohngemeinschaft oder gar um ein Eltern-Kind-Verhältnis, ob die Gewalt gegen betagte Hausgenossen gerichtet ist oder beispielsweise von erwachsenen Kindern ausgeht. Schliesslich ist die Bestimmung auch anwendbar zum Schutz gegen Personen, die dem Opfer nicht persönlich bekannt sind und zu diesem in keiner Beziehung stehen oder je gestanden haben.

Artikel 28b ZGB: Materiell-rechtliche Aspekte Der zivilrechtliche Gewaltschutz ist Teil des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes nach den Artikeln 28­28l ZGB. Voraussetzung für die Anordnung einer Massnahme im Rahmen des Persönlichkeitsschutzes ist eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung. Der Grad der Verletzung muss eine gewisse Intensität aufweisen; nicht jedes sozial unkorrekte Verhalten ist auch eine Persönlichkeitsverletzung. Dasselbe gilt für Drohungen, worunter ein Inaussichtstellen von widerrechtlichen Verletzungen der Persönlichkeit zu verstehen ist. Das Opfer muss um seine physische, psychische, sexuelle oder soziale Integrität oder allenfalls um diejenige einer ihm
nahestehenden Person fürchten; es muss sich somit um eine ernstzunehmende Bedrohung handeln.

Grundsätzlich stehen dabei die folgenden zivilrechtlichen Klagemöglichkeiten zur Verfügung:

23 24

1.

Verbot einer drohenden Verletzung,

2.

Beseitigung einer bestehenden Verletzung,

3.

Feststellung einer Persönlichkeitsverletzung,

4.

Mitteilung und Veröffentlichung des Urteils.

Vgl. dazu Bericht RK-N (Fn. 22), 6878 ff.

Nachstellungen ist der deutsche Begriff zum heute gebräuchlichen «Stalking», vgl. dazu Ziff. 1.3.1.

7319

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Diese Massnahmen können unabhängig davon angeordnet werden, ob die Tatperson ein Verschulden trifft oder nicht.

Artikel 28b Absatz 1 ZGB konkretisiert den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz, indem die Bestimmung Massnahmen auflistet, die durch das Gericht getroffen werden können, um eine drohende rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung durch Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen abzuwenden oder eine bestehende Verletzung zu beseitigen.

Zugunsten der klagenden Partei kann das Gericht beispielsweise Annäherungs-, Orts- sowie Kontaktaufnahmeverbote anordnen. Der Massnahmenkatalog ist nicht abschliessend: Das Gericht kann somit auch andere Massnahmen anordnen, die geeignet sind, die klagende Person vor Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen zu schützen.25 Die Regelung von Artikel 28b ZGB gilt gemäss Artikel 172 Absatz 3 ZGB sowie den Artikeln 276 Absatz 1 und 307 der Zivilprozessordnung26 (ZPO) sinngemäss auch für das Eheschutz- und Scheidungsverfahren sowie das Verfahren zur Auflösung der eingetragenen Partnerschaft.

Artikel 28b Absätze 2 und 3 ZGB ermöglicht eine Ausweisung aus der Wohnung, wenn das Opfer und die gewaltausübende Person zusammenleben, und erlaubt zudem im Einverständnis mit der Vermieterin oder dem Vermieter eine Übertragung des Mietvertrages. Ziel dieser Regelung ist es, dem Opfer eine Alternative zur Flucht zu bieten.

Artikel 28b Absatz 4 ZGB richtet sich an die Kantone und betrifft die Schaffung einer Kriseninterventionsstelle.27 Bei der Anordnung von Schutzmassnahmen hat das Gericht den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu wahren (Art. 5 Abs. 2 und 36 Abs. 3 der Bundesverfassung28; BV). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Dauer solcher Massnahmen, die durch das Gesetz nicht beschränkt wird. Das Gericht hat diejenige Massnahme zu treffen, die zum Schutz des Opfers notwendig und für die Tatperson am wenigsten einschneidend ist. Um den angeordneten Schutzmassnahmen Achtung zu verschaffen, wird das Gericht diese in der Regel unter die Androhung einer Bestrafung nach Artikel 292 StGB stellen (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen).

Artikel 28b ZGB: Prozessuale Aspekte Die Inanspruchnahme des zivilrechtlichen Schutzes von Artikel 28b ZGB verlangt von der gewaltbetroffenen Person ein Handeln, indem sie oder ihre Vertretung beim zuständigen Gericht eine Klage gegen die
Tatperson einreichen und die Anordnung von Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB beantragen muss. Dabei trägt sie die Beweislast dafür, dass eine Verletzung der Persönlichkeit durch Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen tatsächlich bevorsteht oder bereits vorliegt. Die in der Bestimmung beispielhaft genannten Schutzmassnahmen setzen von denjenigen Personen, die von Gewalt in einer Paarbeziehung betroffen sind, insbesondere auch eine (mindestens vorläufige) Trennungsbereitschaft voraus, weil Massnahmen wie Annähe25 26 27 28

Bericht RK-N (Fn. 22), 6885 f.

SR 272 Vgl. Ziff. 1.2.6.

SR 101

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rungs-, Kontakt- oder Rayonverbote zwangsläufig eine Distanz oder gar Trennung zwischen Opfer und Tatperson herbeiführen.

Obschon Artikel 28b ZGB grundsätzlich allen gewaltbetroffenen Personen zur Verfügung steht, ändert sich das anwendbare Verfahrensrecht je nach Art der Beziehung zwischen Opfer und Tatperson. Sind die beiden Personen miteinander verheiratet, so können die Massnahmen des Persönlichkeitsschutzes im Rahmen des Eheschutzes beantragt und angeordnet werden (Art. 172 Abs. 3 ZGB). Somit kann das Gericht im Eheschutzverfahren auch Massnahmen gemäss Artikel 28b ZGB anordnen. Auf alle Massnahmen im Rahmen des Eheschutzes ist das summarische Verfahren anwendbar (Art. 271 Bst. a ZPO), und das Gericht stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest (Untersuchungsgrundsatz; Art. 272 ZPO). In den übrigen Fällen und somit insbesondere dann, wenn die Personen nicht miteinander verheiratet sind, gilt dagegen das vereinfachte Verfahren (Art. 243 Abs. 2 Bst. b ZPO).

Das vereinfachte Verfahren zeichnet sich durch geringere Formstrenge, grössere Mündlichkeit und verstärkte materielle Prozessleitung aus. So gilt gemäss Artikel 247 Absatz 2 Buchstabe a ZPO die soziale Untersuchungsmaxime, wonach das Gericht den Sachverhalt ebenfalls von Amtes wegen feststellt. Im Unterschied zum summarischen Verfahren ist dem vereinfachten Verfahren grundsätzlich ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vor einer Schlichtungsbehörde vorgelagert (Art. 197 ff. ZPO). Vereinfachtes und summarisches Verfahren unterscheiden sich in der Regel auch bezüglich der Prozesskosten.

Hat ein Paar minderjährige Kinder, so müssen allenfalls die nötigen Massnahmen nach den Bestimmungen über die Wirkungen des Kindesverhältnisses (Art. 270 ff.

ZGB) getroffen werden (z. B. Regelung des persönlichen Verkehrs oder der Unterhaltsansprüche). Bei einem verheirateten Paar ist das Gericht im Rahmen des Eheschutzverfahrens dafür zuständig (Art. 176 Abs. 3 und 315a ZGB), bei unverheirateten Paaren ist es die Kindesschutzbehörde (Art. 315 ZGB).

Da zivilrechtliche Verfahren oftmals mehr Zeit in Anspruch nehmen, mit der Anordnung von Schutzmassnahmen jedoch nicht zugewartet werden kann, besteht zudem die Möglichkeit, vorsorgliche Massnahmen anzuordnen. Dafür genügt die Glaubhaftmachung der Gefährdung oder Verletzung (Art. 261 ZPO). Bei besonderer
Dringlichkeit kann das Gericht auch eine superprovisorische Massnahme (Art. 265 ZPO) ohne (vorgängige) Anhörung der beklagten Person bzw. der Gesuchsgegnerin oder des Gesuchsgegners anordnen. In beiden Fällen werden die Massnahmen nicht im ordentlichen, sondern im summarischen Verfahren erlassen (Art. 248 Bst. d ZPO) und gewährleisten damit einen raschen Schutz des Opfers.

1.2.5

Strafrechtlicher Schutz vor Gewalt in Paarbeziehungen

Revision der Strafverfolgung in Paarbeziehungen Bis 2004 wurden einfache Körperverletzung, wiederholte Tätlichkeiten und Drohung wie auch Vergewaltigung und sexuelle Nötigung unter Ehepartnern nur auf Antrag hin verfolgt. Der Entscheid über die Einleitung des Strafverfahrens oblag 7321

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damit allein dem Opfer, womit die Gefahr bestand, dass dieses aus Gründen wie moralischer Skrupel, Resignation, Abhängigkeit oder Angst vor dem Partner keinen Strafantrag stellte29 oder diesen zurückzog30. Dem damaligen Recht wurde deshalb vorgeworfen, es schaffe für Gewalt in der Ehe de facto einen rechtsfreien Raum.

In der Praxis wurde denn auch eine grosse Zahl von Verfahren wegen Rückzugs des Strafantrags eingestellt. Zeigten unbeteiligte Dritte eine Straftat unter Ehegatten an, so konnten die Strafbehörden nicht tätig werden, solange kein Strafantrag des Opfers vorlag.

Am 1. April 2004 trat eine Revision des StGB und des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 192731 (MStG) in Kraft, welche diese Mängel beseitigen sollte. Für sexuelle Nötigung und Vergewaltigung unter Ehegatten entfiel das Erfordernis eines Strafantrags (Art. 189 und Art. 190 StGB). Einfache Körperverletzung, wiederholte Tätlichkeiten und Drohung, begangen vom Ehegatten oder der Lebenspartnerin bzw.

dem Lebenspartner des Opfers, wurden zu Offizialdelikten. Im Jahr 2007 wurde diese Regelung auch auf Delikte in der eingetragenen Partnerschaft ausgedehnt (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3­5, Art. 126 Abs. 2 Bst. b, bbis und c sowie Art. 180 Abs. 2 StGB).32 Mit dieser Offizialisierung ging die Einführung einer neuen prozessrechtlichen Bestimmung einher: Artikel 55a StGB und die Parallelbestimmung von Artikel 46b MStG tragen den Interessen jener Opfer Rechnung, die keine Verfolgung und Bestrafung der beschuldigten Person wünschen. Bei einfacher Körperverletzung, wiederholten Tätlichkeiten, Drohung oder Nötigung in der Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebenspartnerschaft (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3­5, Art. 126 Abs. 2 Bst. b, bbis und c, Art. 180 Abs. 2 und Art. 181 StGB) kann das Strafverfahren zunächst sistiert und danach eingestellt werden. Dies, sofern das Opfer (bzw. sein gesetzlicher Vertreter) um Sistierung ersucht oder einem entsprechenden Antrag der Behörde zustimmt (Art. 55a Abs. 1 Bst. b StGB). Widerruft das Opfer seine Zustimmung innerhalb von sechs Monaten seit der Sistierung, so wird das Verfahren wieder an die Hand genommen (Art. 55a Abs. 2 StGB). Andernfalls verfügt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die Einstellung des Verfahrens (Art. 55a Abs. 3 StGB).

29

30

31 32

Parlamentarische Initiative 96.464. Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt. Revision von Artikel 123 StGB und Parlamentarische Initiative 96.465. Sexuelle Gewalt in der Ehe als Offizialdelikt. Revision von Artikel 189 und 190 StGB. Bericht vom 28. Oktober 2002 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates. Stellungnahme des Bundesrates vom 19. Februar 2003, BBl 2003 1937, hier 1939.

Parlamentarische Initiative 96.464. Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt. Revision von Artikel 123 StGB und Parlamentarische Initiative 96.465. Sexuelle Gewalt in der Ehe als Offizialdelikt. Revision von Artikel 189 und 190 StGB. Bericht vom 28. Oktober 2002 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, BBl 2003 1909, 1912.

SR 321.0 Ehe und Lebenspartnerschaft: Schweizerisches Strafgesetzbuch (Strafverfolgung in der Ehe und in der Partnerschaft), AS 2004 1403; Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909 sowie Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 29) BBl 2003 1937; eingetragene Partnerschaft: Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (Partnerschaftsgesetz, PartG), AS 2005 5685; Botschaft zum Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare, BBl 2003 1288.

7322

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Nach dem Willen des damaligen Gesetzgebers sollte ein Gesuch um Sistierung nicht zwingend zur Sistierung des Verfahrens führen. Vielmehr muss die zuständige Behörde bloss prüfen, ob sie das Verfahren sistieren will. Sie kann aber das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung höher gewichten als die Willensäusserung des Opfers und das Verfahren dennoch weiterführen. Artikel 55a StGB ist deshalb als «Kann-Vorschrift» ausgestaltet. Der Entscheid über die Sistierung sollte nach dem Wortlaut der Bestimmung sowie nach deren Sinn und Zweck nicht allein auf dem Opfer lasten, und die Behörden sollten eine solche nicht blind verfügen. 33 Wurde das Verfahren aber sistiert, so ist eine Wiederanhandnahme nur möglich, wenn das Opfer seine Zustimmung zur Sistierung widerruft; die Behörden dürfen das Verfahren nicht aus eigener Initiative wieder aufnehmen. Ebenfalls sind die Behörden zur Einstellung des Verfahrens verpflichtet, wenn das Opfer seine Zustimmung nicht fristgemäss widerruft.

Artikel 55a StGB: Rechtsprechung Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung führt nun aber eine entsprechende Willensäusserung des Opfers zwingend zur Einstellung des Verfahrens. Gemäss Bundesgericht darf die Behörde grundsätzlich nur an der Strafverfolgung festhalten, wenn sie zum Schluss kommt, der Antrag auf Verfahrenseinstellung entspreche nicht dem freien Willen des Opfers. Ein Übergehen des Einstellungsbegehrens sei nur zulässig, wenn dieses nicht Ausdruck einer selbstbestimmten Entscheidung sei, das Opfer also durch Gewalt, Täuschung oder Drohung beeinflusst worden oder nicht über Hilfs- und Handlungsalternativen informiert sei.34 Diese Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass der Gesetzeswortlaut ausschliesslich an den Willen des Opfers anknüpft. Artikel 55a Absatz 1 StGB ist zwar als «Kann-Vorschrift» ausgestaltet; das Gesetz enthält aber nebst der Willensäusserung des Opfers keine weiteren Kriterien, wann die Behörden das Verfahren sistieren bzw. wann sie auf eine Sistierung verzichten dürfen. Wurde das Verfahren sistiert und widerruft das Opfer seine Zustimmung nicht, so muss das Verfahren nach dem Gesetzeswortlaut definitiv eingestellt werden.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts führt dazu, dass die Verantwortung für den Entscheid über die Sistierung und die darauffolgende Einstellung des Verfahrens dem
Opfer übertragen wird. Damit kommt den Behörden kein Ermessen zu.35 Leidet die Erklärung des Opfers nicht nachweislich an einem Willensmangel, so muss das Verfahren eingestellt werden. Dies betrifft auch jene Fälle, in welchen zwar eine Fortsetzung der Gewalt absehbar ist oder die beschuldigte Person erwiesenermassen wiederholt Gewalt ausgeübt hat, das Opfer die Desinteresse-Erklärung aber im Wissen um das Risiko weiterer Delikte abgibt.

33 34

35

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909, hier 1922.

Urteile des Bundesgerichts 6S.454/2004 vom 21. März 2006, E. 3 mit Hinweis auf Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 29), BBl 2003 1937, hier 1941, und 6B_835/2009 vom 21. Dezember 2009, E. 4.2.

Riedo Christof, Strafverfolgung um jeden Preis?, ZStrR 2009, 420 ff., 432 f.

7323

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Kontakt- und Rayonverbote sowie elektronische Überwachung im Strafrecht Per 1. Januar 2015 wurde mit der Erweiterung des Berufsverbots im StGB, im MStG und im Jugendstrafgesetz vom 20. Juni 200336 (JStG) auch ein Kontakt- und Rayonverbot eingeführt. Das Kontakt- und Rayonverbot kann als strafrechtliche Massnahme angeordnet werden, wenn jemand ein Verbrechen oder Vergehen gegen eine oder mehrere bestimmte Personen oder gegen Personen einer bestimmten Gruppe begangen hat und die Gefahr besteht, dass bei erneutem Kontakt zu diesen Personen weitere Verbrechen oder Vergehen begangen werden (Art. 67b StGB). Das Verbot dient gerade auch der Verhinderung von häuslicher Gewalt und zwanghafter Belästigung. Für den Vollzug dieses Verbots können technische Geräte eingesetzt werden, die mit dem Täter fest verbunden sind. Sie können insbesondere der Feststellung des Standortes des Täters dienen (Art. 67b Abs. 3 StGB).

Die Strafprozessordnung37 (StPO) sieht vor, dass das Gericht anstelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine Ersatzmassnahme anordnen kann, namentlich die Auflage an die beschuldigte Person, sich nur oder nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Haus aufzuhalten, oder auch das Verbot, mit bestimmten Personen Kontakte zu pflegen (Art. 237 Abs. 2 Bst. c und g StPO). Zur Überwachung solcher Auflagen oder Verbote kann das Gericht den Einsatz technischer Geräte und deren feste Verbindung mit der zu überwachenden Person anordnen (Art.

237 Abs. 3 StPO).

Das sogenannte Electronic Monitoring soll zudem im Rahmen des Strafvollzugs eingesetzt werden können. Mit den Änderungen des Sanktionenrechts im StGB und MStG, die das Parlament am 19. Juni 2015 angenommen hat, wird der elektronisch überwachte Strafvollzug ausserhalb der Vollzugseinrichtung als ordentliche Vollzugsform für kurze Freiheitsstrafen bzw. als zusätzliche Vollzugsphase bei langen Freiheitsstrafen eingeführt (Art. 79b StGB in der Fassung der Änderung vom 19. Juni 2015). Die neue Regelung wird am 1. Januar 2018 in Kraft treten. 38 Sie schliesst nicht aus, dass die elektronische Überwachung mittels der GlobalPositioning-System-Technik (GPS) durchgeführt wird.39 Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Formen kann die elektronische Überwachung als Vollzugsform für Freiheitsstrafen nur angeordnet werden, wenn die Täterin oder der Täter nicht wiederholungsgefährdet ist. Sie hat daher keine Sicherungsfunktion. Mit der neuen

36 37 38 39

SR 311.1 SR 312.0 AS 2016 1249 Bereits in der Vernehmlassung wurde vereinzelt explizit gefordert, dass GPS für den Schutz von Opfern eingesetzt werde: Vgl. dazu Bundesamt für Justiz, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens über den Bericht und den Vorentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Änderungen des Sanktionenrechts) vom 12. Oktober 2011, 36, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Änderung des Sanktionensystems > Zusammenfassung [Vernehmlassungsergebnisse].

7324

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Regelung wird eine Rechtsgrundlage für die bis zum Inkrafttreten dieser Regelung befristeten Versuche verschiedener Kantone mit dieser Vollzugsform geschaffen. 40 Im Übrigen sind die Kantone frei, beim Vollzug von Strafen und Massnahmen Electronic Monitoring als Sicherungsinstrument einzusetzen (so wie sie beispielsweise auch Überwachungspersonal, Überwachungskameras, Stacheldraht und hohe Mauern einsetzen können).

1.2.6

Kantonales Recht

Umsetzung und Vollzug von Bundesrecht Mit dem Inkrafttreten von Artikel 28b ZGB am 1. Januar 2007 haben die Kantone eine Stelle bezeichnen müssen, die in Krisensituationen für die sofortige Wegweisung der verletzenden Person aus der Wohnung zuständig ist (Art. 28b Abs. 4 ZGB).

Mit speziellen Gewaltschutzgesetzen41, besonderen Bestimmungen in kantonalen Polizeigesetzen42 sowie in den anwendbaren Einführungsgesetzen zum ZGB 43 sind Regelungen für polizeiliche Sofortmassnahmen geschaffen worden, die der verletzten Person eine kurze Schonfrist und Überlegungszeit einräumen. So sind beispielsweise 10 bis 20 Tage dauernde polizeiliche Schutzmassnahmen vorgesehen, die mit einer Strafandrohung nach Artikel 292 StGB kombiniert und allenfalls mit Polizeizwang, unter Umständen mit kurzfristigem Polizeigewahrsam, durchgesetzt werden können.44 Eine Verlängerung solcher polizeilicher Schutzmassnahmen (in der Regel bis zu maximal drei Monaten) kann von den Gerichten angeordnet werden.

Weitergehende Regelungen Insbesondere regeln die von gewissen Kantonen geschaffenen Gewaltschutzgesetze die Problematik von häuslicher Gewalt und in diesem Rahmen vorkommendem Stalking in zum Teil umfassender Weise; sie bieten dabei den Opfern nicht selten 40

41

42

43

44

Seit 1999 führen die Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Bern, Waadt, Genf und Tessin sowie seit 2003 auch der Kanton Solothurn befristete Versuche dieser Form des Strafvollzugs durch; vgl. dazu den Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 4. August 2009 «Erfahrungen mit dem Electronic Monitoring nach dem Inkrafttreten des revidierten AT-StGB (2007/2008), Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse der Kantone BE, SO, BS, BL, TI, VD und GE», abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Electronic Monitoring.

Loi sur la lutte contre la violence dans les relations de couple (LVCouple) vom 30. März 2004 des Kantons Neuenburg (RSN 322.05); Loi sur les violences domestiques vom 16. September 2005 des Kantons Genf (F 1 30); Gewaltschutzgesetz vom 19. Juni 2006 des Kantons Zürich (LS 351); Gesetz vom 21. Mai 2010 über den Schutz bei häuslicher Gewalt des Kantons Obwalden (GDB 510.6).

Z.B. Art. 29 f. Polizeigesetz vom 8. Juni 1997 des Kantons Bern (BSG 551.1); § 56 ff.

Polizeigesetz vom 9. November 2011 des Kantons Thurgau (RB 551.1); Art. 43 ff.

Polizeigesetz vom 10. April 1980 des Kantons St. Gallen (sGS 451.1); § 34 Polizeigesetz vom 6. Dezember 2005 des Kantons Aargau (SAR 531.200).

So beispielsweise Art. 6 EGZGB vom 10. Februar 2012 des Kantons Freiburg (SGF 210.1); § 13a ff. EGZGB vom 20. November 2000 des Kantons Luzern (SRL Nr. 200).

Hrubesch-Millauer Stephanie/Vetterli Rolf, Häusliche Gewalt: die Bedeutung des Artikels 28b ZGB, FamPra.ch 2009, 535 ff., 558 m.w.H.

7325

BBl 2017

einen einfachen Zugang zu Schutzmassnahmen, welchen die zivilrechtliche Regelung in dieser Form nicht anbieten kann.45

1.3

Stalking

1.3.1

Begriff

Die vorliegende Revision befasst sich nicht nur mit der häuslichen Gewalt, sondern auch mit dem sog. Stalking. Der Begriff des Stalkings ist dem englischen Jagdjargon entnommen. Er umschreibt das Phänomen der zwanghaften Verfolgung und Belästigung einer Person.46 In der deutschen Rechtssprache werden auch die Begriffe «Nachstellungen» (vgl. Art. 28b ZGB) und «beharrliche Verfolgung» verwendet.47 Eine gefestigte und allgemeingültige Definition für Stalking gibt es nicht.48 Im vorliegenden Kontext kann aber auf die Definition zurückgegriffen werden, die in Artikel 34 der Istanbul-Konvention enthalten ist: Demnach ist unter Stalking das vorsätzliche und wiederholte Bedrohen, Belästigen und Verfolgen einer anderen Person zu verstehen, das diese um ihre Sicherheit fürchten lässt. Dieses persönlichkeitsbeeinträchtigende Verhalten kann sich während der Trennungsphase eines Paares (verheiratet oder nicht) und der Zeit darüber hinaus zutragen (Trennungsstalking) oder wird durch Bekannte (Nachbarn, Arbeitskollegen und -kolleginnen, Kundinnen und Kunden) oder, seltener, durch eine Fremdperson (Fremdstalking) ausgeübt.

Wie bei der häuslichen Gewalt müssen diese spezifischen Besonderheiten des Stalkings mit seinen vielfältigen Ausgestaltungen vom Gesetzgeber, der dem Phänomen mit Massnahmen begegnen will, berücksichtigt werden und verlangen jeweils darauf angepasste Regelungen, soweit dies überhaupt möglich ist.

1.3.2

Statistik

In der Schweiz gibt es keine repräsentativen Untersuchungen zur Verbreitung von Stalking. Die Ergebnisse von internationalen Studien variieren stark. In Kriminali45

46

47 48

Siehe dazu Gloor Daniela/Meier Hanna/Büchler Andrea, Schlussbericht zur Evaluation «Umsetzung und Wirkung von Art. 28b ZGB», 10. April 2015, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Schutz vor häuslicher Gewalt.

Stalking ist kein neues Phänomen; heute kommt ihm aber eine neue Dimension zu, etwa aufgrund des technischen Fortschritts und der neuen Kommunikationsmittel. Vgl.

umfassend Zimmerlin Sven, Stalking ­ Erscheinungsformen, Verbreitung, Rechtsschutz, Sicherheit & Recht 1/2011, 3 ff., 4 f.; Informationsblatt Nr. 7 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt > Informationsblatt 7, 4 (Stand: 25.09.2017).

Vgl. § 238 des deutschen Strafgesetzbuches (Nachstellungen) und § 107a des österreichischen Strafgesetzbuches (beharrliche Verfolgung).

Zimmerlin (Fn. 46), 3; Egger Theres/Jäggi Jolanda/Guggenbühl Tanja, Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking: Übersicht zu national und international bestehenden Praxismodellen, Forschungsbericht, 22. März 2017, 4, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt.

7326

BBl 2017

tätsstatistiken ist von einer Unterschätzung des Phänomens auszugehen, da in gravierenden Stalking-Fällen Verurteilungen für andere Delikte erfolgen.49 So zeigen Untersuchungen zu Tötungsdelikten bei Frauen durch ihre Ex-Partner, dass viele der Opfer zuvor gestalkt worden waren.50 Trotzdem lässt sich festhalten, dass etwa 15­18 Prozent der Frauen und 4­6 Prozent der Männer in ihrem Leben schon einmal Stalking in irgendeiner Form erlebt haben. Fasst man Stalking enger ­ nur Verhalten mit einer bestimmten Frequenz und über längere Dauer, das beim Opfer Angst vor schwerer Gewalt auslöst ­ dann liegt die Prävalenzrate bei rund 8 Prozent bei den Frauen und 2 Prozent bei den Männern.51

1.3.3

Zivilrechtlicher Schutz vor Stalking

Aus zivilrechtlicher Sicht kommt der dargestellten Gewaltschutznorm von Artikel 28b ZGB auch für das Stalking eine grosse Bedeutung zu. 52 Mit der Einführung dieser Bestimmung sollten nicht nur Opfer häuslicher Gewalt, sondern auch Stalkingopfer besser geschützt werden. Namentlich mit den in Artikel 28b Absatz 2 ZGB vorgesehenen Annäherungs-, Rayon- und Kontaktaufnahmeverboten kann im Einzelfall Abhilfe geschaffen werden. Auch hier gilt, dass die Vorkommnisse wiederholt auftreten sowie von einer gewissen Intensität sein und beim Opfer starke Furcht (Hilflosigkeit, Ohnmacht, Gefühl des übermächtigen Bedrängtwerdens) hervorrufen müssen, um zivilrechtlich relevant zu sein.

1.3.4

Strafrechtlicher Schutz vor Stalking

Stalking kann aufgrund verschiedener Straftatbestände verfolgt und bestraft werden.

Infrage kommen insbesondere Körperverletzungen (Art. 122 f. StGB), Tätlichkeiten (Art. 126 StGB), Sachbeschädigung (Art. 144 StGB) und Ehrverletzungen (Art. 173 ff. StGB), der Missbrauch einer Fernmeldeanlage (Art. 179 septies StGB), Drohung (Art. 180 StGB), Nötigung (Art. 181 StGB), Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB) oder sexuelle Belästigungen (Art. 198 StGB).53 Mit Stalking wird oftmals ein dynamischer Prozess eingeleitet. Dieser kann im Extremfall mit schweren körperli49

50

51 52 53

Council of Europe, Parliamentary Assembly, Committee on Equality and NonDiscrimination (2013): Stalking ­ Report, Doc. 13336, 15 October 2013, Rapporteur: Gisela Wurm.

Dressing Harald/Whittaker Konrad/Bumb Malte (2015): Einleitung: Stalking ­ Forschungsstand und rechtliche Möglichkeiten in Deutschland, in: MacKenzie Rachel D., Troy E. McEwan, Michele T. Pathé, David V. James, James R.P. Oglof and Paul E. Mullen (2015): Stalking. Ein Leitfaden zur Risikobewertung von Stalkern ­ das «Stalking Risk Profile», 11-24; McFarlane Judith, Jacquelyn C. Campbell and Kathy Watson (2002): Intimate Partner Stalking and Femicide: Urgent Implications for Women's Safety, Behav Sci Law 20, 51-68, DOI 10.1002./bsl.477.

Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48), 9 f.

Vgl. Ziff. 1.2.3 und 1.2.4.

Neben Tatbeständen des Kernstrafrechts kommen auch etwa Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SR 741.01) in Betracht, vgl.

Zimmerlin (Fn. 46), 18 mit Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts 1P.671/2006 vom 27. Dezember 2006, E. 3.1.

7327

BBl 2017

chen Übergriffen, sexueller Gewalt (Art. 189 ff. StGB) oder gar mit der Tötung des Opfers (Art. 111 ff. StGB) enden.54 Das Bundesgericht hat eine Rechtsprechung zur Nötigung durch Stalking entwickelt und im Jahr 2015 ein früheres Urteil bestätigt: Zwar seien im Gegensatz zum Tatbestand des Stalkings in ausländischen Rechtsordnungen bei der Nötigung nach Artikel 181 StGB die einzelnen Tathandlungen zu beurteilen, und nicht das Gesamtverhalten der beschuldigten Person. Jedoch seien die einzelnen Tathandlungen unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu würdigen: Bei einer Vielzahl von Belästigungen über längere Zeit kumulierten sich deren Einwirkungen. Sobald eine gewisse Intensität erreicht sei, könne jede einzelne Handlung ­ die für sich allein den Anforderungen der Nötigung nicht genügen würde ­ geeignet sein, die Handlungsfreiheit der betroffenen Person in dem Masse einzuschränken, dass ihr eine mit Gewalt oder Drohung vergleichbare Zwangswirkung zukomme. 55 Strafrechtlich nicht erfasst ist damit einzig das sogenannte weiche Stalking. Damit sind Verhaltensweisen gemeint, bei denen eine stalkende Person beispielsweise immer wieder die physische Nähe des Opfers sucht, dieses aber nie erkennbar bedrängt.

1.3.5

Kantonales Recht

Bezüglich des kantonalen Rechts kann auf Ziffer 1.2.6 verwiesen werden.

1.4

Parlamentarische Vorstösse

Ungeachtet des Inkrafttretens der zivilrechtlichen Gewaltschutznorm am 1. Juli 2007 sind die Diskussionen um häusliche Gewalt und Stalking nicht verstummt. Verschiedene parlamentarische Vorstösse befassten sich mit dieser Problematik, und zwar sowohl im Bereich des Straf- als auch des Zivilrechts. Seit Ende 2007 war die häusliche Gewalt im engeren und weiteren Sinn Gegenstand von rund 70 Vorstössen; mit Stalking befassten sich im gleichen Zeitraum zehn Vorstösse.56 Nachfolgend wird auf diejenigen parlamentarischen Vorstösse näher eingegangen, die Anlass für die vorliegend beantragte Neuregelung bilden.

54 55 56

Vgl. Informationsblatt Nr. 7 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (Fn. 46), 1, m.w.Hinw.

BGE 141 IV 437, E. 3.2 in Bestätigung von BGE 129 IV 262, E. 2.4 f.

Die Vorstösse sind auf der Geschäftsdatenbank des Parlaments unter Verwendung entsprechender Suchbegriffe abrufbar, www.parlament.ch > Geschäfte suchen.

7328

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1.4.1

Ankündigung einer Evaluation zur Umsetzung von Artikel 28b ZGB

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 19. November 2008 zur Motion 08.349557 in Aussicht gestellt, Artikel 28b Absatz 1 ZGB zu evaluieren. Darauf nehmen auch die Stellungnahmen des Bundesrates vom 13. Mai 2009 bzw. 23. November 2013 zu drei weiteren parlamentarischen Vorstössen sowie ein Bericht Bezug, der vom Bundesrat ebenfalls am 13. Mai 2009 verabschiedet wurde: ­

Motion 09.305958 (angenommen)59;

­

Motion 09.316960 (abgelehnt);

­

Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 05.369461 über «Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen»62; sowie

­

Motion 13.374263 (erledigt).

Die Evaluation hat gezeigt, dass in verschiedener Hinsicht Handlungsbedarf besteht.

Die entsprechenden Erkenntnisse bilden Grundlage der vorliegenden Revision.

1.4.2

Vollzug mittels elektronischer Vorrichtungen: Motion Perrin (09.4017)

Die Motion 09.401764 verlangt, dass von häuslicher Gewalt betroffene Frauen besser geschützt werden, indem der Täter ein elektronisches Armband oder eine elektronische Fussfessel tragen muss. Das Anliegen der Motion ist somit nicht auf eine Änderung des materiellen Rechts, sondern auf die Vollstreckung gerichtet, indem gewährleistet werden soll, dass zum Schutz des Opfers angeordnete Massnahmen auch durchgesetzt werden können.

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2010 festgehalten, dass er das politische Anliegen der Motion teilt. Allerdings sei für die gerichtliche Anordnung elektronischer Vorrichtungen zur Durchsetzung von Fernhaltemassnahmen gegen gewalttätige Partnerinnen und Partner eine gesetzliche Grundlage erforderlich, die zurzeit nicht bestehe. Diese müsse zuerst geschaffen werden.

57 58 59 60 61 62 63 64

Motion Fiala «Stalking» (08.3495) vom 18. September 2008.

Motion Heim «Eindämmung der häuslichen Gewalt» (09.3059) vom 5. März 2009.

Vgl. dazu sowie zum entsprechenden Bericht des Bundesrates vom 28. Januar 2015 Ziff. 1.4.3 und 1.5.2.

Motion Geissbühler «Häusliche Gewalt entweder als Offizialdelikt oder als Antragsdelikt» (09.3169) vom 18. März 2009.

Postulat Stump «Ursachen von Gewalt untersuchen und Massnahmen dagegen ergreifen» (05.3694) vom 7. Oktober 2005.

Bericht Po. Stump (Fn. 1), BBl 2009 4087, 4112.

Motion Fiala «Stalking-Thema nicht auf die lange Bank schieben» (13.3742) vom 19. September 2013.

Motion Perrin «Geschlagene Frauen schützen» (09.4017) vom 25. November 2009.

7329

BBl 2017

Der Nationalrat hat der Motion am 3. März 201065, der Ständerat am 30. Mai 201166 zugestimmt.

1.4.3

Untersuchung der Einstellungspraxis: Motion Heim (09.3059)

Die Motion 09.305967 betrifft Artikel 55a StGB. Die Motionärin beanstandet, dass eine Wiederanhandnahme des Strafverfahrens nur auf Antrag des Opfers möglich ist. Auch erachtet sie als unbefriedigend, dass die kantonalen Behörden Strafverfahren trotz wiederholter Gewalt einstellen. Der Bundesrat sollte daher beauftragt werden, einen Bericht zur Einstellungspraxis zu erstellen und gestützt darauf die nötigen Massnahmen zu unterbreiten, um die Gewalt einzudämmen und die Opfer zu stärken. Dabei seien unter anderem Massnahmen zu evaluieren, die eine Verfahrenseinstellung mit der Absolvierung eines Lernprogramms gegen Gewalt verknüpfen.

Mit Blick auf die verlangte Evaluation haben die eidgenössischen Räte die Motion in einen Prüfungsauftrag umgewandelt (vgl. Art. 120 und 123 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 200268; ParlG).69 Der Bundesrat wurde beauftragt, gestützt auf den Bericht zur Einstellungspraxis zu prüfen, ob Massnahmen zur Eindämmung der Gewalt und zur Stärkung der Opfer zu treffen sind. Insbesondere sind dabei Massnahmen zu evaluieren, die darauf abzielen, dass:

65 66 67 68 69

1.

die provisorische Einstellung des Verfahrens auf Antrag an die Bedingung des Besuchs eines Lernprogramms gegen Gewalt respektive die definitive Verfahrenseinstellung an die Bedingung der erfolgreichen Absolvierung des Lernprogramms einerseits und an das Nichtwiederauftreten dieser Gewalttaten durch die Tatperson andererseits geknüpft wird;

2.

das Verfahren von Amtes wegen wieder aufgenommen wird, wenn sich die Tatperson dem Programm entzieht und/oder innerhalb von sechs Monaten seit der provisorischen Einstellung die Tatperson erneut wegen Gewalt gegen das Opfer angeklagt und ein Verfahren gegen sie eingeleitet wird;

3.

die Einstellung des Verfahrens bei wiederholter Gewalt der Tatperson gegen das Opfer nicht mehr möglich ist respektive das Verfahren von Amtes wegen wieder aufgenommen wird.

AB 2010 N 92 AB 2011 S 357 Motion Heim «Eindämmung der häuslichen Gewalt» (09.3059) vom 5. März 2009.

SR 171.10 AB 2009 S 1306 ff.; AB 2010 N 130 ff.

7330

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1.4.4

Anhörung des Opfers: Motion Keller-Sutter (12.4025)

Auch die Motion 12.402570 zielt auf eine Änderung von Artikel 55a StGB. Sie verpflichtet den Bundesrat, Absatz 2 dieser Bestimmung dahingehend anzupassen, dass das Opfer vor einer Einstellung des Strafverfahrens noch einmal angehört wird.

Die Äusserungen des Opfers seien im Rahmen eines allfälligen Einstellungsentscheids zu berücksichtigen. Diesen konkreten Änderungsantrag begründet die Motionärin damit, dass eine erneute Anhörung zu einer Bestrafung des Täters führen könne, wenn sich dessen Verhalten seit der Sistierung nicht entscheidend geändert habe. Die Strafverfolgungsbehörden dürften nicht erst aktiv werden, wenn die Gewalt erneut eskaliere. Gewaltsituationen, die jahrelang dauern könnten, müsse entschlossen entgegengetreten werden. Die Motion wurde vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und von den eidgenössischen Räten angenommen.

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 20. Februar 2013 zu dieser Motion auf die Motion 09.3059 verwiesen und erklärt, dass die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Einstellungspraxis in die Revision von Artikel 55a StGB einfliessen müssen, damit eine in sich stimmige Gesamtrevision erfolgen kann. Der Bundesrat hat signalisiert, Artikel 55a StGB einer umfassenden Überprüfung unterziehen zu wollen.

1.5

Evaluation und Untersuchung der bestehenden Instrumente

1.5.1

Evaluation von Artikel 28b ZGB

Ausgangslage Bereits etwas mehr als ein Jahr nach Inkrafttreten der zivilrechtlichen Bestimmung stellte der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 19. November 2008 zur Motion 08.349571 in Aussicht, dass er «die praktische Umsetzung von Artikel 28b Absatz 1 ZGB genau beobachten und dessen Wirksamkeit evaluieren» werde. Mit der Verabschiedung des Berichts des Bundesrates über «Gewalt in Paarbeziehungen. Ursachen und in der Schweiz getroffene Massnahmen» hat der Bundesrat das Bundesamt für Justiz damit beauftragt, die Umsetzung von Artikel 28b ZGB zu evaluieren und dabei zu beleuchten, in welcher Weise allfällige prozessuale Hürden (Beweispflicht, Kostenfolgen) die Wirksamkeit der Bestimmung beeinflussen.72 Am 5. Februar 2014 schrieb das Bundesamt für Justiz die Evaluation der Wirksamkeit von Artikel 28b ZGB aus und betraute damit in der Folge die Social Insight GmbH in Zusammenarbeit mit Frau Prof. Dr. iur. Andrea Büchler, Universität Zürich. Die Evaluation dauerte von Juni 2014 bis März 2015.

70 71 72

Motion Keller-Sutter «Opfer häuslicher Gewalt besser schützen» (12.4025) vom 29. November 2012.

Motion Fiala «Stalking» (08.3495) vom 18. September 2008.

Bericht Po. Stump (Fn. 1), BBl 2009 4112.

7331

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Ziel der Evaluation Ziel der Evaluation war es zu erfahren, wie sich der zivilrechtliche Gewaltschutzartikel in der Praxis bewährt. Da die Form des Zivilverfahrens daran anknüpft, ob verletzende und verletzte Personen miteinander verheiratet sind, wurde die Evaluation entsprechend den beiden möglichen Verfahrenstypen unterteilt in Schutzmassnahmen in eherechtlichen Verfahren (Eheschutz, Trennung, Scheidung) und in solche ausserhalb eherechtlicher Verfahren für unverheiratete Paare.73 Von Belang war zudem die Bedeutung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes in Fällen von Stalking (nacheheliches/nachpartnerschaftliches Stalking sowie Stalking unter einander fremden Personen). Von Interesse war ferner zu erfahren, wie die Schnittstellen zu den verschiedenen Gerichts- und Verwaltungsbehörden sowie zu weiteren involvierten Fachpersonen und der Austausch von Informationen unter diesen sichergestellt werden und welche Folgen eine Nichtbeachtung der gerichtlich angeordneten Schutzmassnahmen durch die Tatperson hat.

Aus dem Ergebnis der Evaluation sollte festgestellt werden können, ob Anpassungen des zivilrechtlichen Gewaltschutzes notwendig sind. Da nicht nur materiell-rechtliche, sondern auch prozessuale Bestimmungen die Wirksamkeit einer Regelung beeinflussen, mussten prozessuale Überlegungen in die Evaluation miteinbezogen werden, dies umso mehr, als die zivilrechtlichen Schutzmassnahmen in einem Zivilverfahren durch ein Gericht angeordnet werden müssen und deren Vollzug in der Kompetenz der Kantone liegt. Die Evaluation sollte daher auch aufzeigen, ob eine Anpassung prozessualer Bestimmungen, insbesondere der ZPO, notwendig ist.

Vorgehen Die Evaluation umfasste eine schriftliche Befragung erstinstanzlicher Gerichte, von Anwältinnen und Anwälten sowie von Opferberatungsstellen und (soweit vorhanden) Frauenhäusern in allen Kantonen. Zusätzlich zur schriftlichen Befragung fanden elf Expertengespräche mit Personen und Institutionen statt, die potenziell mit Artikel 28b ZGB befasst sind.

Evaluationsergebnisse74 Den Ergebnissen der Evaluation lässt sich entnehmen, dass sich der zivilrechtliche Gewaltschutz entgegen der Absicht des Gesetzgebers nicht zu einem Instrument entwickelt hat, das von gewaltbetroffenen Personen häufig in Anspruch genommen wird. Seitens der befragten Personen wurden Zweifel
an der Nützlichkeit von Artikel 28b ZGB geäussert. Dies gelte, so der Schlussbericht, sowohl für die Schutzmassnahmen bei häuslicher Gewalt als auch in Fällen von Stalking.

Dabei zeigte sich, dass vor allem das zur Geltendmachung des Anspruchs notwendige Verfahren sowie die Durchsetzung von gerichtlich angeordneten Schutzmassnahmen Probleme aufwerfen. Folgende Punkte wurden von den befragten Personen kritisch vermerkt:

73 74

Vgl. Ziff. 1.2.4 unter «Art. 28b ZGB: Prozessuale Aspekte (ZPO)».

Vgl. dazu Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45).

7332

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­

Hohe prozessuale Anforderungen: Die befragten Personen beurteilten die Verfahrensführung auf Basis der Dispositionsmaxime als schwierig bis kaum realistisch für eine gewaltbetroffene Person. Zudem würde die Kostenfolge abschrecken: die Leistung von Kostenvorschüssen, das Kostenrisiko bei einer allfälligen Ablehnung der Klage sowie die Rückforderung geleisteter Vorschüsse von der beklagten (gewaltausübenden) Person. Hinzu komme die psychische Belastung, wenn die gewaltbetroffene Person der Tatperson im Prozess begegnen müsse. Als negativ erscheine zudem, dass für verheiratete und unverheiratete Paare unterschiedliche Verfahren Anwendung fänden, wobei die Hürden für gewaltbetroffene Personen, die nicht verheiratet sind, höher seien.

­

Mangelnder Vollzug: Nicht selten könnten die Schutzmassnahmen kaum durchgesetzt werden. Das liege daran, dass die Strafandrohung im Zivilurteil teilweise gar nicht erwähnt werde. Aber auch dort, wo dies nicht der Fall sei, würden Sanktionen selbst dann häufig ausbleiben, wenn die Tatperson erneut Gewalt angewendet habe. Die befragten Personen sind zudem der Ansicht, dass die Androhung einer Busse gemäss Artikel 292 StGB wenig Wirkung zeigen würde.

Negativ bewertet wurde der zivilrechtliche Gewaltschutz zudem aus folgenden Gründen: ­

Unterschiedliche Gerichtspraxen: Zwischen, aber auch innerhalb der Kantone würden Begehren um Schutzmassnahmen uneinheitlich gehandhabt, so insbesondere bei der Ausgestaltung der Schutzmassnahmen, wenn minderjährige Kinder mitbetroffen sind, sowie bei der Festlegung der Kosten. Für die Opfer sei häufig unklar, womit sie rechnen können, wenn sie zivilrechtliche Schutzmassnahmen beantragen würden.

­

Mangelnde Koordination von polizeilichen und zivilrechtlichen Massnahmen: Insbesondere die unterschiedlichen Fristen würden für Gewaltbetroffene zu hohen Hürden führen, wenn fixe Fristen des Polizeirechts entweder zu kurz seien oder aber zu kurz angesetzt würden, sodass polizeiliche Massnahmen auszulaufen drohen oder gar auslaufen, noch bevor der zivilrechtliche Gewaltschutz greifen bzw. in Anspruch genommen werden könne.

­

Mangelnde Unabhängigkeit des Zivilverfahrens: Die Evaluation zeigt auch, dass der Erlass von Massnahmen nach Artikel 28b ZGB nicht selten an das Vorhandensein strafrechtlicher Indizien geknüpft wird. Schutzmassnahmen würden eher erlassen, wenn auch eine Strafanzeige eingereicht oder polizeiliche Schutzmassnahmen wie beispielsweise eine Wegweisung in Anspruch genommen worden seien.

­

Fehlende Informationen über zivilrechtliche Schutzmassnahmen: Über das Bestehen von zivilrechtlichen Schutzmassnahmen werden Stellen wie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), die Polizei oder die Staatsanwaltschaft unterschiedlich häufig informiert. Sind minderjährige Kinder von häuslicher Gewalt oder Stalking zumindest mitbetroffen, so wird in der Hälfte bis zwei Dritteln der Fälle die KESB darüber informiert. Ohne entsprechenden Antrag bezieht das Gericht nur erwachsene Personen in den 7333

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Erlass von Schutzmassnahmen ein; die Belange minderjähriger Kinder würden hingegen nicht mitberücksichtigt und daher auch nicht geregelt. In weniger als der Hälfte der Fälle erfolgt eine Information der Staatsanwaltschaft und am seltensten werden Informationen über Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB an die Polizei weitergeleitet.

­

Mangelhafte Regelung des Besuchsrechts: Wird als zivilrechtliche Schutzmassnahme ein Kontaktverbot gegenüber der Tatperson ausgesprochen, so kollidiert dieses mit ihrem Besuchsrecht. Das Besuchsrecht müsste somit unter Berücksichtigung der besonderen Umstände geregelt werden. Das sei vielfach nicht der Fall. So würden in den Kantonen beispielsweise häufig die notwendigen personellen Ressourcen für begleitete Formen des Besuchsrechts fehlen.

­

Mangelhafter Schutz bei Stalking: In Fällen von Stalking (Beziehungs- bzw.

Trennungsstalking sowie Stalking durch Fremdpersonen) werde Artikel 28b ZGB kaum genutzt. Dies liege einerseits an den bereits erwähnten Mängeln der zivilrechtlichen Gewaltschutzbestimmung (hohe prozessuale Hürden, mangelnde Durchsetzbarkeit gerichtlicher Anordnungen), andererseits auch daran, dass der zivilrechtliche Weg in solchen Fällen ohnehin nicht greife, weil die Erfahrungen zeigen würden, dass Tatpersonen mit dem Stalking eher dann aufhören würden, wenn sie in Untersuchungshaft gewesen seien, folglich mit einem Strafverfahren konfrontiert worden seien.

Fazit: Die Evaluation von Artikel 28b ZGB hat ergeben, dass der zivilrechtliche Gewaltschutz von den Befragten eher als eine Möglichkeit mit symbolischer Bedeutung wahrgenommen wird und weniger als eine effektive und effiziente Hilfe bei häuslicher Gewalt und Stalking. Nach Meinung der Evaluatorinnen gründen die Schwierigkeiten «nicht nur in der materiellen Ausgestaltung von Art. 28b ZGB. Sie stehen vielmehr auch ­ zentral ­ im Zusammenhang mit verfahrensrechtlichen Regelungen (ZPO) und der Situierung von Art. 28b ZGB im Gesamtkontext von kantonalen und nationalen Regelungen bei häuslicher Gewalt.»75 Die Evaluatorinnen weisen auf eine Dysfunktionalität von Artikel 28b ZGB hin, deren Ursache aber nicht (allein) in einer bestimmten Formulierung oder Voraussetzung des Gesetzes zu finden ist, sondern dem System immanent erscheint: «Zivilprozessuale Bedingungen, ungeklärtes Verhältnis zwischen Straf-, Strafprozess-, Polizei- und Zivilrecht und den entsprechenden Behörden, grosse kantonale Unterschiede in der praktischen Anwendung und die Zivilstandsabhängigkeit der Verfahren sind alles problematische Aspekte eines Systems, das keine innere Kohärenz zum Schutz der Opfer aufweist.»76

75 76

Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45), 78.

Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45), 78.

7334

BBl 2017

1.5.2

Untersuchung der Praxis zu Artikel 55a StGB

Ziele der Untersuchung und Vorgehen In Erfüllung der Motion 09.3059 untersuchte der Bundesrat die Einstellung der Strafverfahren bei Gewalt in Paarbeziehungen. Der entsprechende Bericht datiert vom 28. Januar 2015.77 Geprüft wurde, ob sich die Einstellungspraxis aufgrund der Einführung von Artikel 55a StGB geändert hat und worauf die Einstellungen zurückzuführen sind. Es wurden Probleme bei Strafverfahren wegen Gewalt in Paarbeziehungen aufgedeckt und zu ihrer Lösung verschiedene Massnahmen dargestellt.

Der Bericht stützt sich in erster Linie auf bereits vorhandene Ergebnisse einschlägiger Studien. In Ergänzung dazu wurde eine Befragung von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten durchgeführt, um die Ergebnisse der Datenerhebungen zu validieren und ihre Erfahrungen und Anliegen zum Thema zusammenzutragen.78 Ergebnisse Grundlage des Berichts des Bundesrates zur Motion 09.3059 sind fünf Datenerhebungen zur Einstellungspraxis79 und drei Berichte80. Aus diesen lassen sich keine für die gesamte Schweiz gültigen Zahlen zu den Einstellungen ableiten. Die Studien untersuchen die Einstellungspraxis mit jeweils unterschiedlichen Fragestellungen, betreffen unterschiedliche Zeiträume und beziehen sich auf bestimmte Kantone.

Auch differenziert nur eine einzige Studie danach, ob sich die Einstellung eines Verfahrens auf Artikel 55a StGB stützt oder auf eine andere Bestimmung.81 Dennoch ist aus den vorhandenen Daten die Tendenz erkennbar, dass die Sistierungs77

78 79

80

81

Bericht des Bundesrates zur Motion 09.3059 Heim, Eindämmung der häuslichen Gewalt vom 28. Januar 2015, abrufbar unter: www.parlament.ch > Geschäfte suchen > unter Geschäftsnummer 09.3059 eingeben > 09.3059 Eindämmung der häuslichen Gewalt.

Vgl. Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 6 f.

Colombi Roberto, Offizialisierung häuslicher Gewalt am Beispiel der Stadt Zürich: eine dogmatische und empirische Studie, Diss. Zürich 2009; Riedo (Fn. 35), 420 ff.; Baumgartner-Wüthrich Barbara, Die Einstellung des Verfahrens bei häuslicher Gewalt ­ Erfahrungen mit Art. 55a StGB im Kanton Bern, Masterarbeit HSW Luzern/CCFW 2007, abrufbar unter: www.unilu.ch > Weiterbildung > Rechtswissenschaftliche Fakultät > Staatsanwaltsakademie > MAS Forensics > Masterarbeiten MAS Forensics 1; Frauchiger Thomas/Jobin Catherine/Miko Iso Isabel, Monitoring häusliche Gewalt im Kanton BaselStadt, Berichterstattung an den Departementsvorsteher, 26. Oktober 2012, abrufbar unter: www.jsd.bs.ch > Medien > Dokumentationen; Baumann Isabelle/Killias Martin, Kosten der Staatsanwaltschaften für Fälle von häuslicher Gewalt, Kostenschätzung betreffend Fälle von häuslicher Gewalt in der Schweiz anhand von Daten der Staatsanwaltschaften der Kantone Aargau, Schwyz, Waadt und Zürich», Zürich 2013, abrufbar unter: www.rwi.uzh.ch > Lehre & Forschung > Ehemalige > Lehrstuhl Killias > Publikationen.

Zoder Isabel, Polizeilich registrierte häusliche Gewalt ­ Übersichtspublikation, Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Neuenburg 2012, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Publikationen zu Gewalt; Fliedner Juliane/Schwab Stephanie/Stern Susanne/Iten Rolf, Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen, Forschungsbericht, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (Hrsg.), Zürich 2013, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Forschungsbericht Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen. (Stand: 25.1.2017); Bericht des Bundesrates vom 27. Februar 2013 in Erfüllung des Postulats Fehr 09.3878, «Mehr Anzeigen, mehr Abschreckung», abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen.

Frauchiger/Jobin/Miko Iso (Fn. 79).

7335

BBl 2017

und Einstellungsquote bei einfacher Körperverletzung, wiederholten Tätlichkeiten, Drohung und Nötigung in Paarbeziehungen in allen Kantonen sehr hoch ist. Je nach Studie beträgt die Einstellungsquote zwischen 53 % und 92 %. Dies entspricht auch der Einschätzung von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten anlässlich der Befragung durch das Bundesamt für Justiz.

Die Mehrzahl aller Verfahren wegen Gewalt in Paarbeziehungen wird somit eingestellt.82 Dies gilt sowohl für Strafverfahren vor als auch für solche nach der Offizialisierung der Delikte und der damit einhergehenden Einführung von Artikel 55a StGB. Die Zahl der Einstellungen verringerte sich nach der Revision von 2004 nur geringfügig.83

2

Weitere Arbeiten

2.1

Vorentwurf und Vernehmlassung

Die Überweisung der verschiedenen Vorstösse durch das Parlament84, die Ergebnisse der durchgeführten Evaluation und Untersuchung der bestehenden Instrumente85 sowie die statistischen Zahlen machten deutlich, dass sowohl im Bereich der häuslichen Gewalt als auch des Stalking weiterhin gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.

Der Bundesrat eröffnete deshalb am 7. Oktober 2015 eine Vernehmlassung zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen. Zur Verbesserung der Wirksamkeit der zivilrechtlichen Gewaltschutznorm von Artikel 28b ZGB schlug der Bundesrat vor, gewisse zivilprozessuale Hürden abzubauen, die sich bei der Evaluation von Artikel 28b ZGB gezeigt haben. So sollten der verletzten Person bei Verfahren nach Artikel 28b ZGB im Entscheidverfahren keine Gerichtskosten mehr überbunden werden und ein Schlichtungsverfahren in allen Fällen entfallen. Um die Schnittstellenproblematik zu entschärfen, schlug der Bundesrat ausserdem vor, dass das Gericht seinen Entscheid den Strafverfolgungsbehörden, der zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, der kantonalen Interventionsstelle sowie allfällig weiteren betroffenen Personen mitteilen muss. Zur besseren Durchsetzbarkeit angeordneter Schutzmassnahmen und in Erfüllung der Motion 09.4017 schlug der Bundesrat weiter vor, eine gesetzliche Grundlage für die gerichtliche Anordnung einer elektronischen Vorrichtung zu schaffen, mit der ein gerichtlich angeordnetes Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot überwacht und kontrolliert werden kann, indem die Tatperson einen elektronischen Sender in der Form eines Armbands oder einer Fussfessel trägt.

Strafrechtlich sollte die Sistierung und Einstellung von Strafverfahren wegen einfacher Körperverletzung, wiederholter Tätlichkeiten, Drohung oder Nötigung in Paarbeziehungen neu geregelt werden. Erstens sollte der Entscheid über den Fortgang 82 83 84 85

Zum Ganzen Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 17 ff. und 21.

Colombi (Fn. 79), 306 ff. In der Stadt Zürich sank die entsprechende Einstellungsquote von 72.4 % im Jahr 2003 lediglich auf 66.1 % im Jahr 2005.

Vgl. Ziff. 1.4.

Vgl. Ziff. 1.5.

7336

BBl 2017

des Strafverfahrens nicht mehr ausschliesslich von der Willensäusserung des Opfers abhängig sein. Die Verantwortung über Sistierung, Wiederanhandnahme oder Einstellung des Verfahrens sollte vielmehr bei den Behörden liegen, die neben der Erklärung des Opfers auch weitere Umstände berücksichtigen und würdigen. Dabei sollte auch das Verhalten der beschuldigten Person Berücksichtigung finden, so etwa der Umstand, dass diese ein Lernprogramm gegen Gewalt besucht. Zweitens sollten Verfahren bei Verdacht auf wiederholte Gewalt nicht mehr sistiert werden können.

Wurde die beschuldigte Person bereits wegen eines Delikts gegen Leib und Leben, die Freiheit oder die sexuelle Integrität gegenüber dem aktuellen oder einem früheren Partner verurteilt, so sollte eine Sistierung nicht mehr zulässig sein. Drittens sollte das Opfer vor der Einstellung noch einmal angehört werden und seinen Willen zur Verfahrenseinstellung bestätigen. Verzichtet wurde dagegen auf die Einführung eines besonderen Straftatbestandes gegen Stalking.

2.2

Ergebnisse der Vernehmlassung86

Im Rahmen der Vernehmlassung haben 25 Kantone, 6 politische Parteien und 27 Organisationen zum Vorentwurf Stellung genommen. Insgesamt gingen damit 58 Stellungnahmen ein.

2.2.1

Allgemeine Beurteilung

Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vernehmlassung begrüssen oder anerkennen die Bemühungen des Bundesrates um eine Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen oder deren Stossrichtung zumindest im Grundsatz. Zu verschiedenen Punkten des Vorentwurfs wurde dabei aber teilweise auch Kritik geübt und spezifische Anregungen zur Verbesserung der Vorlage unterbreitet.

2.2.2

Zivilgesetzbuch und Zivilprozessordnung

Zu den Vorschlägen zum zivilrechtlichen Gewaltschutz haben die Vernehmlassungsteilnehmenden wie folgt Stellung genommen: ­

86

Mitteilungspflicht von Gewaltschutzentscheiden an andere Behörden (Art. 28b Abs. 3bis VE-ZGB): Die grosse Mehrheit der Teilnehmenden begrüsst die Pflicht, Entscheide des Zivilgerichts der KESB und der Kriseninterventionsstelle mitzuteilen. Einigen wenigen geht diese Pflicht jedoch nicht weit genug. Gefordert werden einerseits eine Erweiterung des Adressatenkreises und andererseits eine weniger restriktive Formulierung.

Detaillierte Angaben zum Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens finden sich im «Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens»: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Schutz vor häuslicher Gewalt.

7337

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­

Weiterbildungspflicht (Art. 28b Abs. 4 Satz 2 VE-ZGB): Die Weiterbildungspflicht für Personen bei der Kriseninterventionsstelle nach Artikel 28b Absatz 4 ZGB sowie bei den Zivilgerichten wird kontrovers aufgenommen.

Zwar ist eine Mehrheit der sich dazu äussernden Vernehmlassungsteilnehmenden der Bestimmung gegenüber positiv eingestellt; gewichtige Stimmen melden aber auch ihre Vorbehalte an. Eine kleine Zahl wünscht sich zudem eine Ausweitung der Weiterbildungspflicht auf alle Personen, die mit gewaltbetroffenen Personen zu tun haben.

­

Elektronische Überwachung (Art. 28c VE-ZGB): Zur neuen Bestimmung über die elektronische Überwachung sind im Bereich des Zivilrechts die meisten und auch differenziertesten Antworten eingegangen. Der Vorentwurf des Bundesrates hatte im Ergebnis eine aktive Überwachung in Echtzeit vorgesehen. Dabei sollten die laufend eingehenden Positionsdaten der überwachten Person in einer Überwachungszentrale während 24 Stunden an allen Wochentagen sofort ausgewertet werden. Zeigt sich, dass sich die gefährdende Person nicht an die Vorgaben hält, könnten sofort die notwendigen Massnahmen getroffen und beispielsweise das Opfer informiert oder die Polizei aufgeboten werden. Viele der Stellungnahmen haben sich intensiv mit diesem Vorschlag auseinandergesetzt und ihn umfassend kommentiert.

Die Einführung einer elektronischen Überwachung im Zivilrecht wird dabei kontrovers beurteilt. Auf den ersten Blick sieht die Einführung einer solchen Massnahme für sehr viele Vernehmlassungsteilnehmende nach einer begrüssenswerten Lösung aus. Bei der vertieften Auseinandersetzung mit ihrer Umsetzung (technische Anforderungen bzw. praktische Möglichkeiten und Grenzen sowie Voraussetzungen) äussert sich eine grosse Zahl von ihnen jedoch kritisch. Neben verschiedenen dogmatischen Bedenken wurde vor allem vorgebracht, dass die lückenlose und dauernde Überwachung einer Vielzahl von Personen in Echtzeit (aktive Überwachung) zurzeit kaum möglich sei. Weder könne der Aufenthaltsort dauernd bestimmt noch ein Verstoss sofort festgestellt werden. Vielmehr erfolge die Überwachung passiv und retrospektiv und erlaube daher keine unmittelbare Intervention durch die Polizei. Im Übrigen sei die Ortungssicherheit je nach System teilweise sehr ungenau (zwischen 30 m und 25 km), und immer wieder würden Überwachungslücken auftreten, die mehrere Minuten dauern können. Ein Unterbruch aufgrund eines Verbindungsunterbruchs werde zudem erst nach 45 Minuten durch das System gemeldet. Die elektronische Überwachung könne selbst bei ununterbrochener behördlicher Überwachung die Sicherheit gefährdeter Personen nicht gewährleisten. Schliesslich wurden auch Befürchtungen im Hinblick auf den zu erwartenden finanziellen Aufwand geäussert. Um die Kosten tiefer zu halten und auch, um eine Rechtszersplitterung zu vermeiden, sei zu prüfen, ob nicht eine gesamtschweizerische
Lösung eingeführt werden könne. Verlangt wurden auch die Einführung einschneidender Sanktionen für den Fall der Zuwiderhandlung gegen entsprechende Anordnungen, flankierende Massnahmen (zum Beispiel obligatorischer Kurse oder Therapien sowie eine intensivere Begleitung, um eine nachhaltige Sinnes- und Verhaltensänderung bei der Tatperson zu bewir-

7338

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ken), eine klare Regelung, um den Datenschutz zu gewährleisten sowie eine sinnvolle gesetzliche Kostenregelung zulasten der Tatperson.

­

Wegfall der Gerichtskosten (Art. 114 Bst. f VE-ZPO): Die grosse Mehrheit der Stellungnahmen begrüsst ­ wenn auch nicht immer uneingeschränkt ­ den Vorschlag des Bundesrates, wonach der klagenden Person (Opfer) im Entscheidverfahren wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b und zur Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c VE-ZGB keine Gerichtskosten auferlegt werden sollen.

­

Wegfall des Schlichtungsverfahrens (Art. 198 Bst. abis VE-ZPO): Der Vorschlag, bei Klagen wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b und betreffend die Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c VE-ZGB das Schlichtungsverfahren zu streichen, wurde von allen Teilnehmenden begrüsst.

­

Vereinfachtes Verfahren (Art. 243 Abs. 2 Bst. b VE-ZPO): Die Unterstellung der neuen Bestimmung über die elektronische Überwachung nach Artikel 28c VE-ZGB unter das vereinfachte Verfahren gemäss Artikel 243 Absatz 2 Buchstabe b VE-ZPO wurde allgemein begrüsst.

2.2.3

Strafgesetzbuch und Militärstrafgesetz

Zu den Vorschlägen zum strafrechtlichen Schutz vor Gewalt in Paarbeziehungen haben sich die Vernehmlassungsteilnehmenden wie folgt geäussert: ­

Sistierung des Verfahrens (Art. 55a Abs. 2 VE-StGB): Der Vorschlag, dass die Sistierung nicht mehr allein vom Willen des Opfers abhängen und eine Interessenabwägung eingeführt werden soll, fand in der Vernehmlassung breite Zustimmung. Die konkrete Ausgestaltung von Absatz 2 wurde jedoch in verschiedenster Hinsicht kritisiert. So wurde insbesondere der Katalog der Kriterien, die bei der Sistierung zu berücksichtigen sind, von einigen Teilnehmenden als zu lang und detailliert empfunden. Sie sprachen sich für eine Vereinfachung bzw. Reduktion des Katalogs aus oder bevorzugten eine offene Klausel.

Zudem kritisierten einige Teilnehmende, dass bei der Sistierung lediglich der freiwillige Besuch eines Lernprogramms gegen Gewalt berücksichtigt werden kann. Gefordert wurde eine obligatorische Verknüpfung oder ein klarerer Anreiz zum Besuch eines Lernprogramms gegen Gewalt. Dabei wurde betont, dass dieses auch Sinn mache, wenn die beschuldigte Person zu Beginn nicht dazu motiviert sei.

­

Unzulässigkeit der Sistierung bei Verdacht auf wiederholte Gewalt (Art. 55a Abs. 3 VE-StGB): Auch der Vorschlag, wonach eine Sistierung unzulässig sein soll, wenn Verdacht auf wiederholte Gewalt in der Paarbeziehung vorliegt, wurde von vielen Stellungnahmen begrüsst. Doch verlangten verschiedene, dass Ausnahmen von der Unzulässigkeit der Sistierung möglich sein müssen. Verschiedenen Vernehmlassungsteilnehmenden ging es zudem nicht weit genug, dass eine Sistierung nur unzulässig sein soll, wenn die beschul7339

BBl 2017

digte Person wegen bestimmter Straftaten rechtskräftig verurteilt worden ist.

Sie forderten, dass auch wiederholte Verfahrenssistierungen bzw. Strafanzeigen oder Polizeiinterventionen eine Sistierung ausschliessen.

­

Wiederanhandnahme des Verfahrens (Art. 55a Abs. 4 VE-StGB): Es wurde allgemein begrüsst, dass bei der Frage der Wiederanhandnahme des Verfahrens eine Interessenabwägung eingeführt werden soll. Einzelne Vernehmlassungsteilnehmende äusserten sich kritisch zum Vorschlag und forderten etwa eine längere Frist zur Wiederanhandnahme des Verfahrens.

­

Einstellung des Verfahrens (Art. 55a Abs. 5 VE-StGB): Neben der allgemeinen Zustimmung zu einer Interessenabwägung auch bei der Einstellung des Verfahrens äusserten sich die Vernehmlassungsteilnehmenden insbesondere zur Anhörung des Opfers vor diesem Verfahrensschritt. Dieser Vorschlag wurde kontrovers aufgenommen. Einige Vernehmlassungsteilnehmende begrüssten, dass das Opfer vor der Einstellung des Verfahrens (zwingend und systematisch) anzuhören ist. Umgekehrt lehnten einige Vernehmlassungsteilnehmende die Anhörung des Opfers vor der Einstellung des Verfahrens oder zumindest ein Obligatorium der Anhörung ab. Geltend gemacht wurde etwa, die Anhörung führe zu einem massiven Mehraufwand für die Strafbehörden, während die Bedeutung der (nochmaligen) Anhörung des Opfers nicht überschätzt werden dürfe. Die Anhörung belaste das Opfer zudem erneut und beeinflusse seine Gesamtsituation negativ.

­

Weitere Vorschläge und Anregungen: In verschiedenen Stellungnahmen wurde bedauert, dass die vorliegende Revision des StGB nicht zum Anlass genommen werde, einen Straftatbestand gegen Stalking einzuführen. Teilweise wurden ausserdem auch Anpassungen der StPO verlangt, etwa die Kostenlosigkeit des Strafverfahrens, um den Opferschutz sicherzustellen.

3

Die Grundzüge der beantragten Neuregelung

3.1

Überblick und Ziele der Vorlage

Wie unter Ziffer 1.5.1 (Evaluationsergebnisse) bereits erwähnt, hat die Evaluation von Artikel 28b ZGB aufgezeigt, dass vor allem die praktische Umsetzung und die prozessuale Anwendung des zivilrechtlichen Gewaltschutzes verbessert werden müssen. Unzureichend sind vorab verfahrensrechtliche Aspekte, aber auch die mangelnde Durchsetzbarkeit der vom Gericht angeordneten Schutzmassnahmen. Der Bundesrat schlägt vor, diese Mängel durch verschiedene punktuelle Anpassungen zu beseitigen. Dazu gehört auch die mit der Motion 09.4017 verlangte Einführung einer elektronischen Überwachung, mit der die Möglichkeit geschaffen werden soll, zivilrechtliche Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbote mittels moderner elektronischer Technik durchzusetzen, um so insbesondere Opfer von Stalking in Zukunft besser zu schützen. Aufgrund der Stellungnahmen in der Vernehmlassung wurde die im Vorentwurf vorgeschlagene Regelung allerdings stark überarbeitet.

7340

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Die im Strafrecht vorgeschlagenen Änderungen gehen auf den Bericht zur Motion 09.305987 und auf die Motion 12.4025 zurück. Mit diesen werden die Erkenntnisse, zu denen der Bundesrat im Bericht zur Motion 09.3059 gekommen ist, und das Anliegen der Motion 12.4025 aufgenommen und im Lichte der Vernehmlassungsergebnisse umgesetzt. Ziel ist es, das Opfer zu entlasten und der Behörde mehr Ermessen einzuräumen. Gleichzeitig soll die beschuldigte Person besser in das Verfahren eingebunden werden.

So soll der Entscheid über den Fortgang des Verfahrens nicht mehr allein vom Willen des Opfers abhängen. Zwar ist nach wie vor vorausgesetzt, dass das Opfer um die Sistierung ersucht. Doch wird der Entscheid in die Verantwortung der Behörde gelegt: Sie muss weitere Umstände berücksichtigen und beurteilen, ob die Sistierung geeignet ist, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern.

Im Falle einer Sistierung kann die Behörde die beschuldigte Person dazu verpflichten, ein Lernprogramm gegen Gewalt zu besuchen. Eine Sistierung soll sodann nicht mehr zulässig sein, wenn Verdacht auf wiederholte Gewalt in der Paarbeziehung besteht, das heisst, wenn die beschuldigte Person bereits wegen eines Verbrechens oder Vergehens gegen Leib und Leben, die Freiheit oder die sexuelle Integrität gegenüber dem aktuellen oder einem früheren Partner verurteilt worden ist. Der Behörde wird auch mehr Kompetenz in Bezug auf eine Wiederanhandnahme des Verfahrens eingeräumt: So ist das Verfahren nicht nur fortzusetzen, wenn das Opfer dies während der Dauer der Sistierung verlangt. Die Behörde nimmt das Verfahren auch von sich aus wieder an die Hand, wenn sich herausstellt, dass die Sistierung die Situation des Opfers weder stabilisiert noch verbessert. Vor Ende der Sistierungsfrist hat die Behörde die Situation des Opfers abschliessend zu beurteilen. Um die massgeblichen Umstände und die Entwicklung der Situation während der Sistierung in Erfahrung zu bringen, soll es insbesondere möglich sein, das Opfer noch einmal anzuhören. Davon kann aber abgesehen werden, wenn eine solche Anhörung das Opfer erneut sehr belastet und zur Entscheidfindung nicht erforderlich ist. Gestützt auf die abschliessende Beurteilung fällt die Behörde ihren definitiven Entscheid und verfügt, falls die Sistierung zu einer Stabilisierung oder Verbesserung
der Situation des Opfers geführt hat, die Einstellung des Verfahrens.

Neben der Verfolgung dieser Ziele soll wie bis anhin im Austausch zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden im Sinne einer Begleitmassnahme abgeklärt werden, ob zusätzliche Massnahmen innerhalb der bestehenden Kompetenzordnung ergriffen werden können, insbesondere ob Koordinationsbedarf zwischen Bund und Kantonen besteht, um den Schutz gewaltbetroffener Personen weiter zu optimieren.

87

Vgl. Fn. 77.

7341

BBl 2017

3.2

Die beantragte Neuregelung im Zivilrecht und im Zivilprozessrecht

3.2.1

Mitteilung von Gewaltschutzentscheiden und verbesserte Weiterbildung

Zur Verbesserung der praktischen und insbesondere der prozessualen Anwendung der geltenden Gewaltschutznorm von Artikel 28b ZGB soll die geltende Bestimmung in zwei wesentlichen Punkten ergänzt werden, welche im Rahmen der Evaluation als unbefriedigend ausgewiesen wurden.88 Mitteilung von Gewaltschutzentscheiden der Gerichte Die Evaluation von Artikel 28b ZGB machte deutlich, dass die gegenseitige Information über angeordnete Schutzmassnahmen und gegebenenfalls die Kooperation der verschiedenen, mit dem Schutz des Opfers betrauten Behörden und Stellen für einen wirksamen Opferschutz zentral sind. Gerade die Meldung von gerichtlich angeordneten Schutzmassnahmen an andere Behörden erfolge in der Praxis zu selten.89 Der Vernehmlassungsentwurf sah daher vor, dass die Gerichte ihre Entscheide über Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB den zuständigen KESB und den kantonalen Kriseninterventionsstellen gemäss Absatz 4 dieser Bestimmung mitteilen müssen, soweit diese Mitteilung zur Erfüllung ihrer Aufgabe notwendig erscheint. Damit sollte für die Zukunft die Wirksamkeit von Schutzmassnahmen und auch die Komplementarität der verschiedenen Interventionsmöglichkeiten und -massnahmen verbessert werden. Mit Blick auf die Stellungnahmen in der Vernehmlassung90 sieht der Entwurf nun eine zusätzliche Erweiterung vor: Neu soll der Entscheid weiteren Behörden und Dritten mitgeteilt werden. Damit soll insbesondere sichergestellt werden, dass Schutzlücken verhindert werden und die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt involvierten Behörden effizient zusammenarbeiten können und dies auch dürfen. Gegenüber dem Vernehmlassungsentwurf erweitert wurden auch die Gründe, die zu einer Weitergabe von Informationen berechtigen. Es dürfen nicht nur jene Informationen zur Kenntnis gebracht werden, welche die Behörden, die kantonale Stelle sowie allfällige Dritte für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen. Zusätzlich sollen die notwendigen Informationen auch dann weitergegeben werden können, wenn dies zum Schutz der klagenden, gewaltbetroffenen Person notwendig erscheint oder der Vollstreckung des Entscheids dient. Die Mitteilungspflicht bleibt trotz der Erweiterung in ihrem Umfang immer auf das Notwendige beschränkt.

Sollen umgekehrt Informationen über Gewaltschutzmassnahmen, die von der Polizei angeordnet worden sind, an eine
andere Behörde wie beispielsweise das Zivilgericht gelangen, haben die Kantone dies in ihren Polizei- oder Gewaltschutzgesetzen entsprechend zu regeln. Im Übrigen können die Kantone auf der Basis von Arti-

88 89 90

Vgl. dazu Ziff. 1.5.1 unter «Evaluationsergebnisse».

Vgl. dazu Ziff. 1.5.1 unter «Evaluationsergebnisse».

Vgl. dazu Ziff. 2.2.2 unter « Mitteilungspflicht von Gewaltschutzentscheiden an andere Behörden (Art. 28b Abs. 3bis VE-ZGB)».

7342

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kel 443 Absatz 2 ZGB weitere Meldepflichten im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes vorsehen.91 Verbesserte Weiterbildung der mit dem Gewaltschutz betrauten Personen der Kriseninterventionsstelle und Gerichte Damit die im geltenden Recht bestehenden Instrumente zum Schutz gegen Gewalt, Drohungen und Nachstellungen in Zukunft noch besser genutzt werden, müssen die Personen derjenigen Behörden und Stellen, die mit dem Schutz gewaltbetroffener Personen betraut sind, über die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Die Kantone, die für den Vollzug zuständig sind, haben daher für die nötige Weiterbildung dieser Personen bei den Kriseninterventionsstellen und Gerichten zu sorgen, insoweit sie das nicht bereits getan haben. Die Weiterbildungspflicht wurde unverändert in den Entwurf übernommen.

3.2.2

Vereinfachung und Kostenlosigkeit

Kostenlosigkeit von Klagen nach Artikel 28b oder 28c E-ZGB Im Rahmen einer Zivilklage wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen werden insbesondere die Kostenaspekte als problematisch erachtet, weil sie in der Praxis für Gewaltbetroffene in vielen Fällen eine Hürde darstellen, die sie nicht selten davon abhält, zivilrechtliche Schutzmassnahmen zu beantragen. Dabei geht es zum einen um die Kostenvorschusszahlungen, die in der Praxis insbesondere für Verfahren ausserhalb von eherechtlichen Verfahren oft systematisch eingefordert werden (vgl.

Art. 98 ZPO), und zum andern um die allgemeine Regelung von Artikel 111 Absatz 2 ZPO, wonach die klagende und vorschussleistende Partei bei Obsiegen die geleisteten Vorschüsse von der unterliegenden Partei und damit von der verletzenden Person zurückfordern muss.92 Der Bundesrat schlägt daher vor, dass im Entscheidverfahren bei Streitigkeiten wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB sowie der neu vorgesehenen Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB keine Gerichtskosten gesprochen werden. Damit entfällt nicht nur jegliche Vorschusspflicht für Gerichtskosten, sondern es kommt auch nicht zur unerwünschten Abwälzung des Insolvenzrisikos auf die verletzte Person.

In der Vernehmlassung wurde verschiedentlich gefordert, dass die verletzende Person von dieser Regelung nicht profitieren dürfe, sondern dass sie, als Verursacherin des Prozesses, dessen Kosten zu tragen habe. Auch nicht mittellose Parteien sollten die Gerichtskosten bezahlen müssen. Solche Forderungen widersprechen jedoch dem Prinzip der Kostenbefreiung gemäss Artikel 114 ZPO, das zu einer Vereinfachung der Verfahren führt und den Schutz der schwächeren Partei bezweckt. Wird ein Verfahren dieser Bestimmung zugeordnet, sind Abweichungen im Einzelfall 91

92

In der Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesschutz), BBl 2015 3431, schlägt der Bundesrat die Streichung dieser Kompetenz vor (Art. 314d Abs. 2 E-ZGB).

Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45).

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nicht möglich. Hingegen wäre es möglich, auch in unentgeltlichen Verfahren die Gerichtskosten einer Partei aufzuerlegen, wenn diese den Prozess bös- oder mutwillig angestrengt hat (Art. 115 ZPO).

Dass umgekehrt die verletzte Person, wie einige Stellungnahmen in der Vernehmlassung gefordert haben, von allen Kosten befreit werden soll, widerspricht dem Wesen des Zivilverfahrens. Im Übrigen könnte durch eine vollumfängliche Kostenbefreiung auch ein falsches Signal gesetzt werden, indem solche Verfahren ohne ausreichende Grundlage angestrengt werden. Mittellosen Opfern kann im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege (Art. 117 ff. ZPO) geholfen werden.

Wegfall des Schlichtungsverfahrens bei Verfahren nach Artikel 28b oder 28c E-ZGB Das im geltenden Recht vorgesehene Schlichtungsobligatorium für Klagen im vereinfachten Verfahren, das auch für Klagen nach Artikel 28b ZGB gilt, erweist sich in der Praxis als hohe Prozesshürde, ohne dass die für Schlichtungsverfahren zu erwartenden positiven Wirkungen im Sinne einer Versöhnung zwischen Opfer und gewaltausübender Person ausgewiesen wären.93 Daher soll das Schlichtungsverfahren bei allen Klagen nach Artikel 28b ZGB oder nach dem neuen Artikel 28c E-ZGB entfallen. Dadurch kann ein Gleichlauf zwischen Haupt- und Massnahmenverfahren erreicht werden, indem alle Verfahren direkt beim Gericht eingeleitet werden müssen.

3.2.3

Elektronische Überwachung

Ausgangslage Um ein Annäherungs- oder Rayonverbot wirksam durchsetzen zu können, schlägt der Bundesrat mit Artikel 28c E-ZGB die Einführung einer gesetzlichen Grundlage für eine elektronische Überwachung von gerichtlich angeordneten Verboten nach Artikel 28b ZGB vor. Die neue zivilrechtliche Schutzmassnahme soll es ermöglichen, die Durchsetzbarkeit von gerichtlich angeordneten Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverboten sicherzustellen.94 Damit werden insbesondere Opfer von Stalking besser geschützt. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Strafrecht bereits heute die Möglichkeit einer elektronischen Überwachung kennt.95 Diese Ausweitung auf das Zivilrecht bildet deshalb eine logische Erweiterung des Instrumentariums für einen effektiven Opferschutz.

Notwendigkeit einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage Im Verlauf der Revisionsarbeiten zum zivilrechtlichen Gewaltschutz wurde die Frage aufgeworfen, ob Artikel 28b ZGB bereits eine genügende gesetzliche Grundlage darstellt, um ein angeordnetes Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot durch 93 94 95

Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45).

Vgl. dazu die Ausführungen zum Electronic Monitoring im Strafrecht in Ziff. 1.2.5 unter «Kontakt und Rayonverbote im Strafrecht».

Vgl. dazu die Ausführungen zum Electronic Monitoring im Strafrecht in Ziff. 1.2.5 unter «Kontakt und Rayonverbote im Strafrecht».

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eine elektronische Überwachung zu vollstrecken. Nach eingehender Prüfung ist der Bundesrat zur Ansicht gelangt, dass es sich bei einer solchen Massnahme um eine Zwangsmassnahme handelt, die in einem Ausmass in die physische und psychische Integrität des Betroffenen eingreift, dass dafür eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage erforderlich ist. Den verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Einschränkung genügt Artikel 28b ZGB in der geltenden Fassung nicht.96 Der Einsatz elektronischer Vorrichtungen und deren Verbindung mit den betroffenen Personen zur Durchsetzung eines Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbots kann nach geltendem Recht auch nicht als zivilprozessuale Vollstreckungsmassnahme im Sinne von Artikel 343 ZPO angesehen werden. Der Massnahmenkatalog von Artikel 343 Absatz 1 Buchstaben a­e ZPO ist abschliessender Natur.97 Der Einsatz elektronischer Vorrichtungen, die mit gefährdenden Personen verbunden werden, könnte in diesem Rahmen zwar als eine Form direkten Zwangs nach Buchstabe d angesehen werden. Die unter den Zwangsmassnahmen gemäss Buchstabe d nicht abschliessend aufgezählten Beispiele «Wegnahme einer beweglichen Sache» und «Räumung eines Grundstücks» machen aber deutlich, dass der Gesetzgeber hier primär den Zwang gegenüber Sachen und nicht gegenüber einer Person im Auge hatte. Damit scheidet auch Artikel 343 ZPO als gesetzliche Grundlage für die hier infrage stehende Massnahme aus.98 Daher soll mit einem neuen Artikel 28c E-ZGB eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage geschaffen werden.

Technische Möglichkeiten Zur Durchsetzung eines zivilrechtlichen Annährungs-, Orts- oder Kontaktverbots eignet sich die mobile Überwachung mittels GPS, die über Satellit gesteuert wird: Die Fussfessel oder das Armband wird mit einem GPS-Empfänger versehen, sodass die gefährdende Person auch ausserhalb der Wohnung überwacht werden kann. Die Position dieser Person wird mittels GPS ermittelt. Die entsprechenden Daten werden entweder über das Mobiltelefonnetz an die Vollzugsstelle weitergeleitet oder in regelmässigen Abständen aus dem Speicher der Fussfessel oder des Armbands ausgelesen. Wenn sich die gefährdende Person der Fussfessel oder des Armbands entledigt, wird ein Alarm ausgelöst.

Diese Technik erlaubt grundsätzlich sowohl eine aktive als auch eine passive Überwachung: Im Gegensatz zum Vorentwurf sieht der Bundesrat nun von einer aktiven Überwachung in Echtzeit ab und schlägt stattdessen eine passive Überwachung vor.

96

97

98

Vgl. bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Februar 2010 sowie den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 24. Februar 2011 zur Motion 09.4017, vgl. auch Ziff. 1.4.2.

Kofmel Ehrenzeller Sabine, in: Oberhammer Paul/Domej Tanja/Haas Ulrich (Hrsg.), Kurzkommentar ZPO, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 343 N 3; anders noch die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), BBl 2006 7221, 7385.

Zur Unzulässigkeit physischen Zwangs vgl. insbesondere Staehelin Adrian/Staehelin Daniel/Grolimund Pascal, Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Zürich 2012, § 28 N 43; Jeandin Nicolas, in: Bohnet François/Haldy Jacques/Jeandin Nicolas/Schweizer Philippe/Tappy Denis, CPC Code de procédure civile commenté, Basel 2011, Art. 343 N 4 und 15; zum Erfordernis einer expliziten Gesetzesgrundlage für die Anwendung direkten Zwangs bei Unterlassungspflichten Guldener Max, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Zürich 1979, 626 ff.; a. A. Jenny Reto M., in: Brunner Alexander/Gasser Dominik/ Schwander Ivo (Hrsg.), ZPO ­ Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2016, Art. 343 N 18.

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Der Bundesrat trägt damit den in der Vernehmlassung geäusserten Bedenken Rechnung. Bei diesem Modell werden die Daten zwar ebenfalls aufgezeichnet; die Vollzugsstelle wertet sie jedoch erst nachträglich aus. Eine sofortige Intervention findet nicht statt.

Für eine solche Lösung spricht vor allem, dass ihre Umsetzung lediglich einen Bruchteil der personellen und finanziellen Ressourcen benötigt, die für eine aktive Überwachung eingesetzt werden müssten, vor allem, weil keine ständige Überwachung und Einsetzbereitschaft mehr erforderlich ist. Der Preis dafür ist, dass ein Täter, der willens ist, sich einer gerichtlichen Anordnung zu widersetzen, daran effektiv nicht gehindert werden kann. Dennoch ist der Bundesrat der Überzeugung, dass auch mit einer passiven Überwachung der Opferschutz massgeblich gestärkt würde: Es ist zu erwarten, dass sich eine gefährdende Person bereits dadurch, dass seine Widerhandlung gegen die gerichtliche Anordnung aufgezeichnet und nachträglich sichtbar wird, in den meisten Fällen an das Annäherungs-, Kontakt- oder Rayonverbot halten wird. Zudem wird im Fall der Missachtung der gerichtlichen Anordnung die in vielen Fällen schwierige Beweislage für das Opfer erheblich verbessert: Während es heute kaum möglich ist nachzuweisen, wie viele Male sich eine gefährdende Person beispielsweise vor der Wohnung des Opfers aufgehalten oder dieses auf der Strasse verfolgt hat, kann der entsprechende Nachweis aufgrund der aufgezeichneten Daten nun problemlos erbracht werden. Dies erleichtert nicht nur die Durchsetzung der vom Zivilgericht angedrohten Strafe nach Artikel 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen), in manchen Fällen wird es sie sogar erst ermöglichen.

Voraussetzungen und Verfahren für die Anordnung einer elektronischen Überwachung Die neue Bestimmung von Artikel 28c E-ZGB bildet die gesetzliche Grundlage für die elektronische Überwachung einer Person, gegen die ein zivilrechtliches Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot gemäss Artikel 28b ZGB erlassen wurde. In den meisten Fällen wird es sich dabei um eine Stalkerin oder einen Stalker handeln.

Denkbar ist indessen auch, dass eine Person, beispielsweise ein Ehegatte oder ein erwachsenes Kind, wegen häuslicher Gewalt aus der Wohnung ausgewiesen und mit einem Kontaktaufnahmeverbot belegt wurde, dessen Einhaltung
mittels elektronischer Überwachung sichergestellt wird. Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise beim Erlass des Verbotes deutlich wird, dass die gewaltausübende Person sich nicht an die Anordnung halten wird.

Bei der elektronischen Überwachung handelt es sich um eine Vollzugsmassnahme, die ­ wie das der Massnahme zugrunde liegende Verbot nach Artikel 28b ZGB ­ auch als vorsorgliche oder gar superprovisorische Massnahme angeordnet werden kann (Art. 261 ff. ZPO). Vorausgesetzt ist primär, dass die beantragte Massnahme im konkreten Fall verhältnismässig ist. Dies bedeutet, dass sie zur Durchsetzung eines Verbots nach Artikel 28b ZGB im konkreten Fall geeignet und erforderlich erscheint und insgesamt verhältnismässig ist, insbesondere weil weniger einschneidende Massnahmen erfolglos geblieben sind oder von vornherein als ungenügend eingestuft werden. Da sich die elektronische Überwachung in akuten Gefährdungs-

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situationen nicht eignet, ist im Rahmen der Eignungsprüfung auch zu prüfen, ob das Risiko besteht, die gefährdende Person könnte eine Gewalttat begehen.

Dass die einzelnen Prüfkriterien, anders als noch im Vorentwurf, in der Bestimmung des Entwurfs nicht mehr genannt werden, liegt darin begründet, dass das Gericht ohnehin zu prüfen hat, ob die Vorgaben gemäss Artikel 36 BV für eine Einschränkung eines Grundrechts vorliegen. Zu erwähnen ist, dass bei dieser Prüfung nicht nur die Grundrechte der gewaltausübenden Person im Fokus stehen dürfen. Vielmehr muss auch berücksichtigt werden, dass die gewaltbetroffene Person durch das Verhalten der beklagten Person in ihrer Freiheit erheblich beeinträchtigt wird, dass es somit auch um den Schutz ihrer Grundrechte gemäss Artikel 36 Absatz 2 BV geht. Die Persönlichkeitsrechte des Opfers sind bei der Rechtsgüterabwägung daher entsprechend hoch zu gewichten.

Entsprechend dem Dispositionsgrundsatz (Art. 58 Abs. 1 ZPO) erfolgt die Anordnung einer elektronischen Überwachung nur auf Antrag der klagenden Person. Im Rahmen seiner gerichtlichen Fragepflicht hat das Gericht jedoch einer Partei die Gelegenheit zur Klarstellung und Ergänzung zu geben, wenn ihr Vorbringen unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig ist (Art. 56 ZPO).

Der Antrag kann im Übrigen nicht nur beim Gericht gestellt werden, das ein Verbot nach Artikel 28b ZGB anordnet, sondern auch erst später beim Vollstreckungsgericht, wenn sich herausstellt, dass das Verbot allein keine Wirkung entfaltet (vgl.

Art. 28c Abs. 1 E-ZGB).

Die Anordnung ist stets zu befristen. Erlaubte der Vorentwurf noch eine Dauer von jeweils höchstens zwölf Monaten für die Anordnung der Massnahme und deren Verlängerung, so sieht der Entwurf nur mehr eine sechsmonatige Dauer der Anordnung bzw. Verlängerung der Massnahme vor. Damit wird den kritischen Stimmen in der Vernehmlassung Rechnung getragen, welche die ursprüngliche Dauer als zu lang erachteten.99 Das eigentliche Vollzugsverfahren regeln die Kantone. Sie müssen eine Stelle bezeichnen, die für den Vollzug der Massnahme zuständig ist. Dabei ist der Datenschutz zugunsten der beteiligten Personen zu gewährleisten; die über die beteiligten Personen aufgezeichneten Daten dürfen nur zur Durchsetzung des Verbots verwendet werden. Anders als im Vorentwurf
hält die Bestimmung auch fest, dass die durch eine elektronische Überwachung aufgezeichneten Daten spätestens zwölf Monate nach Abschluss der Massnahme gelöscht werden müssen. Den Schutz dieser Daten sicherzustellen, ist im Übrigen Sache des kantonalen Datenschutzrechts.

Sodann hält die neue Bestimmung ausdrücklich fest, dass der verletzten Person aus dem Vollzug der Anordnung einer elektronischen Überwachung keine Kosten entstehen dürfen. Nur so ist gewährleistest, dass die neue Massnahme zum Schutz verletzter Personen in der Praxis auch beantragt und angeordnet wird. Demgegenüber können diese Kosten der gefährdenden Person überbunden werden. Es handelt sich dabei um eine Kostenfolge des Entscheids, die dessen Vollstreckung betrifft. Eine

99

Vgl. dazu Ziff. 2.2.2 unter «Elektronische Überwachung (Art. 28c VE-ZGB)».

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gesetzliche Grundlage in einem Bundesgesetz ist dazu nicht nötig.100 Über diese Bestimmungen hinaus richtet sich das Verfahren zur Anordnung einer elektronischen Überwachung nach der ZPO.

Durchsetzung der gerichtlichen Anordnung Eine grosse Zahl von Vernehmlassungsteilnehmenden war der Meinung, dass es der Bestimmung an Durchsetzbarkeit mangle, weil Sanktionsmöglichkeiten fehlen würden, wenn sich die verletzende Person trotz elektronischer Überwachung nicht an Kontakt- und Rayonverbote halte, die ihr durch das Zivilgericht auferlegt wurden.

Hierzu ist zu bemerken, dass es sich bei Artikel 28c E-ZGB um eine zivilrechtliche und nicht um eine strafrechtliche Norm handelt. Ziel ist damit nicht die Sanktionierung des Täters, sondern die Durchsetzung der zivilgerichtlichen Anordnung. Artikel 343 ZPO nennt die möglichen Anordnungen, die das Gericht im Rahmen der Vollstreckung zivilrechtlicher Verpflichtungen treffen kann. Zur Durchsetzung von Verboten gemäss Artikel 28b ZGB geeignet wäre Absatz 1 Buchstaben a (Strafandrohung nach Artikel 292 StGB), b (Ordnungsbusse bis zu 5000 Franken) und c (Ordnungsbusse bis zu 1000 Franken für jeden Tag der Nichterfüllung). Andere Vollstreckungsinstrumente sieht Artikel 343 ZPO nicht vor; zivilrechtlich wäre beispielsweise eine Inhaftierung daher nicht möglich.

An dieser Stelle besonders zu erwähnen ist, dass die elektronische Überwachung in ihrer Beweissicherungsfunktion die Durchsetzung der angedrohten Strafe in vielen Fällen erst möglich machen wird, indem sich aufgrund der aufgezeichneten Daten zweifelsfrei feststellen lässt, ob sich die überwachte Person an die im Entscheid des Zivilgerichts gemachten Vorgaben hält oder nicht. Tut sie es nicht, kann das Opfer entweder an das Vollstreckungsgericht gelangen oder bei der Polizei eine Anzeige wegen Verletzung von Artikel 292 StGB erstatten, sofern der verletzenden Person eine solche Strafe bereits angedroht wurde. Die bei der Vollzugsstelle aufgezeichneten GPS-Daten können sodann ausgewertet werden und als Beweis für die Missachtung des Entscheids des Zivilgerichts dienen.

Verzicht auf flankierende Massnahmen im Zivilrecht Viele Vernehmlassungsteilnehmende haben festgestellt, dass eine elektronische Überwachung allein noch keine Verhaltensänderung bei der verletzenden Person bewirkt.

Dazu seien flankierende
Massnahmen wie die obligatorische Teilnahme an Kursen oder Beratungen oder an einer Therapie zwingend nötig. Dieser Ansicht ist zwar zuzustimmen; im Zivilrecht, das grundsätzlich die Beziehung unter Privaten regelt, können solche flankierende Massnahmen jedoch nicht zwingend vorgesehen werden. Daher verzichtet der Entwurf auf eine entsprechende Verpflichtung der verletzenden Person.

100

Art. 46 Abs. 1 und 3 sowie 47 Abs. 2 BV; vgl. auch Belser Eva Maria/Massüger Nina in: Waldmann Bernhard/Belser Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar Bundesverfassung, Basel 2015, Art. 47 N 14.

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3.3

Die beantragte Neuregelung im Strafrecht

3.3.1

Einleitung

Die Offizialisierung der Gewaltdelikte in Paarbeziehungen von 2004 hat nicht zu mehr Verurteilungen geführt. Auch unter dem geltenden Recht sind Sistierung und Einstellung des Verfahrens die Regel. Die Behörden verfügen in diesem Bereich über einen sehr geringen Ermessensspielraum. Ersucht das Opfer (bzw. sein gesetzlicher Vertreter) um die Sistierung, so müssen sie dem Gesuch aufgrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stattgeben, sofern es aus freiem Willen erfolgt ist. Das sistierte Verfahren kann nur wieder aufgenommen werden, wenn das Opfer die Zustimmung zur Sistierung widerruft. Ohne einen solchen Widerruf wird das Verfahren nach einer Frist von sechs Monaten eingestellt (Art. 55a Abs. 2 und 3 StGB).101 Strafverfahren wegen Gewalt in Paarbeziehungen sind zu einem wesentlichen Teil vom Verhalten und von den Aussagen des Opfers abhängig. Einem Opfer von Gewalt im sozialen Nahraum fällt es (trotz Änderung der verfahrensrechtlichen Grundlagen) meist schwer, die notwendigen Schritte vorzunehmen, die zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder Verurteilung des Täters führen.102 Das Ziel des Opfers ist vorwiegend die Stabilisierung seiner eigenen Situation und nicht die Verfolgung und Bestrafung des Täters. Von dieser Zurückhaltung des Opfers ist das gesamte Strafverfahren betroffen: die Strafanzeige, der Widerruf eines Gesuchs um Sistierung sowie die Aussage gegen die beschuldigte Person vor den Strafverfolgungsbehörden und vor dem Gericht.

Das Opfer muss abwägen, ob sich seine Situation durch die Einleitung eines Strafverfahrens verbessert. Selbst wenn es diesen Schritt gewagt und Anzeige erstattet hat, hängt das weitere Verfahren massgeblich von seiner Kooperation ab. Das Opfer kann seine früheren Aussagen relativieren, namentlich weil es nicht mehr an einer Verurteilung interessiert ist, sich dem Druck der beschuldigten Person beugt oder sich aufgrund des Zeitablaufs nur noch vage an den Vorfall erinnert. Ohne die Aussagen des Opfers bestehen erhebliche Beweisschwierigkeiten.103 In diesem Zusammenhang ist auch das Zeugnisverweigerungsrecht des Opfers zu beachten. Stellt sich das Opfer gegen die Verurteilung der beschuldigten Person bzw. macht es von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, so erfolgt die Sistierung und Einstellung nicht mehr auf Gesuch des Opfers, sondern mangels Beweisen,
ohne dass eine Beurteilung der Situation des Opfers überhaupt stattfinden könnte. Das Zeugnisverweigerungsrecht kann das Offizialdelikt, das mit der Revision gestärkt werden soll, weitgehend aushebeln.104 Umgekehrt kann es fraglich erscheinen, ob eine Entlastung des Opfers ­ unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Norm ­ mit der Offizialisierung erreichbar ist.105

101 102

Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 51.

So schon im Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909, hier 1912.

103 Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 31 f.

104 Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 26.

105 Mösch Payot Peter, Die aktuelle rechtliche Situation im Umgang mit häuslicher Gewalt in der Schweiz, FamPra.ch 2009, 561 ff., 568.

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Es ist nicht auszuschliessen, dass das Verhalten des Opfers durch die Befürchtung beeinflusst wird, die beschuldigte ausländische Person könnte nicht nur bestraft, sondern zusätzlich gestützt auf die neuen Bestimmungen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative (Art. 66a ff. StGB) des Landes verwiesen werden. Dazu ist zu bemerken, dass die Straftaten nach Artikel 55a Absatz 1 StGB, bei denen eine Sistierung des Verfahrens möglich ist, keine Straftaten darstellen, die nach Artikel 66a Absatz 1 StGB zu einer obligatorischen Landesverweisung führen. Auch eine nicht obligatorische Landesverweisung nach Artikel 66abis StGB wird bei leichten Fällen von häuslicher Gewalt in der Regel nicht angezeigt sein. Bei schweren Fällen von häuslicher Gewalt, die zu einer Landesverweisung führen können, hat das Gericht die Möglichkeit, der persönlichen Situation des Täters Rechnung zu tragen (gestützt auf die Härtefallklausel nach Art. 66a Abs. 2 StGB bei der obligatorischen Landesverweisung oder im Rahmen des Ermessens bei der nicht obligatorischen Landesverweisung). Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass es vor der Einführung der strafrechtlichen Landesverweisung möglich war, straffällige ausländische Personen gestützt auf das Ausländerrecht aus der Schweiz wegzuweisen und mit einem Einreiseverbot zu belegen, was bereits zu dieser Zeit Auswirkungen auf das Anzeigeverhalten haben konnte. Obwohl die Landesverweisung somit in rechtlicher Hinsicht im Bereich der häuslichen Gewalt für die betroffenen Personen keine wesentlichen Änderungen zur Folge haben sollte, ist zu vermuten, dass sie aufgrund der Publizität, die die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative erfahren hat, zusätzliche Befürchtungen ausgelöst hat und das Anzeigeverhalten beeinflussen könnte.

Dass das Strafverfahren wesentlich von der Kooperations- und Aussagebereitschaft des Opfers abhängt, gilt für alle zur Diskussion stehenden Lösungsansätze: die Offizialisierung mit Sistierungsmöglichkeit, die vollständige Offizialisierung unter Streichung von Artikel 55a StGB oder die Ausgestaltung der betreffenden Tatbestände als Antragsdelikte. Es ist daher generell fraglich, inwieweit bei häuslicher Gewalt ein Strafverfahren bei gleichzeitiger Entlastung des Opfers überhaupt durchgeführt werden kann.

Fraglich ist zudem, inwieweit das eigentliche Ziel des Opfers
­ die Stabilisierung oder Verbesserung seiner Situation (die evtl. bei einer Einstellung eher in Aussicht steht als bei Verfolgung und Bestrafung des Täters) ­ im Rahmen eines Strafverfahrens erreicht werden kann und soll. Das Strafverfahren dient in erster Linie der Durchsetzung des materiellen Strafrechts und nicht dem präventiven Schutz des (mutmasslichen) Opfers.106 Schliesslich können die von Artikel 55a StGB erfassten Tatbestände in vielen Fällen der häuslichen Gewalt im Strafbefehlsverfahren beurteilt werden. Die Beurteilung der Situation des Opfers durch die Behörde, die allfällige Anordnung eines Lernprogramms, die (zwingende) Anhörung des Opfers vor der Einstellung des Verfahrens führen zu einem bedeutenden Mehraufwand, der für das Strafbefehlsverfahren unverhältnismässig erscheinen kann und gegen den erwarteten Nutzen abzuwägen ist.

106

Mösch Payot Peter, Anordnung von Pflichtberatungen und Lernprogrammen im Rahmen von strafrechtlichen Sanktionen, insb. als Weisungen, Gutachten im Auftrag des EGB, 2012, 11; abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt (Stand: 5.5.2017).

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In der Vernehmlassung wurden die im Vorentwurf präsentierten Lösungen denn auch ­ bei aller Zustimmung ­ sehr kontrovers beurteilt.107 Die Vorstellungen der Vernehmlassungsteilnehmenden über eine sachgerechte Regelung gingen weit auseinander. Sie reichen von der Beibehaltung von Artikel 55a StGB in der bestehenden Form über eine Regelung entsprechend dem Vorentwurf des Bundesrates, eine weitergehende Kompetenz und Mitverantwortung der Staatsanwaltschaft sowie eine stärkere Gewichtung des Willens des Opfers bis hin zur vollständigen Offizialisierung der in dieser Bestimmung aufgeführten Straftaten und zur Streichung von Artikel 55a StGB.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Regelung, welche allen Anforderungen und allen Lösungsvorstellungen gerecht wird, kaum möglich ist.

Der Bundesrat hat sich daher auf die beiden Grundanliegen der Revision zurückbesonnen: Das Opfer soll entlastet werden und die Behörde soll einen grösseren Ermessensspielraum und damit verbunden auch mehr Verantwortung erhalten. Auf diese beiden Ziele ist der Entwurf zur Änderung von Artikel 55a StGB ausgerichtet.

Entsprechend sollen die Offizialisierung der Delikte nach Artikel 55a StGB sowie die Möglichkeit der Sistierung beibehalten werden. Insbesondere soll der Entscheid über die Sistierung, die Wiederanhandnahme und die Einstellung des Strafverfahrens nicht mehr allein dem Opfer überlassen sein, und die Behörde soll dem Willen des Opfers nicht mehr unbesehen stattgeben müssen.

3.3.2

Umfassende Prüfung bei der Sistierung, Wiederanhandnahme und Einstellung des Strafverfahrens

Im Bericht vom 28. Januar 2015 zur Motion 09.3059 ist der Bundesrat zum Ergebnis gelangt, dass es beim Entscheid über die Sistierung, Wiederanhandnahme und Einstellung des Verfahrens nicht mehr allein auf die Willensäusserung des Opfers ankommen soll.108 Zwar soll wie bis anhin vorausgesetzt werden, dass das Opfer bzw. sein gesetzlicher Vertreter ein Gesuch um Sistierung stellt. Doch soll die Behörde neben der Erklärung des Opfers weitere Umstände berücksichtigen und nach freiem Ermessen würdigen können.

Die Vernehmlassungsvorlage sah vor, dass das Interesse des Opfers das Interesse des Staates an der Strafverfolgung überwiegen muss. Sie enthielt einen beispielhaften Katalog von Kriterien, die in die Interessenabwägung einfliessen sollten. Der Kriterienkatalog ist in der Vernehmlassung auf grosse Kritik gestossen: Er wurde als zu ausführlich und zu detailliert empfunden. Der Katalog erschwere die Begründung des Entscheids und steigere die Begründungsanforderungen. Das Gericht müsse sich grundsätzlich zu jedem Kriterium äussern, was nicht sinnvoll erscheine. Ein Rechtsmittel stehe erst gegen die Einstellung, den Strafbefehl oder das Urteil offen, womit die Rechtsmittelinstanz nur mit erheblicher Verzögerung überprüfen könne, ob das Ermessen überschritten worden sei. Müssten dabei die im Gesetz vorgegebenen 107 108

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 25 ff.

Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 49 f.

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Kriterien auf ihre rechtmässige Anwendung hin überprüft werden, so führe das zu einer Verkomplizierung, und die Rüge, es sei nicht umfassend über alle im Gesetz namentlich aufgeführten Kriterien Beweis geführt worden, sei absehbar. Mit einem umfangreichen Katalog seien ein nicht zu unterschätzender Abklärungsaufwand und hohe Begründungsanforderungen verbunden.109 Es wurde daher gefordert, den Katalog zusammenzufassen110 oder auf einen Kriterienkatalog im Gesetz zu verzichten111. Bevorzugt wurde eine offene Klausel, die es der Behörde erlaubt, die im Einzelfall bedeutenden Interessen abzuwägen. Die bei der Entscheidfindung zu beachtenden Kriterien gehörten in die Materialien, die Botschaft und die Kommentare zum StGB oder sollten von der Lehre und Rechtsprechung entwickelt werden. 112 Entsprechend wird im Entwurf auf einen Kriterienkatalog verzichtet und in Artikel 55a Absatz 1 Buchstabe c E-StGB eine Generalklausel eingeführt. Dabei wird die Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Strafverfolgung und den privaten Interessen an der Sistierung nicht mehr ausdrücklich erwähnt. An deren Stelle wird das Ziel der Sistierung festgehalten und von den Behörden verlangt, die Erfolgsaussichten der Sistierung abzuschätzen: Die Sistierung muss geeignet erscheinen, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern.

Mit der 2004 in Kraft getretenen Revision hat sich der Gesetzgeber entschieden, dass einfache Körperverletzung, wiederholte Tätlichkeiten und Drohungen, die in Paarbeziehungen begangen werden, (wie bereits die Nötigung) Offizialdelikte darstellen und somit von Amtes wegen zu verfolgen sind. Damit überwiegt nach der Wertung des Gesetzgebers das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung grundsätzlich. Die Sistierung stellt demgegenüber eine Ausnahme dar: Die Behörde kann eine Sistierung verfügen, wenn dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung andere Elemente gegenüberstehen, die dieses aufwiegen. So ist zum einen eine entsprechende Willensäusserung des Opfers vorausgesetzt. Zum anderen muss die Behörde weitere Elemente prüfen und und gestützt darauf beurteilen, ob eine Sistierung geeignet ist, eine Stabilisierung oder Verbesserung der Situation zu bewirken.

Während der Dauer der Sistierung von sechs Monaten ist das Verfahren wieder an die Hand zu nehmen, wenn das
Opfer dies verlangt. Zudem kann es sein, dass die Behörde aufgrund neuer Umstände zur Auffassung gelangt, dass eine Sistierung nicht (mehr) zur Stabilisierung oder Verbesserung der Situation beiträgt (z. B. weil die angeschuldigte Person ein angeordnetes Lernprogramm nicht besucht; vgl.

Ziff. 2.3.3). Es steht somit ihn ihrem Ermessen und ihrer Verantwortung, das Verfahren in diesem Fall fortzusetzen.

Am Ende der Sistierungsfrist hat die Behörde eine abschliessende Beurteilung vorzunehmen. Kommt sie gestützt darauf zur Auffassung, dass die Sistierung für das Opfer zu einer Stabilisierung oder Verbesserung der Situation geführt hat, so verfügt sie die Einstellung des Verfahrens.

109

In diesem Sinne äussern sich 3 Kantone und 5 Organisationen, vgl. Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 29.

110 Dies fordern 1 Kanton und 3 Organisationen, vgl. Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 30.

111 Dies fordern 4 Kantone und 2 Organisationen, vgl. Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 30.

112 Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 30.

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3.3.3

Verknüpfung der Sistierung mit Lernprogrammen

Die Motion 09.3059 schlägt vor, bei Verfahren wegen Gewalt in Paarbeziehungen Lernprogramme anzuordnen. Eine Sistierung des Verfahrens soll nur möglich sein, wenn die beschuldigte Person mit dem Besuch eines solchen Programms beginnt, eine Einstellung nur, wenn sie es erfolgreich abgeschlossen hat. Der Bundesrat hält Lernprogramme gegen Gewalt für sinnvoll. Mit einem Lernprogramm kann direkt auf eine Verbesserung der Situation des Opfers hingewirkt werden. die beschuldigte Person wird in das Verfahren eingebunden und muss einen aktiven Beitrag zur Änderung der Situation leisten.113 Gestützt auf die Ergebnisse im Bericht vom 28. Januar 2015 zur Motion 09.3059114 sah der Bundesrat in der Vernehmlassungsvorlage jedoch von einer obligatorischen Anordnung von Lernprogrammen ab. Vielmehr schlug er vor, dass der freiwillige Besuch eines Lernprogramms beim Entscheid über die Sistierung zu berücksichtigen ist.

Er thematisiert dabei insbesondere die Kooperationsbereitschaft der beschuldigten Person. Verweigere diese den Besuch, so sei die Anordnung von vornherein zwecklos. Besuche die beschuldigte Person das Lernprogramm, ohne dazu motiviert zu sein, sei ein solches ohne Nutzen. Dieser Darstellung wurde in der Vernehmlassung widersprochen. Viele Vernehmlassungsteilnehmende machen geltend, die Ausführungen zur Kooperationsbereitschaft entsprächen nicht den Erfahrungen von Kursleitenden von Lernprogrammen. Sie widersprächen auch dem strafrechtlichen Massnahmenrecht. Die Motivationsarbeit sei nicht Voraussetzung, sondern Teil des Lernprozesses und gehöre zur Arbeit mit Tatpersonen häuslicher Gewalt. Selbst bei einem nur unter dem Druck eines Strafverfahrens besuchten Lernprogramm bestünden aus forensisch-psychiatrischer Sicht Erfolgschancen. Dies komme dem Opfer zugute, das sich in den meisten Fällen nicht die Bestrafung des Täters, sondern eine Verhaltensänderung wünsche. Ein Kanton schildert seine positiven Erfahrungen gerade bei Personen, die von den Behörden zum Besuch des Lernprogramms angehalten werden oder für die ein solches verfügt wird.115 Der Bundesrat führt in der Vernehmlassungsvorlage zudem aus, dass bei einer verbindlichen Anordnung zu regeln wäre, in welchem Zeitraum ein Lernprogramm zu absolvieren und wie dessen Wirksamkeit zu überprüfen sei. Mit der Überprüfung sei ein erheblicher administrativer,
finanzieller und vor allem ein zeitlicher Aufwand verbunden. Der grosse Zeitaufwand stehe in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz des Beschleunigungsgebots, das für das Strafverfahren gilt (Art. 5 StPO), denn der Erfolg eines Lernprogramms lasse sich während des Strafverfahrens kaum innert vernünftiger Zeit und mit vernünftigen Mitteln überprüfen.116 Dem wurde in der Vernehmlassung entgegengehalten, dass das Beschleunigungsgebot mit einem obligatorischen Besuch eines Lernprogramms nicht verletzt werde.

Ein Lernprogramm dauere rund sechs Monate, was in etwa der Sistierungsdauer entspreche. Ein «erheblicher zeitlicher Mehraufwand» entstehe nicht und der admi-

113 114 115 116

Vgl. auch Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 43.

Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 43 f.

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 32 ff.

Zum Ganzen auch Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 33 und 38 f.

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nistrative Aufwand lasse sich mit effizienter Zusammenarbeit bei der Zuweisung und Berichterstattung gering halten.117 Zudem wurde betont, dass die Überprüfung der Wirksamkeit des Lernprogramms oder eines anderen konfliktorientierten Beratungsprogramms ohne Gutachten möglich sei. Es gehe nicht um die Einschätzung von potenziell gemeingefährlichen Personen, sondern darum, ob Teilnehmende sich mit der Gewaltproblematik auseinandergesetzt hätten und ein Lernerfolg erzielt worden sei. Probate Mittel zur Überprüfung seien namentlich Fachberichte von Kursleitenden oder Beratenden über Verlauf und Verhalten, Polizeiakten und eine Anhörung der Opfer (die gemäss Art. 55a Abs. 5 VE-StGB vor der Einstellung des Verfahrens vorgesehen sei). Wenn es die beschuldigte Person durch ihr eigenes Verhalten im und nach dem Kurs selber in der Hand habe, ob eine Einstellung des Verfahrens möglich sei, werde Druck vom Opfer genommen.118 Diesen Argumenten will der Bundesrat Rechnung tragen. Dennoch sieht er von einer obligatorischen Verknüpfung der Sistierung, Wiederanhandnahme und Einstellung des Strafverfahrens mit Lernprogrammen ab. Zum einen, weil aufgrund der Unschuldsvermutung in diesem Stadium des Verfahrens bei der Anordnung von Massnahmen eine gewisse Zurückhaltung geboten ist: Im Zeitpunkt der Sistierung ist die Tat nicht erwiesen; die beschuldigte Person gilt als unschuldig (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO). Wo es um die Gefahr künftiger Straftaten geht, ist der Bezugspunkt für eine Massnahme gegenüber der gefährdenden Person allerdings nicht die Schuld, sondern die Gefährlichkeit.119 Dies lässt es zu, Massnahmen anzuordnen, die dem Zweck dienen, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern. Zum andern wäre ein Obligatorium mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip nicht vereinbar: Dieses gebietet, dass die Anordnung bestimmter Massnahmen geeignet und notwendig sein muss, um künftige Straftaten zu verhindern, und dass sie in einer vernünftigen Relation zu diesem Zweck steht. Ein Lernprogramm ist nicht in jedem Falle notwendig, um der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen oder um die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern.

Der Bundesrat erachtet es hingegen als sinnvoll, dass der Staatsanwaltschaft und dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt wird, ein Lernprogramm gegen
Gewalt anzuordnen, sofern dieses im konkreten Einzelfall geeignet, notwendig und zumutbar erscheint. Diese Anordnung ist beim Entscheid über die Sistierung zu berücksichtigen.

3.3.4

Fortsetzung des Strafverfahrens bei Verdacht auf wiederholte Gewalt

Die Motion 09.3059 schlägt vor, dass bei wiederholter Gewalt keine Sistierung oder Einstellung zulässig sein soll und dass bereits sistierte Verfahren wieder an die Hand zu nehmen sind. Dies erachtet der Bundesrat grundsätzlich als sinnvoll. Besteht der 117 118 119

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 33.

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 33 f.

Coninx Anna/Mona Martino, Strafprozessualer Zwang und positive Schutzpflichten ­ Verbrechensverhütung als Legitimation von Zwangsmassnahmen, ZStrR 2017, 1 ff., 16.

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Verdacht, dass die beschuldigte Person wiederholt Gewalt in der Paarbeziehung ausgeübt hat, kommt dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung noch höheres Gewicht zu.

Aus Sicht des Bundesrates sind wiederholte Anzeigen oder wiederholt eingestellte Strafverfahren jedoch nicht hinreichend aussagekräftig, um eine Sistierung in jedem Fall auszuschliessen. In Bezug auf hängige und eingestellte Strafverfahren gilt zudem die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 10 Abs. 1 StPO). Gegen eine Anknüpfung an wiederholte Anzeigen spricht auch der Umstand, dass der Fortgang des Verfahrens bzw. die Wiederanhandnahme letztlich vom Entscheid des Opfers abhängt, eine Person wiederholt anzuzeigen. Dies kann dazu führen, dass sich Opfer trotz wiederholter Gewalt nicht mehr bei den Behörden melden. Nur bei einer rechtskräftigen Verurteilung steht mit Gewissheit fest, dass eine Person bereits in der Vergangenheit Gewalt ausgeübt hat.120 Der Bundesrat schlägt daher vor, dass die Sistierung von Strafverfahren wegen Gewalt in der Paarbeziehung nur in den Fällen zwingend ausgeschlossen ist, in denen bereits eine rechtskräftige Verurteilung wegen Gewalt gegen den Ehegatten, die eingetragene Partnerin oder den eingetragenen Partner, die Lebenspartnerin oder den Lebenspartner vorliegt. Als Vortaten kommen Verbrechen oder Vergehen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB), gegen die Freiheit (Art. 180 ff. StGB) oder gegen die sexuelle Integrität (Art. 187 ff. StGB) in Betracht, also insbesondere auch schwerwiegende Delikte in der aktuellen oder einer früheren Partnerschaft.

Wiederholte Polizeiinterventionen, wiederholte Anzeigen oder wiederholt eingestellte Verfahren können ­ sofern sie den Strafbehörden bekannt sind ­ im Rahmen der Abklärungen über die Erfolgsaussichten der Sistierung und der Prüfung im konkreten Einzelfall berücksichtigt werden und so zum Ausschluss einer Sistierung führen.

3.3.5

Verzicht auf Umsetzung der Motion Keller-Sutter (12.4025): Keine obligatorische Anhörung des Opfers vor der Einstellung des Strafverfahrens

Die Motion 12.4025 verlangt, dass das Opfer vor der Einstellung des Verfahrens nochmals anzuhören ist. Die Einführung einer obligatorischen Anhörung des Opfers vor der Einstellung des Verfahrens war in der Vernehmlassung sehr umstritten. 121 Sie könnte zwar verschiedene Vorteile bieten. So kann das Opfer das Verhalten der beschuldigten Person während einer bestimmten Zeit beobachten und werten, und seine Willensäusserung erfolgt kurz vor der allfälligen Einstellung. Der Aussagegehalt betrifft damit vor allem das neuere Verhalten der beschuldigten Person und die Bestärkung des Willens, im Lichte dieses Verhaltens an der Einstellung des Verfahrens festhalten zu wollen.122 In der Vernehmlassung wurde zudem vorgebracht, durch die Anhörung vor der Einstellung werde die Position des Opfers gestärkt. Die Anhörung sei umso wichtiger, als der Ermessensspielraum der Straf120 121 122

Zum Ganzen Bericht Mo. Heim ( Fn. 77) 42 f.

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 38 ff.

Umfassend Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 44 f.

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behörden erweitert werde. Sie sei wesentlich, um die Beweggründe des Opfers genau zu erfahren und zu überprüfen, ob eine Einstellung wirklich seinem freien Willen entspreche. Blosses Stillschweigen dürfe nicht mehr genügen.

Die Gegner einer Anhörung des Opfers vor der Einstellung wenden ein, die Bedeutung einer nochmaligen Anhörung dürfe nicht überschätzt werden; das Resultat werde fast bei Null liegen und für das Opfer werde daraus kein Mehrwert resultieren. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen das Verfahren nach einer Sistierung bisher eingestellt wurde, ergäben sich keine Hinweise darauf, dass dies nicht dem Willen des Opfers entsprochen habe. Das Opfer habe seinen Willen, nicht mehr an einem Strafverfahren gegen die beschuldigte Person interessiert zu sein, im Vorfeld bereits mehrfach und in zeitlichem Abstand bekundet. Es habe zudem die Situation über eine längere Zeit hinweg beobachten und sich eine Meinung bilden können. Bei neuen Vorkommnissen während der Sistierung, die die beschuldigte Person betreffen, werde die Staatsanwaltschaft zudem informiert und könne entsprechend reagieren. Schliesslich liege die zu untersuchende Tat, nachdem nahezu sechs Monate vergangen seien, längere Zeit zurück. Dies beeinflusse die Aussagen des Opfers zum Tathergang und lasse sie im Vergleich zur Einvernahme unmittelbar nach der Tat weniger verlässlich erscheinen.

Es könne ferner davon ausgegangen werden, dass ein Opfer, das seinen freien Willen äussern könne, dies auch ohne obligatorische Befragung vor der Einstellung tun werde. Ein Opfer hingegen, das sich nach wie vor in einer Zwangssituation befinde, werde auch durch diese abschliessende Befragung sein Aussageverhalten nicht ändern. Zudem würde es erneut einem grossen Druck ausgesetzt, was dem Ziel dieser Revision widerspreche.

Der Bundesrat geht davon aus, dass eine Anhörung des Opfers nach der nahezu sechsmonatigen Sistierung nicht unbedingt dazu führt, dass eine grössere Anzahl von Opfern die Fortsetzung des Strafverfahrens verlangt. Denn dem Opfer wird mit der Anhörung ebenso viel Verantwortung übertragen wie beim Entscheid, ob es ein Gesuch um Sistierung stellen will oder nicht. Zudem würde eine obligatorische Anhörung dem grundsätzlichen Ziel der Vorlage widersprechen, das Opfer zu entlasten.

Bei der abschliessenden Beurteilung vor
Ende der Sistierungsfrist muss die Behörde prüfen, ob die Sistierung zu einer Stabilisierung oder Verbesserung der Situation des Opfers beigetragen hat. Um die für diese Beurteilung massgeblichen Elemente in Erfahrung zu bringen und die Entwicklung während der Sistierungsfrist beurteilen zu können wird es oftmals erforderlich sein, das Opfer erneut anzuhören. Der Behörde steht diese Möglichkeit im Rahmen der abschliessenden Beurteilung offen, damit sie so einen Entscheid fällen kann. Doch soll von einer Anhörung abgesehen werden können, wenn diese das Opfer erneut sehr belasten würde und zur Entscheidfindung nicht erforderlich ist.

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3.3.6

Verzicht auf die Einführung einer besonderen Strafnorm gegen Stalking

Die Forderung nach einem spezifischen Straftatbestand Verschiedene parlamentarische Vorstösse haben in der Vergangenheit verlangt, das Strafgesetzbuch um eine spezifische Strafnorm gegen Stalking zu ergänzen. Zu nennen sind die Motionen 07.3092123 und 08.3495124. Der Bundesrat ist in seinen Stellungnahmen zu diesen Motionen zum Schluss gelangt, dass eine entsprechende Ergänzung des Strafgesetzbuches nicht erforderlich sei. Die Motion 07.3092 wurde abgeschrieben; die Motion 08.3495 wurde im Nationalrat angenommen und im Ständerat abgelehnt. In seiner Stellungnahme zur Motion 13.3742125 teilte der Bundesrat die Ansicht der Motionärin, dass die Probleme um das Thema Stalking vom geltenden Recht nicht oder nur unbefriedigend gelöst werden. Es scheine daher notwendig, über weitere Massnahmen nachzudenken. Er verwies diesbezüglich auf die damals laufende Evaluation der Wirksamkeit von Artikel 28b ZGB. Auch diese Motion wurde im Nationalrat angenommen und im Ständerat abgelehnt.

Der Evaluationsbericht zur Umsetzung und Wirkung von Artikel 28b ZGB enthält unter anderem die Empfehlung, «eine gesonderte strafrechtliche Stalkingnorm respektive andere/weitere erfolgversprechende Strategien zum Schutz vor Stalking zu prüfen».126 Der Bundesrat verzichtete allerdings darauf, einen entsprechenden Vorschlag in den Vorentwurf aufzunehmen.

In der Folge haben verschiedene Vernehmlassungsteilnehmende in ihren Stellungnahmen bedauert, dass kein Straftatbestand gegen Stalking geschaffen werden sollte, obwohl es das erklärte Ziel der Vorlage sei, Opfer von Stalking besser zu schützen.

Zwar erlaube Artikel 28b ZGB die Anordnung eines Annäherungs- oder Kontaktverbots. Doch richte sich diese nach dem Dispositionsgrundsatz und eine Verletzung ziehe lediglich eine Busse gemäss Artikel 292 StGB nach sich. Erst strafprozessuale Massnahmen würden das nötige Stoppsignal setzen.127 Im Postulat 14.4204128 wird ausgeführt, dass neben der Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen weitere Massnahmen erforderlich seien, um Opfer von Stalking zu schützen und die stalkende Person in die Schranken zu weisen. Entsprechend dem Antrag des Bundesrates hat der Nationalrat daher Punkt 1 des Postulats angenommen und den Bundesrat beauftragt, eine Übersicht zu international und national erfolgreichen Massnahmen im Kampf gegen Stalking zu erstellen. 129 Gemäss dem 123 124 125 126 127

128 129

Motion Hess «Anti Stalking-Gesetz» (07.3092) vom 21. März 2007.

Motion Fiala «Stalking» (08.3495) vom 18. September 2008.

Motion Fiala «Stalking-Thema nicht auf die lange Bank schieben» (13.3742) vom 13. September 2013.

Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45), 79.

Einen Stalking-Tatbestand fordern 6 Kantone und 4 Organisationen; nach einer Partei muss die Frage nach der Notwendigkeit eines Stalking-Tatbestandes nochmals eingehend geprüft werden: Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 42.

Postulat Feri «Bekämpfung von Stalking in der Schweiz verbessern» (14.4204) vom 11. Dezember 2014.

Der Bundesrat beantragte die Annahme von Punkt 1 des Postulats, lehnte jedoch Punkt 2 des Postulats (Erarbeitung einer nationalen Strategie gegen Stalking) ab. Der Nationalrat ist ihm gefolgt.

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Forschungsbericht vom 22. März 2017, den das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) in Erfüllung des Postulats in Auftrag gegeben hatte, ist ein spezifischer Stalking-Tatbestand im Ausland vielfach Grundlage für die Entwicklung und Bereitstellung von Massnahmen, die Stalking-Opfer unterstützen und die stalkende Person zur Verantwortung ziehen sollen. In der Forschungsliteratur würden Anti-Stalking-Gesetze zudem aufgrund ihrer gesellschaftlichen Signalwirkung als wichtig erachtet.130 Der Forschungsbericht empfiehlt deshalb, die Vor- und Nachteile der Einführung einer strafrechtlichen Stalking-Bestimmung zu prüfen.131 Diskussion Nach erneuter Prüfung hält der Bundesrat an seiner Position fest, dass es nicht notwendig ist, einen besonderen Straftatbestand gegen das Stalking zu schaffen. Wie dargestellt kann Stalking bereits aufgrund verschiedener heute vorhandener Straftatbestände verfolgt und bestraft werden.132 Für den Bundesrat entscheidend ist folgende Überlegung: Er ist der Ansicht, dass den Betroffenen mit einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB besser und direkter geholfen werden kann als mit einem spezifischen Straftatbestand. Insbesondere in Fällen von weichem Stalking führt die elektronische Überwachung zu einer massgeblichen Verbesserung, indem ein Annäherungs-, Rayonoder Kontaktaufnahmeverbot auch elektronisch überwacht werden kann. Dies dürfte die Tatperson in vielen Fällen davon abhalten, ein solches Verbot zu missachten. Ein Verbot und dessen elektronische Überwachung können mittels vorsorglicher oder gar superprovisorischer133 Massnahmen sehr rasch angeordnet werden. Mit der vorliegenden Revision wird die Beweissituation für das Opfer bei einer Missachtung entscheidend verbessert. Zuwiderhandlungen gegen die gerichtliche Anordnung können dank der Aufzeichnung der Bewegungen viel einfacher nachgewiesen werden. Wurde das Verbot mit einer Strafdrohung nach Artikel 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen) verbunden, können die betreffenden Handlungen zumindest nach dem Durchlaufen eines entsprechenden Gerichtsverfahrens unter Strafe gestellt werden. Zudem wird der Beweis anderer strafbarer Handlungen massgeblich erleichtert. Damit wird der Schutz effektiv gesteigert.

Im Zivilrecht gilt die Dispositionsmaxime; auch muss die betroffene
Person die Persönlichkeitsverletzung nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Mit der vorliegenden Revision soll nun zumindest die Kostenhürde gesenkt werden, indem der betroffenen Person keine Gerichtskosten mehr auferlegt werden dürfen. Mit dem vorgeschlagenen Verzicht auf das Schlichtungsverfahren wird das Verfahren zudem verkürzt und vereinfacht.

Ein Straftatbestand gegen Stalking könnte dagegen verschiedene Probleme aufwerfen. Stalking ist vielgestaltig und kommt in ganz unterschiedlichen Schweregraden vor, wie schon die Liste der anwendbaren Straftatbestände und die Bundesgerichts130 131 132 133

Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48), 21 und 13.

Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48), 84.

Vgl. Ziff. 1.3.4.

Also ohne dass der Gesuchsgegner vor Erlass der Massnahme vom Gesuch überhaupt Kenntnis erhält und sich dazu äussern kann.

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praxis zeigen. Ein Straftatbestand gegen Stalking müsste all diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen gerecht werden. Es ist aber äusserst zweifelhaft, ob überhaupt eine Formulierung gefunden werden kann, die einerseits all diese Verhalten erfassen, gleichzeitig aber auch den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes entsprechen würde.

Bei gewissen Stalking-Handlungen kann es fragwürdig sein, ob diese isoliert betrachtet die Strafbarkeitsschwelle der bestehenden Strafnormen erreichen. In ihrer Gesamtheit können sie für das Opfer aber durchaus sehr belastend sein. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Nötigung134 lässt es allerdings zu, die einzelnen Tathandlungen unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu würdigen, sodass die stalkende Person nach diesem Tatbestand bestraft werden kann, wenn die erforderliche Zwangsintensität gegeben ist. Weiter ist denkbar, dass einzelne StalkingHandlungen in ihrer Gesamtheit den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen: Stalking kann zu einer Beeinträchtigung der physischen Gesundheit (beispielsweise Schlaf- oder Essstörungen) oder der psychischen Gesundheit führen (häufig sind etwa generalisierte Angststörungen oder Depressionen).135 Solchen gravierenden Beeinträchtigungen kommt Krankheitswert zu.136 Sofern mehrere einzelne StalkingHandlungen als Handlungseinheit erscheinen, lassen sich auf sie die Tatbestände der Körperverletzung anwenden.

Wollte man die Strafbarkeit dagegen ausweiten und insbesondere auch «weiches» Stalking erfassen, so stellt sich das Problem der Strafwürdigkeit und es ist mit heiklen Abgrenzungsproblemen zu rechnen. Ein solcher Straftatbestand könnte im Ergebnis auf einen Gefühlsschutz der betroffenen Person hinauslaufen: Die Strafbarkeit würde davon abhängen, ob sich das Opfer belästigt fühlt. Für die Strafwürdigkeit ist hingegen eine höhere Eingriffsintensität erforderlich, die auch eine «verständige Person in der Lage der Betroffenen»137 als belästigend betrachten würde. Eine solche Objektivierung ist im Strafrecht gemäss Lehre und Praxis zumindest bei anderen Tatbeständen unabdingbar.138 Eine Bestimmung, die die verschiedenen Stalkingformen in einem gemeinsamen Tatbestand zusammenfasst, könnte zudem kaum mit einer einheitlichen Strafdrohung verbunden werden. Es müssten Abstufungen betreffend das Unrecht
vorgenommen und auch Konkurrenzfragen zu anderen Strafnormen berücksichtigt werden. Wäre der Täter nicht nach verschiedenen konkurrierenden Tatbeständen zu beurteilen, 134 135 136

Vgl. Ziff. 1.3.4.

Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48), 12.

Roth Andreas/Berkemeier Anne, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht II, 3. Aufl., Basel 2013, Vor Art. 122 N 18. Gemäss Bundesgericht ist eine Körperverletzung beispielsweise bei der Herbeiführung eines Nervenschocks erfüllt: BGE 103 IV 65, E. II.2.c) und 107 IV 40, E. 5 c). Zum Ganzen Kinzig Jörg, Die Strafbarkeit von Stalking in Deutschland ­ Vorbild für die Schweiz?, recht 2011, 1 ff., 11.

137 BGE 122 IV 322, E. 1 138 In Deutschland ist im Jahr 2007 der Tatbestand der Nachstellungen nach § 238 des Strafgesetzbuches in Kraft getreten. Der Tatbestand wurde per 1.3.2017 bereits revidiert. Der Tatbestand in der zuvor geltenden Fassung, der eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers voraussetzte, wurde kritisiert, da die Erfüllung des Tatbestandes von der Frustrationstoleranz des Opfers abhänge: Kinzig (Fn. 136), 5 m.w.Hinw.

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sondern nach einem einzigen Tatbestand, so könnte dies sodann dazu führen, dass im Ergebnis eine tiefere Strafe ausgefällt würde.139 Unvermeidlich stellt sich auch die Frage nach dem gemeinsamen geschützten Rechtsgut eines solchen umfassenden Stalking-Tatbestandes.140 Gelegentlich wird vorgebracht, dass es nach geltendem Recht angesichts der Vielfalt der anwendbaren Straftatbestände schwierig sei, der beschuldigten Person die jeweilige Straftat nachzuweisen. In Stalking-Fällen (wie generell auch bei Sexualdelikten) sind Beweisprobleme in der Tat häufig. Dieses Problem liesse sich jedoch auch mit einem Stalking-Tatbestand nicht entschärfen. Der Grundsatz, dass die jeweilige Straftat der beschuldigten Person nachgewiesen werden muss, ist eine unvermeidliche (und rechtsstaatlich notwendige) Folge der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 10 Abs. 1 StPO). Eine Strafnorm mit unklaren Konturen könnte zudem zu noch grösseren Beweisschwierigkeiten führen. Dagegen führt die vorgeschlagene elektronische Überwachung zivilrechtlicher Verbote gerade in Fällen von weichem Stalking zu einer massgeblichen Verbesserung der Beweissituation.

Weitere Entwicklungen und Empfehlungen gegen Stalking Dass der Bundesrat die Ernsthaftigkeit des Problems und den Handlungsbedarf erkannt hat, zeigen auch weitere Entwicklungen und Empfehlungen: Der Bericht in Erfüllung des Postulats 13.3441141 zeigt ausgewählte Beispiele verschiedener kantonaler Systeme des Bedrohungsmanagements zur Bekämpfung von Gewalt auf. Mit einem kantonalen Bedrohungsmanagement sollen gefährliche Entwicklungen von Personen frühzeitig, systematisch und institutionenübergreifend wahrgenommen und beurteilt werden. Besteht ein erhöhtes Risiko für eine Gewalttat, soll diese verhindert werden.142 Das Postulat legt das Schwergewicht auf die häusliche Gewalt; ein Teil der Kantone zieht jedoch unter anderem auch Stalking in das Bedrohungsmanagement mit ein (unabhängig davon, ob dieses im häuslichen Kontext begangen wurde oder nicht), weshalb der Bericht mit entsprechenden Informationen ergänzt worden ist.143 In seinem Bericht stellt der Bundesrat fest, dass sich das Konzept eines Bedrohungsmanagements zu etablieren beginnt. Die Mehrheit der Kantone hat ein solches eingerichtet oder arbeitet an dessen Einführung. Der Bundesrat begrüsst die Bestrebungen, die Zusammenarbeit verschiedener Stellen zur Abwehr von Straftaten zu institutionalisieren, und empfiehlt, hierzu den Austausch unter den Kantonen fortzusetzen.144

139 140 141

142

143 144

Zur Verklammerung der Begleittaten im deutschen Tatbestand Kinzig (Fn. 136), 5.

Der Stalkingtatbestand des deutschen Rechts schützt den Rechtsfrieden des Opfers, ein in der Schweiz bislang unbekanntes Rechtsgut.

Postulat Feri «Bedrohungsmanagement bei häuslicher Gewalt. Überblick über die rechtliche Situation und Schaffen eines nationalen Verständnisses» (13.3441) vom 13. Juni 2013.

Bedrohungsmanagement, insbesondere bei häuslicher Gewalt, Bericht in Erfüllung des Postulates 13.3441 Feri vom 13.06.2013, 5, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Gesellschaft > Opferhilfe > Publikationen.

Bericht Bedrohungsmanagement (Fn. 142), 5.

Bericht Bedrohungsmanagement (Fn. 142), 27

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Auch der bereits erwähnte Forschungsbericht vom 22. März 2017, der in Erfüllung des Postulats 14.4204145 erstellt worden ist, enthält verschiedene Empfehlungen: so beispielsweise die Information, Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen, die niederschwellige Information der Opfer über Verhaltensregeln und Handlungsmöglichkeiten oder eine Normverdeutlichung durch polizeiliche Ansprache von Gefährdern oder Gefährderinnen. Speziell zum Schutz vor weichem Stalking wird unter anderem vorgeschlagen, den Präventionsauftrag der Polizei zu erweitern.146 Schliesslich fördert der Bund auf dem Weg der Finanzhilfen nach dem Opferhilfegesetz vom 23. März 2007147 die Schulung der Personen, die im weiteren Sinne mit Opferhilfe beschäftigt sind (Personal der Opferberatungsstellen, Anwälte, Richterinnen, Polizei).

Fazit Der Bundesrat ist der Ansicht, dass es notwendig ist, weitere Massnahmen gegen Stalking zu treffen. Die Einführung eines besonderen Tatbestandes gegen Stalking erachtet er allerdings als problematisch; es ist absehbar, dass damit neue Schwierigkeiten und Unsicherheiten entstehen würden, während der Nutzen einer solchen Bestimmung fragwürdig ist. Aus der Sicht des Bundesrates sind deshalb vielmehr die bestehenden zivil- und strafrechtlichen Instrumente zu stärken und wirksamer auszugestalten. So sind die bestehenden Defizite in der Strafverfolgung bei den bestehenden Straftatbeständen (z. B. bei der Anzeigeerstattung) anzugehen, etwa durch eine Schulung und Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden (insbesondere der Polizei).

Der Bundesrat ist aber vor allem überzeugt, dass die zivilrechtliche Gewaltschutzbestimmung von Artikel 28b ZGB ausreichend Potenzial aufweist, um eine Verbesserung der Situation von Stalking-Opfern zu erreichen und um auf die Einführung einer zusätzlichen Strafbestimmung zu verzichten. Dies umso mehr, als die im vorliegenden Entwurf vorgeschlagenen Änderungen ­ die Herabsetzung der prozessualen Hürden und die Möglichkeit der elektronischen Aufzeichnung der Verletzung gerichtlicher Anordnungen sowie die Weiterbildungspflicht der zuständigen Institutionen ­ den zivilrechtlichen Schutz weiter verstärken werden. Schliesslich ist auf die weiteren laufenden Arbeiten und Entwicklungen auf Bundes- und Kantonsebene hinzuweisen, mit denen der Schutz und die Unterstützung von Personen, die von Stalking betroffen sind, konkret verbessern werden sollen.148

145 146 147 148

Vgl. Fn. 128.

Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48), 84 f.

SR 312.5 Vgl. den Bericht zum Bedrohungsmanagement (Fn. 142) und den Forschungsbericht vom 22. März 2017 in Erfüllung des Postulats 14.4204, Egger/Jäggi/Guggenbühl (Fn. 48).

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3.3.7

Verzicht auf eine Übergangsbestimmung

Bei Artikel 55a StGB handelt es sich um eine prozessrechtliche Bestimmung im StGB.149 Sie regelt nicht etwa die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens, sondern vielmehr, in welchen Fällen ein Strafverfahren wegen einfacher Körperverletzung, wiederholten Tätlichkeiten, Drohung oder Nötigung in Paarbeziehungen zu sistieren und einzustellen ist.150 Damit findet das Rückwirkungsverbot nach Artikel 2 Absatz 1 StGB keine Anwendung. Nach den allgemeinen Grundsätzen werden Verfahren, die bei Inkrafttreten von Artikel 55a E-StGB hängig sind, nach dem neuen Recht fortgeführt (vgl. Art. 448 Abs. 1 StPO). Dies bedeutet insbesondere, dass sich die Wiederanhandnahme und Einstellung eines bereits unter dem geltenden Recht sistierten Verfahrens nach Inkrafttreten der neuen Bestimmung nach Letzterer richtet. Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht muss somit nachträglich prüfen, ob die Sistierung geeignet ist, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern. Ist dies nicht der Fall, so muss das Verfahren wieder an die Hand genommen werden.

Denkbar wäre, in einer Übergangsbestimmung vorzusehen, dass bereits sistierte Verfahren nach dem zum Zeitpunkt der Sistierung geltenden Recht abgeschlossen werden. Um aber möglichst bald das Ziel zu erreichen, das Opfer zu entlasten und nicht mehr allein auf seine Erklärung abzustellen, wird vorgeschlagen, auf eine solche Übergangsbestimmung zu verzichten.

3.4

Fehlende Kompetenz für den Erlass eines nationalen Gewaltschutzgesetzes

Im Rahmen der Evaluation von Artikel 28b ZGB haben die Evaluatorinnen abschliessend Empfehlungen für einen verbesserten Schutz von Personen formuliert, die von häuslicher Gewalt und Stalking betroffen sind. Neben der Behebung der festgestellten Probleme durch punktuelle Verbesserungen innerhalb der geltenden Gesetze haben sie zudem vorgeschlagen, ein nationales Gewaltschutzgesetz zu schaffen; auf diese Weise könnten viele der bestehenden Schwierigkeiten beseitigt werden.

Zur Schaffung eines nationalen Gewaltschutzgesetzes äusserte sich der Bundesrat bereits in seiner Stellungnahme vom 20. Mai 2009 zur Motion 09.3411 151 vom 30. April 2009. Er vertrat dabei die Ansicht, dass mit Artikel 28b ZGB sowie der ZPO eine klare gesetzliche Grundlage im Kampf gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen bestehen würde. Zudem würde ein umfassendes Gewaltschutzgesetz Bereiche betreffen, für die heute die Kantone zuständig seien, der Bund jedoch gar keine Kompetenzen hätte. Um die notwendigen Kompetenzen zu bekommen, wäre

149

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909, hier 1921 f.

150 Urteil des Bundesgerichts 6S.454/2004 vom 21. März 2006, E. 2.

151 Motion Leutenegger Oberholzer «Eidgenössisches Gewaltschutzgesetz» (09.3411) vom 30. April 2009.

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somit eine Verfassungsänderung notwendig. Der Nationalrat hat die Motion 09.3411 in der Folge am 3. Juni 2009 abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der unveränderten Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen verzichtet der Bundesrat zum jetzigen Zeitpunkt darauf, diesen Weg weiterzuverfolgen.

3.5

Umsetzung

Grundsätzlich bedürfen die vorgeschlagenen Anpassungen bestehender Bundesgesetze keiner Ausführungsbestimmungen auf Verordnungsstufe. Die vorgeschlagenen Anpassungen des Zivilrechts werden jedoch zu Anpassungen im kantonalen Recht, namentlich der Regelungen für polizeiliche Sofortmassnahmen, führen (vgl. dazu Ziff. 1.2.6). Daneben haben die Kantone die notwendigen Vollzugsregelungen für die Anordnung der elektronischen Überwachung zu erlassen.

3.6

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Es wird beantragt, die folgenden parlamentarischen Vorstösse als erledigt abzuschreiben: 2011

M

09.4017

Geschlagene Frauen schützen (N 03.03.2010, Perrin; S 30.05.2011)

Der Bundesrat wird mit dieser Motion beauftragt, die von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen besser zu schützen, indem der Täter ein elektronisches Armband oder eine elektronische Fussfessel tragen muss. Mit der vorgeschlagenen Schaffung einer gesetzlichen Grundlage (Art. 28c E-ZGB) zur Anordnung einer elektronischen Überwachung zwecks Durchsetzung zivilrechtlicher Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB wird die Motion erfüllt.

2013

M

12.4025

Opfer häuslicher Gewalt besser schützen (S 14.03.2013 Keller-Sutter; N 23.09.2013)

Diese Motion beauftragt den Bundesrat, Artikel 55a StGB dahingehend anzupassen, dass vor einer definitiven Einstellung des Strafverfahrens das Opfer nochmals anzuhören und seine Äusserungen im Rahmen eines allfälligen Einstellungsentscheids zu berücksichtigen sind. Mit der vorgeschlagenen Einführung eines neuen Absatzes 5 in Artikel 55a StGB wird dem Anliegen dieser Motion Rechnung getragen.

7363

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4

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

4.1

Zivilgesetzbuch (ZGB)

Art. 28b Abs. 3bis Der geltende Artikel 28b ZGB soll um einen neuen Absatz 3bis ergänzt werden, der die Mitteilung von gerichtlichen Entscheiden zum zivilrechtlichen Gewaltschutz an andere Behörden regelt.

In der Evaluation152 zeigte sich, dass insbesondere die fehlende Information bzw.

der fehlende Einbezug weiterer Behörden in Fällen häuslicher Gewalt mit ihrer oftmals mehrschichtigen Konfliktsituation einen spezifischen Mangel des geltenden Rechts darstellt.153 Speziell die Kriseninterventionsstelle nach Absatz 4 dieser Bestimmung, aber auch die KESB müssen über die Anordnung zivilrechtlicher Schutzmassnahmen informiert sein, damit die Gefahr ineffizienter Doppelspurigkeiten und Koordinationsprobleme sowie unerwünschter Schutzlücken im Interesse aller Beteiligter möglichst vermieden werden können. In der Vernehmlassung hat sich gezeigt, dass die Beschränkung auf diese zwei Adressaten und auf den einen Zweck nicht genügt, sondern dass die Bestimmung offener gehalten werden sollte. 154 Neu soll daher gesetzlich vorgesehen werden, dass das Gericht seinen Entscheid über eine Schutzmassnahme nach Artikel 28b ZGB nicht nur den zuständigen KESB sowie der kantonalen Stelle nach Artikel 28b Absatz 4 ZGB mitteilt, sondern weiteren Behörden und auch Dritten. Während nach der Vernehmlassungsvorlage diese Entscheide nur insoweit hätten weitergegeben werden dürfen, als dies für die Aufgabenerfüllung durch die genannten Behörden und Stellen erforderlich ist, sieht der Entwurf vor, dass sie auch dann weitergegeben werden dürfen, wenn dies zum Schutz der klagenden Person notwendig ist oder der Vollstreckung des Entscheids dient. Mit Absatz 3bis wird die notwendige gesetzliche Grundlage für eine Mitteilung eines Entscheids an Behörden sowie Dritte geschaffen, wie sie in Artikel 240 ZPO für eine solche Mitteilung vorausgesetzt wird.

In erster Linie geht es darum, dass die zuständige Stelle gemäss Artikel 28b Absatz 4 ZGB und damit insbesondere auch die zuständige Polizeibehörde für den Krisenfall Kenntnis von zivilrechtlichen Schutzmassnahmen hat. Dadurch soll die notwendige Koordination mit allfälligen strafrechtlichen oder behördlichen Gewaltschutzmassnahmen verbessert werden. Zudem ist es unabdingbar, dass auch die zuständigen KESB über Schutzmassnahmen nach Artikel 28b ZGB informiert sind.

Denn häufig
besteht in solchen Fällen Bedarf nach ergänzenden Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzes zum Schutz (mit)betroffener Kinder oder aber nach der Anordnung einer Besuchsregelung für den Elternteil, der aus der Wohnung ausgewiesen wurde oder gegen den ein Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot verhängt worden ist. Durch die Erweiterung des Adressatenkreises auf weitere Behör152 153 154

Vgl. dazu Gloor/Meier/Büchler (Fn. 45).

Vgl. ausführlich Ziff. 1.5.1 unter «Evaluationsergebnisse».

Vgl. dazu Ziff. 2.2.2 unter « Mitteilungspflicht von Gewaltschutzentscheiden an andere Behörden (Art. 28b Abs. 3bis VE-ZGB)»; ausführlich in: Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahren (Fn. 86), Ziff. 5.1.1.3 und 5.1.1.4, abrufbar unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Schutz vor häuslicher Gewalt.

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den und Dritte wird es jetzt auch möglich, Stellen zu informieren, die für die Anordnung und den Vollzug von Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen zuständig sind. Dies erlaubt beispielsweise eine bessere Koordination von Massnahmen in einem Zeitpunkt, in dem die KESB noch nicht oder nicht mehr direkt am Verfahren beteiligt ist, wie in den ersten sechs Wochen einer fürsorgerischen Unterbringung oder nach Übertragung der Entlassungskompetenz an die Klinik. Dem entscheidenden Gericht kommt hier auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes ein Ermessensspielraum zu, wobei im Zweifelsfall eine Mitteilung gemacht werden sollte.

Besonders bedeutsam ist in diesem Kontext aber auch die Amtshilfe zwischen den verschiedenen Behörden. So erfolgt bereits im Vorfeld eines Entscheids eine Koordination oder zumindest eine Information zwischen den verschiedenen Behörden.

Denkbar ist auch, dass das Gericht nach Artikel 190 ZPO Amtsstellen um schriftliche Auskunft ersucht.

Art. 28b Abs. 4 zweiter Satz Über die Schaffung von Kriseninterventionsstellen für Opfer von Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen hinaus sollen die Kantone neu auch dafür sorgen, dass die Personen, die in diesen Stellen oder an den Gerichten mit dem Schutz gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen betraut sind, über die nötigen Kenntnisse für ihre spezifische Tätigkeit verfügen. Dafür ist eine entsprechende Weiterbildung unabdingbar. In der konkreten Ausgestaltung der Gewährleistung dieser Weiterbildung sind die Kantone frei. Zu denken ist etwa an besondere Kurse und Seminare für die betroffenen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, damit diese über die Möglichkeiten des Gewaltschutzes und die sich bei dessen Um- und Durchsetzung stellenden praktischen Schwierigkeiten informiert sind und darüber hinaus die für ihre Tätigkeit notwendige Sensibilisierung entwickeln können. Dieser Vorschlag stiess in der Vernehmlassung mehrheitlich auf Zustimmung und wurde unverändert aus dem Vorentwurf übernommen.

Art. 28c

Anordnung einer elektronischen Überwachung

Die neue Bestimmung liefert, gerade in Fällen von Nachstellungen (Stalking), aber auch bei Fernhaltemassnahmen aufgrund häuslicher Gewalt, die Grundlage für die gerichtliche Anordnung einer elektronischen Überwachung zur Umsetzung und Durchsetzung einer Schutz-massnahme nach Artikel 28b ZGB und legt das Verfahren dafür fest.155 Eine Beschränkung der zivilrechtlichen Bestimmung auf den «Schutz geschlagener Frauen», wie sie die Motion 09.4017156 verlangt, ist aus Gründen der Gleichstellung der Geschlechter (Art. 8 BV) nicht angebracht. Gerade in Paarbeziehungen gibt es gewalttätiges Konfliktverhalten, bei dem Gewalt von beiden Seiten ausgeht. 157

155 156 157

Vgl. die Ausführungen zur elektronischen Überwachung unter Ziff. 3.2.3.

Vgl. Ziff. 1.4.2.

Zoder (Fn. 80), 19.

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Zudem ist im häuslichen Rahmen etwa auch an die Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen oder von diesen gegenüber ihren Eltern zu denken.

Absatz 1 definiert die elektronische Vorrichtung und legt den Anwendungsbereich und die Art der Überwachung fest.

Zur Durchsetzung einer Schutzmassnahme nach Artikel 28b ZGB kommen elektronische Vorrichtungen in Betracht, die mit der verletzenden Person fest verbunden werden und mit denen ihr Aufenthaltsort fortlaufend ermittelt und aufgezeichnet werden kann. Der Wortlaut der Bestimmung verlangt keine aktive Überwachung in dem Sinne, dass die gesendeten Positionsdaten in einer Überwachungszentrale ständig überwacht und bei vorab definierten Ereignissen ­ wie beispielsweise einem Aufenthalt der gefährdenden Person in einem bestimmten Gebiet, das unter das Rayonverbot fällt ­ eine Intervention ausgelöst werden müsste. Selbstverständlich können die Kantone in der kantonalen Gesetzgebung, beispielsweise in den Polizeigesetzen oder ihren eigenen Gewaltschutzgesetzen, eine solche Überwachung vorsehen. Der Bundesrat schlägt, mit Blick auf die kontrovers ausgefallenen Reaktionen der Vernehmlassungsteilnehmenden zu Artikel 28c VE-ZGB, keine solche Echtzeitüberwachung im Zivilrecht vor. Vielmehr sollen die Positionsdaten über GPS zwar fortlaufend ermittelt und aufgezeichnet werden; ihre Auswertung kann jedoch nachträglich erfolgen, beispielsweise bei Bedarf, wenn das Opfer sich meldet und sich darüber beklagt, dass die überwachte Person sich nicht an den Entscheid des Zivilgerichts hält.158 Die aufgezeichneten Daten können in einem solchen Fall zu Beweiszwecken verwendet werden, und zwar nicht nur in einem Vollstreckungsverfahren zur Anordnung und späteren Ausfällung einer Sanktion nach Artikel 343 ZPO, sondern auch in einem Strafverfahren wie beispielsweise zur Vollstreckung der vom Zivilgericht angedrohten Strafe nach Artikel 292 StGB oder wegen Nötigung gemäss Artikel 181 StGB.

Die neue Massnahme kann ausschliesslich zur Durchsetzung eines Verbots angeordnet werden, welches sich auf Artikel 28b Absatz 1 ZGB stützt. Neben der häuslichen Gewalt gibt es weitere Formen von Gewalt, die im Rahmen von Artikel 28b ZGB zu berücksichtigen sind, so insbesondere die Drohung und die Nachstellung, d. h.

Handlungen, die unter den Begriff des «Stalking» fallen.159 Diesem
Anwendungsbereich entspricht auch die Istanbul-Konvention.160 Es muss somit ein Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot nach Artikel 28b Absatz 1 ZGB angeordnet worden sein oder zumindest gleichzeitig angeordnet werden, sei dies im Rahmen eines vorsorglich oder superprovisorisch verfügten Verbots oder aber erst im Hauptsacheverfahren (vgl. auch Abs. 2).

Die Anordnung einer elektronischen Vorrichtung setzt einen entsprechenden Antrag der klagenden oder gesuchstellenden Person voraus. Nach den allgemeinen Grundsätzen des Zivilprozessrechts gilt auch hier der Dispositionsgrundsatz (Art. 58 Abs. 1 ZPO); eine Anordnung von Amtes wegen bleibt ausgeschlossen. Gegen den Willen der klagenden oder gesuchstellenden Person erscheint die Anordnung einer elektro158 159

Vgl. dazu «Technische Möglichkeiten» in Ziff. 3.2.3.

Parlamentarische Initiative. Schutz vor Gewalt im Familienkreis und in der Partnerschaft.

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, BBl 2005 6871.

160 Vgl. Ziff. 7.2.2.

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nischen Vorrichtung auch kaum sinnvoll. Grundsätzlich gilt für Klagen nach Artikel 28b ZGB das vereinfachte Verfahren nach den Artikeln 243­247 ZPO (Art. 243 Abs. 2 Bst. b ZPO). Gemäss Artikel 247 Absatz 2 Buchstabe a ZPO stellt das Gericht in den betreffenden Verfahren den Sachverhalt von Amtes wegen fest (sog.

soziale Untersuchungsmaxime). Es ist daher denkbar, dass das Gericht die klagende oder gesuchstellende Partei gestützt auf die verstärkte gerichtliche Fragepflicht 161 über die Schutzmöglichkeit mittels einer elektronischen Vorrichtung informiert.

Soweit das summarische Verfahren nach den Artikeln 248 ff. ZPO anwendbar ist, namentlich bei einer vorsorglichen Anordnung, kann das Gericht im Rahmen der gerichtlichen Fragepflicht nach Artikel 56 ZPO durch entsprechende Fragen auf die Klarstellung und Ergänzung der Parteivorbringen hinwirken.

Die elektronische Überwachung kann nicht nur vom Erkenntnisgericht, sondern auch vom Vollstreckungsgericht angeordnet werden (vgl. auch Art. 343 Abs. 1 bis E-ZPO).

Der entsprechende Antrag kann somit auch noch später gestellt werden, wenn sich erweisen sollte, dass sich die verletzende Person nicht an die Entscheidung des Zivilgerichts hält. Örtlich zuständig sind die Gerichte am Wohnsitz der klagenden oder gesuchstellenden (verletzten) oder der verletzenden Person (vgl. die Art. 13, 20 Bst. a und 339 ZPO).

Das gerichtlich verordnete Tragen eines elektronischen Armbands oder einer elektronischen Fussfessel stellt eine Massnahme dar, welche die Privatsphäre und damit die Persönlichkeit der verletzenden Person und insbesondere deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung erheblich beeinträchtigt. Solche grundrechtlichen Einschränkungen müssen vor dem verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 2 und 36 Abs. 3 BV) standhalten. Anders als die Bestimmung des Vorentwurfs enthält der Entwurf keinen entsprechenden Hinweis mehr. Dies liegt im Umstand begründet, dass eine Abklärung der Verhältnismässigkeit durch das Gericht in jedem Fall zwingend ist. Eine Einschränkung der Grundrechte einer Person bedarf immer einer genügenden gesetzlichen Grundlage und darf nur so weit erfolgen, als die Massnahme geeignet ist, das anvisierte Ziel zu erreichen, und weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen oder von vornherein als ungenügend
erscheinen.

Bevor eine elektronische Überwachung angeordnet wird, muss im Rahmen der Prüfung der Verhältnismässigkeit somit zwingend eine Eignungsabklärung mit entsprechender Risikoabschätzung bezüglich der verletzenden Person vorgenommen werden. Besteht die Gefahr, dass diese insbesondere physische oder sexuelle Übergriffe verüben könnte, so bietet die elektronische Überwachung keine Gewähr für eine Verhaltensänderung gegenüber dem potenziellen Opfer und eignet sich daher nicht. Ein weiterer Aspekt der Verhältnismässigkeit ist, dass auch die Dauer (vgl.

dazu die Ausführungen zu Abs. 2) und der Wirkungsort der elektronischen Überwachung (bestimmte Zone) begrenzt werden.

Bei der elektronischen Überwachung handelt es sich damit um eine subsidiär anwendbare Schutzmassnahme, die sich nur dann rechtfertigt, wenn ein Verbot nach Artikel 28b Absatz 1 ZGB nicht eingehalten worden ist oder wenn voraussehbar ist, 161

Fraefel Christian, in: Oberhammer Paul/Domej Tanja/Haas Ulrich (Hrsg.), Kurzkommentar ZPO, Basel 2014, Art. 247 N 8.

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dass es nicht eingehalten wird, und so auf eine bestehende oder drohende Gefährdung bzw. Verletzung der Grundrechte des potenziellen Opfers durch die verletzende Person geschlossen werden kann. Das ist beispielsweise der Fall, wenn die verletzende Person vor Gericht erklärt, dass sie sich nicht an das Annäherungsverbot halten werde, oder in der Vergangenheit bereits ausgesprochene Verbote missachtet hat. Der Interessenabwägung ist dabei besondere Beachtung zu schenken. Denn es geht darum, auch die Beeinträchtigung des Opfers durch die Handlungen der gefährdenden Person miteinzubeziehen: Gemäss Artikel 36 BV sind Einschränkungen von Grundrechten nicht nur durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt, sondern auch durch den Schutz von Grundrechten Dritter. Die Beeinträchtigung der Grundrechte der klagenden durch die beklagte Person ist somit bei der Interessenabwägung gleichermassen zu gewichten und zu berücksichtigen.

Was die von zahlreichen Vernehmlassungsteilnehmenden geforderten griffigen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der überwachten Person für den Fall anlangt, dass sie trotz elektronischer Überwachung der Anordnung des Zivilgerichts zuwiderhandeln sollte, sei an dieser Stelle auf die entsprechenden Ausführungen unter Ziffer 3.2.3 zur Sanktion bei Zuwiderhandlung verwiesen.

Absatz 2 legt die Dauer fest, für die eine elektronische Überwachung längstens angeordnet werden kann. Da es sich um einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre und Persönlichkeit der verletzenden Person handelt, kommt die Anordnung einer elektronischen Vorrichtung stets nur für eine beschränkte maximale Zeitdauer in Betracht. Bei ordentlicher Anordnung beträgt diese Frist sechs Monate. Sie kann vom Gericht einmal oder mehrmals jeweils um sechs Monate verlängert werden (Abs. 2 zweiter Satz); dies setzt voraus, dass die ursprünglich eine Anordnung rechtfertigenden Voraussetzungen und damit die Verhältnismässigkeit weiterhin gegeben sind. Im Interesse der verletzten Person wirkt die Anordnung einer elektronischen Vorrichtung damit mittelfristig für eine voraussehbare Dauer, während der durchaus eine Beruhigung und Entspannung der Gefährdungssituation erwartet werden kann.

Andererseits wird, besonders im Interesse der verletzenden Person, durch die Begrenzung der Dauer einer solchen Massnahme sichergestellt, dass
periodisch überprüft wird, ob die Massnahme noch erforderlich ist. Erfolgt die Anordnung vorsorglich, so kann die Massnahme für maximal sechs Monate angeordnet und als solche nicht verlängert werden (Abs. 2 dritter Satz). Es besteht jedoch die Möglichkeit einer anschliessenden Anordnung im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens.

Absatz 3 hält fest, dass der Vollzug der Anordnung einer elektronischen Überwachung bei den Kantonen liegt. Diese bestimmen die dafür zuständigen Stellen und das eigentliche Vollzugsverfahren (Anordnung, Durchführung und Durchsetzung der Massnahme). Diesbezüglich kann allein schon aus Kosten- und Effizienzgründen sinnvollerweise auf bereits bestehende Technologien, Strukturen und Organisationen aus dem Straf- und Massnahmenvollzug zurückgegriffen beziehungsweise daran angeknüpft werden. Gestützt darauf wäre es beispielsweise zulässig, dass ein privater Anbieter oder die Polizei die Aufgaben der Vollzugsstelle wahrnimmt und für das Anbringen der elektronischen Vorrichtungen besorgt ist; möglich wäre auch eine Aufteilung der Aufgaben auf verschiedene private oder staatliche Stellen.

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Aus Gründen des Datenschutzes müssen die Kantone eine Zweckbindung gewährleisten, damit die Aufzeichnungen nur für die spezifische Gewaltprävention (Abs. 3 zweiter Satz) und nicht für andere Zwecke als die Durchsetzung eines solchen Verbots genutzt werden. Wichtig ist zudem, dass das Opfer zu dessen Durchsetzung nur Einblick in Daten erhält, die auch im Zusammenhang damit stehen; es hat keinen Anspruch zu erfahren, wo sich die überwachte Person während der Überwachungszeit sonst noch aufhält. Aus dem grundrechtlichen Anspruch auf Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten (Art. 13 Abs. 2 BV) ergibt sich zudem ein Anspruch auf Beseitigung und Vernichtung der Daten nach Ablauf der Schutzmassnahme. 162 Im Unterschied zum Vorentwurf verpflichtet der Entwurf die Kantone deshalb zur Löschung der Daten spätestens zwölf Monate nach Abschluss der Massnahme. 163 Über die neu vorgeschlagene Regelung von Artikel 114 Buchstabe f ZPO hinaus, wonach im Entscheidverfahren über Streitigkeiten wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend die Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB keine Gerichtskosten gesprochen werden,164 sollen der verletzten Person auch aus dem Vollzug der Anordnung einer elektronischen Überwachung keine (weiteren) Kosten entstehen (Abs. 4). Das kantonale Recht kann somit den Vollzug nicht von der Leistung eines Kostenvorschusses durch die klagende oder gesuchstellende Person abhängig machen. Vielmehr sollen die Kosten des Vollzugs zulasten der verletzenden und zu überwachenden Partei, sofern diese über die erforderlichen Mittel verfügt, sowie der öffentlichen Hand gehen. Eine entsprechende gesetzliche Grundlage, wie sie von verschiedenen Vernehmlassungsteilnehmenden gefordert wurde, ist dafür nicht nötig. Sie ist in der Vollzugskompetenz der Kantone bereits enthalten.

Soweit nicht im neuen Artikel 28c Absätze 2­4 VE-ZGB spezifisch geregelt, richtet sich das Verfahren zur Anordnung einer elektronischen Überwachung ohne Weiteres nach den Bestimmungen der ZPO, weshalb im Unterschied zum Vorentwurf auch auf einen präzisierenden Hinweis in einem separaten Absatz 5 verzichtet wird.

Neben den spezifischen Bestimmungen zu Artikel 28b ZGB (vgl. Art. 243 Abs. 2 Bst. b ZPO sowie Art. 114 Bst. f und Art. 198 Bst. abis E-ZPO) gilt dies
insbesondere auch für die Zuständigkeits-, Kosten-, Verfahrens- und Rechtsmittelregelungen.

Art. 6d SchlT Übergangsrechtlich sollen die vorgeschlagenen Änderungen gemäss Artikel 6d E-SchlT ZGB auch für Verfahren wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB gelten, die bei Inkrafttreten der Vorlage bereits rechtshängig sind. Die Neuerungen bezüglich Mitteilung der Entscheide (Art. 28b Abs. 3bis E-ZGB) sowie die Möglichkeit der Anordnung einer elektronischen Überwachung (Art. 28c E-ZGB) sollen mit dem Inkrafttreten der Bestimmungen sofort in allen Verfahren anwendbar sein. Übergangsrechtlich ist auch die Anordnung einer elektronischen Überwachung durch das Vollstreckungsgericht auf der Grundlage des 162

Schweizer Rainer J., in: Ehrenzeller Bernhard/Schindler Benjamin/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus A. (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 13 N 85.

163 Angaben zum Datenschutz finden sich auch vorne unter Ziff. 3.2.3.

164 Vgl. dazu die Ausführungen zu dieser Bestimmung unter Ziff. 4.2.

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neuen Artikels 28c E-ZGB ohne Weiteres möglich, wenn das entsprechende Verbot gemäss Artikel 28b ZGB vor dem Inkrafttreten von Artikel 28c E-ZGB ausgesprochen wurde.

4.2

Zivilprozessordnung (ZPO)

Art. 114 Bst. f Die geltende Regelung, wonach im Entscheidverfahren bei ausgewählten Streitigkeiten aus sozialpolitischen Gründen keine Gerichtskosten gesprochen werden, soll neu auch auf die Streitigkeiten wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB und zur Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB ausgedehnt werden. Unter Vorbehalt bös- oder mutwilliger Prozessführung (Art. 115 ZPO) sind damit alle Entscheidverfahren, die Klagen wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder die Anordnung einer elektronischen Überwachung nach dem neu vorgesehenen Artikel 28c E-ZGB zum Gegenstand haben, für alle Parteien kostenlos. Die Kostenlosigkeit wird durch den für die verletzte Person oftmals existenziellen Charakter der Klagen wegen Artikel 28b ZGB oder 28c E-ZGB und das besondere öffentliche Interesse an Rechtsverwirklichung und -durchsetzung gerechtfertigt. Damit wird die im Rahmen der Evaluation als hohe Hürde erkannte Kostenproblematik zugunsten der verletzten Personen entschärft, indem insbesondere auch die Kostenvorschusspflicht und die oftmals unbefriedigende Liquidation der Gerichtskosten entfallen.165 Die Kostenlosigkeit bezieht sich auf die Gerichtskosten, nicht aber die Verpflichtung zur Leistung einer allfälligen Parteientschädigung an die obsiegende Partei. Erfasst sind lediglich Klagen nach den Artikeln 28b ZGB und 28c E-ZGB ausserhalb eherechtlicher Verfahren wie Eheschutz und Scheidung; bei diesen sind oftmals die Voraussetzungen für die unentgeltliche Rechtspflege erfüllt, oder es besteht ein Anspruch auf die Leistung eines Prozesskostenvorschusses durch den finanziell leistungsfähigen Ehegatten. Sodann gilt die Kostenlosigkeit nur für das eigentliche Entscheidverfahren unter Einschluss allfälliger Massnahmen- und Rechtsmittelverfahren, nicht aber für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren sowie ein allfälliges eigentliches Vollstreckungsverfahren mit Ausnahme der Anordnung und der Durchführung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB (vgl.

dazu aber die Ausführungen zu Art. 28c Abs. 2 E-ZGB).

Art. 198 Bst. abis Für die beschränkte Anzahl von Hauptsacheverfahren bei Klagen nach Artikel 28b ZGB und Artikel 28c E-ZGB ausserhalb eherechtlicher Verfahren,166 für die gemäss Artikel 243 Absatz 2 Buchstabe b
ZPO ohne Rücksicht auf den Streitwert das vereinfachte Verfahren zur Anwendung kommt, soll in Zukunft das Schlichtungsverfahren entfallen. Dadurch werden diese Verfahren vereinfacht, indem sie unmittelbar beim zuständigen Gericht anhängig gemacht werden können. Damit wird eine 165 166

Vgl. dazu ausführlich Ziff. 1.5.1 unter «Vorgehen».

Vgl. dazu Ziff. 1.5.1 unter «Vorgehen».

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weitere mögliche prozessuale Hürde für die verletzte Person abgebaut. 167 Dies ist auch deshalb sinnvoll, weil solche Verfahren für eine Schlichtung in der Regel ungeeignet sind. Soweit Aussicht auf eine Einigung besteht, kann eine solche stets auch an einer (Instruktions-)Verhandlung im Rahmen des vereinfachten Verfahrens erfolgen (Art. 246 ZPO).

Im Zusammenhang mit dem Wegfall des Schlichtungsverfahrens bei Verfahren wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen wurden weitergehende Forderungen nach einem besonderen Schutz des Opfers im Zivilverfahren analog demjenigen in einem Strafverfahren laut. Insbesondere die Vermeidung einer Begegnung zwischen verletzter und verletzender Person ist hierbei von zentraler Bedeutung. Schutzmassnahmen, wie sie im Strafverfahren vorgesehen sind, sind in einem Zivilverfahren zwar nicht im gleichen Umfang möglich, weil Letzterem ganz andere Prinzipien zugrunde liegen. Im Zusammenspiel verschiedener Bestimmungen der ZPO kann der verletzten Person indessen auch im Zivilverfahren ein zusätzlicher Schutz zuteil werden. Zu erwähnen ist namentlich Artikel 156 ZPO, der die Wahrung schutzwürdiger Interessen einer der Parteien oder Dritter bei der Beweisabnahme zum Ziel hat.168 Art. 243 Abs. 2 Bst. b Die Bestimmung ist aufgrund der Einführung von Artikel 28c E-ZGB redaktionell anzupassen und zu ergänzen.

Art. 343 Abs. 1bis Der neue Absatz 1bis ergänzt die Möglichkeiten des Vollstreckungsgerichts, indem es eine elektronische Überwachung anordnen kann, wenn der Entscheid ein Verbot nach Artikel 28b ZGB enthält. Damit wird diese neue Möglichkeit gemäss Artikel 28c E-ZGB auch unmittelbar in der ZPO gesetzlich verankert.

Das Vollstreckungsgericht hat, bevor es eine solche Massnahme anordnet, deren Voraussetzungen und damit insbesondere deren Verhältnismässigkeit im weiteren Sinn zu prüfen.169 Art. 407d Übergangsrechtlich sollen die neuen Verfahrensbestimmungen mit dem Inkrafttreten auf sämtliche Verfahren anwendbar werden, und zwar auch auf solche, die bereits rechtshängig sind. Insbesondere sollen auch für diese keine Gerichtskosten mehr gesprochen werden (Art. 114 Bst. f E-ZPO).

167 168

Vgl. dazu Ziff. 1.5.1 unter «Vorgehen».

Vgl. auch Hasenböhler Franz, in: Sutter-Somm Thomas/Hasenböhler Franz/Leuenberger Christoph (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2016, 156 N 1 ff.; Guyan Peter, in: Spühler Karl/Tenchio Luca/Infanger Dominik (Hrsg.), Basler Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2013, 156 N 1 ff.

169 Vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 28c Abs. 1 E-ZGB in Ziff. 4.1.

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4.3

Strafgesetzbuch (StGB)

Art. 55a Die Bestimmung des Strafgesetzbuches zur Einstellung des Verfahrens bei Gewalt in Paarbeziehungen soll geändert und um zwei Absätze ergänzt werden.

Der Randtitel von Artikel 55a StGB in der deutschen Gesetzesfassung legt den Schwerpunkt auf den Verfahrensschritt der Einstellung des Verfahrens. Dagegen steht nach der französischen und der italienischen Sprachversion die Sistierung im Vordergrund («suspension de la procédure»; «sospensione del procedimento»). Analog wird im Gliederungstitel (vierter Abschnitt des ersten Kapitels im dritten Titel des allgemeinen Teils des StGB) in der deutschen Version der Begriff Einstellung, in der französischen und italienischen Version der Begriff Sistierung verwendet.

Diese Ungenauigkeit soll behoben werden. In allen Sprachversionen soll im Randtitel sowie im Gliederungstitel neu einheitlich von der «Sistierung und Einstellung des Verfahrens» die Rede sein.

Der Einleitungssatz von Absatz 1 erfährt keine inhaltlichen Änderungen. Er wird lediglich sprachlich angepasst. Gleich wie im allgemeinen Teil des StGB und in den übrigen Artikeln soll nicht mehr von «Gerichten» in der Mehrzahl, sondern in der Einzahl vom «Gericht» die Rede sein. Zudem werden wie in den weiteren Absätzen von Artikel 55a StGB die Behörden, welche eine Sistierung verfügen können, alternativ genannt («die Staatsanwaltschaft oder das Gericht»).

Unverändert bleibt insbesondere der Anwendungsbereich von Artikel 55a StGB, wie ihn Absatz 1 in sachlicher und persönlicher Hinsicht definiert. So soll eine Sistierung weiterhin bei einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3­5 StGB), wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 Bst. b, b bis und c StGB), Drohung (Art. 180 Abs. 2 StGB) oder Nötigung (Art. 181 StGB) möglich sein. Ferner muss das Opfer gemäss Buchstabe a der Ehegatte, die eingetragene Partnerin bzw. der eingetragene Partner oder die hetero- oder homosexuelle Lebenspartnerin bzw. der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Täters sein. Die Tat muss während der Ehe bzw. der Dauer der Partnerschaft oder innerhalb eines Jahres nach deren Scheidung, Auflösung bzw. Trennung begangen worden sein.

Voraussetzung für eine Sistierung soll nach Buchstabe b von Absatz 1 wie bis anhin sein, dass das Opfer oder, falls dieses nicht handlungsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter
darum ersucht. Dabei hat sich die Behörde davon zu überzeugen, dass das Opfer seine Entscheidung autonom getroffen hat, namentlich nicht durch Gewalt, Täuschung oder Drohung beeinflusst wurde, und dass es über Hilfsangebote und Handlungsalternativen informiert ist.170 Der Teilsatz «oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt» wird gestrichen. Ein Antrag der Behörde würde nach der neu vorgeschlagenen Regelung bereits eine umfassende Prüfung der Situation des Opfers (vgl. Buchstabe c) voraussetzen. Zudem hat der Antrag der Behörde mit Einführung des Opportunitätsprinzips nach Artikel 8 StPO an Bedeutung verloren. Kommt die Behörde zum Schluss, dass eine Sistierung angezeigt wäre, hat das Opfer aber kein entsprechendes Gesuch gestellt, so kann die Behörde es auf diese Möglichkeit hinweisen.

170

Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 29), BBl 2003 1937, hier 1941.

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Ein Gesuch des Opfers ist somit wie heute Voraussetzung für die Sistierung des Verfahrens und mithin deren Ausgangspunkt. Doch soll es nicht mehr allein darauf ankommen. Die Vernehmlassungsvorlage verlangte eine Interessenabwägung und zählte beispielhaft Kriterien auf, die dabei zu berücksichtigen sind. Aufgrund der Kritik in der Vernehmlassung171 wird eine Generalklausel vorgeschlagen: In Buchstabe c von Absatz 1 wird als weitere Voraussetzung für die Sistierung eingeführt, dass diese geeignet erscheinen muss, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern. Damit wird das durch die Sistierung zu erreichende Ziel erwähnt und von der Behörde verlangt, die Erfolgsaussichten der Sistierung abzuschätzen. Bei Offizialdelikten, wie sie hier infrage stehen, überwiegt grundsätzlich das öffentliche Interesse an Strafverfolgung. Im Anwendungsbereich von Artikel 55a StGB kann dieses jedoch ausnahmsweise aufgewogen werden, wenn das Opfer das Verfahren sistieren will und wenn die Sistierung zu einer Stabilisierung oder Verbesserung seiner Situation beitragen kann. Von einer Stabilisierung kann dann gesprochen werden, wenn das Opfer bestmöglich vor künftigen Gewaltexzessen der beschuldigten Person geschützt ist und sich sicherer fühlt; die vormals labile Situation muss sich festigen. Oftmals kann im Rahmen der Sistierung gar eine Verbesserung der Situation erreicht werden (etwa, wenn die beschuldigte Person in Anwendung von Art. 55a Abs. 2 E-StGB zu einem Lernprogramm gegen Gewalt verpflichtet wird oder wenn das Risiko eines erneuten Übergriffs sonst wie verringert werden kann).

Um zu beurteilen, ob die Sistierung zu einer Stabilisierung oder Verbesserung der Situation des Opfers führen kann, muss die Behörde verschiedene Umstände prüfen und gewichten, namentlich:172

171 172

­

Wer Anzeige erstattet hat: Hat das Opfer selbst Anzeige erstattet und verlangt es nun die Sistierung? Scheint die Willensäusserung des Opfers besonders reflektiert? Für eine Sistierung würde auch sprechen, dass die beschuldigte Person selbst Anzeige eingereicht hat, denn dies zeigt ihre Einsicht und Reue in Bezug auf die (eingestandene) Tat.

­

Warum das Opfer um die Sistierung ersucht: Verlangt das Opfer die Sistierung, weil es die Beziehung mit der beschuldigten Person weiterführen will, so kommt seinem Interesse an der Vermeidung eines Strafverfahrens besonderes Gewicht zu.

­

Ist die Tat bewiesen, kann auch in die Prüfung miteinbezogen werden, ob die beschuldigte Person Einsicht und Reue zeigt: Diesfalls kann ihr in der Regel eine gute Prognose für eine Verhaltensänderung gestellt werden. Dabei darf aber nicht allein auf das Geständnis der beschuldigten Person abgestellt werden. Denn dieses kann Ausfluss patriarchalischer Familienvorstellungen sein und der Überzeugung entspringen, dass die beschuldigte Person richtig gehandelt und das Opfer die Gewalt verdient habe.

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 29 f.

Die folgende Darstellung verschiedener Kriterien wie auch der Kriterienkatalog in der Vernehmlassungsvorlage basiert auf der sogenannten Scorecard des Kantons Bern, wiedergegeben in Baumgartner-Wüthrich (Fn. 79), 23 und Anhang III, und Riedo (Fn. 35), 423.

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173 174

­

Ob die beschuldigte Person von sich aus Schritte zur Änderung ihres Verhaltens unternommen hat: Das Risiko künftiger Konfliktsituationen kann sich aufgrund des Verhaltens der beschuldigten Person selbst verringert haben.

Im Vordergrund steht der freiwillige Besuch eines Lernprogramms oder die Inanspruchnahme anderer Hilfen gegen Gewalt. 173 Infrage kommen aber auch andere Therapien oder Beratungen, etwa die Behandlung einer Alkoholsucht oder eine Schuldenberatung bei Konflikten wegen finanzieller Sorgen. Solche Schritte zeigen die besondere Motivation und den grundsätzlichen Willen der beschuldigten Person, eine zukünftige Eskalation zu vermeiden und lassen auf eine bessere Reaktion in problematischen Situationen hoffen.

­

Ob sich das Opfer und die beschuldigte Person auf eine Lösung des Konflikts verständigt haben: Künftige Konfliktsituationen können auch vermieden werden, indem das Opfer und die beschuldigte Person gemeinsam auf eine Besserung der Situation hinarbeiten.

­

Ob die Risiken eines erneuten Übergriffs grösser oder geringer geworden sind: Schliesslich können auch Umstände, die nicht vom Verhalten der beschuldigten Person und des Opfers abhängen, zur Vermeidung künftiger Konfliktsituationen führen. In der Trennungsphase eines Paares ist die Gefahr weiterer Delikte zwar besonders hoch.174 Ist der gemeinsame Haushalt aber einmal aufgehoben, kann dies zu einer Entlastung der Situation und zu einem geringeren Übergriffsrisiko führen. Umgekehrt können äussere Umstände das Risiko eines künftigen Übergriffs und damit die Wiederholungsgefahr aber auch erhöhen.

­

Ob von der Gewalt in der Paarbeziehung Kinder betroffen sind: Gilt es Kinder zu schützen, so verstärkt dies das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung. Ob die Sistierung geeignet ist, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern, kann nicht unabhängig vom Wohl seiner Kinder beurteilt werden. Zu berücksichtigen ist aber, dass das Strafverfahren ein Kind emotional stark belasten kann, namentlich eine Einvernahme oder die Gegenüberstellung mit der beschuldigten Person. Wird das Verfahren trotzdem fortgesetzt, sind Vorkehrungen zum Schutz des Kindes besonders wichtig, wie sie im Strafprozessrecht vorgesehen sind (Art. 75 Abs. 2 und 154 Abs. 4 StPO).

­

Wie schwer die der beschuldigten Person vorgeworfene Tat wiegt: Zu gewichten sind die Schwere der Tat und deren Folgen für das Opfer. Konkret sind die Schwere der Verletzung des betroffenen Rechtsguts, die Verwerflichkeit des Handelns, die Beweggründe und Ziele der beschuldigten Person zu berücksichtigen sowie die Antwort auf die Frage, wieweit sie nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Verletzung zu vermeiden (vgl. Art. 47 StGB).

Vgl. dazu auch Abs. 2.

Vgl. dazu das Informationsblatt Nr. 6 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, abrufbar unter: www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen zu Gewalt > Informationsblätter Häusliche Gewalt > Informationsblatt 6.

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­

In die Prüfung kann schliesslich einbezogen werden, ob wiederholt Anzeigen gegen die beschuldigte Person eingegangen sind, ob schon mehrere Polizeiinterventionen erfolgt sind oder ob bereits zuvor Strafverfahren sistiert oder eingestellt worden sind. Freilich ist in diesem Rahmen die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO) zu beachten. Bei früheren Anzeigen, Polizeiinterventionen, Verfahrenssistierungen oder -einstellungen wurden die fragliche(n) Tat(en) nicht rechtskräftig beurteilt und sind somit nicht erwiesen. Dies muss die Behörde bei deren Gewichtung berücksichtigen. Doch ist es zulässig, gestützt auf solche Umstände einen Verdacht festzustellen.175 Frühere Anzeigen, Polizeiinterventionen, Verfahrenssistierungen oder -einstellungen können also in die Prüfung der Situation einfliessen.

Mit der Beurteilung nach Absatz 1 Buchstabe c ist eine Verhältnismässigkeitsprüfung verbunden: Die Sistierung des Verfahrens muss insbesondere als geeignete Massnahme erscheinen, um das Ziel einer Stabilisierung und Verbesserung der Situation des Opfers zu erreichen. Die Notwendigkeit und die Zumutbarkeit der Massnahme werden in der Regel zu bejahen sein. Denn die Sistierung ist für die beschuldigte Person gegenüber der Fortsetzung des Verfahrens das mildere Mittel und entspricht auch dem Willen des Opfers.

Zur Abklärung der relevanten Umstände ist erforderlich, dass das Opfer und die beschuldigte Person einvernommen werden. Es handelt sich um eine formelle Einvernahme zu Beweiszwecken. Der beschuldigten Person ist die Teilnahme an der Einvernahme des Opfers zu gewähren. Zum Schutz des Opfers müssen aber Schutzmassnahmen angeordnet werden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass das Opfer sich durch die Mitwirkung im Verfahren einem schweren Nachteil aussetzt (Art. 149 Abs. 1 StPO).

Für die Kantone wäre es hilfreich, wenn für die Beurteilung des Risikos eines künftigen Übergriffs und die Erfolgsaussichten der Sistierung ein systematisches Risikobzw. Bedrohungsmanagement176 eingesetzt würde, das die bisherigen Erlebnisse des Opfers mitberücksichtigt. Es besteht die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die kantonale Stelle, welche für das Bedrohungsmanagement bei häuslicher Gewalt zuständig ist, anfragen kann, um die relevanten Umstände abklären und evtl. auch deren Entwicklung über nahezu sechs Monate beobachten zu können.

Die Vernehmlassungsvorlage sah vor, dass der (freiwillige) Besuch eines Lernprogramms gegen Gewalt beim Entscheid über die Sistierung berücksichtigt werden kann. Von vielen Vernehmlassungsteilnehmenden wurde jedoch eine obligatorische Verknüpfung der Sistierung mit einem Lernprogramm bzw. ein klarerer Anreiz zum Besuch eines solchen gefordert.177 Mit Blick auf die Zurückhaltung in der Anordnung von Massnahmen, die im fraglichen Verfahrensstadium aufgrund der Unschuldsvermutung geboten ist, und da ein Lernprogramm nicht in jedem Einzelfall verhältnismässig ist, wird von einer obligatorischen Verknüpfung abgesehen. Doch 175

Tophinke Esther, Das Grundrecht der Unschuldsvermutung, Aus historischer Sicht und im Lichte der Praxis des schweizerischen Bundesgerichts, der EMRK-Organe und des UNO-Menschenrechtsausschusses, Diss. Bern 2000, 366.

176 Vgl. dazu Ziff. 3.3.6.

177 Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 32 ff.

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soll nach Absatz 2 die Möglichkeit bestehen, dass die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die beschuldigte Person für die Zeit der Sistierung verpflichtet, ein Lernprogramm gegen Gewalt zu besuchen. Solche Lernprogramme, die bereits in verschiedenen Kantonen angeboten werden,178 lassen auf eine bessere Reaktion der beschuldigten Person in künftigen problematischen Situationen hoffen. In der Vernehmlassung wurde betont, dass ein Lernprogramm gegen Gewalt auch bei Personen erfolgversprechend sei, die zu Beginn nicht dazu motiviert seien.179 Die Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt dient dem Ziel, die Situation des Opfers zu stabilisieren oder zu verbessern und insbesondere der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen. Somit ist die Möglichkeit der Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt in die Beurteilung nach Absatz 1 Buchstabe c miteinzubeziehen: Ist davon auszugehen, die beschuldigte Person könnte erneut (im häuslichen Kontext) straffällig werden, spricht dies zunächst gegen eine Sistierung des Verfahrens. Ist aber ein Lernprogramm geeignet, dieser Gefahr wirksam zu begegnen, so muss die Beurteilung anders ausfallen und die Behörde kann die Sistierung unter der Auflage anordnen, dass ein solches Programm besucht wird. Da das Lernprogramm in der Regel rund sechs Monate dauert, kann der Umstand, wie sich die beschuldigte Person im Lernprogramm verhalten hat (und ob sie dieses mit Erfolg besucht oder etwa abgebrochen hat) in die abschliessende Beurteilung und in die Entscheidung über eine Einstellung oder Wiederanhandnahme des Verfahrens einfliessen.

Sind dagegen schwerere Straftaten zu befürchten und mithin die Voraussetzungen für Untersuchungshaft gegeben (Art. 221 Abs. 2 StPO), so wird die Beurteilung der Situation in der Regel weiterhin gegen eine Sistierung sprechen. Auflagen können hier als Ersatzmassnahmen anstelle der Untersuchungshaft verhängt werden (Art. 237 StPO), so etwa das Verbot, sich dem Opfer zu nähern, mit ihm Kontakt aufzunehmen oder ein bestimmtes Rayon zu betreten.

Die Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt muss verhältnismässig sein. Sie ist insbesondere nicht notwendig, wenn es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um eine einzelne Verfehlung handelt. Ebenso ist die Anordnung nicht notwendig, wenn die beschuldigte Person in anderer Weise auf die Verringerung des
Risikos weiterer Straftaten hinwirkt oder bereits ein Lernprogramm besucht, etwa im Rahmen eines Bedrohungsmanagements.

Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, wenn die Staatsanwaltschaft oder das Gericht eine kantonale Stelle kontaktieren könnte, um von anderen Massnahmen zu erfahren, die in einem bestimmten Fall von häuslicher Gewalt getroffen worden sind.

Erfolgt ein Informationsaustausch, so können die Massnahmen aufeinander abgestimmt und namentlich beurteilt werden, ob die Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt im Rahmen der Sistierung verhältnismässig ist. In diesem Sinne wird in Absatz 2 auch vorgesehen, dass die Strafbehörde die nach kantonalem Recht für Fälle häuslicher Gewalt zuständige Stelle über die getroffenen Massnahmen informiert. Die Kantone können die zuständige Stelle bezeichnen. Dabei kann es sich beispielsweise um die Polizei, aber auch um eine Zivil- oder Verwaltungsbehörde handeln. In Kantonen, die ein Bedrohungsmanagement bei häuslicher Gewalt einge178 179

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 33.

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 32.

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richtet haben, wäre es sinnvoll, dass sich die Information an die Stelle richtet, die dafür zuständig ist und Koordinationsaufgaben wahrnimmt. Immer mehr Kantone kennen ein solches Bedrohungsmanagement. Die Information erstreckt sich auf die von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht getroffenen Massnahmen, das heisst auf die Sistierung des Strafverfahrens wie auch die etwaige Anordnung eines Lernprogramms gegen Gewalt.

Nach Absatz 3 soll eine Sistierung nicht zulässig sein, wenn Verdacht auf wiederholte Gewalt in der Paarbeziehung besteht. Wurde die beschuldigte Person bereits wegen bestimmter Gewaltstraftaten in der aktuellen oder einer früheren Partnerschaft verurteilt, so kommt dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung noch höheres Gewicht zu und es muss mittels eines Verfahrens abgeklärt werden, ob eine Wiederholungstat vorliegt.

Der Kreis möglicher Gewaltstraftaten ist bei der Vortat grösser als bei der Wiederholungstat: Er beschränkt sich nicht auf die Delikte, bei denen eine Einstellung möglich ist (Art. 123, 126, 180 und 181 StGB). Einbezogen werden in Buchstabe a alle Verbrechen und Vergehen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB), gegen die Freiheit (Art. 180 ff. StGB) oder gegen die sexuelle Integrität (Art. 187 ff. StGB) und damit insbesondere auch schwerwiegendere Straftaten wie etwa Vergewaltigung (Art. 190 StGB) oder schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB). In der Vernehmlassung wurde darauf hingewiesen, dass leichtere Vortaten eine Sistierung nicht ausschliessen sollten, weil sonst das Opfer noch weniger bereit ist, Anzeige zu erstatten und in einem Strafverfahren auszusagen. Übertretungen sollen daher eine Sistierung nicht in jedem Fall zwingend ausschliessen. Sie können jedoch bei der Prüfung der Erfolgsaussichten der Sistierung nach Absatz 1 Buchstabe c mitberücksichtigt werden. Vorausgesetzt wird eine rechtskräftige Verurteilung aufgrund einer dieser Taten. In diesem Fall steht mit Gewissheit fest, dass die beschuldigte Person bereits in der Vergangenheit Gewalt ausgeübt hat.

Nach Buchstabe b muss es sich ferner um eine Verurteilung handeln, bei der eine Strafe verhängt oder eine Massnahme angeordnet worden ist. Verurteilungen, bei denen von einer Strafe abgesehen wurde, oder freisprechende Urteile, bei denen gestützt auf Artikel 19 Absatz 3 StGB eine Massnahme
angeordnet worden ist, sollen eine Sistierung nicht zwingend ausschliessen. Diese Urteile sollen im Rahmen der Prüfung nach Absatz 1 Buchstabe c berücksichtigt werden.

Wiederholte Polizeiinterventionen, wiederholte Anzeigen oder wiederholt sistierte Strafverfahren sind nicht hinreichend aussagekräftig, um die Sistierung in jedem Fall zwingend auszuschliessen: Hier gilt die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 10 Abs. 1 StPO). Wiederholte Polizeiinterventionen, wiederholte Anzeigen oder wiederholt sistierte Strafverfahren können indessen ebenfalls bei der Prüfung nach Absatz 1 Buchstabe c mitberücksichtigt werden.

Vorausgesetzt ist über den Verweis in Buchstabe c, dass sich die Vortat gegen den (damaligen) Ehegatten, die eingetragene Partnerin, den eingetragenen Partner, die Lebenspartnerin oder den Lebenspartner gerichtet hat und die Tat während der Dauer der Ehe bzw. Partnerschaft oder innerhalb eines Jahres nach deren Auflösung begangen worden ist. Im Gegensatz zu den Voraussetzungen nach den Buchstaben a und b sind die Voraussetzungen nach Buchstabe c nicht in jedem Fall direkt dem 7377

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Strafregister zu entnehmen. Bei Verurteilungen nach den Artikeln 123, 126 und 180 StGB wird bereits heute im Strafregister eingetragen, ob die Tat gegenüber einem Ehegatten, einer eingetragenen Partnerin oder einem Lebenspartner begangen worden ist. Eine entsprechende Differenzierung soll in Zukunft im Strafregister auch bei weiteren Delikten vorgenommen werden, sofern der gesetzliche Tatbestand eine solche Differenzierung enthält. Gestützt auf die Angaben im Strafregister kann ferner das entsprechende Urteil bei der zuständigen Behörde angefordert werden.

Schliesslich ist im neuen Strafregistergesetz (das nicht vor 2020 in Kraft treten wird) vorgesehen, dass eine elektronische Kopie des Urteils in das Strafregister aufgenommen wird.180 Eine Sistierung bedeutet eine vorübergehende Aussetzung der Strafverfolgung, schliesst diese aber nicht ab. Vielmehr bleibt das Verfahren hängig und kann wieder an die Hand genommen werden. In Absatz 4 wird die Dauer der Sistierung auf sechs Monate festgelegt. Diese Frist muss jedoch nicht ausgeschöpft werden. Vielmehr ist das Verfahren schon vor Ablauf von sechs Monaten wieder an die Hand zu nehmen, sobald die Voraussetzungen der Sistierung (Abs. 1 Bst. b und c) nicht mehr erfüllt sind. Zum einen ist das Verfahren wieder an die Hand zu nehmen, wenn das Opfer der Sistierung nicht mehr zustimmt. Das Opfer (oder, falls dieses nicht handlungsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter) kann daher (nachdem es ursprünglich nach Abs. 1 Bst. b ein Gesuch um Sistierung gestellt hatte) verlangen, dass das Verfahren wieder an die Hand genommen wird. Diese Prozesshandlung kann nach den allgemeinen Regeln mündlich oder schriftlich erfolgen. Zum anderen muss die Behörde das Verfahren von Amtes wegen wieder an die Hand nehmen, wenn sich herausstellt, dass die Sistierung die Situation des Opfers weder zu stabilisieren noch zu verbessern vermag. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die beschuldigte Person ein angeordnetes Lernprogramm gegen Gewalt nicht besucht und dadurch zu erwarten ist, dass sie neue Gewalttaten begeht. Wie schon beim Entscheid über die Sistierung ist damit auch beim Entscheid über die Wiederanhandnahme die Erklärung des Opfers nicht allein massgebend. Zwar muss das Verfahren wieder an die Hand genommen werden, wenn das Opfer dies verlangt. Doch kann das Verfahren
auch gegen den Willen des Opfers wieder aufgenommen werden.

Absatz 5 betrifft die Einstellung, die das Verfahren abschliesst. Vor Ende der sechsmonatigen Frist entscheidet die Behörde aufgrund einer abschliessenden Beurteilung, ob das Verfahren einzustellen ist. Hat das Opfer keine Wiederanhandnahme des Verfahrens verlangt und kommt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht zum Schluss, dass sich die Situation des Opfers stabilisiert oder verbessert hat ­ und dass sich die Sistierung somit bewährt hat ­, so verfügt die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht die Einstellung des Verfahrens. Andernfalls muss das Verfahren wieder an die Hand genommen werden.

Wird das Opfer während der Dauer der Sistierung durch bestimmte Behörden und Organisationen betreut und absolviert die beschuldigte Person ein Lernprogramm gegen Gewalt oder nimmt sie andere Hilfen zur Verbesserung der Situation in Anspruch, so kann die Situation laufend von Dritten beobachtet werden. Wie bereits erwähnt, kann hier ein Informationsaustausch mit einer anderen kantonalen Behörde 180

Art. 22 der Referendumsvorlage des Strafregistergesetzes, BBl 2016 4871.

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sinnvoll sein. Sind die einzelnen Behörden und Betreuungsstellen miteinander vernetzt, sollte dies der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht ermöglichen, auf eine veränderte Situation während der Sistierung zu reagieren. Die Betreuung des Opfers könnte zudem dazu führen, dass es sich freier äussern kann und ­ sofern es dies will ­ bereits vor Ablauf der sechsmonatigen Frist die Wiederanhandnahme des Verfahrens verlangt. Aus dem Schweigen des Opfers könnte zudem eher darauf geschlossen werden, dass es an der Sistierung festhält. Durch eine behördenübergreifende Zusammenarbeit könnten die Strafverfolgungsbehörden laufend ­ spätestens aber vor Ablauf der sechsmonatigen Frist ­ über die Informationen verfügen, die für den Entscheid über die Wiederanhandnahme oder die Einstellung des Verfahrens notwendig sind.

In der Vernehmlassungsvorlage war vorgesehen, dass die Behörde das Opfer vor der definitiven Einstellung noch einmal anhören und seine Äusserungen im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigen muss. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung sehr kontrovers aufgenommen.181 Die neue Regelung sieht keine obligatorische Anhörung des Opfers vor der Einstellung vor. Allerdings wird verlangt, dass die Behörde vor dem Einstellungsbeschluss eine Beurteilung der Sistierung vornimmt. Im Vordergrund steht dabei die Entwicklung der Situation während der Dauer der Sistierung. Zu berücksichtigen ist namentlich, inwieweit die beschuldigte Person der erteilten Auflage, ein Lernprogramm gegen Gewalt zu besuchen, nachgekommen ist und wie sie sich in der Zeit der Sistierung dem Opfer gegenüber verhalten hat. Insbesondere in Fällen, in denen die zuständige Behörde nicht über entsprechende Informationen von anderen mit diesem Fall häuslicher Gewalt befassten Stellen verfügt, wird die abschliessende Beurteilung nicht ohne erneute Anhörung des Opfers oder der beschuldigten Person möglich sein. Es steht der Behörde zudem frei, dem Opfer vor der Einstellung die Möglichkeit zu einer Stellungnahme einzuräumen.

Die Anhörung kann (wie schon das Gesuch um Sistierung nach Abs. 1 Bst. b oder das Verlangen der Wiederanhandnahme nach Abs. 4) mündlich oder schriftlich erfolgen (Art. 145 StPO). Bei einer schriftlichen Anhörung, bei der ein Fragebogen an die Postadresse des Opfers gesandt wird, können Einflussnahme und Zwang
durch die beschuldigte Person nicht ausgeschlossen werden. Es kann aber durchaus Situationen geben, in denen das Opfer damit umgehen kann, da es beispielsweise eine grosse Selbstständigkeit aufweist oder sich nicht mehr in der Einflusssphäre der beschuldigten Person befindet, nachdem der gemeinsame Haushalt aufgelöst worden ist. Ist das Opfer anwaltlich vertreten, können seine Aussagen zudem über seine Rechtsvertretung eingeholt werden.

Zwar handelt es sich bei der erneuten Anhörung des Opfers nicht um eine Einvernahme zur Erhebung der Tatumstände und der Wahrheitsfindung mit Blick auf die untersuchte Tat. Gegenstand der Anhörung ist vielmehr das Verhalten der beschuldigten Person ab dem Zeitpunkt der Tat respektive die Erhebung von Beweisen für die abschliessende Beurteilung und damit für den Entscheid über die Wiederanhandnahme oder die Einstellung des Verfahrens. Der Status der beteiligten Parteien ändert sich in dieser Phase des Verfahrens jedoch nicht. Die beschuldigte 181

Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 38 ff.

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Person ist daher auch in dieser Phase als beschuldigte Person einzuvernehmen und das Opfer (respektive die geschädigte Person) als Zeuge oder Auskunftsperson.

Der beschuldigten Person und dem Opfer (sofern es Privatkläger und damit Partei ist) kommt auch in dieser Phase des Verfahrens ein Teilnahmerecht zu. Dieses fliesst direkt aus der Garantie des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV). Die beschuldigte Person respektive das Opfer, sofern es Partei ist, müssen einer mündlichen Anhörung (analog Art. 147 Abs. 1 StPO) folgen und Fragen stellen können. Es besteht die Möglichkeit, das Opfer vor einer Gegenüberstellung oder einer Begegnung zu schützen oder andere Schutzmassnahmen zu ergreifen (analog Art. 149 ff., insbesondere Art. 152 StPO). Bei einer schriftlichen Anhörung des Opfers beschränkt sich das Teilnahmerecht der beschuldigten Person auf eine schriftliche Stellungnahme.

4.4

Militärstrafgesetz (MStG)

Art. 46b Abs. 1 Bst. b und c, Abs. 2, 3, 3 bis, 3ter und 4 erster Satz Es ist denkbar, dass häusliche Gewalt von Personen begangen wird, die nach dem Militärstrafrecht zu beurteilen sind, etwa wenn sich ein Dienstpflichtiger im Ausgang mit seiner Partnerin trifft und es zum Konflikt kommt. 182 Entsprechend wurde mit der Revision von 2004 auch in Artikel 46b MStG die Möglichkeit eingeführt, ein Verfahren wegen einfacher Körperverletzung und Tätlichkeiten (Art. 122 MStG), Drohung (Art. 149 MStG) und Nötigung (Art. 150 MStG) in der Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebenspartnerschaft einzustellen.183 Die Änderung von Artikel 46b E-MStG übernimmt inhaltlich die Änderung von Artikel 55a E-StGB. Es wird daher grundsätzlich auf die Ausführungen zur Änderung des Strafgesetzbuches verwiesen.184 Anpassungen sind einzig mit Blick auf den Militärstrafprozess vom 23. März 1979185 notwendig. Dies zum einen aufgrund der verfahrensrechtlichen Terminologie: Entsprechend den Begrifflichkeiten des Militärstrafprozesses handelt die Bestimmung von der «provisorischen und definitiven Einstellung des Verfahrens» statt von der «Sistierung und Einstellung» wie die bürgerliche Parallelbestimmung. Zum anderen sind die zuständigen Behörden anders bezeichnet: Die (provisorische oder definitive) Einstellung wird im Militärstrafprozess vom Auditor oder vom Militärgericht verfügt.

182 183

Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 29), BBl 2003 1937, hier 1942.

Ehe und Lebenspartnerschaft: Schweizerisches Strafgesetzbuch (Strafverfolgung in der Ehe und in der Partnerschaft), AS 2004 1403; Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909 sowie Stellungnahme des Bundesrates (Fn. 29) BBl 2003 1937; eingetragene Partnerschaft: Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (Partnerschaftsgesetz, PartG), AS 2005 5685; Botschaft zum Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare, BBl 2003 1288.

184 Siehe Ziff. 4.3.

185 SR 322.1

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Schliesslich wird Artikel 46b Absatz 4 E-MStG sprachlich angepasst, indem der Begriff «definitive Einstellungsverfügung» durch «Verfügung der definitiven Einstellung» ersetzt wird.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat keine finanziellen, personellen oder anderen Auswirkungen auf den Bund.

5.2

Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden

5.2.1

Zivilrechtliche und zivilprozessuale Neuerungen

In Umsetzung von Artikel 28b Absatz 4 zweiter Satz E-ZGB haben die Kantone dafür zu sorgen, dass den von ihnen mit dem Schutz gegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen betrauten Personen bei der Kriseninterventionsstelle und den Gerichten sowie anderen Behörden die nötige Weiterbildung zuteil wird. Soweit eine solche Weiterbildung nicht bereits bisher gezielt erfolgte, wird diese Verpflichtung zu gewissen zusätzlichen Kosten für die Kantone führen, die jedoch nicht quantifiziert werden können, da die Kantone in der Ausgestaltung über einen grossen Freiraum verfügen.

Durch den vorgesehenen Verzicht auf die Erhebung von Gerichtskosten in Streitigkeiten wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend die Anordnung einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c E-ZGB (Art. 114 Bst. f E-ZPO) werden den Kantonen zudem gewisse Zusatzkosten in der Rechtspflege entstehen, die sich kaum quantifizieren lassen, mit Blick auf die bisher eher geringe Anzahl solcher Verfahren insgesamt jedoch nur unwesentlich ins Gewicht fallen dürften.

Finanziell von grösserer Tragweite ist die Umsetzung der vorgeschlagenen Anordnung einer elektronischen Überwachung, die durch die Kantone erfolgt (Art. 28c Abs. 3 E-ZGB). Die Kantone haben eine Stelle zu bezeichnen und das Vollzugsverfahren zu regeln. Gegenüber dem Vorentwurf entlastet die vom Bundesrat vorgeschlagene passive Form der GPS-Überwachung die Kantone finanziell, indem dafür keine Überwachungszentrale mehr eingerichtet werden muss, die während sieben Tagen rund um die Uhr besetzt ist. Bei der im Entwurf vorgeschlagenen Überwachungsform genügt eine Vollzugsstelle, da die Daten erst nachträglich ausgewertet werden und eine unmittelbare Reaktion der Behörde nicht vorgesehen ist.186 Unter dem Blickwinkel der Kosteneffizienz erscheint es dennoch naheliegend, eine überkantonale Infrastruktur aufzubauen. Hinzuweisen ist ausserdem auf die Einführung einer elektronischen Überwachung von Kontakt- und Rayonverboten im

186

Details siehe Ziff. 3.2.3.

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Strafrecht:187 Für die straf- und die zivilrechtliche Überwachung könnten so weit wie möglich die gleichen Strukturen verwendet werden, was weitere Synergieeffekte zur Folge hätte.

Unabhängig von der konkreten Art der Umsetzung wird die vorgeschlagene Ergänzung des Massnahmeninstrumentariums damit zu erheblichen Folgekosten für die Kantone führen. Diesen stehen die Folgekosten von Gewalt in Paarbeziehungen gegenüber, die sich im Bereich der sogenannt tangiblen Folgekosten (Polizei, Justiz, Unterstützungsangebote, Koordination, Gesundheit und Produktivitätsverluste) gemäss einer Studie, die das EBG 2013 in Auftrag gegeben hat, zwischen 164 und 287 Millionen Franken pro Jahr bewegen.188 Darin nicht enthalten sind Aufwendungen für gewichtige Bereiche wie beispielsweise Zivilverfahren, Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzes, Unterstützungsangebote und Gesundheitskosten für mitbetroffene Kinder; diese Aufwendungen können aufgrund fehlender Daten nicht ermittelt werden. Zu den tangiblen Kosten kommen noch die sogenannten (lebenslangen) intangiblen Kosten von fast 2 Milliarden Franken. Es ist davon auszugehen, dass Investitionen in eine erfolgreiche Gewaltprävention immer zu einer Reduktion der Gewaltfolgekosten führen werden. Eine Quantifizierung dieser Einsparungen ist allerdings kaum möglich.

5.2.2

Strafrechtliche Neuerungen

Die Änderung der strafrechtlichen Bestimmung zur Einstellung von Verfahren bei Gewalt in Paarbeziehungen ist mitunter dadurch motiviert, dass unter der Rechtsprechung zum geltenden Recht einzig auf den Willen des Opfers abgestellt und daher ein Grossteil der Verfahren eingestellt wird. Sollte die Revision ihr Ziel erreichen, dass dem Interesse des Staates an der Strafverfolgung in mehr Fällen zum Durchbruch verholfen werden kann, hat dies Auswirkungen auf die Kantone: Es muss in mehr Fällen ein Verfahren durchgeführt und durch einen Strafbefehl oder durch ein Urteil abgeschlossen werden. Dies erhöht den Aufwand für die Strafverfolgungsbehörden und die Kosten für die Kantone. Umgekehrt dürften sich unter der neuen Regelung langfristig die Kosten der Polizeieinsätze reduzieren, insbesondere in Fällen, in denen die Polizei heute mehrmals intervenieren muss. Im Falle einer Verurteilung können gegenüber der Täterin oder dem Täter zudem Weisungen erteilt werden. Auch dies dürfte zu einer Reduktion weiterer Gewaltvorfälle führen und somit Auswirkungen auf die Polizeiarbeit und die Kosten haben.189 Der Entwurf sieht vor, dass die beschuldigte Person für die Zeit der Sistierung dazu verpflichtet werden kann, ein Lernprogramm gegen Gewalt zu besuchen. Damit stellt sich die Frage, wer für die Kosten eines solchen Lernprogramms aufkommt.

Für die Schaffung von Lernprogrammen und für das kontinuierliche Angebot sind erhebliche finanzielle Mittel erforderlich. Grundsätzlich trägt die beschuldigte Person die Kosten des Strafverfahrens, wenn sie verurteilt worden ist (Art. 426 Abs. 1 187

Siehe dazu Ziff. 1.2.5 unter «Kontakt- und Rayonverbote sowie elektronische Überwachung im Strafrecht».

188 Fliedner/Schwab/Stern/Iten (Fn. 80), 99.

189 Vernehmlassungsbericht (Fn. 86), 6.

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StPO). Wird das Verfahren dagegen eingestellt, muss grundsätzlich der Staat die Verfahrenskosten tragen. Diese dürfen der beschuldigten Person nur dann auferlegt werden, wenn ihr strafbares Verhalten bewiesen ist ­ namentlich, wenn sie geständig ist ­ oder wenn sie die Einleitung des Verfahrens rechtswidrig oder schuldhaft bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat (Art. 426 Abs. 2 StPO). Eine Kostenauflage bei einer Einstellung des Verfahrens verstösst gegen die Unschuldsvermutung, wenn der beschuldigten Person in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, es treffe sie strafrechtliches Verschulden.190 Entsprechend muss der Staat auch die Mittel für das Lernprogramm bereitstellen.

Die Auferlegung eines Teils der Kosten auf die beschuldigte Person fällt aufgrund der Unschuldsvermutung grundsätzlich ausser Betracht ­ selbst wenn dies theoretisch erwünscht wäre, um die Motivation zur Teilnahme am Lernprogramm zu fördern.191 Eine teilweise Auferlegung der Kosten kann aufgrund der bundesgerichtlichen Praxis192 nur dort infrage kommen, wo die Tat bewiesen oder die beschuldigte Person geständig ist.

5.3

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Mit der Vorlage wird der Schutz vor häuslicher Gewalt und Stalking und der Schutz gewaltbetroffener Personen verbessert, indem die Anwendung und Durchsetzung des bisher geltenden Rechts durch weitergehende Massnahmen ergänzt und der Zugang dazu für die verletzte Person vereinfacht werden soll, sodass bedrohte oder verletzte Personen in Zukunft effektiver geschützt werden. Damit sollen die Fälle häuslicher Gewalt gesenkt sowie die individuelle und kollektive Sicherheit gestärkt werden. Frauen und Kinder, die speziell gefährdet sind, dürften in besonderem Masse von den vorgeschlagenen Massnahmen profitieren.

6

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 2016193 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 2016194 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt.

190

191

192 193 194

Urteile des Bundesgerichts 6B_414/2016 vom 29. Juli 2016, E. 2.4, 6B_835/2009 vom 21. Dezember 2009, E. 1.2 und 4.3, 6B_150/2014 vom 23. September 2014, E. 1.2 und 6B_540/2013 vom 17. März 2014, E 1.3.

Bericht Mo. Heim (Fn. 77), 26 und 31. Die Motivation zur aktiven Beteiligung und Mitarbeit im Lernprogramm kann erhöht werden und die Teilnehmenden übernehmen Verantwortung für das (ihnen vorgeworfene) Handeln. Umgekehrt ist zu beachten, dass eine Kostenbeteiligung unter Umständen das Familienbudget belasten und damit indirekt auch die gewaltbetroffene Person tangieren kann.

Urteile des Bundesgerichts 6B_835/2009 vom 21. Dezember 2009, E. 4.3, 6B_150/2014 vom 23. September 2014, E. 1.2 und 6B_540/2013 vom 17. März 2014, E. 1.3.

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183

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Die Revision des Zivilgesetzbuches, der Zivilprozessordnung, des Strafrechts und des Militärstrafrechts ist dennoch angezeigt, weil verschiedene parlamentarische Vorstösse den Bundesrat dazu aufgefordert haben, den zivil- und strafrechtlichen Schutz gewaltbetroffener Personen im Bereich von häuslicher Gewalt und Stalking zu verbessern und dabei zu ihrem Schutz eine elektronische Überwachung der gefährdenden Person im Zivilrecht einzuführen.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Die vorgeschlagenen neuen Bestimmungen in den Artikeln 28b und 28c E-ZGB stützen sich auf Artikel 122 Absatz 1 BV, der dem Bund die Zuständigkeit für das Zivilrecht und das Zivilprozessrecht überträgt.

Muss eine verletzende Person auf gerichtliche Anordnung hin eine technische Vorrichtung tragen, so wird eine Anordnung durchgesetzt, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Darüber hinaus ermöglicht die vorhandene Technik, den Standort der betroffenen Person fortlaufend zu ermitteln und aufzuzeichnen, solange die Vorrichtung getragen wird. Sowohl die Bewegungsfreiheit als auch der Schutz der Privatsphäre in Form der informationellen Selbstbestimmung sind Teilgehalte der persönlichen Freiheit. Diese Rechte haben jedoch keinen absoluten Charakter; sie können vielmehr beschränkt werden, wenn es zur öffentlichen Sicherheit, zur Gewaltprävention und zum Schutz der körperlichen und psychischen Integrität einer Drittperson notwendig ist. Ein Eingriff in die Persönlichkeit der verletzenden Person muss deshalb den Anforderungen von Artikel 36 BV genügen.

Die vorgeschlagene Regelung hält vor dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz (vgl.

auch Art. 5 Abs. 2 BV) stand: Die elektronische Überwachung ist geeignet, das Annäherungs-, Orts- oder Kontaktverbot durchzusetzen, denn sie dient dazu, die klagende Person vor Gewalt oder Stalking durch die verletzende Person zu schützen.

Wird diese nicht durch die elektronische Überwachung selbst von ihrem persönlichkeitsverletzenden Verhalten abgehalten, so vermögen die aufgezeichneten Daten zu Beweiszwecken beispielsweise für die Durchsetzung der im Entscheid des Zivilgerichts angedrohten Sanktion nach Artikel 292 StGB oder für ein eigentliches Strafverfahren (beispielsweise wegen Nötigung) zu dienen. Die Massnahme ist ferner erforderlich, denn es ist nicht ersichtlich, auf welche andere weniger eingreifende Art und Weise derselbe Erfolg erzielt werden könnte. Der Gesetzestext sieht ausserdem vor, dass die Massnahme zeitlich zu beschränken ist. Die Schutzmassnahme ist unter den gegebenen Umständen der verletzenden Person auch zumutbar, denn sie hat durch ihr eigenes Verhalten den Grund für die Massnahme gesetzt. Überdies liegt die Gewaltprävention und -verminderung im öffentlichen Interesse.

Nach der verfassungsmässigen Kompetenzaufteilung ist die Gesetzgebung auf
dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozessrechts Sache des Bundes (Art. 123 Abs. 1 BV). Die Artikel 55a E-StGB und 46b E-MStG stützen sich auf diese Rechtsetzungskompetenz.

7384

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7.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

7.2.1

Europäische Menschenrechtskonvention

Die vorgesehene Bestimmung zur elektronischen Überwachung nach Artikel 28c EZGB steht in Einklang mit Artikel 8 der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten195 (EMRK). Die permanente Überwachung und Bestimmung ihres Aufenthaltes tangiert zwar das Recht der davon betroffenen Person auf Privatleben; es handelt sich grundsätzlich um einen erheblichen Eingriff. Die Beeinträchtigung wird indes gemildert durch die zeitliche Begrenzung. Der Eingriff führt auch nicht zum vollständigen Entzug der betroffenen Rechte. Überdies hat der EGMR in seiner Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, Opfer vor häuslicher Gewalt und Stalking hinreichend zu schützen.196 Darüber hinaus sieht die Istanbul-Konvention in Artikel 45 die Möglichkeit vor, dass die Vertragsparteien Massnahmen ergreifen können wie namentlich die Überwachung und die Betreuung verurteilter Personen. Schliesslich erlaubt die vorgeschlagene Regelung dem Gericht, im Einzelfall die widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen.

Die vorgeschlagene Revision von Artikel 55a StGB über die Einstellung des Verfahrens bei Gewalt in der Paarbeziehung trägt schliesslich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Rechnung. Dieser kam in seinem grundlegenden Entscheid Opuz gegen Türkei197 aus dem Jahr 2009 zum Schluss, dass durch die psychischen und physischen Misshandlungen einer Ehefrau und der Schwiegermutter durch den Ehegatten Artikel 3 beziehungsweise Artikel 2 EMRK verletzt seien. Die Türkei habe es versäumt, ein System einzuführen, um häusliche Gewalt wirksam zu bestrafen und die betroffenen Opfer effektiv zu schützen. Vielmehr hätten die verantwortlichen Behörden nicht alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel ausgenutzt, sondern viele der eingeleiteten Verfahren aus nicht nachvollziehbaren Gründen sogar eingestellt. Das Urteil bejaht eine Verpflichtung zur Strafverfolgung allenfalls auch nach dem Rückzug der Strafanzeige und gegen den Willen des Opfers zur Strafverfolgung verpflichtet ist: Zu berücksichtigen seien etwa die Schwere des Delikts, die Verletzungen des Opfers sowie die Auswirkungen auf Kinder, die im selben Haushalt leben. Je schwerer das Delikt und je grösser die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten, umso eher sei das Verfahren im öffentlichen Interesse fortzusetzen, auch wenn das Opfer den Antrag zurückgezogen habe.198

195 196

SR 0.101 Urteil des EGMR Opuz gegen Türkei vom 9. Juni 2009 (Beschwerde Nr. 33401/02) und Kalucza gegen Ungarn vom 24. April 2012 (Beschwerde Nr. 57693/10).

197 Urteil des EGMR Opuz gegen Türkei vom 9. Juni 2009 (Beschwerde Nr. 33401/02).

198 Riedo Christof/Allemann Reto, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 55a N 5.

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7.2.2

Istanbul-Konvention

Die Istanbul-Konvention ist am 1. August 2014 in Kraft getreten. Die Schweiz hat die Konvention im September 2013 unterzeichnet. Am 16. Juni 2017 hat die Bundesversammlung den Beitritt der Schweiz zur Konvention beschlossen. Voraussichtlich wird die Schweiz die Konvention zu Beginn des Jahres 2018 ratifizieren. 199 Die Schweiz vermag die Anforderungen der Konvention bereits heute insgesamt zu erfüllen. Es steht aber jedem Vertragsstaat frei, weitergehende Massnahmen vorzusehen.

Die vorgeschlagenen zivilrechtlichen Massnahmen gehen über die Anforderungen der Konvention hinaus.200 Sie sind somit zwar für die Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens nicht zwingend erforderlich, entsprechen jedoch dessen Sinn und Geist.

Die vorgeschlagene Änderung der Bestimmung zur Einstellung von Strafverfahren bei Gewalt in Paarbeziehungen (Art. 55a StGB) stellt dagegen mit Blick auf die Vorgaben der Istanbul-Konvention einen materiellen Fortschritt dar. Artikel 55 Absatz 1 der Konvention enthält diesbezüglich eine spezifische Verpflichtung: Die Vertragsparteien müssen, wie bereits erwähnt, sicherstellen, dass Ermittlungen und Strafverfolgungen bezüglich bestimmter Straftaten nicht vollständig von der Meldung oder Anzeige des Opfers abhängen und dass das Verfahren fortgesetzt werden kann, auch wenn das Opfer seine Aussage oder Anzeige zurückzieht. Mit der vorgeschlagenen Revision wäre dies in einem weitergehenden Ausmass sichergestellt.

Artikel 34 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Vertragsparteien zudem, Stalking für strafbar zu erklären. Das schweizerische Strafrecht, nach welchem Stalking in seiner Gesamtheit oder durch einzelne einschlägige Verhaltensweisen geahndet werden kann,201 genügt den Vorgaben der Konvention. Indem neben strafrechtlichen auch zivilrechtliche Massnahmen gegen Stalking vorgesehen sind, geht das schweizerische Recht über diese Anforderungen hinaus.

7.3

Erlassform

Die Änderung des Zivilgesetzbuches, der Zivilprozessordnung, des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes erfordert den Erlass eines Bundesgesetzes in der Form eines sogenannten Mantelerlasses.

199

Bundesbeschluss, BBl 2017 4275; Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, BBl 2017 185.

200 So ist beispielsweise die Ergreifung von Massnahmen zur Überwachung und Betreuung verurteilter Personen als Kann-Vorschrift formuliert (Art. 45 Abs. 2 der Konvention).

201 Vgl. Ziff. 1.3.4 und 3.3.6.

7386

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7.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredits oder Zahlungsrahmens enthält.

7.5

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Der Entwurf delegiert keine Rechtsetzungskompetenzen an den Bundesrat.

7.6

Datenschutz

Die Vorlage hat verschiedene Auswirkungen auf den Datenschutz. Zum einen werden mit einer elektronischen Vorrichtung nach Artikel 28c E-ZGB Daten aufgezeichnet. Aus Gründen des Datenschutzes müssen die für den Vollzug zuständigen Kantone im Rahmen ihrer Vollzugsregelungen eine Zweckbindung gewährleisten, damit die Aufzeichnungen nur für die spezifische Gewaltprävention (Art. 28c Abs. 3 zweiter Satz E-ZGB) und nicht für andere Zwecke als für die Durchsetzung und Vollstreckung eine Verbots genutzt werden.202 Neu gibt das Bundesrecht im Übrigen vor, dass die bei der Überwachung gesammelten Daten spätestens zwölf Monate nach Abschluss der Massnahme gelöscht werden müssen (Art. 28c Abs. 3 zweiter Satz E-ZGB). Zum andern wird mit der vorgeschlagenen Mitteilungspflicht nach Artikel 28b Absatz 3bis E-ZGB sowie mit der Informationspflicht nach Artikel 55a Absatz 2 E-StGB neu im Zivil- und im Strafrecht je eine gesetzliche Grundlage für die Weitergabe von (Personen-)Daten geschaffen.203 Diese Bestimmungen sind im Verhältnis zu den kantonalen Datenschutzbestimmungen als lex specialis zu betrachten. Folglich gehen sie den kantonalen Datenschutzbestimmungen vor.

202 203

Vgl. dazu Ziff. 3.2.3 und 4.1.

Vgl. dazu Ziff. 3.2.1 und 4.3.

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Anhang I

Elektronische Überwachung im Zivilrecht anderer Staaten204 USA In den USA205 stehen Fälle, bei denen eine elektronische Überwachung wegen Verstosses gegen eine Schutzmassnahme (protective order) angeordnet wird, in der Regel im Zusammenhang mit Straftaten (Körperverletzung, Stalking oder andere Formen häuslicher Gewalt), die dem Recht des Gliedstaates und nicht dem Bundesrecht unterliegen. Denn der Grossteil der Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts fällt in die Zuständigkeit der einzelnen Gliedstaaten. Wird ein Fall betreffend einer der eingangs erwähnten Straftaten vor einem zuständigen Bundesgericht verhandelt (üblicherweise im Rahmen eines Berufungsverfahrens), so wendet das Gericht in materieller Hinsicht daher das Recht des Gliedstaates an und lediglich in prozessualer Hinsicht Bundesrecht. Im Zusammenhang mit einer elektronischen Überwachung bei häuslicher Gewalt können jedoch auch Aspekte des materiellen Bundesrechts Berücksichtigung finden. Insbesondere mit Blick auf die verfassungsmässig garantierten Grundrechte stellt sich in einem solchen Fall die Frage, inwiefern beispielsweise eine elektronische Überwachung das sogenannte «Right to Privacy» der betroffenen Person verletzt. Denkbar wäre auch ein Verstoss gegen das 4. Amendment über den Schutz vor unverhältnismässiger Durchsuchung und Beschlagnahme. In diesem Zusammenhang sei auf den Fall Belleau v. Wall verwiesen, der im Januar 2016 durch das Bundesgericht des 7. US-Gerichtsbezirks behandelt wurde und bei dem es um die Anordnung einer lebenslangen elektronischen Überwachung eines verurteilten Sexualstraftäters ging.206 In Tennessee kann das Gericht bei häuslicher Gewalt eine elektronische Überwachung mittels GPS anordnen, auch wenn die gewaltausübende Person strafrechtlich nicht verfolgt wird; sie muss zuvor aber eine zivilrechtliche Schutzanweisung zugunsten des Opfers verletzt haben.207 Die Überwachung soll die Einhaltung von Kontakt- und Annäherungsverboten sicherstellen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit von 2016 (Public Safety Act of 2016)208 am 1. Juli 2016 wurden die Voraussetzungen für die Anordnung von Schutzmassnahmen 204 205

206 207 208

Die rechtsvergleichenden Ausführungen stützen sich weitestgehend auf Informationen seitens des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung von 2017.

Zum Einsatz einer elektronischen Übewachung liegen zwei Studien vor: Padgett K. G./ Bales W. D./ Blomberg T. G., Under Surveillance: An Empirical Test of the Effectiveness and Consequences of Electronic Monitoring, Criminology and Public Policy, Vol. 5, Iss. 1, Februar 2006, 61­91, verfügbar unter: http://onlinelibrary.wiley.com > Advanced search > Author > Kathy G. Padgett; Shantry S. M., Can You Find Me Now ­ Amanda's Bill: A Case Study in the Use of GPS in Tracking Pretrial Domestic Violence Offenders, 29 Quinnipiac Law Review 1101 (2011).

811 F. 3d 929 (C.A. 7th Cir. 2016) ­ verfügbar unter: http://caselaw.findlaw.com > U.S.

7th Circuit Court of Appeals > SEARCHING US 7th Circuit (Party Name: Belleau).

Vgl. Graham Hannah / McIvor Gill, Report No. 8/2015 Scottish and International Review of the Uses of Electronic Monitoring, August 2015, Ziff. 3.2.

Public Chapter 906. Text verfügbar unter: www.openstates.org > Select a state (Tennessee) > Bills > SB2567.

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gelockert. Eine solche Anordnung kann neu auch auf Antrag eines Polizisten oder einer Polizistin erlassen werden.209 Weiterhin gilt jedoch, dass eine solche Überwachung lediglich bei vorläufiger Aufhebung der Untersuchungshaft in Fällen von Stalking, häuslicher Gewalt oder eines Verstosses gegen eine Schutzmassnahme angeordnet werden kann.210 Deutschland Deutschland setzt die elektronische Überwachung im strafrechtlichen Bereich ein, nicht jedoch zur Überwachung im Rahmen von Anordnungen bei häuslicher Gewalt oder Stalking.211 Trotz Erwägungen auf der Justizministerkonferenz im Juni 2015, die elektronische Aufenthaltsüberwachung auch auf Fälle von Stalking oder häuslicher Gewalt zu erweitern, enthält der neueste Gesetzentwurf der Bundesregierung lediglich Erweiterungen im Hinblick auf Taten mit terroristischem Bezug. 212 Danach kann die sogenannte «elektronische Aufenthaltsüberwachung» vom Gericht nur im Rahmen der Anordnung der Führungsaufsicht von Amts wegen angeordnet werden, wenn die beklagte Person wegen einer Straftat mit terroristischem Hintergrund verurteilt worden ist.

Frankreich Im französischen213 Recht finden sich im Straf- und Strafprozessrecht214 Regelungen, welche die elektronische Überwachung, sowohl ortsgebunden als auch mobil, und den Einsatz von elektronischen Geräten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt ausdrücklich erlauben. Welche Art von Paarbeziehung besteht (Ehepartner, Lebensgefährten, Lebenspartner im Sinne des PACS [Pacte civil de solidarité]), ist dabei unerheblich. Die mobile elektronische Überwachung zu Sicherheitszwecken (Art. 131-36-12-1 CP) wird bei strafrechtlicher Verurteilung einer erwachsenen Person verhängt, der eine gewisse Gefährlichkeit attestiert und die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde wegen Gewalt im Rahmen einer 209 210

211 212

213

214

Id., bei Abs. 3, welcher den Tennessee Code § 36-3-619 modifiziert.

Tennessee Code § 40-11-150. Determination of risk to victim prior to release; conditional release; discharge of conditions; notification to law enforcement «(b) Before releasing a person arrested for or charged with an offense specified in subsection (a), or a violation of an order of protection, the magistrate shall [...] impose one (1) or more conditions of release or bail on the defendant to protect the alleged victim of any such offense and to ensure the appearance of the defendant at a subsequent court proceeding. The conditions may include: [...] (6) An order requiring the defendant to carry or wear a global positioning monitoring system device and, if able, pay the costs associated with operating that device and electronic receptor device provided to the victim, pursuant to § 40-11-152 [...]».

Ferreira Broquet Ludivine, Le bracelet électronique en Suisse: hier, aujourd'hui et demain, Diss. Neuchâtel 2015, N 375 ff.

Gesetzesentwurf vom 08.02.2017, Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches ­ Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern, verfügbar unter www.bmjv.de > Service > Aktuelle Gesetzgebungsverfahren > Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches ­ Ausweitung des Massregelrechts bei extremistischen Straftätern.

Vgl. Loi no. 2010-769 du 9 juillet 2010 relative aux violences faites spécifiquement aux femmes, aux violences au sein des couples et aux incidences de ces dernières sur les enfants, JO 10/07/2010, p. 12762.

Code pénal und Code de procédure pénal, beide abrufbar unter: www.legifrance.gouv.fr > Les codes en vigueur > Code wählen.

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Paarbeziehung oder gegen die eigenen Kinder oder diejenigen des Ehegatten, einer Lebensgefährtin bzw. eines Lebensfährten oder einer Lebenspartnerin bzw. eines Lebenspartners im Rahmen des PACS. In einem solchen Fall stellt die Massnahme eine zusätzliche Strafe dar, die nach Verbüssung der Freiheitsstrafe zur Anwendung kommt. Die mobile elektronische Überwachung wird in der Regel mittels eines Geräts durchgeführt, das eine Lokalisierung der verurteilten Person auf dem gesamten Staatsgebiet und zu jeder Zeit ermöglicht.

Ursprünglich sah das französische Recht vor, das Opfer mit dessen Zustimmung ebenfalls mit einem Gerät zu versehen, das die Nähe der gewaltausübenden Person anzeigen konnte.215 In der Folge setzte Frankreich in den Jahren 2012/2013 während einiger Monate versuchsweise elektronische Armbänder mit einer Art von Notfallknopf ein, um Opfer häuslicher Gewalt besser zu schützen. 216 Mit dem Gesetz 2014-873 vom 4. August 2014 über die tatsächliche Gleichstellung zwischen Frau und Mann217 wurde eine entsprechende Vorschrift in die französische Strafprozessordnung218 eingefügt. Danach erhält nur das zu schützende Opfer eine elektronische Vorrichtung (elektronisches Armband). Bei einer Gefahrensituation kann es Unterstützung anfordern, indem es den entsprechenden Knopf auf dem Armband drückt.

Dadurch wird mittels GPS seine Position ermittelt. Eine solche Massnahme ist jedoch nur dann möglich, wenn gegen die verletzende Person mindestens ein Kontaktverbot erlassen worden ist.

Österreich Auch das österreichische219 Recht regelt den Einsatz der elektronischen Überwachung im Straf- und Strafprozessrecht, wobei die Möglichkeit, eine Person mittels einer elektronischen Vorrichtung zu orten, nur wenig eingesetzt wird.220 Den Einsatz 215

216

217

218

219

220

Vgl. Loi no. 2010-769 du 9 juillet 2010 relative aux violences faites spécifiquement aux femmes, aux violences au sein des couples et aux incidences de ces dernières sur les enfants, Article 6 III.

Décret n° 2012-268 du 24 février 2012 relatif à l'expérimentation d'un dispositif électronique destiné à assurer l'effectivité de l'interdiction faite à une personne condamnée ou mise en examen de rencontrer une personne protégée, JO 26/02/2012, p. 3324.

Die Versuche stützen sich auf die Loi n° 2010-769 du 9 juillet 2010 relative aux violences faites spécifiquement aux femmes, aux violences au sein des couples et aux incidences de ces dernières sur les enfants, JO 10/07/2010, p. 12762.

LOI n° 2014-873 du 4 août 2014 pour l'égalité réelle entre les femmes et les hommes, abrufbar unter: www.legifrance.gouv.fr > Les autres textes législatifs et réglementaires > 2014-873 (unter «Numéro du texte» eingeben) > LOI n° 2014-873 du 4 août 2014 pour l'égalité réelle entre les femmes et les hommes.

Art. 31-3-1 des Code de procédure pénal, vgl. Fn. 214), abrufbar unter: www.legifrance.gouv.fr > Les codes en vigueur > unter «Recherche d'un article au sein d'un code» Code (code de procédure pénal) wählen und Artikel (41-3-1) eingeben.

Das Bundesgesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 18. August 2010 (BGBl.

I Nr. 64/2010) sieht als Strafvollzugsmassnahme die Überwachung mit elektronischen Fussfesseln anstelle einer Freiheitsstrafe vor. Diese Massnahme wird meist bei Drohungen eingesetzt. Es besteht zudem eine Verordnung zum Vollzug von Strafen und der Untersuchungshaft durch einen elektronisch überwachten Hausarrest (HausarrestV) vom 31. August 2010 (BGBl II Nr. 279/2010).

STANDARD Verlagsgesellschaft; abrufbar unter: www.derstandard.at > Fußfessel: Ortung in Österreich bisher nur in Ausnahmefällen, Oona Kroisleitner und Michael Matzenberger, 27. Juli 2016.

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im Rahmen des Schutzes vor häuslicher Gewalt und Stalking kennt das österreichische Recht nicht.

Spanien In Spanien wurde im Jahr 2004 ein umfassendes Rahmengesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt (Ley Orgánica (LO) 1/2004) erlassen.221 Das Gesetz sieht für die Fälle von Gewalt gegen Frauen unter anderem das Einrichten eines Sondergerichts vor, das mit Richterinnen besetzt ist.222 Dabei wird grundsätzlich keine formelle Unterscheidung zwischen zivil- und strafrechtlichen Massnahmen vorgenommen.

Ein Annäherungsverbot gegenüber dem gewalttätigen Ehemann kann jedoch nur im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens angeordnet werden.223 Seit dem Jahr 2006 werden in Spanien elektronische Geräte zur Durchsetzung von Kontaktverboten, Hausarresten und weiteren Ausweisungen224 eingesetzt. Die elektronische Überwachung kann sowohl als vorübergehende Schutzmassnahme (medida cautelar)225 wie auch als Nebenstrafe angeordnet werden. Eine solche Massnahme anzuordnen, obliegt dem zuständigen Gericht.226 Hierfür kann es sowohl von Amtes wegen handeln als auch auf Antrag des Opfers, der Kinder sowie von anderen Personen, die mit dem Opfer zusammenwohnen oder die dessen Obhut unterstehen. Antragsberechtigt sind auch die Staatsanwaltschaft oder Verwaltungsbehörden, die sich um das Opfer kümmern. Die spanische Doktrin plädiert in Bezug auf die elektronische Überwachung allerdings für eine massvolle Anwendung, damit die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person nicht in unverhältnismässiger Weise verletzt werden.

Seit Einführung der elektronischen Überwachung im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt am 24. Juli 2009 wurden bis zum 31. Dezember 2014 insgesamt 2742 Geräte installiert. Im gleichen Zeitraum wurden 2026 Geräte wieder deinstalliert, 716 Geräte blieben aktiv.227 Statistiken bis zum 31. Dezember 2015 zeigen zwar, dass die elektronische Überwachung nur zurückhaltend eingesetzt wird, die Zahl der installierten Geräte jedoch stetig zunimmt; Ende 2015 waren 797 aktiv. 228 In der 221

222 223

224

225 226 227

228

Ley Orgánica 1/2004 (LO 1/2004), de 28 de diciembre, de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género, abrufbar unter: www.boe.es > Boletín oficial del Estado > unter «Ir al BOE de fecha» das Publikationsdatum 29/12/2004 eingeben.

Vgl. Art. 43 ff. der Ley Orgánica 1/2004, de 28 de diciembre, de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género. (Fn. 221).

Motilla C., Las órdenes de alejamiento y de salida del domicilio adoptadas en los procesos sobre violencia de género, Actualidad Jurídica Aranzadi n° 750/2008, abrufbar unter: BIB 2008/509 (nicht öffentlich zugänglich), 2.

Vgl. Art. 64 Ziff. 3 der Ley Orgánica 1/2004 (Fn. 221) sowie bereits gestützt auf früheres Recht: Ley Orgánica 15/2003, de 25 de noviembre, por la que se modifica la Ley Orgánica 10/1995, de 23 de noviembre, del Código Penal, abrufbar unter: www.boe.es > Boletín oficial del Estado > unter «Ir al BOE de fecha» das Publikationsdatum 26/11/2003 eingeben.

Art. 61 der Ley Orgánica 1/2004. (Fn. 221).

Art. 61 in Verbindung mit Art. 64 der Ley Orgánica 1/2004 (Fn. 221).

VIII Informe del Observatorio Estatal de Violencia sobre la Mujer 2014, Kapitel 13, verfügbar unter: www.violenciagenero.msssi.gob.es > Estadísticas, encuestas, estudios e investigaciones > Publicaciones, estudios e investigaciones > Colección contra la Violencia de Género Documentos > 23. VIII Informe Anual del Observatorio Estatal de Violencia sobre la Mujer.

Ministerio de Sanidad, Servicios Sociales e Igualdad, Boletín estadístico anual, 2015, 66, verfügbar unter: www.violenciagenero.msssi.gob.es > Estadísticas, encuestas, estudios e investigaciones > Boletines estadísticos > Anuales > 2015.

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spanischen Region Katalonien gilt neben dem Bundesrecht auch das regionale Gesetz 5/2008229, welches die katalanische Verwaltung verpflichtet, Frauen zu schützen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt sind. Als Massnahme kann auf elektronische Geräte zurückgegriffen werden, die eine Ortung und durchgehende Kommunikation ermöglichen.

In den Jahren 2009 und 2013 wurde das Rahmengesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt evaluiert.230 Die statistische Auswertung konnte dabei aufzeigen, dass die Zahl der Tötungen von Frauen durch Partner oder Ex-Partner im Durchschnitt seit dem Erlass des Rahmengesetzes um 8,7 % gesunken ist, unmittelbar nach Inkrafttreten sogar um 20,8 %.231 Auch die Zahl der geschlechtsbasierten Tötungsdelikte an Frauen über 15 Jahren konnte um 10,5 % gesenkt werden.232 Portugal Portugal setzt die elektronische Überwachung seit 2009233 im Kontext häuslicher Gewalt ein und verwendet dabei die jüngere GPS-Technik zur Durchsetzung von Rayon- oder Annäherungsverboten.234 Eine solche Überwachung anordnen kann nur das zuständige Gericht.235 Dies gilt für die Anordnung sowohl im Rahmen einer Massnahme als auch einer strafrechtlichen Verurteilung. Vor Erlass einer solchen Anordnung informiert sich die Richterin oder der Richter bei den Behörden über die persönliche, familiäre, soziale und berufliche Situation der zu überwachenden Person. Um ihre Würde zu wahren, muss diese der elektronischen Überwachung zustimmen; die zu überwachende Person hat dabei ihre Zustimmung in Anwesenheit ihrer Anwältin oder ihres Anwalts und vor dem Gericht zu erklären.236 Die Überwachung wird vom Dienst für Resozialisierung in enger Zusammenarbeit mit dem Dienst für Opferschutz durchgeführt. Während des Überwachungszeitraums tauschen die betroffenen Stellen alle Informationen aus, die zur Umsetzung des Opferschutzes erforderlich sind. Die Anzahl der so überwachten Personen ist zwar gering, 229

230 231

232

233

234 235

236

Llei 5/2008, de 24 d'abril, del dret de les dones a eradicar la violencia masclista, verfügbar unter: http://portaljuridic.gencat.cat/ca > Cerca de Normativa: Llei 5/2008 (Ámbit: Dret de Catalunya) > Llei 5/2008, de 24 d'abril.

Vgl. dazu die entsprechenden Dokumente der Spanischen Regierung, verfügbar unter: www.violenciagenero.msssi.gob.es/en > Planes de actuación > Seguimiento y Evaluación.

Vgl. Evaluation of the Application of Organic Law 1/2004 of 28 December on comprehensive protection measures against gender-based violence, Executive Report, 34 ff., verfügbar unter: www.violenciagenero.msssi.gob.es/en > Action plan > Seguimiento y Evaluación.

Vgl. Evaluation of the Application of Organic Law 1/2004 of 28 December on comprehensive protection measures against gender-based violence, Executive Report, 36, abrufbar unter: vgl. Fn. 231.

Lei n° 112/2009, de 16 de Setembro, Regime jurídico aplicável à prevenção da violencia doméstica e à protecção e assistência suas ví, verfügbar unter: www.apav.pt > Legislação > VIOLÊNCIA DOMÉSTICA > » Regime jurídico de prevenção da violência doméstica, protecção e assistência às suas vítimas.

Ferreira Broquet Ludivine, Le bracelet électronique en Suisse: hier, aujourd'hui et demain, Diss. Neuchâtel 2015, N 394.

Art. 35 i.V.m. Art. 31 des Gesetzes Nr. 112/2009 (vgl. Fn. 233) mit Verweis auf Art. 52 und 152 des Strafgesetzbuchs (Código Penal, verfügbar unter: www.apav.pt > Legislação > Código Penal) und Art. 281 des Strafprozessgesetzes (Código de Proceso Penal, verfügbar unter: www.apav.pt > Legislação > Código de Proceso Penal).

Lei n° 112/2009 (vgl. Fn. 233).

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nimmt von Jahr zu Jahr jedoch zu. Im Jahr 2014 wurden 319 Personen wegen häuslicher Gewalt elektronisch überwacht237, Ende 2016 waren es bereits 522238.

Schweden In Schweden existiert derzeit keine zivilrechtliche Gesetzesgrundlage für den Einsatz einer elektronischen Überwachung. Jedoch wurden 2011 bei der Revision des Kontaktverbotsgesetzes239 strafrechtliche Vorschriften zur elektronischen Überwachung im Zusammenhang mit Kontaktverboten (kontaktförbud) eingeführt. Die Gesetzesänderungen zielten auf einen verbesserten Schutz der Opfer, insbesondere der Frauen, vor Gewalt, Drohungen, Belästigung und Stalking ab, die typischerweise durch Männer begangen werden, mit denen die Opfer zuvor zusammengelebt haben.

Die Entscheidung über eine elektronische Überwachung im Zusammenhang mit Kontaktverboten trifft der Staatsanwalt (åklagare) von Amtes wegen oder auf Antrag der schutzsuchenden oder einer anderen Person. Auf Antrag der zu überwachenden oder der zu schützenden Person wird die Entscheidung des Staatsanwalts zur Überprüfung an das Amtsgericht weitergeleitet. Nach geltendem Recht kann ein Kontaktverbot mit elektronischer Überwachung für höchstens sechs Monate angeordnet werden. Danach kann die Massnahme um jeweils drei Monate verlängert werden. Diese Vorschriften wurden in der Folge als zu eng kritisiert. Als Reaktion auf diese Kritik sowie aufgrund der Ergebnisse einer allgemeinen Evaluation der geltenden Bestimmungen empfiehlt eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie, die bestehenden Vorschriften zu revidieren, um den Einsatz der elektronischen Überwachung zu vereinfachen. Zudem soll diese neu auch in Fällen von Belästigung oder Drohungen angeordnet werden können, die nach geltendem Recht keine solche Massnahme rechtfertigen, weil sie als nicht schwerwiegend genug eingestuft werden. Darüber hinaus soll auch die Dauer der Überwachung von bisher sechs auf bis zu zwölf Monate verlängert werden.240 Fazit Der Einsatz elektronischer Vorrichtungen gehört üblicherweise zu den strafrechtlichen Massnahmen und ist in allen untersuchten Staaten auch vorwiegend in einem zum Strafrecht gehörenden Erlass geregelt. So kennen weder Deutschland noch Österreich noch Frankreich zurzeit eine eigenständige zivilrechtliche Rechtsgrundlage für die Anordnung einer elektronischen Überwachung der verletzenden
Person, um Opfer häuslicher Gewalt vor weiteren Übergriffen zu schützen. Infolgedessen wird eine elektronische Überwachung einer Person meist nur dann angeordnet, wenn 237

Diário de Notícias, 1.3.2015, 319 arguidos com vigilancia eletrónica debido a violencia doméstica, abrufbar unter: www.dn.pt > PESQUISAR > 319 arguidos com vigilancia eletrónica debido a violencia doméstica.

238 Publico, 28.02.2017, Metade dos arguidos com pulseira eletrónica são agressores de violência doméstica, abrufbar unter: www.publico.pt > Pesquisa > Metade dos arguidos com pulseira electrónica são agressores de violência doméstica.

239 Lag (1988:688) om kontaktförbud, abrufbar unter: www.riksdagen.se > Dokument & Lagar > Lag (1988:688) om kontaktförbud (im Suchfeld eingeben) > Lag (1988:688) om kontaktförud.

240 Vgl. dazu Elektronisk övervakning av kontaktförbud, abrufbar unter: www.riksdagen.se > Dokument & Lagar > Elektronisk övervakning av kontaktförbud (in Suchfeld eingeben) > Elektronisk övervakning av kontaktförbud.

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diese in ein Straf- oder Verwaltungsverfahren verwickelt ist (z. B. Überwachung vor Beginn eines Strafprozesses zur Vermeidung einer Untersuchungshaft [pre-trial use]241 oder im ausländerrechtlichen Bereich vor einer Ausschaffung oder Rückführung). Die elektronische Überwachung wird auch bei Personen eingesetzt, die verdächtigt werden oder von denen angenommen wird, sie könnten einen terroristischen Akt begehen.242 Abschliessend lässt sich feststellen, dass im Bereich der Problematik von häuslicher Gewalt nur wenige Länder die elektronische Überwachung zum Schutz potenzieller Opfer einsetzen. Dazu gehören: Spanien und die autonome Provinz Katalonien, Frankreich, Portugal und Schweden.243

241

Vgl. Graham Hannah/McIvor Gill, Report No. 8/2015 Scottish and International Review of the Uses of Electronic Monitoring, August 2015, Ziff. 3.2.

242 Vgl. Graham/McIvor (Fn. 241), Ziff. 3.7.

243 Ferreira Broquet Ludivine, Le bracelet électronique en Suisse: hier, aujourd'hui et demain, Diss. Neuchâtel 2015, N 398.

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Anhang II

Gewalt in Paarbeziehungen im Strafrecht anderer europäischer Staaten In Deutschland werden Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Nötigung und schwere Bedrohung stets von Amtes wegen verfolgt. Die einfache Körperverletzung wird nur auf Antrag verfolgt. Die Strafverfolgungsbehörde kann aber von Amtes wegen einschreiten, wenn sie dies wegen des besonderen öffentlichen Interesses für geboten hält. Bei Straftaten unter Angehörigen wird ein solches Interesse aber kaum je bejaht, wenn das Opfer die Strafverfolgung nicht wünscht.244 Bei einer Verfolgung auf Antrag kann das Opfer die Einstellung des Verfahrens erreichen, indem es den Strafantrag zurücknimmt. Ausserdem kann das Verfahren wegen geringer Schuld oder (seit 2013) unter der Voraussetzung eingestellt werden, dass der Täter an einem sozialen Trainingskurs zur Gewaltprävention teilnimmt.245 In Österreich werden Vergewaltigung, geschlechtliche Nötigung, Nötigung und Körperverletzung von Amtes wegen verfolgt. Das frühere Antragserfordernis bei Vergewaltigung und geschlechtlicher Nötigung durch den Ehegatten oder die Konkubinatspartnerin bzw. den Konkubinatspartner wurde 2004 aufgehoben. Auch gefährliche Drohungen werden von Amtes wegen verfolgt; bis 2006 war die Ermächtigung der bedrohten Person erforderlich, wenn die Tat gegen den Ehegatten oder einen Angehörigen gerichtet war.246 Die Einstellung des Verfahrens ist möglich, wenn ­ auch wegen des Verhaltens des Täters nach der Tat ­ der Störwert der Tat als gering anzusehen ist.

Auch in Frankreich werden Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Nötigung, Bedrohung und alle Formen der Körperverletzung, die im Rahmen einer Paarbeziehung begangen werden, von Amtes wegen verfolgt.247 Seit dem Gesetz 2014-873 vom 4. August 2014 über die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann kann der Täter dazu angehalten werden, an einem Kurs zur Schaffung von Verantwortungsbewusstsein teilzunehmen, damit so gegen häusliche Gewalt vorgegangen und dieser vorgebeugt werden kann. Dies ist sowohl vor der Entscheidung des Staatsanwaltes über Erhebung der Anklage möglich als auch im Rahmen des Strafverfahrens durch das urteilende Gericht. Die Teilnahme auf eigene Kosten an einem solchen Kurs durch den Täter kann sodann in manchen Fällen eine Alternative zur Strafverfolgung darstellen (Art. 41-1 des Code de la procédure pénale). Für
Straftaten innerhalb einer Paarbeziehung sind qualifizierte Strafdrohungen vorgesehen (siehe z. B. Art. 222-24 11° [schwere Vergewaltigung] und 222-28 [andere sexuelle Angriffe] des Code pénal). Zudem sieht das Gesetz häufig dann höhere Strafen vor, wenn sich eine

244

Riedo/Allemann (Fn. 198), Art. 55a N 7 f.; Stree Walter/Sternberg-Lieben Detlev, in: Schönke Adolf/Schröder Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., München 2014, § 230 N 5; BBl 2003 1909, hier 1913.

245 Peters Sebastian, in: Knauer Christoph/Kudlich Hans/Schneider Hartmut, Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., München 2016, § 153a N 92 f.

246 Riedo/Allemann (Fn. 198), Art. 55a N 12 f.

247 Riedo/Allemann (Fn. 198), Art. 55a N 9.

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BBl 2017

Gewalthandlung gegen ein Opfer gerichtet hat, um dieses an einer Zeugenaussage oder Strafanzeige zu hindern.248 In Italien werden Vergewaltigung und sexuelle Nötigung grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt, ungeachtet der Beziehung zwischen Opfer und Täter; ebenso die einfache Körperverletzung, welche zu einer Krankheitsdauer von weniger als 20 Tagen führt.249 Allerdings kann der Strafantrag nicht zurückgezogen werden, und das Verfahren kann auch nicht aus Zweckmässigkeitsgründen eingestellt werden, beispielsweise wegen mangelndem Interesse des Opfers an der Strafverfolgung. 250 Das Gesetz Nr. 38 vom 23. April 2009 (Umwandlung des Gesetzesdekrets 11 vom 23. Februar 2009)251 sieht vor, dass Belästigungsopfer, bevor sie Anzeige erstatten, Schutz bei der Polizei suchen können. Das Gesetz besagt ausserdem, dass die Strafverfolgungsbehörden, Gesundheitsversorgungsbehörden und andere öffentliche Einrichtungen, die von Verfolgungshandlungen erfahren, das Opfer in Kontakt mit Anti-Gewalt-Zentren setzen müssen. Darüber hinaus regelt das Gesetz die Einrichtung einer nationalen Helpline. Spezifische Massnahmen finden sich in der Strafprozessordnung, welche durch das Gesetz Nr. 154/2001 reformiert wurde (sofortige Entfernung aus der Familie, Reiseverbot in Bezug auf Orte, an denen sich das Opfer oder seine Familie aufhalten, etc.). Zudem kann das Zivilgericht Schutzanordnungen treffen, um das gewaltsame Verhalten mittels Eingreifen der Polizei und des oder der Gesundheitsbeauftragten zu beenden. Das Gesetz Nr. 119 vom 15. Oktober 2013 (ausserordentlicher Aktionsplan, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen) führte spezifische Straftatbestände, einige relevante erschwerende Umstände sowie allgemeine präventive und repressive Massnahmen ein, um die Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen (Mord, Missbrauch, Belästigung, Körperverletzung) zu bekämpfen.

Dieses Gesetz führte des Weiteren neue prozessuale Rechte für Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen, sexuellem Missbrauch, sexueller Ausbeutung und Belästigung ein.

248 249

Riedo/Allemann (Fn. 198), Art. 55a N 9.

Riedo/Allemann (Fn. 198), Art. 55a N 14. Die Vorschriften über Gewalt in Paarbeziehungen finden sich in Art. 572 (Gewalt in Paarbeziehungen oder Kindesmissbrauch) und Art. 582 Strafgesetzbuch (Läsionen).

250 Vgl. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Fn. 30), BBl 2003 1909, hier 1913.

251 Mit dem Gesetz wurde der neue Tatbestand der Belästigung (Anrufe zu allen Stunden, wiederholte Aufmerksamkeit, Überwachung, unerwünschte Geschenke, Briefe oder SMS) in Art. 612bis des italienischen Strafgesetzbuches eingeführt. Der Tatbestand soll auch als präventive Massnahme dienen, weil Belästigungen physischer Gewalt vorausgehen können.

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