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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs von C. Sibilin und Konsorten betreffend Uebertretung des Bundesgesetzes über Maß und Gewicht.

(Vom 1. Juni 1891.)

Der schweizerische Bundes rat h, auf den Antrag seines Industrie- und Landwirthschaftsdepartements, nach Einsicht der Akten, aus welchen sich ergibt: Den 17. Februar 1891 wurden Claude Sibilin, Weinnegociant in Lausanne, sowie 12 Depothalter vom Polizeigericht des Amtsbezirks Lausanne wegen Uebertretung des Art. 15 des Bundesgesetzes über Maß und Gewicht vom 3. Juli 1875 (s. Amt). Samml.

n. F., I. 752) zu je einer Buße von Fr. 10 und solidarisch zu den Kosten verurtheilt (in Modifikation eines Urtheils des Regierungsstatthalters von Lausanne, welcher unterm 26. und 28. Januar die Beklagten zu je Fr. 20 Buße verurtheilt hatte): weil die Rekurrenten nach den eingelangten Polizeirapporten und nach eigenem Geständniß im Monat Januar 1891 Wein in ungeeichten Flaschen verkauft hätten; weil dieselben überdies bis Ende November oder Anfang Dezember 1890 in ihren Verkaufslokalen Affichen angeschlagen hätten, nach welchen sie die betreffenden Weine per Liter verkauften, und weil diese Affichen erst in jüngster Zeit modifizirt worden seien ;

292 \\eil nach einem in der ,,Feuille d'avis" von Lausanne erschienenen Inserat Sibilio Weiu in ,,litres commerciaux français1* verkauft habe, welcher Verkauf als ein Verkauf nach Maß angesehen werden müsse.

Ein gegen dieses Urtheil beim Kaasationsgericht für Strafsachen des Kantons Waadt eingereichter Rekurs wurde durch Entscheid vom 10. März abgewiesen und zwar: weil durch das Inserat vom 14. Januar 1891 Sibilio bekannt gemacht habe, daß seine ,,litres commerciaux français non scellés se vendaient bouchés et cachetés comme bouteilles" ; weil dieses Inserat dazu angethan sei, das Publikum glauben zu machen, daß die durch Sibilin und dessen De.pothalter verkauften Weine in Flaschen abgegeben werden, welche einen Liter enthalten, während der wirkliche Inhalt geringer sei; weil kein Unterschied zu machen sei zwischen einem ,,litre commercial français" und dem offiziellen Liter, welcher allein gesetzlichen Werth habe; weil die Thatsache, daß Sibilin das Wort Liter gebraucht habe für Flaschen, die keinen Kubikdezimeter enthalten, sich als Gesetzesübertretung qualifizire ; weil endlich die verwendeten Flaschen, nach dem eigenen Geständniß der Beklagten, nicht geeicht seien, und ihr Inhalt kleiner sei als ein Liter.

Infolge dessen gelangte Herr Eugen Métraux, Fürsprecher in Lausanne, Namens der Bestraften, in einer Rekursschrift vom 23. März an den Bundesrath, um eine Aufhebung des Urtheils zu erwirken. In jener wird ausgeführt, der Kassationshof habe die vom Regierungsstatthalter von Lausanne ausgesprochene Buße festgehalten, indem er sieh einzig darauf stütze, daß einer der Rekurrenten, Cl. Sibilin, ein Inserat habe erscheinen lassen, welches geeignet sei, das Publikum über den Inhalt der Flaschen zu täuschen. Die Kekurrenten eru-ähnen ferner, daß der Kassationshof die Hauptfnige, ob das Bundesgesetz über Maß und Gewicht den Verkauf von Wein und Spirituosen in ungeeichten Flaschen gestatte, wenn der Verkauf ohne eigentliche Maßangabe erfolge, gar nicht berührt habe.

Im Weitern wird darauf aufmerksam gemacht, daß das Inserat von Sibilin nicht im Namen aller Rekurrenten gemacht worden sei.

Die Depothalter hätten von diesem Inserat erst am Tage des Erscheinens desselben Kenntniß erhalten und nicht Zeit gehabt, dagegen Einsprache zu erheben, da sie schon am nämlichen Tage verzeigt worden seien. Es könnten daher die Depothalter nur

293 bestraft werden,- weil sie Weiü in nicht geeichten Flaschen, ohne Angabe eines gesetzlichen Maßes, verkauft hätten, vorausgesetzt, daß hierin eine Uebertrecung des erwähnten Bundesgesetzes bestehe.

Nach Ansieht der Rekurrenten habe der Kassationshof diese Frage indirekt entschieden, indem das Inserat der einzige Grund gewesen sei, warum das erstinstanzlk'he Urtheil aufrecht erhalten worden.

Die Rekurrenten stellen daher das Gesuch, es möchte der Bundesrath das Urtheil des Regierungsstatthalteramtes von Lausanne dea gänzlichen oder wenigstens soweit aufheben, als es die Depothalter allein betreffe.

Das antragstellende Departement hat diese Eingabe dem Landwirthschafts- und Handelsdepartement des Knntons Waadt übermittelt mit dem Ersuchen, sein Gutachten darüber zu erstatten und dem Kassationshofe Gelegenheit zur Vernehtnlassung zu geben.

Letzterer glaubte, sein Urtheil vom 10. März nicht noch einläßlicher begründen zu sollen, sondern verwies auf die dort angeführten Motive.

Dagegen macht das Landwirthschafts- und Handelsdepartement des Kantons Waadt folgende Bemerkungen: Das Kreisschreiben des schweizerischen Industrie- und Landwirthschaftsdeparterneats vom 30. Oktober 1890 betreffend den Verkauf von Wein etc. in ungeeiehten Flaschen sei sofort bekannt gemacht und eine Frist bis zum 31. Dezember 1890 eingeräumt worden, damit die Interessenten sich mit den nöthigen Flaschen versehen könnten,. Keine Reklamation irgend welcher Art sei erfolgt, bis plötzlich zu wiederholten Malen das erwähnte Inserat des Herrn Sibilin, Generalagenten des Hauses Châtelet & Comp. in Genf, erschienen sei. Dieses Inserat habe ganz den Charakter einer Provokation gehabt, und deßhalb sei der Regierungsstatthaltar von Lausanne beauftragt worden, gegen die Fehlbaren einzuschreiten.

Das Departement ist der Ansicht, daß Sibilin und seine Depothalter sich gegen das Gesetz vergangen haben, indem sie im öffentlichen Verkehr Flaschen von nahezu einem Liter Inhalt verwendeten, ohne daß dieselben geeicht gewesen wären, und daß dieser Fehler um so gravirender gewesen sei, als die Betreffenden von einem bezüglichen Verbot genaue Kenntniß gehabt hätten.

Endlich wird gewünscht, die eidg. Behörden möchten dafür sorgen, daß ihre Beschlüsse auf dem ganzen Gebief der Eidgenossenschaft respektirt würden, indem aus einer Beilage hervorgehe, daß im Kanton Genf u n d , nach der Aussage des Herrn Châtelet, auch in den Kantonen Bern, Neuenburg, Solothurn, Zürich,

294 Luzern etc. der Verkauf von Wein in ungeeichlen Flaschen gestattet sei; in Erwägung: Art. 15 des Bundesgesetzes über Maß und Gewicht schreibt vor: ,,Wer im Verkehr ungeeichte oder unbezeichnete Maße, Gewichte und Waagen gebraucht, ï erfällt, wenn der Fall nicht durch wissentliche Täuschung und Schädigung als Betrug erscheint, in eine Buße von Fr. 2 bis 2U.a Diese Bestimmung haben mehrere Weinhändler, worunter auch die Beklagten als Agent und Depothalter des Hauses Châtelet & Cie. in Genf, dadurch mißachtet, dali sie Weine in ungeeichte Flaschen abzogen, welche ungefähr einen Liter halten sollten, in den meisten Fällen aber kleiner waren, dennoch aber die Flaschen als Liter berechneten. Durch das Kreisschreiben vom 30. Oktober 1890 hat das antragstellende Departement die Kantonsregierungen auf diese Widerhandlung gegen das Gesetz aufmerksam gemacht und dieselben eingeladen, dafür zu sorgen, daß Flüssigkeiten, welche per Liter verkauft, auch nur in geeichten Flaschen abgegeben würden.

Das Landwirthschafts- und Handelsdepartement des Kantons Waadt sorgte für gehörige Bekanntmachung dieses Kreissehreibens und setzte eine Frist an bis zum 31. Dezember 1890, damit es den Weinhandlungen, Spezereihändlern etc. möglich sei, die nöthigen Vorkehren zu treffen, um den gesetzlichen Bestimmungen über Maß und Gewicht nachzukommen.

Statt sich diesen Bestimmungen zu unterziehen, erließ im Januar 189J der eine der Rekurrenten, Sibilin, ein Inserat folgenden Inhalts: ^Je rappelle à ma nombreuse clientèle que mes litres commerciaux français non scellés se vendent bouchés et cachetés comme bouteilles, depuis 40 cts. le rouge et 50 cts. le blanc.a Obschon in diesem Inserat allerdings der Preis nicht mehr per Liter festgesetzt wird, sondern per Flasche, läßt der darin gebrauchte Ausdruck n litre commercial français"' beim Publikum die Vermuthung aufkommen, daß die betreffenden Flaschen wirklich auch einen Liter enthalten, da der schweizerische Liter identisch ist mit dem französischen Liter. Wenn daher der Maßinhalt der Flaschen, die zum Verkauf gelangten, angegeben war, so hätten die Flaschen auch geeicht sein sollen, und es haben sich, da dies nicht der Fall war, die Kekurrenten wirklich einer Uebertretung des Bundesgesetzes über Maß und Gewicht schuldig gemacht.

Der Einwand, daß eventuell nur der eine Rekurrent, Sibilin, im Fehler sei, indem fragliches Inserat von ihm allein ausgegangen sei, ist nicht stichhaltig. Die Depothalter hatten von den Bekannt-

295 machungen des waadtländischen Departements volle Kenntniß, wußten daher, daß die Art des Verkaufes des Weins, wie dieselbe vor dem 1. Januar 1891 ausgeübt worden war, nach diesem Termin nicht mehr zuläßig sei und hätten es daher ablehnen sollen, den Verkauf des Weines in bisheriger Weise fortzusetzen.

Demnach ist kein Grund vorhanden, das Urtheil der kantonalen richterlichen Behörde aufzuheben ; beschließt: 1. Der Rekurs der Herren Claude Sibilin und Konsorten wird abgewiesen.

2. Von diesem Beschlüsse ist Herrn Fürsprecher Métraux in Lausanne zu Händen der Rekurrenten unter Zustellung der von ihm erbrachten Akten, sowie dem Siaatsrath des Kantons Waadt für sich und zu Händen des Obergerichts Keuntniß zu geben.

3. Gegenwärtiger Beschluß ist in's Bundesblatt aufzunehmen.

B e r n , den 1. Juni 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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17.06.1891

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291-295

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