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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend Einführung des Rechts der Gesetzgebung über das Gewerbewesen.

(Vom 3. November 1905.)

Tit.

Indem wir auf unsere gleich betitelte Botschaft vom 25. November 1892 (Bundesbl. V, 366) verweisen, erinnern wir daran, daß der Bundesbeschluß vom 20. Dezember 1893 der Bundesverfassung folgenden Art. 34ter einfügen wollte : ,,Der Bund ist befugt, auf dem Gebiete des Gewerbewesens einheitliche Vorschriften aufzustellen."

unserer Botschaft vom 27. März 1894 (Bundesbl. I, 1025) ist zu entnehmen, daß die damalige Vorlage am 4. März gleichen Jahres mit 158,492 gegen 135,713 Stimmen und von 14y2 Ständen gegen 7x/a verworfen worden war.

Die damit zu zeitweisem Stillstand verurteilte Frage blieb immerhin nicht lange ruhen. Trotz des Mißerfolges gewann der Gedanke einer schweizerischen Gewerbegesetzgebung neue Kraft, und es hat den Anschein, daß dessen innere Berechtigung und der Druck der Verhältnisse seine Verwirklichung erzwingen werden. Wir selbst waren übrigens nie der Ansicht, daß die Angelegenheit zufolge jener Abstimmung dahingefallen sei, und wir hatten auch am 12. Juni 1895, anläßlich der Behandlung der Motion Bossy, Gelegenheit, im Ständerat durch unsere Vertretung erklären zu lassen, daß wir neuerdings an die Verfassungsrevision herantreten würden, um den Übelständen im Gewerbewesen begegnen zu können,

539 Die erste Kundgebung,, die seit der erwähnten Abstimmung an uns gelangte, war diejenige der Kommission des ostschweiz e r i s c h e n G e w e r b e t a g e s (Gewerbe verbände von Appenzell, St. Gallen, Thurgau) in St. G a l l e n . Mit Schreiben vom 16. November 1896 übermittelte sie folgenden Beschluß: ,,Der heute, dea 30. August 1896, in St. Gallen zusammengetretene ostschweizerische Gewerbetag drückt zu Händen der ßundesbehörden den Wunsch aus, es möchte baldigst eine Revision der Bundesverfassung ohne gleichzeitige Aufstellung von obligatorischen Berufsgenossenschaften und nur durch folgende Fassung des Schlußsatzes von Artikel 31 der Bundesverfassung angebahnt werden: Diese Verfügungen dürfen den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit nur insoweit beeinträchtigen, als dies zur Bekämpfung unsolider und gemeinschädlicher Geschäftsmanipulationen geboten erscheint"1. Eine Begründung war diesem Beschluß nicht beigegeben, die Petition erwähnte nur, daß ein Referat für und ein solches gegen die obligatorischen Berufsgenossenschaften gehalten, und daß der oben mitgeteilte Beschluß ,,mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Mehrheit"1 gefaßt wurde.

Im Zusammenhang mit den Bestrebungen für eine schweizerische Gewerbegesetzgebung waren diejenigen, die auf eine G e w e r b e s t a t i s t i k abzielten. Wir verweisen auf unsere Botschaften vom 29. November 1898 (Bundesbl. V, 267), vom 7. Dezember 1903 (Bundesbl. V, 208), und auf den Bundesbesohluß betreffend die Vornahme einer allgemeinen Betriebszählung in der Schweiz, vom 24. Juni 1904 (A. S. n. F. XX, 90).

A m meisten ließ es sich der s c h w e i z e r i s c h e Gew e r b e v e r e i n angelegen sein, die Verfassungsrevision zu Gunsten einer Gewerbegesetzgebung neuerdings zu fördern, und er widmete sich der Sache im letzten Dezennium mit großem Nachdruck ; wir verweisen unter anderem auf seine Veröffentlichungen: ,,Revision der Bundesverfassung im Sinne der Einschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit" (Heft XII der ,,gewerblichen Zeitfragen"-) und ,,Postulate für ein Bundesgesetz über Berufsgenossenschaftena (Heft XIII der ,,gewerblichen Zeitfragen"'). An den Bundesrat wandte sich die Zentralleitung des Vereins erst mit einer Eingabe vom 21. Juli 1903, deren Wortlaut wir nachstehend folgen lassen : ,,Die Delegiertenversammlung des schweizerischen Gewerbevereins, welche am 7. Juni 1903 in Ghur tagte, nahm nahezu einstimmig folgende Resolution an :

540 ,,,,Die Verkürzung der Arbeitszeit an Samstagen, zum Zwecke eines vermehrten Arbeiterscbutzes, wurde, soweit Handwerk und Gewerbe in Betracht fallen, unter voller Anerkennung des humanen Zweckes der Vorlage, sowohl in den Abstimmungen der Sektionen,, als durch die Delegiertenversammlung als eine Lösung bezeichnet, die in der praktischen Ausführung zu den größten Schwierigkeiten führen und den Ruf des Fabrikgesetzes gefährden wird.

Der Zentralvorstand wird daher eingeladen, eventuell in Verbindung mit ändern Kreisen, neuerdings dahin zu wirken, daß in die Bundesverfassung ein Gewerbeartikel aufgenommen wird, auf Grund dessen eine schweizerische Gewerbeordnung auszuarbeiten ist, welche neben Bestimmungen über Arbeiterschutz namentlich auch solche zur G e w e r b e - F ö r d e r u n g enthält.tut ,,Der Zentralvorstand des schweizerischen Gewerbevereins kommt dem ihm durch die Delegiertenversammlung erteilten Auftrag hiermit nach, und begründet das Begehren noch mit folgenden nähern Ausführungen : ,,Schon vor zirka 10 Jahren haben die eidgenössischen Räte dem Bund das Recht zur Gesetzgebung über das Geworbewescu verschaffen wollen. Innerhalb der genannten Behörde wurde die Notwendigkeit eingehend begründet und allgemein anerkannt.

Wenu das Volk damals den sogenannten Gewerbeartikel mit einem verhältnismäßig geringen Mehr verwarf, so berechtigt dies nicht zur Voraussetzung, es würde heute ein neuer Versuch das gleiche Resultat bringen. Die hauptsächlichste Opposition wurde damals von den gewerblichen Kreisen selbst entfaltet. Man hatte seitens der Gewerbetreibenden gewünscht, die Verfassungsrevision möchte bei Art. 31 und 34 einsetzen, während sie nur Art. 34 in Berücksichtigung zog. Die Gewerbetreibenden befürchteten., es werde nur eine ausgedehnte Arbeiterschutzgesetzgebung in den gewerblichen Betrieben beabsichtigt, während die Fragen der Gewerbeförderung ungelöst blieben. Diese Opposition eines großen Teiles der Gewerbetreibenden mußte bei der Abstimmung auch auf die unbeteiligten Bürger in ungünstigem Sinne wirken.

,,Die Notwendigkeit eines gesetzlichen Eingriffes in die gewerblichen Verhältnisse wird heute noch in höherem Maße anerkannt, als damals. Die Überzeugung hat sich schon längst Bahn gebrochen, daß das freie Spiel der Kräfte im Erwerbsleben zu Extremen führt, und daß durch diese Extreme zum mindesten ein Teil des Volkes in unzulässiger Weise betroffen wird. Zufolge dieser Erkenntnis hat man angefangen, durch das

541 Mittel des Gesetzes g e o r d n e t e r e Z u s t ä n d e zu schaffen. Bund oder Kantone haben unter anderm eingegriffen oder sind im Begriffe, «s zu tun, in das Gebiet des Fabrikwesens, der geistigen Getränke, der Kontrolle über Gold- und Silberwaren, in die Tätigkeit der Handelsreisenden, in das Gebiet des Hausierwesens, der Ausverkäufe, der Fabrik- und Handelsmarken, der Sonntagsruhe, des Lehrlingswesens, des Verkehrs mit Lebensmitteln, der Wohnungsverhältnisse etc. Alle diese Vorkehren genügen indessen noch lange nicht, um die Verhältnisse wieder so zu gestalten, wie es im Interesse der allgemeinen Volkswohlfahrt als unerläßlich erscheinen muß. Um dieses Ziel erreichen zu können, sollte der Bund an einzelnen Stellen weiter gehen können, als ihm der Buchstabe der Verfassung gestattet. Deshalb müßte in erster Linie d e m B u n d d a s R e c h t g e s c h a f f e n w e r d e n , auf dem Gebiete des G e w e r b e w e s e n s G e s e t z e erlassen zu können.

,,Sehr zutreffend sagt bei Anlaß der Beantwortung eines Rekurses der Bundesrat im Jahre 1890 (Bundesbl. III, 1096): ,,,,Ende der 70er Jahre ist die bundesrätliche Praxis mit Bezug auf Art. 31 der Verfassung von der früher beliebten, nur theoretischen und deshalb den wirklichen Bedürfnissen des Lebens zu wenig Rechnung tragenden Auffassung und Anwendung des Freiheitsbegriffes mehr zurückgekommen. Der leitende Gedanke war überall der, daß die Freiheit notwendig ihre Grenze habe, und in allzu reichem Maße gewährt, in ein Vorrecht einzelner zum Nachteile der großen Menge ausarte.tut ,,Da jede gesetzliche Ordnung eine Begrenzung der persönlichen Freiheit bedeutet, so wird auch ein zweckdienliches schweizerisches Gewerbegesetz kaum ohne etwelche Einschränkung der Gewerbefreiheit geschaffen werden können.

,,Zur weitern Begründung des Gesuches um erneute Anhandnahme der Verfassungsrevision im Sinne der Schaffung einer schweizerischen Gewerbeordnung können wir auch auf die Botschaft des Bundesrates vom 25. November 1892 verweisen, in der die Schaffung eines Gesetzes über das Gewerbewesen, allerdings im Anschluß an Art. 34 der Verfassung, in historischer und materieller Hinsicht eingehend begründet und als dringlich Tjez.eichnet wird. Wenn die Dringlichkeit von Seite des Bundes schon vor 11 Jahren konstatiert wurde, um so viel mehr muß sie jetzt als notwendig betrachtet werden.

,,Wir wollen noch anführen, daß auch die organisierte Arbeiterschaft schon zweimal eine schweizerische Gewerbeordnung

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verlangte (Versammlung des schweizerischen Grütlivereins 1888, Referent Herr Greulich, und schweizerischer Arbeitertag 1890, Referent Herr Scherrer). Sind ihre Postulate im einzelnen auch nicht die gleichen, wie die unsrigen, so dürfte sich doch ein Weg finden lassen, um die beidseitigen berechtigten Wünsche zu erfüllen.

,,Von der Voraussetzung ausgehend, es werden die Bundesbehörden vorgängig der Schaffung eines Gewerbegesetzes sich das verfassungsmäßige Recht dazu schaffen wollen, und sie werden daher im Sinne des Vorgehens von 1894 zuerst dieses Recht zur Abstimmung bringen, treten wir heute auf eine detaillierte Darstellung dessen, was in jenem Gesetze Aufnahme finden sollte, nicht ein. Zum Teil liegt bezügliches Material durch unsere bis dahin gemachten Eingaben bereits in den Händen des h. Bundesrates, und wir sind zur Ergänzung desselben gerne bereit.

,,Immerhin geben wir von der bestimmten Erwartung aus, daß ein solches Gesetz nicht nur ausschließlich ein Arbeiterscliutzgesetz werden solle. Wir glauben, daß durch ein rationelles Gesetz das Verhältnis zwischen Meister, Arbeiter und Lehrling wesentlich gebessert, die sozialen Gegensätze gemildert, die Berufsbildung gefördert, die Arbeitslosigkeit bekämpft, dem reellen Verkehr geholfen und die Erwerbsgelegenheit gebessert werden können -- fürwahr würdige Ziele, die der ßundesgesetzgebung neue dankbare Gebiete eröffnen.

,,In Ermangelung eines Gewerbegesetzes hat der Bund immer mehr das Fabrikgesetz auf die Gewerbe ausgedehnt, filr deren Betriebsform es nicht paßt und auch nicht geschaffen wurde.

Abgesehen davon, führt es zu einer ganz ungleichen Behandlung gleicher Betriebe, weil es nicht auf alle ausgedehnt werden kann. Jede weitere Ausdehnung des Gesetzes führt daher zu einem Notschrei ; sie wird den Ruf des Fabrikgesetzes gefährden, ohne daß den Mißständen, wie sie bei den Gewerben bestehen, Abhilfe zu Teil wird. Solche und ähnliche Übelstände ließen sich beseitigen, wenn neben dem Fabrikgesetz auch ein schweizerisches Gewerbegesetz geschaffen würde.

,,Wir legen Ihnen noch eine Zusammenstellung der seit mehr als 100 Jahren von verschiedenen, namentlich aber gewerblichen Kreisen gemachten Bestrebungen zur Erreichung eines schweizerischen Gewerbegesetzes bei, aus der hervorgeht, daß wir es hier wohl mit dem ältesten Postulat in der Eidgenossenschaft zu tun haben.

543 ,,Indem wir Ihnen das Gesuch unseres Vereins zur geneigtenPrüfung empfehlen, legen wir noch das Protokoll der Delegiertenveräammlung in Chur bei.a In der Folge nahm die Vereinsleitung ein Initiativbegehren für Revision der Bundesverfassung in Aussicht. Der Zentralvorstand setzte den Gegenstand auf die Tagesordnung der ordentlichen Jahresversammlung von 1905 (4. Juni), und unterbreitete den Sektionen mit Kreisschreiben vom 17. April 1905 folgenden Antrag mit den beigefügten Bemerkungen: ,,Art. 31 wird abgeändert: Die Freiheit des Handels und der Gewerbe ist im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft gewährleistet.

,,Vorbehalten sind: e. Verfügungen der Kantone über Ausübung von Handel und.

Gewerben, über Besteuerung des Gewerbebetriebes und über die Benutzung der Straßen. Diese Verfügungen dürfen den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit selbst nicht, beeinträchtigen.

f. Die Gewerbegesetsgebung des Bundes.

,,Art. 34 erhält einen Zusatz : Der Bund wird ein schweizerisches Gewerbegesetz erlassen.

.,Bemerkung : Die kursiv gedruckten Worte sind neu. Die Vorbehalte lit. a--d bleiben unverändert.

,,Diese Anträge sind von großer Tragweite, sie bedürfen deshalb einer ganz besonders sorgfältigen und gründlichen Erwägungdurch die Sektionen. Der schweizerische Gewerbeverein, des langen Wartens auf Inangriffnahme der eidgenössischen Gewerbegesetzgebung müde, will nun die Bundesbehörden veranlassen, dieselben in einer den Wünschen und Bedürfnissen des schweizerischen Handwerker- und Gewerbestandes entsprechenden Form durchzuführen. Dieser Schritt bedingt für den schweizerischen Gewerbeverein und all seine Mitglieder eine opferwillige, freudige und energische Aufbietung aller Kräfte. Es genügt nicht, daß die Jahresversammlung sich für eine Revision der Bundesverfassung ausspricht. Wir sollten, um den Erfolg des Initiativbegehrens zu sichern, in kurzer Frist etwa 100,000 Unterschriften sammeln können. Der Zentralvorstand will diesen Schritt nur wagen, wenn er von vornherein des Erfolges gewiß ist. Wir ersuchen demnach die Sektionen, diese Frage reiflich zu erwägen.

544 und sich über die unter den Mitgliedern herrschende Stimmung noch vor der Delegiertenversammlung zu unterrichten.1'Inzwischen (11. April 1905) beauftragten wir unser Iridustriedepartement auf dessen Vorschlag, ,,Bericht und Antrag über die Revision der Bundesverfassung zum Zwecke der Ermöglichung des Erlasses einer Gewerbegesetzgebung durch den Bund vorzulegen.tt Um für die Frage der Stellungnahme zu den Streiks Zeit zu gewinnen, setzte der Zentral vorstand seinerseits die Initiative von der Tagesordnung der Jahresversammlung des schweizerischen Gewerbevereins ab, in der Meinung, daß im Herbst 1905 je nach der Schlußnahme des Bundesrates in der Revisionsfrage eine außerordentliche Delegiertenversammlung einzuberufen sei.

Wir verzeichnen ferner folgenden Beschluß, der vom s c h w e i z e r i s c h e n A r b e i t e r t a g am 24.'April 1905 in Ölten gefaßt wurde, und einen Bestandteil der Thesen betreffend die Revision des Fabrikgesetzes bildete: ,,Es ist die Revision der Bundesverfassung anzustreben, in dem Sinne, daß der Bund die Kompetenz erhält, das gesamte Gewerbewesen auf dem Wege der Gesetzgebung zu regeln, und es sind alle dahin gehenden Begehren zu unterstützen. tt Die Begründung dieses Beschlusses ist uns nicht bekannt; vermutlich deckt sie sich mit der für den schweizerischen Gewerbeverein maßgebenden nicht in allen Teilen.

Es ist um so mehr angezeigt, die Angelegenheit ohne Verzug wieder an die Hand zu nehmen, als die Revision der Fabrikgesetzgebung im Gange ist, und eine Reihe der Regelung bedürftiger Verhältnisse nicht durch die Fabrik-, sondern durch eine Gewerbegesetzgebung erfaßt werden sollte.

Über die Sache selbst ist eine weitere Darlegung nicht erforderlich. Mehr Schwierigkeiten verursacht die formelle Behandlung. In dieser Hinsicht liegt folgende Ansichtsäußerung unseres Justiz- und Polizeidepartements, vom 6. Juli 1905, gerichtet an das Industriedepartement, vor: ,,Der Vorschlag des Gewerbevereins, einen Zusatz zu Art. 34 der Bundesverfassung zu machen, scheint uns nicht der Natur des zu ordnenden Verhältnisses zu entsprechen. Wir glauben auch annehmen zu dürfen, daß er mehr dem Bedürfnisse entsprungen ist, eine Seite der Sache, d. h. die Stellung des Gewerbes .gegenüber der gegenwärtigen Arbeiterschutzgesetzgebung besonders zu betonen.

545 ,,Allerdings gehört Art. 34 im weitern Sinne auch zur Gewerbegesetzgebung: in Absatz l ordnet er die Kompetenz des Bundes zur Fabrik- und Haftpflichtgesetzgebung und bildet die verfassungsmäßige Grundlage des Fabrikgesetzes, des Fabrikhaftpfliohtgesetzes und des Gesetzes über die Ausdehnung der Haftpflicht.

,,In Absatz 2 ordnet er die Kompetenz des Bundes zur Gesetzgebung über den Geschäftsbetrieb von Auswanderungsagenturen und von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens. Dieser zweite Absatz bildet die Grundlage der Bundesgesetz® über den Geschäftsbetrieb der Auswanderungsagenturen (1880, revidiert 1888) und betreffend Beaufsichtigung von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens (1885).

,,Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß hier wichtige Spezialgebiete des Gewerbebetriebes geordnet worden sind. Wenn auch ·die Fabrikgesetzgebung, zum Teil wenigstens, sich auf Verhältnisse erstreckt, welche mehr die Industrie berühren, so ist doch ·die Grenzlinie eine recht schwankende. Das Bundesgesetz über ·die Ausdehnung der Haftpflicht ergreift aber ohne Frage eine große Zahl von Gewerben, welche jedenfalls nicht der Industrie zuzuzählen sind.

,,Wenn also auch von vorneherein zuzugeben ist, daß Art. 34 gewisse Spezialgebiete dés Gewerberechtes in die Kompetenz des Bundes stellt, so würde es uns dennoch als nicht empfehlenswert ·erscheinen, wenn man dem Art. 34 die allgemeine Kompetenz aiim Erlaß einer Gewerbeordnung anhängen würde. Denn diese gan« vorbehaltlos postulierte neue Kompetenz umfaßt ein so gewaltiges Gebiet von Neuordnungen, daß dagegen die Spezialgebiete, eben weil sie solche sind, in den Hintergrund treten müssen. Man braucht nur einen Blick auf die deutsche Gewerbeordnung oder auf eines der kantonalen Gewerbegesetze zu werfen, um sofort inné zu werden, daß die volkswirtschaftliche Bedeutung «iner Gewerbeordnung eine Art von Umsturz des bestehenden kantonalen Zustandes bedeuten würde, besonders wenn man bedenkt, wie sehr sich die in einer heute aufzustellenden Gewerbeordnung zu regelnden Fragen an Umfang und Zahl vermehrt haben.

,,Die Botschaft des Bundesrates zu der im Jahre 1892--1894 versuchten Ausdehnung der Bundeskompetenz für eine Gesetzgebung im Gewerbewesen führt als Gegenstände derselben an : ,.Das Genossenschaftswesen (Berufssyndikate der Arbeitgeber und Arbeitnehmer), die Gewerbegerichte, den Lehrvertrag, inbeBumlesblatt. 57. Jahrg. Bd. V.

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griffen die Lehrlingsprüfung, den Arbeitsvertrag, die Arbeiterschutzgesetzgebung (vgl. Bundesbl. 1892, V, 383 ff.).

,,Dazu kämen bei der Entwicklung der Bestrebungen auf dem Gebiete des Gewerbes jedenfalls die Frage des Kollektiv(Tarif-) Vertrages, der Streikschiedsgerichte, der unlautern Konkurrenz, inklusive der Warenhäuser, des Hausierwesens, ohne daß man, was bei einer allgemeinen Gewerbeordnung jedenfalls in Frage käme, in Berechnung zieht, daß auch der Umfang der Konzessionierungspflicht der Gewerbebetriebe überhaupt und die Bedingungen der Konzessionierung einheitlich geregelt werden müßten.

,,Man braucht nur diese summarische Schätzung des möglichen Inhaltes einer Gewerbeordnung zu übersehen, um sofort zu erkennen, daß der Verfassungsgrundsatz, der die Grundlage filicine so weit ausholende Gesetzgebung schaffen soll, nicht als Anhängsel eines ändern Artikels aufgestellt werden kann, sondern einen eigenen Artikel bilden muß.

,,Dies war schon bei der früher versuchten Revision der Fall,, und wir würden für den gegenwärtigen Versuch denselben Standpunkt empfehlen und eine möglichst allgemeine Fassung, ähnlich dem damals vorgeschlagenen Art. 34ler, empfehlen : ,,Der Bund ist befugt, auf dem Gebiete des Gewerbewesens einheitliche Bestimmungen aufzustellen."

Wir stimmen diesen Ausführungen zu, und beantragen deshalb wiederum, dem neuen Grundsatz in einem besondern Verfassungsartikel (Art. 34ter) Ausdruck zu verleihen.

Was nun das Verhältnis zur Handels- und Gewerbefreiheit betrifft, so kommt wesentlich in Betracht, ob die Gewerbeordnung Bestimmungen enthalten solle, die den Grundsatz von Art. 31 beeinträchtigen. Auf Veranlassung unseres Industriedepartements legte die Leitung des schweizerischen Gewerbevereins in einem ausführlichen Memorial, vom 22. September 1905, dar, welches die Umschreibung der gesetzgeberischen Aufgabe von ihrem Standpunkte aus sein möchte. Außer den in unserer Botschaft vom 25. November 1892 aufgeführten Gegenständen wurden genannt: unlauterer Wettbewerb, Hausierwesen, Submissionswesen, Bekämpfung der Ursachen der Arbeitslosigkeit, Verhütung von Arbeitseinstellungen, Förderung des Gewerbewesens im allgemeinen. Das Schriftstück wird zu Ihrer Einsichtnahme bereit gehalten. Es kann natürlich nur orientierenden Charakter beanspruchen, und es ist wohl möglich, daß nicht alle Beteiligte (nicht organisierte Meister,,

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die Arbeiterschaft) mit seinem Inhalt einverstanden sind; wir betrachten es auch als ganz selbstverständlich, daß bei Ausarbeitung der Gesetzgebung die verschiedenen Parteien zum Worte kommen.

Inwieweit die Bundesgesetzgebung den Grundsatz der Handelsuad Gewerbefreiheit beeinträchtigen wird, läßt sich zurzeit nicht bestimmt ermessen. Das dürfte sicher sein, daß eine Reihe von Bestimmungen, wie sie entweder geplant oder wirklich eingeführt werden, jenem Grundsatz widersprechen. Jedenfalls wird sich der G-esetzgeber, wie schon bei der Revision von 1892, die Freiheit vorbehalten wollen, über die Schranken des Grundsatzes von Art. 31 hinauszugehen. Dies empfiehlt sich, wie unser Justizund Polizeidepartement am 29. September 1905 schreibt, schon deshalb, weil über den Begriff der Gewerbefreiheit keineswegs klare und übereinstimmende Ansichten herrschen. Es ist eine Frage der Redaktion, ob die in Art. 34tei' grundsätzlich zugelassene Ausnahme in Art. 31 ausdrücklich vermerkt werden soll oder nicht. Wir gelangen heute dazu, die Einfügung eines Vorbehalts in Art. 31 zu befürworten, weil das Verhältnis des neuen Art. 34ler zu Art. 31 für solche, die nur den Text des erstem kennen, nicht von vornherein klar sein wird, und es daher korrekter sein dürfte, durch eine Ergänzung von Art. 31 deutlich zu bekunden, daß die Bundesgesetzgebung für Aufstellung der Gewerbeordnung nicht unbedingt an den Grundsatz der Handelsimd Gewerbefreiheit gebunden sein soll.

Wir empfehlen Ihnen den beigefügten Entwurf eines Bundesbeschlusses zur Annahme, und benutzen den Anlaß, Sie unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 3. November 1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates Der Bundespräside'n

Buchet.

Der I. Vizekanzler : Scliatzmann.

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(Entwurf.)

Bundesbesehluß betreffend

Ergänzung der Bundesverfassung bezüglich des Rechts der Gesetzgebung Über das Gewerbewesen.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 3. November 1905, beschließt: I. In den Art. 31 der Bundesverfassung wird als lit. /' folgende Bestimmung aufgenommen: ^Die Gewerbegesetzgebung des Bundes, nach Maßgabe des Art. 34ter.tt II. In die Bundesverfassung wird als Art. 34'" folgende Bestimmung aufgenommen : ,,Der Bund ist befugt, auf dem Gebiete des Gewerbewesens einheitliche Bestimmungen aufzustellen."

III. Vorstehender Bundesbeschluß ist der Abstimmung des Volkes und der Stände zu unterbreiten. Der Bundesrat wird beauftragt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend Einführung des Rechts der Gesetzgebung über das Gewerbewesen. (Vom 3. November 1905.)

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08.11.1905

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