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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Gemeindevorstands von St. Moritz gegen den Kleinen Rat des Kantons Graubünden wegen sanitätspolizeilicher Anordnungen und einer Bußenverfügung.

(Vom 5. Juni 1905.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde des G e m e i n d e v o r s t a n d s von St. M o r i t z gegen den K l e i n e n Rat des K a n t o n s G r a u b U n d e n wegen sanitätspolizeilicher Anordnungen und einer Bußenverfugung, auf den Bericht des Departements des Innern, folgenden Beschluß g e f a ß t : A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 13. Juni 1904 trat der 18jährige Josef Quinz, italienischer Maurer, welcher beim Bau des Grand Hôtel in St. Moritz beschäftigt war, bei Herrn Dr. Melcher in St. Moritz in ärztliche Behandlung. Der Zustand verschlimmerte sich, so daß der Patient das Bett hüten mußte; die Temperatur stieg auf 39,5°, und eine Reihe

752 von Symptomen (Lichtscheu, Schnupfen, stark gerötetes Gesicht, rote Flecken und kleine Knötchen an Stime und Wangen, auf Brust und Rücken und den Schenkeln von Linsen- bis Bohnengroße etc.) ließen den behandelnden Arzt die Diagnose: ,,masernverdächtig" stellen. Er verfügte infolgedessen von sich aus, ohne vorherige Anzeige an den Ortsvorstand oder an den Bezirksarzt, die sofortige Überführung des Kranken in das Kreisspital in Samaden. Dem letztem kündigte Herr Dr. Melcher den bevorstehenden Transport telephonisch an, worauf in Abwesenheit des Spitalarztes Dr. Bernhard die diensttuende Krankenschwester erwiderte, das Spital sei überfüllt, übrigens habe St. Moritz ja ein Absonderungshaus. Trotzdem fand die Überführung des Kranken am 15. Juni per Wagen nach dem Kreisspital und seine vorläufige Aufnahme daseibat statt.

Der Spitalarzt Dr. Bernhard untersuchte nunmehr den Kranken und fand, daß Verdacht auf Pockenerkrankung vorliege. Er berief sofort den Bezirksarzt Dr. Juvalta in Zuoz, welcher den Verdacht bestätigte und nur noch die Möglichkeit, daß es sich um Typhus handeln könne, nicht gänzlich ausschloß. Daraufhin erklärte Dr. Bernhard, daß er unter diesen Umständen in Rucksicht auf die zahlreichen übrigen Spitalinsassen den Kranken nicht im Spital behalten könne, da eine sichere Isolierung in Ermanglung eines Absonderungshauses gänzlich ausgeschlossen sei. Der Bezirksarzt pflichtete dieser Anschauung bei und ordnete im Einverständnis mit dem kantonalen Sanitätsdepartement am 16. Juni die Evakuierung des Kranken in das gut isolierte Absouderungshaus in St. Moritz an. Allein der Gremeindevorstand von St. Moritz widersetzte sich der Ausführung dieser Maßregel, trotzdem dieselbe am 17. Juni vormittags durch dea Kleinen Rat bestätigt und am Nachmittag des gleichen Tages unter Androhung von Buße und Exekution im Weigerungsfalle wiederholt worden war, und fügte sich erst auf eine dritte dringende Depesche hin, indem er nochmals gegen diesen Gewaltakt protestierte und die Regierung für die Folgen ihres Beschlusses verantwortlich ei klärte. In der Nacht vom 17. auf den 18. Juni fand die Überführung des Kranken nach dem Absonderungshaus in St. Moritz (Laretheim) statt, wo er nachts 111/t Uhr ankam, und wo seit dem Morgen des 17. Juni sich ein anderer beim Bau des Grand Hôtel beschäftigter Arbeiter befand,
der unter ganz ähnlichen Erscheinungen erkrankt war wie Quinz. Der weitere Verlauf der Krankheit des Quinz bestätigte den Pockenverdacht nicht, sondern führte den Bezirksarzt zu der Annahme, es habe sich sowohl bei Quinz wie bei dem andern Kranken um einen Typhus gehandelt. Die beiden Fälle figurieren denn auch in der kantonalen Morbiditätsstatistik als Typhen. Der

753 behandelnde Arzt Dr. Melcher dagegen glaubte, nicht nur Pocken, ·sondern auch Typhus abdominalis und exanthematicus, sowie 'Scharlach ausschließen zu können, und erklärte den Fall als Masern.

Das renitente Verhalten des Gemeindevorstands von St. Moritz gegen die Verfügungen von Bezirksarzt, Sanitätsdepartement und Kleinem Rat, wozu noch eine Depesche des Vorstands an den Bezirksarzt kam des Wortlauts : ,,Bitten Sie dringend, uns mit.

weiteren Treibereien zu verschonen*, veranlaßten den Kleinen Hat, strafend vorzugehen. Nach Einholung der Vernehmlassung ·des Vorstandes von St. Moritz und des Gutachtens der Sanitätskommission wurde am 30. September 1904, gestutzt auf Art. 66 der kantonalen Sanitätsordnung, Art. 15, Alinea 3, der kantonalea Ausführungsbestimmungen zum eidgenössischen Epidemiengesetz ·und auf Art. 9 des eidgenössischen Epidemiengesetzes, beschlossen : ,,Der Vorstand von St. Moritz wird wegen Ungehorsams .gegenüber kleinrätlichen Weisungen in Sanitätspolizeisachen io ·eine Buße von Fr. 100 verfällt.11

II.

Der Gerneindevorstand von St. Moritz beschwerte sich in seiner Eingabe vom 28. Oktober an das eidgenössische Departement des Innern über die Verfügungen des Kleineu Rates von 'Graubünden betreffend den Rücktransport des kranken Quinz von Samaden nach St. Moritz und über dessen Scblußnahme vom '30. September 1904 und verlangte Aufhebung der letztern.

Zur Begründung seines Begehrens führt der Vorstand von 'St. Moritz im wesentlichen folgendes an : Die Evakuierung des von Dr. Melcher als masernverdächtig angesehenen Quinz in das Bezirksspital Satnaden, an dessen Betriebskosten St. Moritz alljährlich ansehnliche Beiträge leistet, ist in gleicher Weise erfolgt, wie dies schon mehrfach mit Typhusund Diphtheriefällen stattgefunden hat, ohne daß von Seiten der Behörde oder der Spitalverwaltung und des Spitalarztes irgend welche Reklamationen erhoben worden wären. In der anfänglichen Weigerung, den Kranken in das Spital aufzunehmen, und.

'namentlich in dem zwangsweisen Rücktransport des fiebernden ·Kranken nach St. Moritz ist ein unzulässiges Verhalten der Spital·und der Sanitätsbehörden zu erblicken. Der Gemeindevorstand hat sich dem Rücktransport energisch widersetzt, weil er als unstatthaft erachtete, einen Fieberkranken ohne Not einem neuen Transport auszusetzen, und weil es für ihn nach den Erklärungen Bundeablatt. 57. Jahrg. Bd. IV.

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754 des behandelnden Arztes feststand, daß von einem Pockenfalt keine Rede sein konnte, was ja auch durch den weitern Verlauf der Erkrankung bestätigt worden ist. Hierfür werden außer dem Bericht des behandelnden Arztes Zeugnisse von den Ärzten Dr. A. Hoessli, Dr. Lendi und Dr. Mutschier beigebracht. Hätte sich aber die Vermutung des Spitalarztes Dr. Bernhard und dea Bezirksarztes Dr. Juvalta, es handle sich um einen Pockenfall,, bestätigt, so wäre der Rücktrausport des Kranken erst recht unzulässig gewesen.

Es ist demnach ganz gleichgültig, ob die Krankheit des Quina richtigerweise als Maseru oder als Pocken habe diagnostiziert werden müssen. In beiden Fällen durfte der Rücktransport nicht mehr angeordnet werden. Im erstem Falle, dessen Vorhandensein die verschiedenen Instanzen der Sanitätsbehörden von Anfangan bestritten haben, deshalb nicht, weil der einzig denkbare Grund für den Rücktransport, die Gefahr der Ansteckung der Insassen des Spitals, dann eben nicht vorlag, im letztern Fall, von dessen.

Zutreffen der Bezirksarzt und die Kantonsbehörden ausgingen, mit Rucksicht auf Art. 4 der kantonalen Ausf'Qhrungsbestimmungen zum eidgenössischen Epidemiengesetz vom 8. Juni 1889 nicht,, indem darin der Transport von Personen, die an einer ansteckenden akuten epidemischen Krankheit leiden, aus einer Gemeinde in die andere verboten ist.

Allerdings hätte, wenn die Annahme, Quinz sei pockenkrank., richtig gewesen wäre, ein solcher vorschriftswidriger Transport bereits durch die Verbringung des Patienten von St. Moritz nach Samaden stattgefunden, allein dieses war bona fide geschehen, indem der behandelnde Arzt den Kranken als masernverdächtig bezeichnet und von sich aus, ohne Begrüßung des Gemeindevorstands, in das Kreisspital evakuiert hatte. Die Behörde aber, welche von der Annahme eines Pockenfalles ausging, durfte ihrerseits ohne Verletzung des erwähnten Art. 4 den Rücktransport nicht vorschreiben, ganz abgesehen davon, daß damit ein Gebot der Humanität mißachtet wurde und die Interessen der Gemeinde St. Moritz als eines wichtigen Kurortes unmittelbar vor dem Beginn der Saison auf das allerschwerste gefährdet wurden. Der Transport selbst vergrößerte die Ansteckungsgefahr.

Wenn durch Unterbringung des Patienten im Bezirksspital eine Ansteckung der übrigen Insassen zu befürchten stand, was zwar
durchaus bestritten werden muß, so war es Sache des Spitalarztes, für die Isolierung des Kranken in einer andern Lokalität besorgt zu sein.

Am Ende seiner Ausführungen richtet der Ortsvorstand von St. Moritz das Gesuch an die Bundesbehörde :

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1. durch geeignete Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Interessen armer Kranker sowohl als der Gemeinde St. Moritz dem Gesetze entsprechender gewahrt werden, damit solche Fälle, wie der vorliegende, sich nicht wiederholen ; 2. die Bußenverfügung des Kleinen Rates von Graubünden vom 30. September 1904 wieder aufzuheben, da in der Weigerung des Vorstandes, den Patienten Quinz von Samaden nach St. Moritz zurücktransportieren zu lassen, kein schuldbares Verhalten liege, indem, wie oben ausgeführt, das Gesetz ja gerade den Transport von Pockenkranken und Pockenverdächtigen verbiete.

Schließlich wird darauf hingewiesen, daß die verlangte Aufhebung der kleinrätlichen Bußen Verfügung in die Kompetenz der Bundesbehörde falle, indem diese den Vollzug desEpidemieugesetzes und der damit im Zusammenhange stehenden eidgenössischen und kantonalen Verordnungen und Ausführungsbestimmungen zu überwachen habe.

III.

In seiner Vernehmlassung vom 6. Dezember 1904 beantragt der Kleine Rat des Kantons Graubünden Abweisung der Beschwerde des Gemeindevorstandes von St. Moritz. Er stützt sich dabei einerseits auf die Berichte des Spitalarztes Dr. Bernhard in Samaden und des Bezirksarztes Dr. Juvalta in Zuoz, anderseits auf die Sanitätsordnung des Kantons Graubünden von 1900, speziell auf die kantonalen ÂusfUhrungsbestimmungen zum Bundesgesetz betreffend Maßnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien, vom 8. Juni 1889.

Aus den Berichten der beiden Ärzte ist außer der Bestätigung des oben kurz geschilderten Vorgangs namentlich zu entnehmen, daß das Kreisspital Samaden in erster Linie dem Oberengadin dient, daß daselbst bei vorhandenem Platz aber auch Kranke aus den benachbarten Kreisen Aufnahme finden. Zwei der Krankenzimmer sind speziell zur Aufnahme von Infektionskranken bestimmt, werden aber, sobald keine solchen vorhanden sind, nach gründlicher Desinfektion auch zur Unterbringung nicht infektiöser Kranker benutzt. Diese Zimmer unterscheiden sich aber in keiner Hinsicht von den andern Krankenzimmern und sind nicht besonders isoliert, ermöglichen also keine strenge Absonderung der Insassen. Das Bedürfnis zur Erstellung eines eigentlichen Absonderuugshauses hat sich denn auch mehr und mehr fühlbar gemacht, und zwar wäre dies wohl schon viel früher und in höherem Maße eingetreten, wenn nicht in der Umgebung (St. Moritz und Pontresina) schon einige Absonderungshäuser vorhanden wären. Darüber, daß

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bei dem Patienten Quinz Verdacht auf Pocken, wenn nicht gar auf Flecktyphus vorliege, waren der Spitalarzt und der Bezirksarzt einig und ebenso darüber, daß ein solcher Kranker in dem vollbesetzten Kreisspital ohne schwere und nicht zu verantwortende Gefährdung der übrigen Insassen nicht behalten werden könne, auch nicht einmal bis zur Sicherstellung der Diagnose, sondern außerhalb desselben, am besten in einem bestehenden Absonderungshause, isoliert werden müsse. Man einigte sich daher dahin, der Kranke sei in das gut isolierte Absonderungshaus von St. Moritz, das seinerzeit mit staatlicher Subvention erstellt worden war, zu verbringen. Der Transport fand bei Nachtzeit in geschlossenem Zweispänner und unter Begleitung von einer Schwester und einem Krankenwärter statt. Über den Transport sagt der Bericht des Bezirksarztes wörtlich : ,,Die Gefahr des Transportes (Va bis 3/4 Stunden Fahrzeit) war im verschlossenen Wagen für den Patienten nicht so groß und konnte in diesem Falle keineswegs maßgebend sein. Solehe Krankentransporte fiaden gewiß auch anderswo auch auf größere Entfernungen statt."

Der Kleine Rat begründet seinen Abweisungsantrag im wesentlichen wie folgt: Die kantonalen Ausfilhrungsbestirnmungen zum eidgenössischen Epidemiengesetz beziehen sich auf die in Art. l des letztern aufgeführten Krankheiten (Pest, Cholera, Pocken und Flecktyphus) und im fernem auf Abdominaltyphus, Diphtherie, Scharlach, Masern, Keuchhusten und Varizellen. Nach Art. 2 dieser Bestimmungen sind diese Krankheiten unverzüglich nach ihrem Ausbruche dem Ortsvorstande anzuzeigen, welcher ungesäumt den Bezirksarzt benachrichtigt. Letzterer wird sieh nach Art. 12 der Sanitätsordnung sogleich an den Ort' der ausgebrochenen Krankheit begeben, nach vorgenommener Untersuchung die nötigen Vorkehrungen gegen ihre Verbreitung und zu deren Heilung vorläufig treffen und dem Sanitätsdepartement sogleich darüber Bericht erstatten. Diese Vorschriften wurden vom behandelnden Arzt, Dr.

Melcher, nicht befolgt, er hat keine Anzeige erstattet.

Art. 3 der Ausführungsbestimmungen schreibt in Ziffer 2 vor, daß Masernkranke möglichst abzusondern seien, und zwar in der Regel in der Gemeinde selbst, indem nach Art. 4 der Transport von Kranken, auch Masernkranken, aus einer Gemeinde in die andere im allgemeinen verboten ist; derselbe ist nur
ausnahmsweise in bestimmten Fällen zulässig, insbesondere auf bezirksärztliches Gutachten hin mit Genehmigung des Sanitätsdepartements. Auch diese Vorschrift ist von Dr. Melcher unigangen worden. Letzterer wäre um so mehr verpflichtet gewesen, den Kranken

757 in der Gemeinde zu isolieren, als letztere außer einem mehreren Hotels gehörenden privaten Absonderungshaus ein öffentliches, im Jahre 1884 mit Bundessubvention erstelltes, gut isoliertes Absonderungshaus besitzt, welches damals leer stand. Wollte man den Kranken nicht in der Gemeinde isolieren, sondern nach einer andern Gemeinde transportieren, so konnte dies nur mit Erlaubnis des Sanitätsdepartements geschehen. Statt dessen hat Dr. Melcher einfach an das Kreisspital in Samaden telephoniert, er schicke einen masernverdächtigen Kranken, und auf die Bemerkung der antwortenden Schwester, das Spital sei überfüllt und der Spitalarzt abwesend, auch habe man ja in St. Moritz ein Absonderungshaus, derselben geantwortet, das gehe sie nichts an, und darauf das Gespräch abgebrochen. Der Transport fand also statt, ohne daß der Spitalarzt die Aufnahme bewilligt hatte und ohne daß der Bezirksarzt oder das Sanitätsdepartement auch nur benachrichtigt worden wäre.

Nach der vorläufigen Aufnahme des in dieser Weise nach dem Kreisspital gebrachten Kranken konstatierte zuerst der Spitalarzt und hierauf der von ihm sofort herbeigerufene Bezirksarzt ebenfalls Verdacht auf Pockenerkrankung. Letzterer berichtete unverzüglich an das Sanitätsdepartement, indem er zugleich die Entfernung des Pockenverdächtigen aus dem überfüllten Kreisspital und dessen Überführung in das Absonderungshaus in St. Moritz vorschlug. Der von dem Sanitätsdepartement um ein Gutachten ersuchte Dr. Kellenberger, Mitglied der Sanitätskommission, in Chur, stimmte dem Vorschlage des Bezirksarztes bei, worauf das Sanitätsdepartement, gestutzt auf Art. 4, Ziffer 2, der mehrfach zitierten Ausführungsbestimrnungen, diesen Transport unter den nötigen Kautelen anordnete. Diese Verfügung wurde wiederholt durch den Kleinen Rat bestätigt, und die Sanitätskommission erklärte sich wiederholt damit einverstanden. Eine Vergrößerung der Ansteckungsgefahr durch den sorgfältig und bei Nachtzeit ausgeführten Transport war nicht zu befürchten, und von einer Verletzung des Gebots der Humanität konnte dabei keine Rede sein.

Auch muß betont werden, daß eine Gemeinde, welche widerrechtlich einen ansteckenden Kranken in eine andere Gemeinde geschickt hat, denselben in Fällen der vorliegenden Art jedenfalls zurücknehmen muß. Damit wird den Versuchen, sich solcher Kranken
auf diese Weise zu entledigen, am ehesten gesteuert.

Nachdem das Sanitätsdepartement und dann auch noch der Kleine Rat den Rücktransport des Kranken nach St. Moritz verfügt hatten, war diese Gemeinde ohne weiteres verpflichtet, denselben aufzunehmen und zu versorgen. Der Gemeindevorstand von

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St. Moritz hat sich aber, wie aus dem daherigen Depeschenwechsel hervorgeht, lange und energisch geweigert und sich trotz Androhung von Buße und Exekution erst den wiederholten Weisungen der Regierung unter Protest gefügt. Die letztere war daher berechtigt und verpflichtet, den Gemeindevorstand wegen seiner Renitenz zu büßen. Dabei ist das Gesetz in durchaus richtiger und zulässiger Weise angewendet und in keiner Weise verletzt worden. Bin Rekursgrund liegt daher nicht vor.

Schließlich bestreitet die kleinrätliche Vernehmlassung die Kompetenz des Bandesrates, die Buße, die auf Grund kantonalen Rechtes ausgesprochen worden sei, nachzuprüfen. Auch wenn es sich um Anwendung von Bundesrecht gehandelt hätte, wäre der Bundesrat nicht kompetent, sondern das Bundesgericht (vgl. Art. 145 und 160 des Bundesgesetzes betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege).

IV.

Am 29. Dezember 1904 wurde dem Gemeindevorstand von St. Moritz auf sein Gesuch hin die Vernehmlassung der Regierung des Kantons Graubünden zur Replik zugestellt. Die letztere ist erst am 29. April 1905 erfolgt; ihr sind beigelegt ein erneuter Bericht des Dr. Melcher in St. Moritz und eine Zusammenstellung der Auslagen, welche der Gemeinde St. Moritz aus dem Falle Quinz erwachsen sind.

Dem polemisch gehaltenen Bericht des Dr. Melcher ist zu entnehmen, daß er an der Diagnose Masern im vorliegenden Falle festhält, daß er die rasche Evakuation des erkrankten Arbeiters hauptsächlich deshalb bewerkstelligte, weil derselbe in einer Arbeiterbaracke mit 118 Insassen -- in seinem Zimmer befanden sich 18 Betten -- lag und zu jener Zeit in St. Moritz gegen 3500 Arbeiter am Bau des Grand Hôtel und der rhätischen Bahn beschäftigt waren, und daß er schon oft ,,ohne Wissen des Gemeindevorstandes und ohne Protest von seilen der Spitalverwaltung und der Direktion" Fälle von Typhus, Scharlach, Diphtherie, Masern etc.

in das Kreisspital Saniaden evakuiert habe. In das Spital evakuierte Fälle habe er jeweilen weder dem Ortsvorstand noeh dem Bezirksarzt angezeigt, weil die Meldung regelmäßig vom Spital aus erfolgt sei. Er sucht an zwei Beispielen nachzuweisen, daß mau an einem Fremdenkurort in der Handhabung der Epidemienpolizei nicht nach der Schablone verfahren könne und jeweilen den Umständen Rechnung tragen müsse. Schließlich erwähnt der Bericht, daß das Absonderungshaus ,,Laretheim" in St. Moritz 1884 wegen der damaligen Choleragefahr mit eidgenössischer Subvention er-

759 stellt, aber seither beinahe nie benutzt worden sei. Es habe mehr ·als Leichenhaus für das Dorf und die Hotels gedient und sei deshalb in wenig hygienischem Zustande und zur Aufnahme schwer Erkrankter nicht mehr passend.

Die Replik nimmt auf diese Ausführungen des Berichts von Dr. Melcher Bezug und hält im übrigen den Inhalt der Beschwerdeschrift vom 28. Oktober 1904 in allen Teilen aufrecht. Sie nimmt den Dr. Melcher gegen die ihm in der kleinrätlichen Vernehmlassang gemachten Vorhalte in Schutz und sucht nachzuweisen, ·daß er den Art. 2 der Ausführungsbestimmungen zum Epidemiengesetz, welcher von der Anzeigepflicht handelt, nicht verletzt habe, da die Anzeige an den Bezirksarzt, wie in frühern ähnlichen Fällen, vom Spital aus erfolgt und die vorgeschriebene Anzeige an die Ortsbehörde infolgedessen gänzlich überflüssig gewesen wäre. Der sanitätspolizeiliche Zweck werde durch direkte Anzeige an das Physikat mit Überspringung des Gemeindevorstandes viel besser erreicht, da die Anzeige an den letztern einzig den Zweck habe, ·den Bezirksarzt zu verständigen, und der Vorstand von sich aus keine Verfügungen zu treffen, sondern nur die Anordnungen des Bezirksarztes auszuführen habe.

Im übrigen sei zu bemerken, daß die Frage, ob die Art. 2 und 4 der Ausfilhrungsbestimmungen verletzt worden seien, die Gemeinde "nicht berühre, indem deren verantwortliche Organe erst Kenntnis vom ganzen Sachverhalte erhalten hätten, als Quinz bereits nach Samaden gebracht worden war.

Da Quinz erst in Samaden als pockenverdächtig angesehen worden sei, so hätte derselbe dort isoliert werden müssen. Ein Rücktransport hätte nach dem klaren Wortlaut des Art. 4 der Ausführuogsbestimmungen nicht erfolgen dürfen, indem die in Ziffer 2 des Artikels vorgesehenen Ausnahmen, wo das Sanitätsdepartement auf bezirksärztliches Gutachten hin den Transport «eines an einer ansteckenden, akuten epidemischen Krankheit Leidenden in eine andere Gemeinde gestatten könne, sich offenbar nur auf solche Fälle bezögen, wo der Transport aus ganz besondern Gründen als im Interesse des Patienten und seiner Angehörigen liegend erachtet werden könne und wo die Interessen der beteiligten Gemeinden nicht tangiert würden. In casu habe der formelle Protest der Gemeinde St. Moritz vorgelegen, und deshalb hätte .das Sanitätsdepartement den Transport nicht
erzwingen dürfen.

Im fernem protestiert der Vorstand von St. Moritz gegen die in der Vernehm lassung des Kleinen Rates gemachte Andeutung, als habe mau den Kranken Quinz nach Samaden abzuschieben

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versucht, um sich eines unangenehmen Krankheitsfalles in unzulässiger Weise zu entledigen. Erstlich habe die Ortsbehörde mit der Evakuierung des Quinz nach dem Kreisspital Samaden gar nichts zu tun gehabt, ja nicht einmal etwas davon gewußt, und zweitens habe Dr. Melcher in guten Treuen gehandelt, als er die Evakuierung des Masernyerdächtigen anordnete. Dafür sprecheunter anderai auch die Äußerung der Herren Dr. Bernhard und Dr. Juvalta, daß sie den Fall ohne weiteres im Spital behalten hätten, wenn sie selbst zur Diagnose Masernverdacht gekommen wären.

Durch die erwähnte Äußerung in der Vernehmlassung erhalteman den Eindruck, die Kantonsbehörden hätten offensichtlich nicht aus Gründen, welche die sachgemäße Behandlung des Falles betrafen, den Rücktransport erzwungen, sondern um ein Exempel /u statuieren und die Gemeinde St. Moritz für den angeblichen Versuch, einen Pockenkranken einer Nachbargemeinde zu überweisen, zu bestrafen. Dagegen aber müsse die Gemeinde Verwahrung einlegen, sei doch jeder Verdacht einer böswilligen Abschiebung, wie bereits nachgewiesen, völlig ausgeschlossen.

Der Gemeindevorstand von St. Moritz habe sich daher mit Recht geweigert, den Quinz, der die Gemeinde St. Moritz nicht als pockenverdächtig verlassen habe, wieder aufzunehmen, nachdem derselbe in Samaden als pockenverdächtig erklärt worden, da der Transport eines Pocken verdächtigen von Samaden nach St. Moritz durch die bestehenden sanitätspolizeilichen Vorschriften verboten sei und für Samaden so gut wie für jede andere Gemeinde die Verpflichtung bestehe, Pockenfälle oder andere ansteckende, akute epidemische Krankheiten auf eigenem Gemeindeterritorium zu isolieren. Da die Weigerung eine begründete gewesen sei, so könne auch von Renitenz des Gemeindevorstands nicht die Rede sein. In Wirklichkeit nahe er die bestehenden Vorschriften befolgt, und die Regierung habe ihn gezwungen, eine gegen diese Vorschriften getroffene Entscheidung anzunehmen, und darüber beschwere er sieh mit Grund.

Werde die Entscheidung der Regierung von der Bundesbehörde als ungesetzlich erklärt, so falle die kleinrätliche Bußenverfügung ohne weiteres dahin, handle es sich dabei um kantonales oder eidgenössisches Recht.

Zum Schluß wird in der Replik auf den Art. 189, Absatz 2,.

des Bundesgesetzes betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege
verwiesen, aus welchem die Zuständigkeit der administrativen Bundesbehörden im vorliegenden Falle unzweifelhaft hervorgehe. Die von der Regierung des Kantons Graubünden gegens

761 diese Annahme ins Feld geführten Art. 145 und 160 leg. cit.

seien unzutreffend, indem sich dieselben lediglich auf eigentliche Strafprozesse beziehen und die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Strafurteile kantonaler Gerichte, beziehungsweise gegen Beschlüsse der Strafüberweisungsbehörden, gewähren. Im vorliegenden Falle aber habe die Regierung weder als Gericht noch als Überweisungsbehörde gehandelt.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1. Die vorliegende Beschwerde bezieht sieh auf einen Fall von Pockenverdacht, der außer von dem Spitalarzt Dr. Bernhard in Samaden auch von dem zuständigen Bezirksarzt Dr. Juvalta in Zuoz konstatiert worden ist. Ob der Verdacht sich später erwahrt habe oder nicht, fällt gänzlich außer Betracht, indem die bloß verdächtigen Fälle, bis zur Sicherung der Diagnose, in sanitätspolizeilicher Hinsicht wesentlich gleich zu behandeln sind, wie die ausgesprochenen Fälle, mithin ebenfalls den Bestimmungen des Buudesgesetzes betreffend Maßnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien (Pest, Cholera, Flecktyphus, Pocken), vom 2. Juli 1886,, beziehungsweise den vom Bundesrat genehmigten bündnerischen Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz, vom 8. Juni 1889,.

unterliegen.

2. Da es sich im vorliegenden Falle um eine Beschwerdebetreffend die Anwendung eines auf Grund der Bundesverfassung (Art. 69) erlassenen Bundesgesetzes handelt, so fällt deren Erledigung nach Art. 189, Absatz 2, des Bundesgesetzes über dieOrganisation der Bundesrechtspflege, vom 22. März 1893, in die Kompetenz' des Bundesrates oder der Bundesversammlung. Dasbetreffende Gesetz selbst enthält keine diese Kompetenz einschränkenden Bestimmungen, sondern sagt in Art. 10 ausdrücklich i ,,Die Kantone haben für den Vollzug dieses Gesetzes zu sorgen und die bezüglichen Erlasse dem Bundesrate zur Genehmigung einzureichen. Der Bundesrat überwacht die Vollziehung des Gesetzes und trifft die hierfür erforderlichen Maßnahmen."

3. Die Maßnahmen und Verfügungen, welche getroffen wurden r solange bei dem Kranken Quinz bloß Masernverdacht vorlag, entziehen sich als nicht unter das Epidemiengesetz fallend der Nachprüfung seitens der Bundesbehörde. Ihre Prüfung erstreckt sieb nur auf die infolge des Pockenverdachts angeordneten Vorkehren.

4. In Bezug auf das bei Po'cken zu beobachtende Absonderungsverfahren sagt der Art. 4 des Bundesgesetzes: ,,Der Kranke

762 .kann in seiner Wohnung verbleiben, insofern die Anordnungen betreffend die Isolierung gehörig durchführbar sind und auch durchgeführt werden. Wo die Durchführung dieser Maßregel ohne ·Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht möglich ist oder nicht befolgt wird, soll von den kompetenten Behörden für die Unterbringung der Kranken in einem passenden Krankenasyl oder für Auslogierung der Gesunden in zweckentsprechende Lokale gesorgt werden."

In casu war weder eine genügende Isolierung des Pockenverdächtigen im Spital noch die Auslogierung der übrigen Insassen desselben möglich, mithin mußte der betreffende Kranke ·evakuiert werden. Die ,,kompetenten Behörden", welche diese Evakuierung anzuordnen haben, sind in Graubünden der Bezirks·arzt ÇArt. 2, Ziffer 5, Art. 3, Ziffer l c, und Art. 4, Ziffer 2, der .kantonalen Ausführungsbestimmungen zum Epidemiengesetz, und Art. 12 der kantonalen Sanitätsordnung), das Sanitätsdepartement ·(Art. 3, Ziffer l c, und Art. 4, Ziffer 2, der Ausführungsbestimtnungen, und Art. 4c der Sanitätsordnung) und schließlich der Kleine Rat (Art. 5 der Sanitätsordnung). Diese Behörden haben nun ·angeordnet, daß der ohne Bewilligung des Spitalarztes in das Kreisspital verbrachte Kranke unter Beobachtung der nötigen Schutzmaßnahmen in das seinerzeit mit Bundesunterstützung erstellte Absonderungshaus seiner nahe gelegenen Wohngemeinde Si. Moritz evakuiert werden solle, wobei namentlich in Betracht fiel, daß Samaden kein Absonderungshaus besitzt, worin Patient hätte isoliert werden können. Zu dieser Verfügung, die auf Antrag des Bezirksarztes von dem Sanitätsdepartement in Übereinstimmung mit der Sanitätskommission getroffen und vom Kleinen Rat bestätigt wurde, waren diese Behörden durch die oben erwähnten Bestimmungen der Sanitätsordnung und der kantonalen Ausführungsbestimmungen zum eidgenössischen Epidemiengesetz offenbar berechtigt. Art. 4 der Ausführungsbestimmungen verbietet zwar in Ziffer l den Transport von Personen, die an einer ansteckenden, akuten epidemischen Krankheit leiden, aus einer Gemeinde in eine andere, allein Ziffer 2 statuiert sofort eine Ausnahme, indem sie den Transport in eine andere Gemeinde gestattet, wenn mehrere Gemeinden daselbst ein gemeinsames Ab«onderungshaus besitzen, oder wenn das Sanitätsdepartement auf bezirksärztliches Gutachten hin den
Transport gestattet. Daß eine ·solche Erlaubnis, wie die Replik behauptet, nur gegeben werden dürfe, wenn dies ,,aus besondern Gründen als im Interesse des Patienten und seiner Angehörigen liegend erachtet werden könne und wo die Interessen der beteiligten Gemeinden nicht tangiert werden", ist zweifellos unrichtig, denn über den Interessen ein-

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aelner Personen oder Gemeinden steht doch das allgemeine öffentliche Interesse. Das öffentliche Interesse aber verlangte im vorliegenden Falle die möglichst sichere Isolierung des Pockenver·dächtigen, was offenbar am besten in dem leicht erreichbaren Absonderungshaus seiner Wohngemeinde geschehen konnte.

Übrigens sind Transporte von Pockenkranken aus einer Gemeinde in eine andere im Epidemiengesetz nicht verboten und werden in manchen Kantonen häufig ausgeführt. So werden zum Beispiel im Kanton Zürich die meisten im Kanton vorkommenden Pockenfalle in das Pockenspital in Zürich übergeführt. Selbstverständlich aber werden die kantonalen Sanitätsbehörden solche Transporte nur dann anordnen oder gestatten, wenn an dem Orte, wohin der Kranke gebracht wird, .eine bessere Isolierung desselben möglich ist, wenn also daselbst ein richtiges Absonderungshaus vorhanden ist. Das Umgekehrte, der Transport eines solchen Kranken aus einer Gemeinde, wo ein Absonderungshaus zu dessen Isolierung vorhanden ist, in eine Gemeinde, wo kein solches existiert, wäre als durchaus unstatthaft zu bezeichnen.

Bei solchen Anordnungen darf nur das Bestreben der möglichsten Wahrung der öffentlichen Gesundheit maßgebend sein. Dieses Bestreben aber liegt den Anordnungen und Verfügungen der biindnerischen Sanitäts- und Kantonsbehörden unzweifelhaft zu Grunde.

5. Aus dem Gesagten geht ohne weiteres hervor, daß die Weigerung des Gemeindevorstanda von St. Moritz, den Verfügungen des Sanitätsdepartements und des Kleinen Rates von Graubünden nachzukommen, eine nicht berechtigte war, und daß somit kein Grund vorliegt, die angefochtene Schlußnahme des Kleinen Rates vom 30. September 1904 aufzuheben.

Demnach wird erkannt: Die Beschwerde der Gemeinde St. Moritz ist abgewiesen.

B e r n , den 5. Juni

1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Ruchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Gemeindevorstands von St. Moritz gegen den Kleinen Rat des Kantons Graubünden wegen sanitätspolizeilicher Anordnungen und einer Bußenverfügung. (Vom 5. Juni 1905.)

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