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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 4. Dezember 1905 zur ersten Session der zwanzigsten Amtsperiode zusammengetreten.

Herr Dr. Eduard B ä h l e f , von Längenbühl, in Biel, geboren im Jahre 1832, eröffnete als Alterspräsident die Sitzung des Nationalrates mit folgender Ansprache: Hochgeehrte Herren !

Ein gütiges Geschick verschafft dem Sprechenden die Ehre, die zwanzigste Legislaturperiode des Nationalrates mit heute zu eröffnen, und Ihnen geehrte Herren, allen, besonders aber den neueintretenden Mitgliedern ein freundliches Willkomm zu entbieten. In dieser Stunde des Antrittes einer neuen dreijährigen Amtsperiode, ist es wohl angezeigt, einen wenn auch kurzen Rückblick auf die Arbeit der verflossenen und einen Ausblick auf die uns in dei- nächsten Periode wartenden Aufgaben zu werfen.

Als vor drei Jahren mein Amtsvorfahr, der verehrte nun im Ständerat sitzende Herr Nationalrat Benziger bei gleichem Anlasse die Aufgaben der Zukunft skizzierte, erwähnte er des damals noch nicht vollendeten, heute aber perfekt gewordenen R ü c k k a u f s der Jura-Simplon-Bahn, welche uns die Riesenarbeit der Simplondurchbohrung als Aufgabe hinterlassen hat. Dank der Fortschritte der Technik und der bewunderungswürdigen Energie der Unternehmer und Arbeiter geht sie trotz aller unerwarteten Schwierigkeiten einer baldigen glücklichen Vollendung entgegen. Bald wird wohl auch der Rückkauf der Gotthardbahn in Aussicht stehen.

Wohl war vor drei Jahren die Unterstützung der V o l k s schule durch den Bund kurz vorher, nämlich am 23. November 1902 in die Bundesverfassung aufgenommen worden, aber gesetzlich noch nicht formuliert. Heute haben wir die Genugtuung, daß sie in Kraft getreten und der Hebung des Schul-

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wesens in den verschiedenen Kantonen wesentlich zu Hülfe gekommen ist.

Noch stand damals der Zolltarif', der dann im März 1903 557,000 Stimmende zur Urne brachte, vor dem Referendum.

Die Zahl der Verwerfenden, nämlich 225,000, zeigte deutlich welche Bedenken so Viele demselben entgegenbrachten und besonders eine Verteuerung der Lebenshaltung befürchteten. Die vorzugsweise Anwendung desselben als Katnpftarif und nicht als unbedingter Schutztarif in den seither zu stände gekommenen Handelsverträgen hat wesentlich dazu beigetragen, die damals gehegten Befürchtungen zu zerstreuen. Was an diesen und don gehegten Hoffnungen begründet war, wird aber erst die Zukunft weisen.

Gegen das in letzter Sitzung mit großem Mehr erlassene N a t i o n a l b a n k g e s e t z droht eine Volksabstimmung was bei unserm nur fakultativem Referendum selbstverständlich einen verneinenden Charakter hat. Es dürfte hier kurz an das bisherige Schicksal der Banknoteafrage erinnert werden. Schon die Bundesverfassung von 1874 nahm in Art. 39 davon Notiz, indem sie gegenüber der damaligen Anarchie eine gesetzliche Normierung, aber ausdrücklich ohne Monopol, in Aussicht nahm. Ein daraufhin im Jahr 1876 erlassenes Gesetz fand aber keine Gnade; es wurde in der Referendumsabstimmung mit 193,000 gegen 120,000 Stimmen verworfen. Ebenso ging es im Jahr 1880 dem Versuch, das Monopol in die Verfassung hinein zu bringeci; es wurde mit 260,000 gegen 121,000 und 155/a gegen 4Va Standesstimmen verworfen ; dafür kam das heute noch geltende Gesetz vom Jahr 1881 zu stände. Erst im Jahr 1891 gelangte unter mancherlei Kompromissen gegenüber der bisherigen Opposition das Notenmonopol in seiner heutigen Form in die Bundesverfassung, und zwar immer noch mit 158,000 Nein und 72/a verwerfenden Standesstimmen gegen 231,000 Ja und 124/a Standesstimmen. -- Ein der Staatsbank günstiges Gesetz vom Jahr 1897 wurde mit 255,000 Stimmen gegen 195,000 Stimmen verworfen, worauf ein sofort wieder an die Hand genommener Entwurf im Korridor zwischen Ständeratssaal und Nationalratssaal an der Sitzfrage erstickte. Nach all diesen Erfahrungen der Banknotenfrage kam schließlich das gegenwärtige Gesetz als Kompromiß zwischen Bundesautorität, Kantonsfinanzen und Privatkapital zu stände. Grundsätzlich ist es freilich nicht und wird den Freunden der reinen staatlichen Bundesbank deshalb mißfallen. Allein es bringt jedenfalls einen wesentlichen, längst notwendigen Fort-

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schritt und dürfte, wenn das Gesetz sofort in Kraft gesetzt werden könnte, dem Lande ohne Zweifel besser gedient sein, als wenn es wiederum auf unbestimmte Zeit im Abgrund der Verwerfung verschwinden würde.

Sechs Jahre hat das L e b e n s m i t t e l p o l i z e i g e s e t z die Räte beschäftigt, ländlich ist es fertig gestellt worden. Dasselbe soll bekanntlich nicht nur den Konsumenten, sondern auch den loyalen Produzenten, mithin das ganze Volk vor illoyalem Geschäftsgebaren schützen. Nun mag das Volk urteilen.

Seit bald sechszehn Jahren steht die mit großem Mehr angenommene und seither viel diskutierte K r a n k e n - und U n f a l l v e r s i c h e r u n g in der Bundesverfassung, harrt aber immer noch ihrer Ausführung. Ein neuer Gesetzesentwurf ist in Arbeit. Es zeigt sich auch hier wiederum, daß es leichter ist, einen schönen Grundsatz in die Verfassung zu bringen, als dessen Verwirklichung in einem Gesetze dem Volke genehm zu machen.

Unter günstigen Auspizien hat die Beratung des Z i v i l g e s e t z b u c h e s begonnen. Gründliches Studium und versöhnliches Entgegenkommen sind an dessen Wiege gestanden. Möge dieser Glücksstern das große Werk auch fürderhin begleiten.

-- Nicht lange dann sollte ein gemeinsames, den Anforderungen der Neuzeit entsprechendes S t r a f g e s e t z b u c h darauf folgen.

Der zunehmende Verkehr mit seiner Bevölkerungsvermischung führt das Schweizervolk immer mehr, zu gemeinsamen Bedürfnissen und zu gegenseitigem Verständnis und dadurch auf so manchem Gebiete nicht zur gewaltsamen Zentralisation, wie zur Zeit eines Ochs und Laharpe, sondern zu einer friedlichen und freiwilligen und deshalb gesunden Unifikation.

Auch ein revidiertes F a b r i k g e s e t z und die Kompetenz des Bundes, auf dem Gebiete des Gewerbewesens gesetzgeberisch einzugreifen, stehen vor der Tür. Man wird sich erinnern, mit weichern Mißtrauen im Jahre 1876 das heute bestehende Fabrikgesetz als erster bedeutsamer Schritt auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung aufgenommen wurde. Nur mit Mühe konnte dasselbe aus dem Referendumssturm gerettet werden. 170,000 Stimmende wollten es verwerfen und nur mit einem Mehr von 10,000 Stimmen gelangte das Gesetz zur Annahme. Seither hat sich das Gesetz derart eingelebt, daß man es nicht mehr missen möchte. Unsere Industrie wurde deshalb nicht, wie befürchtet wurde, geschädigt, sondern hat in unverhofftem Maße zugenommen, und Hunderttausende von Arbeitern haben durch dasselbe Schutz

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das Verständnis für dsn Arbeiterschutz immer mehr ins öffentliche Gewissen gedrungen, neue gesetzgeberische Bedürfnisse sind zu tage getreten und iiaben eine Revision notwendig gemacht.

Vergesse man sowohl hier als auf dem Gebiete der kommenden Gewerbegesotzgebung der wirtschaftlich Schwachen und Arbeitslosen nicht!

Immer lauter und dringender wird der Ruf nach der Oberaufsicht der Gesetzgebung des Bundes in betreff der V e r w e r t u n g u n s e r e r W a s s e r k r ä f t e , namentlich auch mit Rücksicht auf die Zukunft unserer Eisenbahnen. Die Bundesbehörden könnten bei einer solchen Vorlage wohl sicher auf eine entschiedene Volksmehrheit rechnen.

Meine Herren!

Vierunddreißig lange F r i e d e n s j a h r e sind durch das Land gegangen, seitdem der Ernstfall drohend an der Grenze stand.

Vierunddreißig Generationen von Schweizerbürgern sind seither stimmberechtigt und wehrpflichtig geworden. Oft ist man, besonders gegenüber gewissen Erscheinungen in neuerer Zeit, versucht zu fragen, ob der alte tatkräftige Schweizergeist am Schwinden sei, denn lange Friedenszeiten sind für die Energie des Volksgeistes nicht gerade förderlich ; die Erinnerungen an die Einbuße an Ehre, Freiheit, Hab und Gut der Nation, welche der ungehinderte Einbruch fremder Heere mit sich führt, verblassen gern vor den Geschäften des Alltagslebens. Lasse man daher nicht ab, den Geist der Tatkraft und Opferwilligkeit im Volke lebendig zu erhalten.

Unser W e h r w e s e n ist kein unveränderliches Teilstück der Staatsverwaltung. Dessen Existenzberechtigung beruht nur auf der steten Beziehung zu der uns von außen allfällig drohenden Angriffskraft. Ausbildung und Ausrüstung desselben mit den daherigen Geldopfcrn hangen daher bei aller Berücksichtigung unserer demokratischen Volkseigentümlichkeit mehr von den Fortschritten des Kriegswesens im Ausland, als von unserem freien Willen ab. Die älteren Herren werden sich noch lebhaft an die ernste Zeit von 1856 und 1870 erinnern, als die Kriegsgefahr sich dem Lande näherte, wie es damals durch das ganze Volk zuckte, wie dann sofort alles gerüstet und fertig gestellt sein sollte, aber auch so vieles, weil versäumt, nicht mehr nachzuholen war.

Nur mit geschliffenem Sshwert an der Seite kann das Schweizer-

259 volk, als ,,noli me tangerea, im Vertrauen auf die Vorsehung, der Zukunft mit Zuversicht entgegensehen Meine Herren!

Gedenken wir in dieser Stunde noch derjenigen, welche vor drei Jahren hier unter uns gesessen sind, seither aber nach getreu vollbrachtem Tagewerk für Familie und Vaterland die Augen für immer geschlossen haben ; behalten wir sie in freundlichem Andenken. Es sind die Herren: Zurbuchen aus Bern, Perrig aus Wallis, Soguel aus Neuenburg, Gschwind aus Baselland, Fehr aus Thurgau, Sonderegger aus Außerrhoden, Gächter aus St. Gallen und seit unserer letzten Sitzung Heinrich Hauser ; im Ständerate : die Herren Kellersberger aus Aargau und Blumer aus Glarus.

Nach langer schwerer Krankheit ist am 18. November in Stadel Herr Nationalrat Heinrich Hauser gestorben. Er war geboren am 29. Mai 1851 in Stadel, besuchte die Alltags- und Sekundärschule seines Kreises und kam als 16jähriger talentvoller Jüngling an die landwirtschaftliche Schule im Strickhof in Zürich. Von der landwirtschaftlichen Schule kehrte Hauser nach Stadel zurück und wurde hier Posthalter. Fünfundzwanzig Jahre blieb er in dieser Stellung. 1881 entsandte ihn sein Wahlkreis in den zürcherischen Kantonsrat. Daneben war Hauser in einer ganzen Reihe von Kommissionen, war Kantonalbankrat und Experte, besonders für bäuerlich landwirtschaftliche Interessen. Im Jahre 1902 wurde Häuser im vierten eidgenössischen Wahlkreise Nachfolger des verstorbenen Herrn Nationalrat Steinemann. Er begann aber bald darauf zu kränkeln und hat sich nie mehr recht erholt. Schon seit einem vollen Jahre hatte die Krankheit ihn völlig ans Haus gefesselt, bis der Tod ihn von seinen Leiden erlöst hat. Hiermit lade ich Sie ein, das Andenken dieser verdienten Mitglieder durch Erheben von den Sitzen zu ehren, als ein Zeichen der Teilnahme für deren Familien und Freunde.

Meine Herren !

Jeder von uns ist nur aus einem geographisch umschriebenen und von den Kantonsgrenzen bestimmten Wahlkreise und ebenso von der Mehrheit einer bestimmten Wählergruppe gewählt, aber vergessen wir nicht, daß wir für das g a n z e Land und für das g e s a m t e Schweizervolk hierher berufen worden sind.

Gott schütze das Vaterland!

Hiermit erkläre ich die zwanzigste Legislaturperiode des Nationalrates als eröffnet.

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Am 5. Dezember bestellte der Nationalrat sein Bureau wie folgt: Präsident: Herr H i r t e r , Johann, von Bern und Mühlethurnen, in Bern, bisheriger Vizepräsident.

Vizepräsident: ., D e c o p p e t , Camille, von Suscévaz, in Lausanne.

Stimmenzähler : ., Bus er, Jakob, von Gelterkinden, inSissaeh.

,, Z i m m e r m a n n , Johann, von Lyß, in Aarberg.

,, H e ß , Heinrich, von und in Wald.

,, Wals e r , Eduard, von Chur und Seewis, in Chur.

,, L agi e r, Juste-François, von Aubonne, in Nyon.

,, S t a u b , Jos. Othmar, von und in Goßau, ,, R u t t y , Jacques, von Cologny, in Vandoeuvres.

,, E i g e n m a n n , Karl, von Homburg, in Müllheim.

Zur Eröffnung der Sitzung des S t ä n d e r a t e s begrüßt der abtretende Präsident Isler die neuen Mitglieder und ruft den seit der letzten Tagung zurückgetretenen ein herzliches Lebewohl zu.

Er gedenkt sodann des verstorbenen Ständerates Leonhard Blumer, zu dessen Ehre die Mitglieder sich von ihren Sitzen erheben.

Hierauf werden die neuen Mitglieder, nämlich die Herren L o c h e r (Zürich), S c h u l t h e ß (Aargau), v o n E e di n g und B e n z i g e r (Schwyz), beeidigt.

Das Bureau des Ständerates wurde am 4. Dezember 1905 wie folgt neu bestellt: Präsident : Herr Dr. A m m a n n, Albert, von und in Schaffhausen.

Vizepräsident: ,, W i r z, Adalbert, von und in Samen.

Stimmenzähler : ,, S i m o n , Henri, von Ste-Croix, in Grandson, ,, D ä h l e r , Edmund, von und in Appenzell.

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