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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 25. September 1905 zur Fortsetzung der ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t e eröffnete Herr Präsident Schobinger die Session mit folgender Ansprache : Meine Herren Nationalräte !

In der kurzen Zeitspanne seit dem Schlüsse der Sommersession hat der Tod in den eidgenössischen Räten und im Bundesgericht wieder reiche Ernte gehalten.

Wir betrauern den Verlust eines Mitgliedes unseres Rates, eines Mitgliedes des Ständerates, zweier Bundesrichter.

Nationalrat Johann Jakob G a c h t er war geboren 1833 in Oberriet. In ländlichen, einfachen Verhältnissen aufgewachsen und nach dem Besuche der Primarschule zunächst im Betriebe seines Vaters verwendet, besuchte er später die katholische Kantonsschule in St. Gallen, wo er sich zum Lehrer ausbildete. Er widmete sich indes nur kurze Zeit diesem Berufe und trat als Stationsvorstand in den Dienst der Vereinigten Schweizerbahnen, um bald darauf auch diese Beschäftigung zu verlassen und durch Betätigung in Industrie, Handel und Gewerbe eine selbständige Stellung sich zu erringen. Das Vertrauen seiner Mitbürger berief ihn zunächst in die verschiedenen Gemeindebeamtungen und dann seit 1891 zum Präsidenten des Bezirksgerichtes Oberrheintal, bis ihn vor zwei Jahren ein Augenleiden zum Rücktritt von dieser Stelle zwang. Seit 1899 war er als Vertreter des 31. Wahlkreises Mitglied unseres Rates. Gächt konnte wegen Krankheit an unserer Sommersession nicht mehr teilnehmen. Am 29. Juli starb er im 72. Altersjahr, betrauert von seiner großen Familie und allen, die ihn kannten. Gächter, Mitglied der katholisch-konservativen Fraktion, ist in den sieben Jahren, da er unserem Rate angehörte, in demselben nicht .besonders hervorgetreten, doch folgte er den Beratungen mit dem größten Interesse und im Zuhörerkreise · der Redner fehlte er selten; er war ein fleißiger und gewissenhafter Volksvertreter. Schlicht und einfach im Umgange, war er ein

224 Mann des Volkes, der dasselbe verstand und ihm ein treuer Berater war.

Zu gleicher Zeit mit unserm Ratsmitgliede Gächter lag auf der Totenbahre Ständerat Armin Kellersberger, der Gächter im Tode nur um einen Tag vorausgegangen war. Kellersberger war Bürger der Bäderstadt Baden, wo er 1838 geboren war. Nach juristischen Studien in Heidelberg, München und Zürich übte er in Laufenburg bis 1877 den Fürsprechberuf aus. Er nahm bald lebhaften Anteil am öffentlichen Loben, wurde zunächst Stadtschreiber und von 1881 bis 1893 Stadtammann seiner emporstrebenden Heimatstadt, der er große Dienste leistete. Seit 1874 war er Mitglied des Großen Rates, den er wiederholt präsidierte, und seit 1881 Mitglied des Ständerates, dessen Präsident er 1890/91 war. Die Rolle, die Kellersberger in der kantonalen und eidgenössischen Politik spielte, war bedeutend. Er war Mitglied der radikal-demokratischen Fraktion der Bundesversammlung und gehörte zu den angesehensten Mitgliedern des Ständerates. Er war ein Patriot mit reichem Gemüt und idealer Schwungkraft. Damit erklärt sich auch seine große, über nüchterne Erwägungen hinwegsetzende Begeisterung, mit der er seinerzeit das Ziel des organisierten Landsturms verfolgte. Noch am Schlüsse der diesjährigen Frühlingssession hat er im Ständerat anläßlich der Beratung der Schillerstiftung seinem tiefen Patriotismus beredten Ausdruck verliehen. Mit Kellersberger scheidet eine der markantesten Gestalten aus dem Ständerat.

Am 5. August starb in seinem 78. Lebensjahr der Senior des Bundesgerichtes, Bundesrichter Heinrich S t a m m . Stamm war seit 1873 schon Mitglied des alten, nicht ständigen Bundesgerichtes.

Mit ihm scheidet der letzte Bundesrichter der alten Organisation.

Er hat dem neu organisierten Bundesgericht von Anfang an, 1. Januar 1875, angehört und war dessen Präsident 1889--1890.

Stamm war 1827 im seinem Bürgerort Thayngen, Kanton Schaffhausen, geboren. Schon im Alter von 24 Jahren trat er im öffentlichen Leben seines Kantons hervor. Mit dem Bezirksgerichtsschreiber beginnend, wurde er Staatsanwalt, Großrat und Mitglied des Regierungsrates, dessen Präsident er wiederholt war. Von 1865--1874 bis zu seiner Wahl in das neue Bundesgedcht war er Mitglied des Ständerates und half als angesehenes Mitglied die Verfassungen von 1872 und 1874 durchberaten. Die seltene Gunst,
bis ins hohe Alter die geistige Frische zu bewahren, war Stamm zu teil geworden. Diejenigen, die Stamm nahe standen, schildern ihn als anspruchslosen Mensch von klassischer Gemütsruhe und goldlauterm Charakter. Sein klarer, scharfer Verstand, seine große Objektivität, welche ihm das Vertrauen aller Parteien

225 im hohen Maße sicherte, machten ihn besonders geeignet, die höchste richterliche Würde unseres Landes zu bekleiden. Stamms Andenken wird stetsfort ehrenvoll bleiben.

Schon am 11. September folgte dem Senior des ßundesgerichtes Bundesrichter Dr. Hermann L i e n h a r d im Tode. nach.

Lienhards Lebenslauf ist ein außergewöhnlicher. 1851 in Bözingen bei Bie'i, seinem Bürgerort geboren, wurde Lienhard nach Vollendung seiner Schulzeit Uhrenmacher. Doch genügte ihm dieser Beruf nicht lange. Seine Neigung führte ihn in die juristische Laufbahn. Wie er dies zu stände gebracht, ist ein seltenes Beispiel außergewöhnlicher Willenskraft, eisernen Fleißes und hoher Begabung. Einmal auf dem rechten Wege, arbeitete sich Lienhard rasch empor. Zuerst Departementssekretär wurde er 1882 Oberrichter, dann 1885 Chef der juristischen Abteilung des eidgenössischen Versicherungsamtes, dann 1886 Mitglied des Großen Rates rand Präsident desselben, 1890 Mitglied des Regierungsrates und kurz darauf Regierungspräsident. 1890 wurde er in den Ständerat gewählt und nachdem er schon 1893 zum Suppleanten des Bundesgeriehtes ernannt worden war, wurde er 1895 zum Bundesrichter gewählt. In allen diesen Stellungen entwickelte Lienhard eine unermüdliche Arbeitskraft, bis endlich die Lebensenergie zu versagen anfing. 1903/1904 zum Vizepräsidenten des Bundesgerichtes gewählt, trat Lienhard als kranker Mann von dieser Ehrenstelle zurück, und seine geistige Energie konnte den Zerfall der körperlichen Kraft nicht mehr bannen. Das Andenken Lienhards, eines Mannes, der mit eiserner Energie und ungewöhnlichen Fähigkeiten es vom einfachen Arbeiter zur höchsten Richterwürde unseres Landes gebracht hat, wird in Ehren gehalten werden.

Meine Herren Nationalräte, ich lade Sie ein, zur Ehrung der Hingegangenen sich von Ihren Sitzen zu erheben.

Im S t ä n d e r a t ehrte Herr Präsident Isler das Andenken der vier Verstorbenen durch folgende Worte : Bevor wir eintreten, haben wir eine schmerzliche Pflicht zu erfüllen. Wir gedenken der Toten, der Magistraten und der Kollegen, die seit unserer letzten Sitzung aus diesem Leben abgerufen worden sind. Fürwahr, der Schnitter Tod hat in der kurzen Spanne Zeit reiche Ernte gehalten.

Vorab huldigen wir schmerzbewegt dem Andenken der zwei Bundesrichter, die dahingeschieden sind, der eine im Greisenalter, nach verhältnismäßig kurzer Krankheit, der andere in Jahren, wo sonst der Mann noch seiner Kraft und Arbeit sich freuen darf;

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er aber, der nun tot, war seit langem gebrochen, auch sein Geist fing an, sich zu umnachten, und der Tod war ihm ein Erlöser.

Beide, H e i n r i c h S t a m m u n d H e r m a n n L i e n h a r d , haben ia ihren öffentlichen Stellungen dem Lande große Dienste geleistet, vor allem als Mitglieder des obersten Gerichtshofes. Sie zählten zu den geachtetsten und angesehensten Richtern; was sie beide ganz gleich auszeichnete, war ein unermüdlicher Fleiß, eine verständige Auffassung des Lebens, große Genauigkeit und doch Klarheit und Kürze in ihren Voten. Auch ihr Bildungsgang ist ein verwandter gewesen. Beide waren ja nicht gelehrte Juristen, sie hatten nicht als Jünglinge schon die Kunde des Rechts auf hohen Schulen geschöpft, sondern erst in ihrer öffentlichen Tätigkeit und durch späteres Studium sich damit vertraut gemacht.

An ihrem Beispiel hat man wieder so recht deutlich die alte Wahrheit erkennen können, daß das beste am Juristen und Richter nicht die Schulweisheit ist, sondern die Geistesklarheit, die durch die Hülle den Kern sieht, und das im Herzen wohnende Rechtsgefühl, das empfindet, was gerecht und ungerecht ist und über dem Buchstaben den Geist, über der Theorie das Leben nicht vergißt. Beide, Stamm und Lienhard, haben einst unserem Rate angehört, und wenn wir Stamm nicht mehr in unseren Reihen gesehen haben, weil or schon im Jahre 1875 in das neue Buodesgericht gewählt wurde, so haben dafür die meisten von uns noch mit Lienhard als Kollegen zusammengetagt.

Wir haben weiter zu beklagen den Verlust eines Mitgliedes des Nationalrates, des Herrn Jakob G ä c h t e r aus dem Kanton St. Galleo, der dem Rate seit 1399 angehörte. Er war erst Lehrer gewesen und bekleidete später das Amt eines Bezirksgerichtspräsidenten, in welcher Stellung er sich das Zutrauen des Volkes so erwarb, daß es ihn in die Bundesversammlung wählte.

Vor allem aber drängt es mich, nun des Mitglieds unseres eigenen Rates zu gedenken, der so bald nach unserer letzten Tagung aus unseren Reihen gerissen worden ist, ich meine unseres Freundes Armin K e l l e r s b e r g e r . Nach seinem leeren Platsi hin richten sich unwillkürlich und immer wieder unsere Blicke. Sie finden ihn nicht mehr, den lieben, treuen Mann, ihn, von dem man wenn von einem sagen kann, daß er zu jenen Mitgliedern gehörte, die unserem Rate den Ruf
verschafften und erhielten, man lebe, trotz der Zahl seiner Mitglieder, trotz der sprachlichen und trotz der konfessionellen Unterschiede wie in einer Familie zusammen. Wir vermissen ihn aufs schmerzlichste und wenn wir auch das Verhängnis kommen sahen, es kam doch grausam schnell, filr ihn und für uns. Wie sprach er noch mit Feuer und Begeisterung in

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diesem Frühjahr als er, für den Rat das Wort führend, den Manen Schillers die Huldigung der Schweiz dargebracht hat. Wer hätte damals gedacht, daß es sein letztes größeres Wort, sein Schwanesngesang sei. Aber als er im Somtrfer wieder erschien, da erkannten wir mit Schmerz und Wehmut, wie schon die Hand des Todes auf ihm lag, und als er am Ende der Session uns Lebewohl sagte, da wußte er und fühlten wir, daß wir ihn nicht mehr sähen. In unserer Erinnerung aber bleibst Du, lieber Freund, und wirst da.raus nicht verschwinden.

Meine Herren, ich lade Sie ein, sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren Sitzen zu erheben.

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