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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuch des wegen fahrlässiger Gefährdung des Eisenbahnverkehres bestraften Friedrich Wehrli, Stellwerkaufseher in Brugg.

(Vom 20. März 1905.)

Tit.

Am 25. März 1904, vormittags, entgleiste bei der Einfahrt in die Eisenbahnstation Rupperswil, Kt. Aargau, der Zug AarauImmensee Nr. 3967 der Schweizerischen Bundesbahnen. Die kantonalen Behörden veranstalteten eine Strafuntersuchung zur Feststellung der Ursachen und Folgen des Unfalles und überwiesen nach erfolgter Delegation der Gerichtsbarkeit zwei Eisenbahnangestellte wegen fahrlässiger Eisenbahngefährdung dem Strafrichter, nämlich : Heinrich P e t e r , Schlosser in Aarau, und Friedrich W e h r l i , Stellwerkaufseher, zur Zeit des Unfalles in Aarau, jetzt in Brugg wohnhaft.

Beide wurden vom Bezirksgericht Lenzburg des eingeklagten Deliktes schuldig erklärt, unter Verurteilung des Peter zu sieben, des Wehrli zu vierzehn Tagen Gefängnis Als der letztere den Entscheid an das Obergericht des Kantons Aargau weiterzog, bestätigte dieses das erstinstanzliche Erkenntnis bezuglich Schuld und Strafe mit folgenden Erwägungen :

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,,Am 25. März 1904, vormittags, sind auf der Station Rupperswil infolge fehlerhafter Stellung der Weiche Nr. 16 neun Wagen des einfahrenden S. B. B.-Zuges 3967 Olten-Arth-Goldau entgleist, teilweise umgestürzt und stark beschädigt worden. Der Personenwagen wurde vollständig zertrümmert; die Passagiere blieben unverletzt; der diesen Wagen bedienende Kondukteur Jakob Schatzmann dagegen erlitt mehrere Quetschwunden am Kopfe und am übrigen Körper. Von neun in einem umgestürzten Wagen befindlichen Luxuspferden mußten drei sofort abgetan werden, die übrigen trugen kleinere Verletzungen davon. Der entstandene Schaden am Kollmaterial beläuft sich auf zirka Fr. 19,000, derjenige am Geleise auf zirka Fr. 1400.tt Die Entgleisungsursache betreffend, so ist durch die Untersuchung folgendes festgestellt worden : ,,An der Weiche Nr. 16 sollte eine Reparatur vorgenommen werden; zu diesem Zwecke war der S teil werk aufseh er Wehrli mit einem Arbeiter, dem Schlosser Heinrich Peter von Aarau, zur Arbeit erschienen. Die Arbeit wurde kurz vor dem Fälligwerderi jenes Zuges begonnen. Wehrli begab sich in die nahe gelegene Wärterbude, um an ,,einem neu einzusetzenden Bolzen etwas nachzufeilen, erteilte aber gleichzeitig .dem Schlosser Peter den Auftrag, an dem alten, noch an der rechten Weichenzunge befindlichen Bolzen die Schraubenmutter zu lösen. Dieser löste nun aber nicht, nur die Schraubenmutter, vielmehr zog er den B o l z e n s e l b s t v o l l s t ä n d i g h e r a u s , was zur Folge hatte, daß, als der Stellwerkwärter die Weiche für die Einfahrt des Zuges 3967 richtig stellen wollte, bloß die linksseitige (ablenkende) Weichenzunge der Hebelziehung folgte, während die rechtsseitige vom Spitzenverschluß losgelöste Zunge für gerade Fahrt liegen blieb. Hievon konnte der Stellwerkwärter nichts merken. Das Lokomotivpersonal des einfahrenden Zuges bemerkte die unrichtige Stellung der Weichenzunge, vermochte aber den Zug nicht mehr rechtzeitig anzuhalten, weßhalb der Zug entgleisen mußte.

Des Fernern ist konstatiert, daß weder dem Stations- noch dem Zugspersonal ein Verschulden zur Last gelegt werden kann.

Unstreitig trifft dieses den Stellwerkaufseher Wehrli und seinen Arbeiter Peter. Das größte Verschulden trifft schon zufolge seiner Stellung als Stellwerkaufseher den Beklagten Wehrli; der Arbeiter Peter war mit
Beziehung auf die eventuellen Folgen des Herausnehmens des Bolzens offenbar nicht gehörig orientiert; Wehrli bekümmerte sich um die richtige Ausführung des erteilten Auftrages nicht; er übte keine Kontrolle aus, was in seiner Pflicht gewesen wäre. Die Unterlassung dieser Kontrolle war grob fahr-

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lässig; Wehrli wußte, daß ein Zug, welcher die Weiche Nr. 16 zu passieren hatte, in Sicht sei; er mußte wissen; daß die Weiche dabei richtig funktiouieren müsse, mithin in ihrer wesentlichen Funktionseinrichtuno; keine Veränderung erleiden dürfe, sofern die Sicherheit des heranfahrenden Zuges nicht gefährdet werden sollte.

Alle diese Verhältnisse verpflichteten ihn, mit Beziehung auf Arbeiten an der Weiche nicht lediglich Aufträge an einen Arbeiter zu erteilen, sondern sich selbst auch über die Art und Weise der Ausführung derselben vor der Zugseinfahrt Aufklärung zu verschaffen. Die Unterlassung dieser Obliegenheit verursachte dio Entgleisung. Es lag übrigens überhaupt kein Grund vor, die Mutter am Bolzen zu lösen, b e v o r der Güterzug durchgefahren war. Nachher wäre noch Zeit genug hiezu gewesen. Im Schreiben der Kreisdirektion III an den technischen Direktor beim Eisenbahndepartement vom 15. April wird ausdrücklich gesagt, daß schon das Lösen der Schraubenmutter vor der Durchfahrt des Zuges ,,sehr gefährlich" war. Auch die rasche Instandstellung der Weiche nach dem Unfall ist nicht so harmlos, wie die Besehwerde sie darstellt,, denn Wehrli mußte doch wissen, daß die Ursachen des Unglückes festzustellen waren, bevor etwas geändert wurde. Es steht demnach unzweifelhaft fest, daß sich auch der beklagte Wehrli einer Betriebsgefährdung im Sinne des Artikel 67 des Bundesstrafrechtes (revidiert durch Bundesbeschluß vom 5. Juni 1902) schuldig machte, weßhalb seinem prinzipiellen Beschwerdebegehren keine Folge gegeben werden kann.

Es liegt aber auch keine genügende Veranlassung vor, die Strafe zu ermäßigen oder zu verschärfen, indem das Bezirksgericht alle Momente des Falles bei Festsetzung der Strafart und des Strafmaßes allseitig und richtig gewürdigt hat."

Tatsächliche Ergänzung verdient, diese Sachdarstellung hinsichtlich der Größe des entstandenen Materialschadens, indem zu den Zerstörungen an Rollmaterial und Geleisen noch hinzukommen die Entschädigung des, verletzten Kondukteurs Schatzmann mit mindestens Fr. 325 und die Entschädigung für getötete und verletzte Pferde mit Fr. 13,000. Der Gesamtschaden übersteigt demnach die Summe von Fr. 33,000. Die Verurteilten sind vom Strafrichter für Deckung,desselben grundsätzlich haftbar erklärt worden.

Mit Eingabe vom 30. Januar 1905 richtet Friedrich
Wehrli an die Bundesversammlung das Gesuch, es möchte ihm die von den aargauischen Gerichten ausgesprochene Gefängnisstrafe von 14 Tagen in Goaden erlassen, eventuell auf höchstens einen Tag, jedenfalls ganz erheblich reduziert werden. -- Von dem Mitverurteilten Heinrich Peter ist ein derartiges Gesuch nicht gestellt worden.

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Zur Begründung seiner Anträge wiederholt Wehrli im wesentlichen dasjenige,? was er vor dem aargauischen Obergerichte vorgebracht hat. Die Hauptschuld an dem eingetretenen Unglück liege auf Seiten des Peter, der in eigener voller Sachkenntnis gehandelt und auch gewußt habe, wann der Zug Aarau-Immensee die Arbeitsstelle passieren werde. Daneben wird Klage darüber geführt, daß die Bundesbahnen aus Sparsamkeitsrücksichten den Stellwerkaufsehem nicht das nötige und eigentlich bereits beschlossene Hülfspersonal, sogenannte Stellwerkmonteure, beigegeben hätten, sondern nur Bahnarbeiter oder Hülfsschlosser, was im vorliegenden Fall zur Entstehung des Unglücks ebenfalls beigetragen habe. Die Bestrafung Wehrlis stehe in keinem richtigen Verhältnis mit derjenigen des direkt schuldigen Peter und auch mit der Behandlung anderer Bahnangestellter in ähnlichen Fällen, z. B. bei der Katastrophe von Palézieux.

Das Bezirksgericht Lenzburg erklärt, es habe keine Veranlassung, das Begnadigungsgesuch zu empfehlen. Es weist darauf hin, daß die Fahrlässigkeit des Gesuchstellers objektiv feststehe und daß die ausgesprochene Strafe von vierzehn Tagen Gefängnis innerhalb der gesetzlichen Grenze von l Tag bis 3 Jahren unter Berücksichtigung aller in Betracht fallenden Milderungsgründe bestimmt worden sei.

Nach den Akten war Friedrich Wehrli dem Schlosser Peter gegenüber bei Ausführung der in Frage kommenden Reparaturarbeit in der Stellung eines Vorgesetzten. Er hatte die nötigen Anordnungen zu treffen und Peter ihn als H Ulfsarbeiter bei den manuellen Leistungen zu unterstützen. Die kantonalen Gerichte haben deshalb auch mit vollem Rechte dem Wehrli die Verantwortlichkeit für die getroffenen Anordnungen und für gehörige Überwachung des Hülfsarbeiters zugeschoben. In beiden Richtungen hat Wehrli sich arg verfehlt. Der an Peter erteilte Befehl war zum mindesten ungenau und mißverständlich; auch mußte Wehrli wissen, daß schon die bloße Lockerung der Schraubenmutter im kritischen Momente mit großer Gefährdung des Zugsyerkehrs verbunden war. Im weitern hat Wehrli nicht nur jede Überwachung des Peter an Ort und Stelle versäumt, sondern sogar, als dieser nach Entfernung des Bolzens vom Arbeitsplatz weg in die Wärterbude trat, ihn noch an einen dritten Ort wegschicken wollen, um ein Frühstück zu besorgen. Die Nachlässigkeit des
Wehrli · in der Diensterfüllung, welche die Ursache für das Entgleisen des Zuges wurde, kann daher unmöglich auch nur teilweise damit entschuldigt werden, daß ihm ein ungeeigneter Hülfsarbeiter beigegeben war, oder daß dieser selbst gewußt habe, wann ein Zug

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auf der gefährdeten Stelle fällig wurde. Sie lastet als grobe Fahrlässigkeit im Sinne des Strafgesetzes auf Wehrli selbst, und die über ihn verhängte Strafe muß in Würdigung der subjektiven und objektiven Verhältnisse des Falles als keine unverhältnismäßig hohe bezeichnet werden, auch wenn sie mit derjenigen des Mitschuldigen Peter oder anderer Eisenbahnangestellter verglichen wird, denen ähnliches Verschulden zur Last fiel.

Wir stellen daher bei Ihrer hohen Versammlung den Antrag: Es sei das Begnadigungsgesuch des Friedrich Wehrli abzuweisen.

B e r n , den 20. März 1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuch des wegen fahrlässiger Gefährdung des Eisenbahnverkehres bestraften Friedrich Wehrli, Stellwerkaufseher in Brugg. (Vom 20. März 1905.)

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