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Bundesratsbeschluß über

die Niederlassung der Soeurs de Marie auxiliatrice de Don Bosco in der Villa Charlemont bei Grans (Waadt).

(Vom 5. Juni 1905.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Niederlassung der S o e u r s de M a r i e a u x i l i a t r i c e de Don B o s c o in der Villa Charlemont bei Crans (Waadt), auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements,

folgenden Beschluß gefaßt: I.

Von der Zollverwaltung wurde am 28. Januar 1904 dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement mitgeteilt, daß ein Mobiliar an die Adresse einer Madame J. Borghine, welche der Kongregation der Soeurs de notre Dame auxiliatrice angehöre, nach der Villa Charlemont bei Grans gesendet worden sei, das von einer der Sukkursalen der Kongregation in St. Denis stamme.

Am 30. Januar 1904 übermittelte das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Waadt dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement verschiedene auf diese Niederlassung bezügliche Aktenstücke. Daraus ergab sich zunächst:

391 Der Regierungastatthalter des Bezirks Nyon machte an das waadtländische Justizdepartement am 8. Januar 1904 Anzeige, daß Madame J. Borghine, von St. Denis bei Paris kommend, wo sie ein Pensionat für Kinder von 4 bis 12 Jahren hielt, sich in der Villa Charlemont niederzulassen gedenke. In einem Briefe an den Regierungsstatthalter vom 7. Januar 1904 sagt Madame Borghine : ,,Je soussignée J. Borghine, directrice, déclare avoir l'intention de transférer dans l'immeuble sis à Charlemont, appartenant à Monsieur Rossier à Nyon, le pensionnat que j'avais à St. Denis à Paris.11 Es wird dann weiter auseinandergesetzt, wie die Einrichtung des Pensionates beschaffen sei und daß es augenblicklich 17 Schüler zähle; die religiöse Erziehung besorge ein Kaplan.

Auf Weisung der genannten Regierungsbehörde wurde Madame Borghine angefragt, ob sie einer Kongregation angehöre.

Mit Brief vom 15. Januar 1904 an den Regierungsstatthalter antwortete Madame Borghine: ,,Nous avions à St. Denis (Seine) une pension de petits garçons acceptés à l'âge et aux conditions que j'ai déjà eu l'honneur de faire connaître à Monsieur le Préfet.

Du moment où cette maison s'est fermée, 16 des enfants abandonnés et sans aucun soutien ont été adoptes par une bienfaitrice.

Cette personne, désireuse de conserver cette oeuvre toute humanitaire, a supplié deux des anciennes religieuses (dites de Marie auxiliatrice) de cette maison de bien vouloir se charger de Téducation de ces enfants; on a joint à ces deux religieuses deux personnes de service."

Im übrigen erklärt Madame Borghine, daß der Abbé Blain die Kinder aïs Kaplan begleite. Der Abbé sei Weltpriester und vom Bischof von Freiburg anerkannt (agréé).

Auf weitere Anfrage erklärte Madame Borghine in einem Briefe vom 20. Januar 1904 an den Regierungsstatthalter: ,,Je vous déclare que le pensionnat de garçons que j'ai ouvert à Charlemont ne relève ni d'une congrégation, ni d'un ordre religieux. Il s'agit tout simplement d'une fondation privée dont je suis la gérante, soit la directrice."

Das waadtländische Justiz- und Polizeidepartement veranlaßte darauf eine Einvernahme der Madame Borghine auf Grundlage des Fragenschemas vom 28. November 1901.

Frau Borghine machte im wesentlichen folgende Angaben:

392 Frau Borghine gehörte in Frankreich der Kongregation der Soeurs de notre Dame auxiliatrice an, einer Frauenkongregation.

Sie leitete das Knabenpensionat in St. Denis. Die Statuten ihrer Kongregation will sie nicht kennen. Beichtvater ihrer Kongregation war der Abbé Michel Blain. Er gehörte früher den Salesianern an, sei aber säkularisiert und gehöre jetzt zur Diözese Paris. Das Knabenpensionat zählt jetzt 17 Schüler. Das Personal des Institutes begreift 5 Personen in sich, worunter außer Madame Borghine noch eine frühere Kongreganistin von den Soeurs de notre Dame auxiliatrice. Besondere religiöse Übungen finden nicht statt, morgens und abends wird mit den Kindern gebetet. Das Gebet findet in einem hierfür eigens eingerichteten Saale statt. Madame Borghine und ihre Mitschwester behaupten, keine Beziehungen mehr zu ihrer Kongregation zu haben; im Falle der Not würden sie von einzelnen oder mehreren wohltätigen Personen unterstützt.

Sie gehörten nicht mehr zur Kongregation und könnten hingehen, wo sie wollten. Eine besondere schriftliche Austrittserklärung sei nicht erforderlich; sie gingen dahin, wohin die Pflicht sie rufe; ihre Pflicht sei, das Waiseninstitut von St. Denis, in welchem sie seit drei Jahren als Vorsteherin gewirkt habe, nicht zu verlassen.

In einer vom schweizerischen Justiz- und Polizeidepartemente veranlaßten ergänzenden Einvernahme bestätigte Madame Borghine, der Congrégation de notre Darne auxiliatrice angehört zu haben.

Diese Verbindung habe niemals eine Kongregation im eigentlichen Sinne des Wortes gebildet. Sie sei aber, soviel ihr bekannt, vom Papste bestätigt. Sie habe das Gelübde der Keuschheit geleistet, sei aber vor zwei Jahren vom Bischof von Cambrai davon in regelrechter Form entbunden worden. Die im Institut noch beschäftigte frühere Kongregationsschwester heiße Hermine Poppo, beide seien sie italienischer Herkunft. Auch diese sei vom Keuschheitsgelübde entbunden. Zum Personal gehöre noch der Almosener oder Religionslehrer Michel Blain, eine Lehrerin, eine Köchin und ein Zimmermädchen; letztere drei Personen haben keiner Kongregation angehört. Die Zahl der Schüler sei auf 20 angewachsen.

Das Institut in Charlemont habe keine Beziehungen irgend welcher Art zu der Kongregation. Es werde durch wohltätige Laien unterstützt, da die größere Zahl der Kinder arm und
Waisen seien.

Ihres Wissens befänden sich sonst in der Schweiz nur in Brig Schwestern ihrer Kongregation, die dort italienische Schulen leiteten. Sie könne nicht angeben, seit wann, und wisse nichts Näheres über die dortigen Verhältnisse, als daß die Schwestern von dem italienischen Hause in Montferrat stammen.

393 Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement holte ein Gutachten von Herrn Professor Dr. Fleiner in Basel ein, welches am 17. Januar einlangte.

II.

Die Kongregation der Soeurs de Marie auxiliatrice bildet den weiblichen Zweig der von Don Bosco (f 1888) gestifteten geistlichen Gesellschaft der ,,Salesianer Don BOSCOSA. Sie wird von Salesianern geleitet. Don Bosco gründete 1855 unter diesem Namen eine Gesellschaft von Priestern, welche die Aufgabe haben sollten, sich der männlichen Jugend anzunehmen, sie in eigenen Anstalten (Oratorien) in den Handwerken unterrichten zu lassen und die zum Priesterberuf Geeigneten zum geistlichen Stande heranzubilden.

Im Jahre 1873 gewann Don Bosco eine seit 1852 bestehende Vereinigung von Näherinnen für seine Zwecke, die Heranbildung der verlassenen Jugend. Aus diesem Keim entwickelte sich die Congrégation de Marie auxiliatrice oder de notre Dame auxiliatrice, in welcher die drei Gelübde abgelegt werden. Die Kongregation besitzt in Frankreich, Italien, Südamerika und anderwärts über 200 Niederlassungen. Das Mutterhaus ist in Turin.

Zu den zahlreichen Niederlassungen, welche die Kongregation vor dem Vereinsgesetz von 1901 in Frankreich besaß, gehörte auch das Pensionat von 8t. Denis, das nach dem Namen einer Wohltäterin als ,,Orphelinat Meissonier11 bezeichnet wurde.

Es braucht hier nicht weiter untersucht zu werden, ob die Kongregation, wie Madame Borghine ausgesagt hat, wirklich in Brig eine Niederlassung (italienische Schule) besitzt. Denn die Kongregation ist selbst erst mit der Organisation des Mutterhauses am 14. Juli 1874 zu festem Bestände gelangt und hat erst nach dieser Zeit, also nach dem Inkrafttreten der Bundesverfassung von 1874, angefangen, Niederlassungen außerhalb Italiens zu gründen.-- Wenn also die Ansiedlung in der Villa Charlemont bei Grans als Kongregationsniederlassung anzusehen ist, so liegt hierin nach der feststehenden Praxis des Bundesrates die Einführung eines ,,neuen Ordens^ im Sinne von Art. 52 der Bundesverfassung.

Diese Frage ist aber bestimmt zu bejahen.

Frau Borghine hat zugestanden, daß sie in St. Denis Oberin des der Kongregation angehörigen Institutes (Orphelinat Meissonier) war und daß ihre Absicht bei Übersiedlung nach Crans war, dieses · Institut nach der Villa Charlemont zu übertragen. Auch wird die Unternehmung
von einem Priester begleitet, welcher der Kongregation der Salesianer Don Boscos angehört. -- Ein Nachweis, daß Madame Borghine und die sie begleitende und im Institut

394 tätige Schwester Hermine Puppo aus der Kongregation Marie auxiliatrice, sowie daß der Hauskaplan Michel Blain aus der Kongregation der Salesianer ausgetreten seien, ist trotz mehrfacher Aufforderung in keiner Weise erbracht. Tatsache ist, daß ein Kongregationsinstitut (das Waisenhaus von St. Denis), das infolge der französischen Vereinsgesetzgebung geschlossen werden mußte, unter Leitung von Kongregationsangehörigen auf Schweizergebiet übertragen worden ist. Die Kongreganistinnen nehmen also in der Schweiz Handlungen vor, welche als Erfüllung des Zweckes ihrer Verbindung angesehen werden müssen. Darin liegt die Einführung eines neuen Ordens im Widerspruch mit Art. 52 der Bundesverfassung. Die Kongregationsniederlassung in der Villa Charlemont in Crans ist daher aufzuheben.

Demnach wird erkannt: 1. Der Kongregation der Soeurs de Marie auxiliatrice in der Villa Charlemont bei Grans wird die Niederlassung in der Schweiz untersagt.

2. Sie erhält eine Frist von 90 Tagen von Eröffnung dieses Beschlusses an gerechnet, um ihre Verhältnisse zu ordnen.

3. Die Regierung des Kantons Waadt ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt und wird eingeladen, dem Bundesrate über die erfolgte Vollziehung Bericht zu erstatten.

B e r n , den 5. Juni

1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Eingier.

-·^-s;.-

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Bundesratsbeschluß über die Niederlassung der Soeurs de Marie auxiliatrice de Don Bosco in der Villa Charlemont bei Crans (Waadt). (Vom 5. Juni 1905.)

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14.06.1905

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