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Bundesratsbeschluß über

die Beschwerde des Hersch Goldberg und Konsorten in Luzern betreffend Verletzung des schweizerisch-russischen Niederlassungsvertrages (Ausübung des Hausierhandels).

(Vom 11. April 1905.)

Der schweizerische Bundesrat hat über die Beschwerde der Hersch G öl d b erg und Konsorten in Luzern betreffend Verletzung des schweizerisch-russischen Niederlassungsvertrags (Ausübung des Hausierhandels), auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartementes, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Am 17. Dezember 1904 hat der Regierungsrat des Kantons Luzern folgenden Beschluß gefaßt: Herr Fürsprech Dr. G. Schauer, Luzern, rekurriert mit Eingabe vom 15. dieses Monats namens 17 in Luzern wohnhaften russischen Staatsangehörigen gegen eine Verfügung des Militärund Polizeidepartements, dahingehend, es seien vom 1. Januar 1905 ab an russische Staatsbürger keine Hausierpatente mehr zu verabfolgen. Die Rekurrenten stützen sich hierbei auf den zwischen

286 der Schweiz und Rußland unterm 26./14. Dezember 1872 abgeschlossenen Niederlassungs- und Handelsvertrag und machen geltend, daß Art. l desselben durch die oben erwähnte Verfügung verletzt werde.

Hierüber hat der Regierungsrat, erwägend: 1. Gemäß dem schweizerisch-russischen Handelsverträge ist allerdings den russischen Staatsbürgern das Recht zur Ausübung jeder Art von Gewerbe in der Schweiz gewährleistet, unter der Voraussetzung, daß den Schweizerbürgern in Rußland die gleichen Rechte zustehen. Dali das letztere im vorliegenden Falle zutreffe, wollen die Rekurrenten durch eine von der kaiserlich-russischen Gesandtschaft in Bern ausgestellte Erklärung dartun, wonach in Beziehung auf Hausierhandel und Hausierpatente den Schweizern in Rußland keine schwereren Bedingungen auferlegt werden als den russischen Untertanen.

2. Diese Erklärung kann aber jedenfalls, soweit es sich um russische Patentbewerber israelitischer Konfession handelt, und das ist mit ganz vereinzelten Ausnahmen immer der Fall, nicht ohne weiteres verbindlich sein. Es ist Tatsache, daß die Juden in Rußland nicht in vollem Maße die Handels- und Gewerbefreiheit genießen und auch im Hausierwesen mannigfachen Beschränkungen unterworfen sind. Die Gleichberechtigung der Juden mit den andern Bürgern ist in der in Frage kommenden Materie im Gegensatz zur Schweiz nach der russischen Gesetzgebung nicht vorhanden, und es konnten daher die russischen Patentbewerber den Ausweis des Gegenrechtes nicht erbringen. Mehr Rechte für sich hei unsbeanspruchen, als ihren schweizerischen Glaubensgenossen in Rußland gewährt werden, können sie aber nach Maßgabe des erwähnten Vertrages nicht, erkannt: 1. Vorliegender Rekurs sei abgewiesen unter Kostenfolge für die Rekurrenten.

2. Mitteilung an die Rekurrenten unter Aktenrücksehluß und an das Militär- und Polizeidepartement.

II.

Gegen diesen Entscheid beschwerten sich Hersch Goldberg und Konsorten mit Eingabe vom 29. Dezember 1904 beim Bundesrat und stellten das Begehren :

287 Es sei die angefochtene Verfügung des Regierungsrats von Luzero aufzuheben und letzterer einzuladen, die verlangten Hausierpatente den Rekurrenten unverzüglich auszustellen, unter Kostenfolge.

Zur Begründung führten sie folgendes aus: In Bestätigung einer Verfügung seines Militär- und Polizeidepartements habe der Regierungsrat des Kantons Luzern durch den angefochtenen Entscheid festgesetzt, daß vom 1. Januar 1905' ab an russische Staatsangehörige keine Hausierpatente mehr verabfolgt werden sollen. Aus der Motivierung des Entscheids ergebe sich allerdings die Beschränkung, daß diese Maßregel nur für russische Patentbewerber israelitischen Bekenntnisses gelten solle.

Bisher sei ein solcher Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Bewerbern nicht gemacht worden und eine Änderung in der Gesetzgebung oder in den sonstigen Verhältnissen, die eine solche Unterscheidung rechtfertigen würde, sei nicht eingetreten.

Die Verfügung bilde eine Verletzung des schweizerisch-russischen Niederlassungs Vertrags.

Die russische Gesandtschaft habe diejenige Gegenrechtserklärung abgegeben, die nach dem Vertrag überhaupt gemacht werden könne, indem sie bescheinigte, daß in Rußland ,,den Schweizern gegenüber in Beziehung auf Hausierhandel und Hausierpatente keine schwereren Bedingungen aufgestellt werden als gegenüber den russischen Staatsangehörigen11. Dies ziehe für die Schweiz nach Art. 1 des Vertrags die Verpflichtung nach sich, die russischen Staatsangehörigen im Hausierwesen gleich zu behandeln wie die eigenen Staatsbürger, was eine verschiedene Behandlung von Juden und Christen ausschließe.

Der Staatsvertrag habe nicht, den Sinn, daß jede Partei auf die Angehörigen der andern außer den eigenen Landesgesetzen noch die Gesetze des andern Staats anwenden könne ; vielmehr kämen für die Ausübung von vertraglichen Rechten immer nur die Gesetze desjenigen Vertragsstaats in Betracht, in welchem diese Ausübung beansprucht werde. Der Standpunkt des Regierungsrats verstoße zudem gegen die Grundprinzipien des schweizerischen Staatsrechts, so namentlich gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 4 der Bundesverfassung) und gegen die Vorschrift von Art. 49 der Bundesverfassung, wonach die Ausübung bürgerlicher Rechte durch keinerlei Bedingungen religiöser Natur beschränkt werden dürfe.

.Mit Rücksicht auf die Natur des Beschwerdefalles und die notorische Bedürftigkeit der Rekurrenten rechtfertige sich die Ver-

288 fällung des Rekursbeklagten aur Erstattung der Auslagen, besonders der Kosten des angefochtenen Entscheids an die Rekurrenten.

III.

In einer Regierungsrat sich zu keinen sich auf den Entscheides.

Zuschrift vom 21. Januar 1905 beantragte der Abweisung der Beschwerde und erklärte, er sehe weitern Bemerkungen veranlaßt, sondern beschränke Hinweis auf die Erwägungen des angefochtenen

IV.

Das Justiz- und Polizeidepartement richtete mit Schreiben vom 10. Februar 1905 an den Regierungsrat des Kantons Luzern ·die Frage, ob die angefochtene Verfügung die Erteilung von Hausierputenten an russische Staatsangehörige überhaupt verbiete, und ob sämtliche Rekurrenten Israeliten seien ? In seiner Antwort vom 24. Februar 1905 bejahte der Regierungsrat die erste Frage ; bezüglich der zweiten erklärte er, eine nähere Feststellung sei ihm hierüber nicht möglich, da bei einigen der Rekurrenten die deponierten Ausweisschriften über das Bekenntnis ihrer Träger keine Angabe enthielten. Doch gehöre die Mehrzahl der Beschwerdeführer dem israelitischen Bekenntnis an.

Der hierauf vom Departement in bezug auf den letztern Punkt am 28. Februar 1905 angefragte Vertreter der Rekurrenten, teilte am 3. März 1905 mit, daß sämtliche Rekurrenten zugeben, dem israelitischen Bekenntnis anzugehören.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: 1.

Im letzten Alinea von Art. l des schweizerisch-russischen Niederlassungs- und Handelsvertrags vom 26./14. Dezember 1872 werden gegenüber den in den vorhergehenden zwei Absätzen festgelegten gegenseitigen Vertragsverpflichtungen vorbehalten die in jedem der beiden Staaten bestehenden besondern Gesetze, Vergfüungen und Réglemente über Handel, ludustrie und Polizei, die auf alle Fremden überhaupt ihre Anwendung finden.

Die angefochtene Verfügung kann unter die in dieser Vertragsbestimmung umschriebene Kategorie von Erlassen offenbar

289 nicht eingereiht werden, denn sie verbietet die Ausstellung von Hausierpatenten nur soweit russische Bewerber in Betracht kommen, kommt aber keinesfalls auf alle Fremden Überhaupt zur Anwendung. Die angefochtene Verfügung und die Patentverweigerung gegenüber den ßekurrenten, soweit sie einzig jene Verfügung zur Grundlage haben sollte, widerspricht den Bestimmungen den schweizerisch-russischen Niederlassungs- und Handelsvertrags.

U.

Nun besteht aber in bezug auf Hausierpatentverweigerungen im Kanton Luzern eine für Fremde allgemein gültige, mit Art. l, Abs. 3 des schweizerisch-russischen Vertrags vereinbare Bestimmung.

Es ist dies § 25 des luzernischen Gesetzes betreffend das Marktund Wandergewerbewesen vom 25. November 1890, lautend: ,,Angehörigen fremder Staaten, welche mit der Schweiz in keinem Vertragsverhältnis stehen oder gegen Schweizer nicht Gegenrecht halten, soll das Patent verweigert werden.tt Sie entspricht inhaltlich genau der Bestimmung im Schlußabsatz von § 4 des bernischen Hausiergesetzes vom 24. März 1878,, abgesehen davon, daß nach bernischem Recht das Patent bloß verweigert werden kann, während es nach dem luzernischen Gesetz verweigert werden soll.

Über den Schlußabsatz von § 4 des bernischen Hausiergesetzes und sein Verhältnis zu Art. l und 7 des schweizerisch-russischen Vertrags hat sich der Bundesrat in seinem Entscheid vom 6. September 1904 in Sachen Jaffe & Feldmann gegen Bern (Bundesbl.

1904, IV, 953 ff.) einläßlich ausgesprochen und die dort aufgestellten Sätze haben selbstverständlich auch Gültigkeit für die Beurteilung der Verhältnisse der analogen luzernischen Bestimmung in § 25 des Gesetzes betreffend das Markt- und Wandergewerbewesen zum schweizerisch-russischen Vertrag.

Danach ist § 25 des genannten luzernischen Gesetzes auf russische Patentbewerber anwendbar, so lange sie nicht durch die Erklärung einer zuständigen russischen Behörde den Nachweis erbracht haben, daß Rußland in bezug auf das Hausiergewerbe ·den Schweizern volles Gegenrecht hält.

III.

Zur Unterstützung ihres Begehrens haben die Kekurrenten ·eine Erklärung der kaiserlich russischen Gesandtschaft in Bern vom 14./1. Dezember 1904 eingelegt, worin bescheinigt wird, daß in Rußland der Hausierhandel von In- und Ausländern ausgeübt Bundesblatt. 57. Jahrg. Bd. In.

19 ,

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werden darf und daß auf Grund des schweizerisch-russischen Yertrags vom 26./14. Dezember 1872 den Schweizern gegenüber in Beziehung auf Hausierhandel und Hausierpatente keine schwereren Bedingungen aufgestellt werden als gegenüber den russischen Staatsangehörigen.

Damit ist allerdings anscheinend dem aufgestellten Erfordernisse des Gegenrechtes Genüge geleistet. Allein die materielle Tragweite der Erklärung der kaiserlich russischen Gesandtschaft erfährt infolge der bezüglich der Juden in Rußland geltenden Bestimmungen eine wesentliche Einschränkung. Die russischen Israeliten können sich nicht überall in Rußland frei niederlassen und Handel treiben. Ihnen ist ein Ansäßigkeitsrayon zugewiesen, der nur etwas mehr als den dritten Teil des europäischen Rußlands umfaßt und in einzelnen Gouvevnementen und Städten wieder mehr oder weniger beschränkenden Bestimmungen untersteht. Außerdem ist die Ansäßigkeitsberechtigung der Israeliten häufigen Veränderungen ausgesetzt. All dies wirkt nun aber auch auf die Handelstätigkeit insofern ein, als die russischen Israeliten nur im Ansäßigkeitsrayon Handel treiben dürfen. Ausnahmen hiervon bestehen in gewissem Umfang nur für die eigentlichen Handelsreisenden und für solche Juden, die ein Handelspatent erster Gilde lösen, was aber für Hausierer, der jährlich zu entrichtenden hohen Taxe wegen, nicht in Betracht kommen kann.

Hält man diese Tatsachen mit der Erklärung der russischen Gesandtschaft zusammen, so ergibt sich daraus, daß der schweizerische Hausierer israelitischen Bekenntnisses in Rußland den gleichen Beschränkungen unterworfen ist, wie der russische Jude, der Hausierhandel treibt. Denn die Erklärung sichert uns Gleichbehandlung der Schweiz mit russischen Staatsangehörigen zu; alsowird ein schweizerischer Jsraelit gleich wie ein russischer behandelt und unterliegt den gleichen Beschränkungen wie dieser.

Daraus folgt aber, daß der Nachweis vollen Gegenrechtes, wie er in § 25 des luzernischen Hausiergesetzes verlangt wird, durch die Bescheinigung der kaiserlich russischen Gesandtschaft nicht erbracht ist.

Es mag dabei dahingestellt bleiben, ob die Verfügung desluzernischen Militär- und Polizeidepartements, welche sich auf die Verweigerung von Hausierpatenten an a l l e russischen Staatsangehörigen erstreckt, aufrecht erhalten werden könnte. Der gegenwärtige
Rekurs richtet sich aber nur gegen den Entscheid des luzerniachen Regierungsrates vom 17. Dezember 1904, durch welchen den dem israelitischen Bekenntnis angehörenden, die russischeStaatsangehörigkeit besitzenden Rekurrenten die Erteilung eines

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Hausierpatentes verweigert wird. Jedenfalls steht den Rekurrenten ein Beschwerderecht nur zu, soweit sie in ihren Rechten verletzt sind. Nach den vorstehenden Erwägungen ist aber den Rekurrenten gegenüber eine Verletzung des schweizerisch - russischen Staatsvertrages nicht nachgewiesen, und es ist deshalb der Entscheid des Regierungsrates, soweit er die Person des Rekurrenten betrifft, zu schützen.

IV.

Die Rekurrenten haben ihre Beschwerde aber nicht nur auf eine Verletzung des schweizerisch-russischen Vertrags gestutzt, sondern auch behauptet, die Abweisung ihres Gesuches um Hausierpatente stehe im Widerspruch zu Art. 4 und 49 der Bundesverfassung. Die Beschwerde aus Art. 4 der Bundesverfassung fällt mit der Frage der Anwendbarkeit des schweizerisch-russischen Vertrages zusammen und erledigt sich damit, daß die Rekurrenten von der Gleichbehandlung ausgeschlossen sind, weil sie gemäß dem Vertrage einen Anspruch auf Gleichberechtigung nicht erheben können.

Die Beschwerde aus Art. 49 der Bundesverfassung gehört nicht in die Kompetenz des Bundesrates, die nach Art. 189, letztem Absatz, des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege beschränkt ist auf solche Anstände aus Staatsverträgen, welche sich auf Handels- und Zollverhältnisse, Patentgebühren, Freizügigkeit, Niederlassung und Befreiung vom Militärpflichtersatz beziehen.

D e m g e m ä ß wird e r k a n n t : Die Rekurrenten sind mit ihrem Begehren um Aufhebung des Entscheides des Regierungsrates des Kantons Luzeru vom 17. Dezember 1904 und um Erteilung von Hausierpatenten im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

B e r n , den 11. April 1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:.

Buchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

-Ss-O-e-i

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Bundesratsbeschluß über die Beschwerde des Hersch Goldberg und Konsorten in Luzern betreffend Verletzung des schweizerisch-russischen Niederlassungsvertrages (Ausübung des Hausierhandels). (Vom 11. April 1905.)

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19.04.1905

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