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Bundesratsbeschluß über

das Wiedererwägungsgesuch des Staatsrats des Kantons Freiburg betreffend den bundesrätlichen Entscheid in Sachen des Wirtschaftsrekurses des J. Charrière, aux Carrys, Gemeinde Sales.

(Vom 20. Januar 1905.)

Der schweizerische Bundesrat hat über das Wiedererwägungsgesuch des Staatsrates des Kantons Freiburg betreffend den bundesrätlichen Entscheid in Sachen des Wirtschaftsrekurses des J. Charrière, aux Carrys, Gemeinde Sales, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Beschluß vom 6. September 1904 hat der Bundesrat den Rekurs des J. Charrière, aux Carrys, Gemeinde Sales, gutgeheißen, welcher sich gegen den dem Rekurrenten die Eröffnung einer Wirtschaft verweigernden Entscheid des Staatsrats des Kantons Freiburg vom 23. Oktober/17. November 1903 richtete. Der bundesrätliche Entscheid wurde der Regierung des Kantons Freiburg am 6. September 1904 im Dispositiv, am 5. Oktober 1904 in extenso mitgeteilt und ist in Nr. 36 der deutschen Ausgabe

149 des Bundesblattes, vom 7. September 1904 (1904, IV, 961 ff.)

und in Nr. 40 der französischen Ausgabe, vom 5. Oktober 1904 (1904, IV, 1061 ff.) erschienen.

Der Staatsrat des Kantons Freiburg hat hierauf eine vom 27. Oktober 1904 datierte, bei der Bundeskanzlei am 8. November 1904 eingegangene Eingabe an den Bundesrat gerichtet.

In der Einleitung derselben erklärt der Staatsrat, er habe vom bundesrätlichen Entscheid Kenntnis genommen und dabei zwei tatsächliche Irrtümer von Bedeutung konstatiert, die einen großen Einfluß auf den Entscheid des Bundesrats ausgeübt hätten; er halte es für nötig, diese Irrtümer richtig zu stellen, und erlaube sich, vom schlecht informierten an den besser informierten Bundesrat zu appellieren.

Der erste Punkt, den der Staatsrat aus dem bundesrätlichen Entscheid hervorhebt, betrifft die Stelle: ,,Auch spricht gegen die rein lokale Bedeutung der Straße (Romont-Bulle) der Umstand, daß sie, trotzdem die Bahn Romont-Bulle schon recht lange besteht, bisher noch nicht deklassiert worden ist, wie z. B. die Straße Murten-Freiburg nach Erstellung der gleichnamigen Bahnstrecke.1* Die Frage der Straßendeklassierurig sei nie zur Diskussion gestanden. Übrigens sei die Straße Bulle-Romont für die Teilstrecke von La Sionge bis Romont schon im Jahr 1870 aus der ersten in die dritte Klasse verwiesen worden, und zwar wegen der Erstellung der die beiden genannten Städte verbindenden Bahn. Daraus gehe auch hervor, daß die Straße in Wirklichkeit nur noch lokale Bedeutung habe, und daß auf ihr, abgesehen von dem während einiger Frühlings- und Herbsttage' stattfindenden Auf- und Abtrieb des Viehs nach und von den Alpen, nur die Leute der betreffenden Gegend verkehren, für welche sich kein Bedürfnis nach einer Wirtschaft aux Carrys fühlbar mache.

Die zweite Berichtigung des Staatsrats bezieht sich auf folgende Stelle des bundesrätlichen Entscheids: ,,Allein der Einwand des Staatsrats verliert seine ganze Tragweite, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Behauptung des Rekurrenten unwidersprochen geblieben ist, wonach seinerzeit dem Gemeinderat von Sales das Wirtsehaftsrecht, das er für die Gemeinde verlangte, erteilt wurde, trotzdem in der Ortschaft schon eine private Wirtschaft bestand. Und zwar geschah dies zu einer Zeit, da die Bahn Romont-Bulle schon existierte, die Verkehrsverhältnisse
also für die Gemeinde Sales die gleichen waren wie heute. Unter den nämlichen Verhältnissen, unter denen heute dem privaten Bewerber gegenüber die Froge des Bedürfnisses nach einer zweiten Wirtschaft in der Gemeinde Sales verneint wird,

150 wurde sie damals zu gunsten der Gemeinde bejaht. Dieses Vorgehen steht aber in unvereinbarem Widerspruch mit dem Prinzip der rechtsgleichen Behandlung der Bürger vor dem Gesetz. Was damals der Gemeinde recht war, muß heute bei gleichen Verhältnissen dem Rekurrenten billig sein, wenn nicht Art. 4 der Bundesverfassung verletzt werden soll. Die Abweisung des Begehrens des Rekurrenten erseheint daher als willkürlich.41 In Beziehung hierauf führt der Staatsrat aus, es sei allerdings richtig, daß Charrière in seiner Beschwerde die Behauptung aufgestellt habe, der Gemeinde Sales sei ein Wirtschaftspatent vom Staatsrat bewilligt worden zu einer Zeit, als in der Gemeinde schon eine andere Wirtschaft existierte ; er, der Staatsrat, habe es sodann in seiner Rekursbeantwortung versäumt, diese Behauptung zu bestreiten, aus welchem Stillschweigen der Bundesrat gefolgert habe, die Behauptung sei richtig.

In Wahrheit verhalte sich die Sache folgermaßen : Zu Anfang des Jahres 1902 habe der Getneinderat von Sales erfahren, daß die einzige in der Gemeinde bestehende Wirtschaft zum Verkauf stehe, und zu deren Erwerbung Unterhandlungen eingeleitet, die aber wegen des zu hohen Preises für den Augenblick zu keinem Abschluß führten. Inzwischen habe die Gemeindebehörde Wind davon bekommen, daß Private eine zweite Wirtschaftskonzession zu verlangen beabsichtigten. Unter diesen Umständen habe sich die Gemeinde an die kantonale Poh'zeidirektion mit der Anfrage gewendet, ob sie nicht, für den Fall, daß der Staatsrat die Eröffnung einer zweiten Wirtschaft nötig erachten sollte, den Vorzug vor privaten Bewerbern erhalten könnte.

Die Polizfiidirektion habe ihr hierauf geantwortet, sie könnte sich nur schwer dazu entschließen, die Bewilligung eines zweiten Wirtschaftspatents für die Ortschaft Sales vorzuschlagen, und habe die Gemeinde aufgefordert, die Unterhandlungen betr. den Ankauf der bestehenden Wirtschaft wieder aufzunehmen.

Beim Staatsrat sei diese Frage nie anhängig gemacht worden, weshalb er auch keine Konzession habe erteilen können. Der Beschwerdeführer habe sich schwer getäuscht, indem er das Gegenteil versicherte.

Hiernach sei die oben zitierte Argumentation des bundesrätlichen Entscheids unbegründet und müsse notwendig abgeändert ·werden.

U.

Der frühere Rekurrent Charrière, dem das Wiedererwägungsgesuch des Staatsrats des Kantons Freiburg auf kurze Frist zur

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Vernehmlassung zugestellt wurde, hat seine Gegenbemerkungen -am 24J26. November eingereicht. Im Begleitschreiben dazu erklärte er, er sei in seiner Eingabe nicht auf die materielle Seite ·des Wiedererwägungsgesuches eingetreten, wozu er auch innert der kurzen, ihm gestellten Frist nicht Zeit gehabt habe. Er sei der Ansicht, es müsse zunächst die Frage erörtert werden, ob das Wiedererwägungsgesuch überhaupt zulässig sei; werde dies bejaht, so müsse den Parteien eine neue Frist zur Vernehmlassung in tatsächlicher Beziehung eingeräumt werden. Wenn diese Annahme irrig sein sollte, so verlange er jetzt schon eine Fristverlängerung zur Veroehmlassung über die materielle Seite der Sache.

Charrière stellte folgende Begehren : Der Bundesrat solle erklären : 1. Das Wiedererwägungsgesuch ist unzulässig, weil kein Gesetz die Wiedererwägung von öffentlich rechtlichen Entscheiden vorsieht, die der Bundesrat auf Beschwerde hin gefaßt hat; eventuell 2. es kann auf das Wiedererwägungsgesuch wegen Verspätung nicht eingetreten werden; · eventuell 3. das Wiedererwägungsgesuch kann nicht gutgeheißen werden, weil die angeführten Gründe keinen Anlaß zur Wiedererwägung geben.

Zur Begründung dieser Begehren führte Charrière im wesentlichen folgendes an : Die Revision eines Entscheids sei ein außerordentliches Rechtsmittel und müsse daher in einem Gesetz vorgesehen sein. Das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 stelle nun Bestimmungen über das Verfahren vor Bundesgericht auf und habe sie in bestimmtem Maß auf die Tätigkeit der Verwaltungsbehörde ausgedehnt. In Art. 190 des Gesetzes werde festgestellt, welche Vorschriften über das Verfahren bei beiden Instanzen zur Anwendung kommen. Dagegen bestimme Art. 188 leg. cit. : ,,In Ansehung der staatsrechtlichen Entscheidungen des ßundesgerichts ist das Rechtsmittel der Revision 'und das Erläuterungsbegehren nach Maßgabe von Art. 95 u. ff. zulässig." Per argumentum a contrario sei also zu sehließen, daß diese Rechtsmittel bei Entscheiden des Bundesrats nicht zulässig sind. Nach Art. 192 leg. cit. stehe in solchen Fällen nur ein Weg ·offen, nämlich der Rekurs an die Bundesversammlung. Eine solche

152 höhere Rekursinstanz fehle bei staatsrechtlichen Entscheiden des Bundesgerichts. Hier sei daher die Zulassung der Revision begreiflich, während sie bei Entscheiden des Bundesrats, die noch an eine höhere Instauz weitergezogen werden können, überflüssig wäre.

Ihm, Charrière, sei kein Revisionsentscheid des Bundesrats bekannt.

Wenn das Wiedererwägungsgesuch wider Erwarten als zulässig erachtet würde, so müßte zunächst untersucht werden, ob es nach dem dann, gemäß Art. 188 und 95 des Organisationsgesetzes zur Anwendung kommenden Art. 198 des Bundesgesetzes über das Verfahren bei dem Bundesgerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten rechtzeitig eingelegt worden sei. Er, Charrière, könne dies nicht beurteilen, weil er nicht mehr im stände sei, das Datum der Zustellung des bundesrätlichen Entscheids genau zu fixieren.

Die Zulässigkeit des Revisionsgesuches im Prinzip angenommen, so müßte dasselbe bei rechtzeitiger Einlegung unter die Bestimmung von Art. 192, Ziff. l, lit. c, des Bundesgesetzes über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten fallen, d. h. es könnte ihm nur stattgegeben werden, wenn der Buudesrat in seinem Entscheid vom 6. September 1904 in den Akten liegende, erhebliche Tatsachen aus Versehen gar nicht, oder auf irrtümliche Weise gewürdigt hätte. Danach sei eine Gutheißung des Wiedererwägungsgesuchs des Staatsrats aber ausgeschlossen; denn die darin erwähnte Klassifikation der Straße Bulle-Romont habe beim Entscheid des Bundesrats keine erhebliche Rolle gespielt; die allerdings wichtigere Feststellung im bundesrätlichen Entscheid, wonach früher schon einmal in Sales eine zweite Wirtschaftskonzession erteilt worden sei, beruhe aber weder auf Nichtwürdigung noch auf irrtümlicher Würdigung einer in den Akten enthaltenen Tatsache. Es habe sich dabei für den Bundesrat überhaupt nur darum gehandelt festzustellen, daß die vorn Rekurrenten aufgestellte Behauptung vom Staatsrat nicht bestritten worden sei. Wenn die somit als wahr angenommene Behauptung einen wesentlichen Einfluß auf den Entscheid zu ungunsten des vom Staatsrat eingenommenen Standpunkts ausgeübt habe, so sei dies nicht einer irrtumlichen Würdigung seitens des Bundesrats, sondern der Nachlässigkeit des Staatsrats zuzuschreiben.

Übrigens bestreite er, Charrière, die im Wiedererwägungsgesuch des Staatsrats enthaltenen
unklaren Berichtigungen zu diesem Punkt, über die er sich bei einer eventuell nötig werdenden Vernehmlassung zur materiellen Seite der Angelegenheit näher aussprechen werde.

153 B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Der Bundesrat hat schon mehrfach in seiner Praxis eine nochmalige Prüfung seiner Entscheidungen abgelehnt und dabei den Satz aufgestellt, daß materiell da kein Grund zur Revision eines Entscheides vorliegt, wo das Wiedererwägungsgesuch sich auf Tatsachen stützt, die in den Rechtsschriften nicht geltend gemacht wurden, obgleich sie der die Revision verlangenden Partei schon während der Instruktion der Streitsache bekannt waren. Prüft man an der Hand dieses Grundsatzes das Wiedererwägungsgesuch, so ist zunächst bezüglich der Klassifikation der Straße BulleRornont, welche in den Rechtsschriften der Parteien keine Erwähnung gefunden hatte, zu sagen, daß dieser Umstand für den Entscheid des Bundesrates, wie aus den Erwägungen des Entscheides vom- 6. September 1904 deutlich ersichtlich ist, nicht von ausschlaggebender Bedeutung war. Der bestehende Passus verdankt seine Entstehung der Annahme, daß der Staalsrat eine Deklassierung der Straße, wenn sie vorgenommen worden wäre, in diesem Falle eben so nachdrücklich hervorgehoben hätte, wie er es bezüglich der Straße Freiburg-Murten in dem gleichzeitig hängigen Rekurs Belk getan hat.

Was den zweiten zur Begründung der Wiedererwägung in der Eingabe des Staatsrates des Kantons Freiburg hervorgehobenen Punkt betrifft, so war dem Staatsrat im Instruktionsverfahren Gelegenheit gegeben, sich über die Erteilung einer zweiten Wirtschaftskonzession in Sales auszusprechen. Die sämtlichen zur Widerlegung der vom Rekurrenten Charrière in der Rekursschrift in dieser Hinsicht aufgestellten Behauptung geeigneten Tatsachen waren dem Staatsrat damals schon ebensogut bekannt wie heute. Dies geht daraus hervor, daß der Staatsrat im Revisionsgesuch selbst zugibt, er habe es in der Antwort auf die Beschwerde versäumt, die Behauptung des Rekurrenten zu dementieren. Hier mag übrigens bemerkt werden, daß auch die Anbringen des Staatsrats im Revisionsgesuch keine absolute Klarheit über die Sachlage in dem Zeitpunkt verbreiten, als der Gemeinde Sales das Wirtschaftspalent erteilt wurde. Es ist vielmehr im betreffenden Passus der staatsrätlichen Eingabe in der Hauptsache nur von den Verhältnissen im Jahr 1902 die Rede, von den Kaufsunterhandlungen, die die Gemeinde damals mit dem Inhaber der Privatwirtschaft ohne Erfolg geführt hat,
und von der Anfrage, mit der sich der Gemeinderat damals an die Polizeidirektion wandte, und die beim Staatsrat, weil sie eben kein eigentliches Konzessionsgesuch enthielt, nie anhängig gemacht wurde.

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Ist somit der erste Grund unerheblich, der zweite nach der bestehenden Praxis des Bundesrates nicht zu berücksichtigen, so kann die Frage unerörtert bleiben, ob, obschon im Organisationsgesetze eine rechtliche Grundlage für die Revision staatsrechtlicher Entscheidungen des Bundesrales nicht gegeben ist (vgl. Bundesbl.

1900, I, 807 und 1901, II, 3l), die Wiedererwägung solcher Entscheide grundsätzlich zulässig ist oder nicht.

Demgemäß wird erkannt: Dem Wiedererwägungsgesuch wird keine Folge gegeben.

B e r n , 20. Januar 1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Ruchet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesratsbeschluß über das Wiedererwägungsgesuch des Staatsrats des Kantons Freiburg betreffend den bundesrätlichen Entscheid in Sachen des Wirtschaftsrekurses des J. Charrière, aux Carrys, Gemeinde Sâles. (Vom 20. Januar 1905.)

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25.01.1905

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