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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich.

(Vom 20. Dezember 1905.)

Tit.

Wir beehren uns, Ihnen hiermit über die bevorstehenden Änderungen in unsern Handelsbeziehungen zu Frankreich Bericht zu erstatten.

Unser Warenverkehr mit diesem Lande beruht seit 1895 zum großen Teil auf dem Modus vivendi, der am 25. Juni jenes Jahres in der Form eines Notenaustausches zustande kam. Infolge der Ablehnung des Handelsabkommens von 1892 durch die französische Deputiertenkammer hatten sich vom 1. Januar 1893 au beide Länder differentiell behandelt, indem die Schweiz einen besondern Kampftarif aufstellte, wogegen Frankreich seinen Generaltarif anwendete.

Der Modus vivendi bestand darin, daß Frankreich seinen Minimaltarif für eine Anzahl schweizerischer Exportartikel ermäßigte, die Schweiz aber ihren Differentialtarif aufhob und die französischen Erzeugnisse wieder nach dem Gebrauchstarif, d. h.

wie diejenigen der meistbegünstigten Nation behandelte.

Eine bestimmte Dauer wurde nicht vereinbart; jeder Teil kann daher seine Zölle erhöhen, wann und wie es ihm beliebt.

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Der Modus vivendi wurde aber immerhin als eine Wiederherstellung des kommerziellen Gleichgewichtes betrachtet, dessen Störung durch spätere Tarifänderungen des einen Teiles Gegenmaßregeln des ändern herbeiführen würde.

Zuerst drohte eine Gefahr von Seiten Frankreichs. Eine Krisis der Lyoner Seidenindustrie wurde vor einigen Jahren der Ausgangspunkt, einer wachsenden Propaganda für die Erhöhung der 1895 ermäßigten Zölle für Seidengewebe, so daß wir uns genötigt sahen, die französische Regierung zu benachrichtigen, daß wir die von jener Seite angestrebte Änderung als mit dem Abkommen völlig unvereinbar betrachten. Als ein Gesetzentwurf vor das Parlament gelangte, nahm die Deputiertenkammer eine Tagesordnung an, gemäß welcher zunächst die Beendigung der zwischen den mitteleuropäischen Staaten schwebenden Unterhandlungen über den Abschluß neuer Handelsverträge abgewartet werden sollte.

Infolge der Aufstellung unseres neuen Gebrauchstarifes und der auf dieser Grundlage abgeschlossenen neuen Handelsverträge mit dem Deutschen Reich und Italien sind nun aber wir selbst zu Änderungen genötigt, welche die Grundlagen des Abkommens von 1895 in Mitleidenschaft ziehen. Gemäß den Bestimmungen des ersterwähnten Vertrages muß nämlich unser neuer Gebrauchstarif am 1. Januar 1906 in Kraft gesetzt werden. Danach richtet sich, mit bezug auf die Zölle für die Einfuhr in die Schweiz, auch die Inkraftsetzung des Handelsvertrages mit Italien und des soeben mit Österreich-Ungarn vereinbarten Provisoriums.

Obschon der genannte Tarif nicht nur Erhöhungen, sondern auch manche erhebliche Ermäßigungen mit sich bringt und einen großen Teil der bisherigen Zölle unverändert läßt, erklärte uns die französische Regierung am 29. Juli d. J., daß sie die bevorstehende Umwandlung als dem Modus vivendi zuwider betrachte und übrigens bereit wäre, mit uns zum Zwecke einer neuen Verständigung sofort in Unterhandlung zu treten. Wir nahmen diese Einladung schon am folgenden Tage an, schlugen aber im Interesse eines raschen Fortschreitens der Unterhandlungen vor, zunächst auf schriftlichem Wege gegenseitig die Begehren auszutauschen, damit sie einer gründlichen Vorprüfung unterworfen werden könnten. Wir fügten bei, daß dieselben unserseits schon festgestellt seien und zum Austausch mit den französischen Begehren bereitgehalten werden. Der gleiche Modus hatte sich schon bei unsern Unterhandlungen mit den ändern Staaten als zweckmäßig bewährt. Unser Vorschlag wurde angenommen. Der

568 Beginn der Unterhandlungen schob sich aber aus verschiedenen Gründen hinaus. Einerseits verzögerte sich namentlich die Mitteilung der französischen Begehren, so daß der Austausch erst am 15. November erfolgen konnte; anderseits mußten sich unsere Unterhändler gegen Mitte Oktober nach Wien begeben, um die Unterhandlungen über einen neuen Handelsvertrag mit ÖsterreichUngarn aufzunehmen. Diese zogen sich in die Länge und mußten am 22. November unterbrochen werden. Da unsere Unterhändler nach ihrer Rückkehr von Wien noch durch Konferenzen betreffend die von Bern aus fortgesetzten Versuche einer Verständigung mit Österreich-Ungarn und sodann durch die Prüfung der französischen Begehren betreffend den schweizerischen Tarif in Anspruch genommen wurden, konnte dei1 Beginn der Unterhandlungen in Paris erst auf den 11. Dezember festgesetzt werden, zu spät, um auch im günstigsten Falle noch vor Jahresschluß zu einem Vertrage gelangen zu können.

Vom französischen Geschäftsträger in Bern wurde uns deshalb im Auftrage seiner Regierung am 29. November ein Modus vivendi für die Monate Januar und Februar vorgeschlagen, darin bestehend, daß die Schweiz, um den Preis des provisorischen Status quo in Frankreich, auf die Anwendung ihres neuen Gebrauchstarifes während der genannten Monate entweder ganz verzichten, oder aber, wenn dies unmöglich wäre, Frankreich tale quale die Zollermäßigungen einräumen würde, die in der Liste der französischen Begehren betreffend den abzuschließenden Handelsvertrag formuliert sind.

Obschon es unser Wunsch gewesen wäre, die .Kontinuität unseres Handelsverkehrs mit Frankreich, selbst mit bedeutenden Opfern, zu sichern, mußten wir die Annahme des einen wie des ändern Vorschlages als eine absolute Unmöglichkeit erklären.

Die Fortsetzung des status quo war durch unser neues Tarifund Vertragssystem völlig ausgeschlossen, und was eine auch nur provisorische Annahme aller von Frankreich formulierten Begehren betrifft, so kann hier nur so viel gesagt werden, daß diese letztern in ihrer Gesamtheit weder mit den Anforderungen unserer Finanzen, noch mit unsern wirtschaftlichen Zielen und mit der Billigkeit vereinbar sind.

In dem unverkennbaren Bestreben, einen vorzeitigen Bruch zu verhüten und für die Vereinbarung eines Definitivums Zeit zu gewinnen, suchte darauf die französische Regierung einen Modus vivendi auf autonomem Wege zu stände zu bringen. Sie legte den Kammern zu diesem Zwecke am 10. Dezember einen Gesetzentwurf

569 vor, nach welchem die uns 1895 eingeräumten Ermäßigungen des Minimaltarifes für die Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1906 aufgehoben und die Ansätze des ursprünglichen Minimaltarifes von 1892 wieder hergestellt werden. Für unsere wichtigsten Exportartikel bedeutet dies einerseits eine äußerst empfindliche Verschlimmerung des Status quo, anderseits aber allerdings auch eine Abwehr der Gesetzentwürfe, welche dem Parlament in der letzten Zeit, auf Betreiben der protektionistischen Vertreter der Seidenweberei und der Stickerei, zum Zwecke eines noch viel weitergehenden Schutzes ihrer Erzeugnisse vorgelegt worden bind.

Die genannte Regierungsvorlage hat am 14. Dezember die Sanktion der Deputiertenkammer, am 15. Dezember diejenige des Senates erlangt.

Die Regierung hatte uns von ihrem Projekt am Tage der Deponierung desselben Kenntnis gegeben, und wir waren genötigt, dazu Stellung o zu nehmen.

Wir standen vor derselben Alternative wie im Jahre 1892, als der von Frankreich gekündete Handelsvertrag von 1882 außer Kraft trat und an die Stelle der darin enthaltenen Zollvereinbarungen für die Einfuhr in Frankreich der kurz vorher aufgestellte höhere Minimaltarif treten sollte, derselbe, über den wir uns auch jetzt wieder auszusprechen haben.

Damals mußte, wie heute, gleichzeitig mit dem neuen französischen Tarif ein erhöhter schweizerischer Gebrauchstarif, fußend auf dem Generaltarif von 1891 und den neuen Handelsverträgen mit Deutschland und Österreich-Ungarn, in Kraft gesetzt werden. Auch war man ebenfalls in Unterhandlungen über einen definitiven Vertrag begriffen, und wollte, in der Hoffnung, daß sie zum Ziele führen werden, einen handelspolitischen Konflikt mit dem Nachbarreiche vermeiden, so sehr auch eine Vergleichung der beiden Tarife zur Abwehr aufforderte. Man hatte sich damals in der Hoffnung auf ein Definitivum allerdings getäuscht. Ein Komplex von Verträgen und tarifarischen Abmachungen kam im Sommer jenes Jahres zwar zu stände, wurde aber mit beäug auf die letztern, die für die Schweiz am wichtigsten waren, in der französischen Deputiertenkammer kurz vor Jahresschluß abgelehnt, weshalb der Konflikt, den mau vermeiden wollte, am 1. Januar 1893 doch zum Ausbruch kam.

B'.mdcsblatt. 57. Jahrg. Bd. VI.

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570 Diese Erfahrung hat uns nicht abgehalten, unter ähnlichen Erwägungen wie damals, der französischen Regierung mitzuteilen, daß wir nach Einsichtnahme von ihrem Gesetzentwürfe und in dem Bestreben, die eingeleiteten Unterhandlungen zu erleichtern, Sie um die Ermächtigung ersuchen werden, vom 1. Januar bis 1. April 1906 auf französische Erzeugnisse unsern Gebrauchstarif anzuwenden.

Wir haben uns hierzu entschlossen, weil wir uns, abgesehen von dem schon angeführten Grunde, sagen müssen, daß das Provisorium, um das es sich handelt, einen Übergang bilden werde, dem ein sofortiger Bruch mit allen seinen Folgen in keiner Weise vorzuziehen wäre.

Wir fügen bei, daß die am 12. Dezember in Paris begonnenen Unterhandlungen wegen der bevorstehenden parlamentarischen Neuwahlen, die einen Teil der Mitglieder der französischen Delegation in Anspruch nehmen werden, am 19. Dezember für kurze Zeit unterbrochen worden sind.

Indem wir Ihnen im übrigen den beigelegten Entwurf eines Bimdesbeschlusses zur Geuehmigung empfehlen, erneuern wir Ihnen, Tit., den Ausdruck unserer vorzüglichen Hochachtung.

B e r n , den 20. Dezember 1905.

Im Namen des Schweiz. ßunclesrates> Der Bundespräsident:

Rächet.

Der I. Vizekanzler: Schutzmann.

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(Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht 1. eines von der französischen Kammer am 14. Dezember, vom Senat am 15. Dezember angenommenen Gesetzes betreffend die Modifikation des Minimalzolltarifes für die Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1906; 2. einer Botschaft des Bundesrates vom 20. Dezember 1905, beschließt: Der Bundesrat wird ermächtigt, auf französische Erzeugnisse während der Zeit vom 1. Januar bis 1. April 1906 den Gebrauchstarif anzuwenden.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich. (Vom 20. Dezember 1905.)

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27.12.1905

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