10.090 Botschaft zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» vom 1. Oktober 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die eidgenössische Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» Volk und Ständen mit der Empfehlung zu unterbreiten, die Volksinitiative abzulehnen.

Gleichzeitig unterbreiten wir Ihnen einen direkten Gegenentwurf zu dieser Volksinitiative mit dem Antrag, diesem Gegenentwurf zuzustimmen und ihn Volk und Ständen gleichzeitig mit der Volksinitiative mit der Empfehlung zu unterbreiten, dem Gegenentwurf zuzustimmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

1. Oktober 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2010-1186

6963

Übersicht Die am 11. August 2009 eingereichte Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» ist mit 108 579 gültigen Unterschriften zustande gekommen. Sie schlägt vor, das obligatorische Referendum für völkerrechtliche Verträge erheblich auszuweiten. Gemäss Initiativtext sollen dem obligatorischen Referendum völkerrechtliche Verträge unterliegen, die eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung in wichtigen Bereichen herbeiführen, die Schweiz verpflichten, zukünftige rechtsetzende Bestimmungen in wichtigen Bereichen zu übernehmen, Rechtsprechungszuständigkeiten in wichtigen Bereichen an ausländische oder internationale Institutionen übertragen oder neue einmalige Ausgaben von mehr als 1 Milliarde Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 100 Millionen Franken nach sich ziehen.

Der Bundesrat anerkennt das Bemühen der Initiative, dem Stimmvolk im Bereich der Aussenpolitik mehr Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen. Er ist aber der Ansicht, dass sie zu weit geht. Die Einbeziehung des Volkes und der Kantone in die Aussenpolitik soll auf völkerrechtliche Verträge mit verfassungsrechtlicher Tragweite beschränkt bleiben. Zahlreiche Verträge haben aber für die Öffentlichkeit weniger bedeutende Inhalte zum Gegenstand. Zudem lässt der Initiativtext aufgrund seiner Unbestimmtheit einen derart weiten Interpretationsspielraum offen, dass nur eine lange Praxis mit der Zeit Rechtssicherheit herbeiführen könnte. Auch würde die schweizerische Aussenpolitik nicht an Legitimität gewinnen. Eine zwingende Beteiligung von Volk und Ständen ist dagegen nur in jenen seltenen Fällen angezeigt, in welchen der Bund eine Selbstbindung seiner politischen Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit hinnehmen will, aus der Überzeugung heraus, dass die Unterwerfung unter ein staatsvertragliches Regime den Interessen des Landes und seiner Bevölkerung entspricht. Es drängt sich nicht auf, den Kantonen ein Vetorecht in der Aussenpolitik zu erteilen, da diese bereits über ausreichende Mittel verfügen, um sich Gehör zu verschaffen. Schliesslich würde der aussenpolitische Handlungsspielraum des Bundes unnötig beschränkt, was dem Ruf und der Glaubwürdigkeit der Schweiz auf der internationalen Bühne schaden würde.

Auch wenn der Bundesrat die Ablehnung der Volksinitiative beantragt,
anerkennt er das berechtigte Anliegen, dass die direktdemokratischen Instrumente in der Aussenpolitik zu optimieren sind. Mit seinem direkten Gegenentwurf beantragt er daher die Verankerung eines obligatorischen Referendums für Staatsverträge, die von derartiger Bedeutung sind, dass ihnen Verfassungsrang zukommt.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 1.1 Wortlaut der Initiative 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit

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2 Ausgangslage für die Entstehung der Volksinitiative 2.1 Das Staatsvertragsreferendum in der Bundesverfassung 2.1.1 Regelung vor der Totalrevision der Bundesverfassung 2.1.2 Totalrevision der Bundesverfassung und Reform der Volksrechte 2.1.3 Ungeschriebenes Verfassungsrecht 2.2 Gescheiterte Reformvorschläge

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3 Ziel und Zweck der Initiative

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4 Würdigung der Initiative 4.1 Erweiterung der direkten Demokratie bei Staatsverträgen 4.1.1 Mehr Volksabstimmungen 4.1.2 Mehr Mitsprache 4.2 Auslegungsspielraum des Initiativtextes 4.2.1 Wichtigkeit eines Staatsvertrages 4.2.2 Unbestimmte Tatbestandsmerkmale 4.2.3 Risiken einer ungefestigten Verfassungspraxis 4.3 Politische Bedeutung der Initiative 4.3.1 Legitimationsgewinn für die Aussenpolitik?

4.3.2 Privilegierung der Kantone 4.3.3 Aussenpolitische Handlungsfreiheit

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5 Direkter Gegenentwurf

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6 Kommentar 6.1 Formale Überlegungen 6.2 Inhaltliche Aspekte 6.3 Denkbare Anwendungsfälle 6.4 Finanzielle Auswirkungen der Initiative und des direkten Gegenentwurfs

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7 Schlussfolgerungen

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Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» (Entwurf)

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Bundesbeschluss über das obligatorische Referendum für Staatsverträge mit Verfassungsrang (Gegenentwurf zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik [Staatsverträge vors Volk!]») (Entwurf)

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Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» hat folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 140 Abs. 1 Bst. d (neu) 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: d.

die völkerrechtlichen Verträge, die: 1. eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung in wichtigen Bereichen herbeiführen, 2. die Schweiz verpflichten, zukünftige rechtsetzende Bestimmungen in wichtigen Bereichen zu übernehmen, 3. Rechtsprechungszuständigkeiten in wichtigen Bereichen an ausländische oder internationale Institutionen übertragen, 4. neue einmalige Ausgaben von mehr als 1 Milliarde Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 100 Millionen Franken nach sich ziehen.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)» wurde am 19. Februar 20082 von der Bundeskanzlei vorgeprüft und am 11. August 2009 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 1. September 2009 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 108 579 gültigen Unterschriften formell zustande gekommen ist3.

Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Da der Bundesrat einen direkten Gegenentwurf zur Volksinitiative vorschlägt, muss er gemäss Artikel 97 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20024 (ParlG) der Bundesversammlung spätestens am 11. Februar 2011 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 11. Februar 2012 über die Volksinitiative und den Gegenentwurf zu beschliessen.

1 2 3 4

SR 101 BBl 2008 1485 BBl 2009 6057 SR 171.10

6966

1.3

Gültigkeit

Die Volksinitiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung5: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Volksinitiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Volksinitiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie.

c.

Die Volksinitiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

Die Volksinitiative ist deshalb als gültig zu erklären.

2

Ausgangslage für die Entstehung der Volksinitiative

2.1

Das Staatsvertragsreferendum in der Bundesverfassung

2.1.1

Regelung vor der Totalrevision der Bundesverfassung

Die Unterstellung von Staatsverträgen unter das Referendum wurde erstmals 1921 in der Bundesverfassung (BV) verankert; Ursache dafür war eine Volksinitiative, die das fakultative Referendum für unbefristete oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossene Staatsverträge verlangte6.

Das Staatsvertragsreferendum wurde 1977 grundlegend revidiert7: Das fakultative Referendum wurde ausgedehnt auf Staatsverträge, die den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder die eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen. Neu eingeführt wurde zudem ein obligatorisches Referendum für den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften oder zu Organisationen der kollektiven Sicherheit. Anlass für diese Reform waren ­ neben anderen parlamentarischen Vorstössen ­ zwei gleichlautende Motionen und eine von der Nationalen Aktion im März 1973 eingereichte Volksinitiative. Bereits damals wurde erwogen, ob Staatsverträge mit verfassungsähnlichem Inhalt dem obligatorischen Referendum unterstellt werden sollten; Bundesrat und Parlament verfolgten diesen Weg aber nicht weiter, sondern gaben der Lösung den Vorzug, die nur für zwei konkrete Fälle ­ eben den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften und zu Organisationen der kollektiven Sicherheit ­ ein obligatorisches Referendum vorsah. Diese zwei Konstellationen wurden damals als die «am weitest reichenden und am schwersten wiegenden aussenpolitischen Entscheide» qualifiziert8.

5 6 7

8

SR 101 BBl 1974 II 1134 ff. mit einer umfassenden Darstellung der Vorgeschichte.

Siehe dazu Zellweger, Valentin, Die demokratische Legitimation staatsvertraglichen Rechts, in: Cottier/Achermann/Wüger/Zellweger (Hrsg.), Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht, Bern 2001, S. 251 ff., S. 282.

BBl 1974 II 1155; siehe dazu auch Zellweger, a.a.O., S. 284.

6967

2.1.2

Totalrevision der Bundesverfassung und Reform der Volksrechte

Im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung wurde das Staatsvertragsreferendum erneut einer kritischen Überprüfung unterzogen. Für das obligatorische Referendum ­ für das es bis heute einen konkreten Anwendungsfall gegeben hat9 ­ wurde kein Reformbedarf angenommen; es wurde unverändert in die neue Bundesverfassung übernommen (Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV). Indessen ging der Bundesrat davon aus, dass das fakultative Referendum mit gewissen Mängeln behaftet sei, weil nicht alle wichtigen Staatsverträge dem Referendum unterstehen: «Die Stimmberechtigten können sich also teilweise zum Abschluss bedeutender Staatsverträge nicht äussern, was unter demokratischen Gesichtspunkten nicht befriedigen kann.

Daneben besteht die Gefahr von widersprüchlichen Entscheiden, welche die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz gefährden.»10 Aus diesem Grund wurde unter anderem vorgeschlagen, dass neu in einem einzigen, dem Referendum unterstellten Bundesbeschluss ein Staatsvertrag genehmigt und die dafür nötige Umsetzungsgesetzgebung beschlossen werden kann11.

In der Vernehmlassungsvorlage zur Reform der Volksrechte hatte der Bundesrat vorgeschlagen, die bisherige Regelung des fakultativen Staatsvertragsreferendums ­ unter Erhöhung der Unterschriftenzahl auf 100 000 ­ in den Grundzügen beizubehalten. Allerdings war er auch der Meinung, «dass im Bereich des fakultativen Staatsvertragsreferendums Änderungsbedarf besteht und eine Erweiterung des Staatsvertragsreferendums angezeigt ist»12. Die direkt-demokratische Mitwirkung sollte dort möglich sein, «wo über Grundsätzliches und Wichtiges entschieden wird»13. In die Vernehmlassung schickte er den Vorschlag, die bisherige Regelung der Referendumspflichtigkeit von Staatsverträgen, die eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen, durch eine Bestimmung zu ersetzen, wonach jene Staatsverträge dem fakultativen Referendum unterstehen würden, die «rechtsetzende Normen enthalten oder zum Erlass von Bundesgesetzen oder allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen verpflichten». Aufgrund der Vernehmlassungsergebnisse kam er aber zum Schluss, dass dieser Vorschlag zu weit gehen würde, weil alle Staatsverträge rechtsetzenden Inhalts ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung dem fakultativen Referendum unterstellt würden14. Er schlug daher vor, die bisherige Lösung der multilateralen Rechtsvereinheitlichung beizubehalten und zusätzlich eine 9

10 11 12 13 14

Der zuerst an der Urne gescheiterte Beitritt zur UNO wurde dem obligatorischen Referendum unterstellt, weil es sich bei der UNO um eine Organisation für kollektive Sicherheit handelt (siehe BBl 1982 I 583). Im zweiten Anlauf erfolgte der Beitritt über die ­ als Teilrevision der Bundesverfassung gemäss Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV dem obligatorischen Referendum unterstehende ­ Aufnahme von Art. 197 Ziff. 1 BV. Im Falle des EWR kam der Bundesrat zum Schluss, dass die Voraussetzungen des damaligen Art. 89 Abs. 5 BV nicht erfüllt seien, dass der Bundesbeschluss aber aus politischen Gründen dennoch der Abstimmung durch Volk und Stände unterstellt werden sollte; siehe BBl 1992 IV 541.

BBl 1997 I 470 Heute Art. 141a BV.

BBl 1997 I 472 A.a.O.

A.a.O. Unter anderem erwähnte der Bundesrat, dass die in die Vernehmlassung geschickten Vorschläge auch dazu führen würden, dass zahlreiche «nicht referendumswürdige Verträge (...) wie z.B. direkt anwendbare bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen» ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung dem fakultativen Referendum zu unterstellen wären.

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Bestimmung aufzunehmen, wonach Staatsverträge dem fakultative Referendum unterstehen, «deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen (...) erfordert, die Rechte und Pflichten Privater begründen». Mit dieser Formulierung wurde bewusst eine Begrenzung auf «wichtige Normen» angestrebt15. Ebenso bewusst sollten nur Anpassungen des Bundesrechts, nicht aber auch des kantonalen Rechts, berücksichtigt werden, da die Kantone «über andere, geeignetere Möglichkeiten [verfügen], an den aussenpolitischen Entscheiden des Bundes mitzuwirken»16. Beibehalten wurde schliesslich die optionale Möglichkeit der Bundesversammlung, weitere Staatsverträge dem Referendum zu unterstellen.

Nachdem die bundesrätlichen Vorschläge für die Reform der Volksrechte 1999 in den Eintretensdebatten beider Kammern scheiterten, griff die Staatspolitische Kommission des Ständerates das Thema mit einer parlamentarischen Initiative wieder auf17. Es wurde u.a. vorgeschlagen, beim fakultativen Staatsvertragsreferendum anstelle des Kriteriums der multilateralen Rechtsvereinheitlichung darauf abzustellen, ob der fragliche Staatsvertrag wichtige rechtsetzende Bestimmung enthalte oder ob er zum Erlass von Bundesgesetzen verpflichte. Damit sollte ein System verankert werden, «das sowohl die Mitspracherechte des Volkes wie auch die Glaubwürdigkeit der Schweiz als völkerrechtlicher Partner sicherstellt»18. Die Formulierung ging auf Vorschläge der nationalrätlichen Verfassungskommission zurück, gegen die sich der Bundesrat damals allerdings noch gewehrt hatte. Auch dem neuen Vorschlag der SPK-S wollte sich der Bundesrat nicht bedingungslos anschliessen19, doch blieb seine Opposition erfolglos. Mit einer sprachlichen und inhaltlichen Nuancierung20 wurde die neue Ziffer 3 von Artikel 141 Absatz 1 BV von der Bundesversammlung angenommen und konnte als neuer Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV am 1. August 2003 in Kraft treten. Leitmotiv dieser Neuerung war, dass die Volksrechte im Bereich der Staatsverträge möglichst in gleicher Weise zum Tragen kommen sollten wie in der innerstaatlichen Gesetzgebung (sog. Parallelismus) ­ nicht die Form (Gesetz oder Staatsvertrag), sondern die normativen Inhalte sollten massgeblich sein: «Was nach Artikel 164 BV «wichtig» ist und in einem referendumsfähigen Gesetz geregelt werden muss, ist im Falle eines
internationalen Vertrages auch nach Artikel 141 BV «wichtig» und soll dem fakultativen Referendum unterstellt werden.»21 Nachdem die Anwendung der neuen Verfassungsnormen kurz nach ihrem Inkrafttreten noch verschiedene Interpretationsfragen aufgeworfen hatte22, kann die mittlerweile entwickelte Praxis von Bundesrat und Bundesversammlung insgesamt als gefestigt gelten. Fundamentale Meinungsverschiedenheiten oder öffentliche Auseinandersetzungen über die Frage, ob ein Staatsvertrag dem Referendum zu un15 16 17 18 19 20

21

22

A.a.O., S. 473 A.a.O., S. 474 Parlamentarische Initiative SPK-S vom 29. Juni 1999, «Beseitigung von Mängeln der Volksrechte» (99.436).

Bericht SPK-S vom 2. April 2001, BBl 2001 4825.

Stellungnahme des Bundesrates vom 15. Juni 2001, BBl 2001 6092.

Die SPK sprach von Staatsverträgen, die «zum Erlass von Bundesgesetzen verpflichten».

Die definitive, auf die parlamentarische Beratung zurückgehende Fassung spricht von Staatsverträgen, «deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert».

Begründung zur Motion der SPK-N vom 22. April 2004 «Fakultatives Staatsvertragsreferendum. Parallelismus von staatsvertraglicher und innerstaatlicher Rechtsetzung» (04.3203).

Siehe dazu die Gutachten und Berichte des Bundesamtes für Justiz, in: VPB 68.83 und VPB 69.75.

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terstellen ist, sind nicht aufgetreten23. Davon ist allerdings die Diskussion um die sogenannten «Standardabkommen»24 auszunehmen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit im Zusammenhang vor allem mit den neu verhandelten Doppelbesteuerungsabkommen in Zweifel gezogen wurde. Der Bundesrat ist bekanntlich von seiner ursprünglich geäusserten Meinung abgerückt und hat für alle neu verhandelten Doppelbesteuerungsabkommen die Unterstellung unter das fakultative Referendum beantragt25; die Räte sind ihm in diesem Punkt gefolgt26. Es scheint dem Bundesrat aus Kohärenzgründen angezeigt, diese neue Praxis auch in den übrigen Bereichen zum Tragen zu bringen.

2.1.3

Ungeschriebenes Verfassungsrecht

Die Bundesbehörden und ein Teil der Lehre anerkennen ein (ungeschriebenes) obligatorisches Referendum sui generis, das dann zum Zuge kommen könnte, «wenn der in Frage stehende Staatsvertrag von derartiger Bedeutung ist, dass ihm Verfassungsrang zukommt.»27 Bundesrat und Bundesversammlung haben beispielsweise geprüft, ob man dem Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen allenfalls Verfassungsrang zubilligen müsste. Weil dieses aber «zu keiner tiefgreifenden Änderung unseres Staatswesens führt und mithin auch nicht die verfassungsmässige Ordnung tangiert»28, wurde die Unterstellung unter ein obligatorisches Referendum sui generis verneint. Auf diesen Referendumstyp soll unter Ziffern 5 näher eingegangen werden.

23

24

25 26

27 28

Hingewiesen werden soll aber darauf, dass sich beim Erlass des Geoinformationsgesetzes vom 5. Oktober 2007 (SR 510.62) erstmals die Frage gestellt hat, ob das Parlament dem Bundesrat den Abschluss unkündbarer Staatsverträge (die daher eigentlich dem fakultativen Referendum unterstünden) über den Verlauf der Landesgrenzen delegieren dürfe.

Der Bundesrat war der Auffassung, «dass eine Delegation der Abschlusskompetenz in diesem genau bestimmbaren Bereich zulässig ist, wenn die Delegation sich auf Verträge beschränkt, die nur Grenzbereinigungen oder andere geringfügige Gebietsveränderungen betreffen» (BBl 2006 7863). Die Räte sind dieser Auffassung diskussionslos gefolgt. Zum Thema der unkündbaren Staatsverträge siehe auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 20. Mai 2009 zur Interpellation der Schweizerischen Volkspartei vom 20. März 2009 (09.3256, «Unkündbare völkerrechtliche Verträge»), wo der Bundesrat neben den Grenzbereinigungsverträgen die beiden UNO-Pakte über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte bzw. über bürgerliche und politische Rechte erwähnt, die wegen ihrer Unkündbarkeit dem Referendum unterstellt wurden (siehe AS 1993 724 und AS 1993 747).

Bundesrat und Parlament sind dazu übergegangen, staatsvertragliche Bestimmungen dann nicht als wichtig einzustufen, wenn sie im Wesentlichen dem Verpflichtungsniveau einer grossen Zahl vergleichbarer Verträge entsprechen, welche die Schweiz abgeschlossen hat.

Für solche Abkommen hat sich der Begriff «Standardabkommen» etabliert. Bislang sind solche «Standardabkommen» lediglich auf den Gebieten des Freihandels, der Doppelbesteuerung und der sozialen Sicherheit in Erscheinung getreten.

Die erste Botschaft betraf das Doppelbesteuerungsabkommen mit Dänemark, BBl 2010 100.

Der Ständerat hat am 17. März 2010 die Bundesbeschlüsse zu den Abkommen mit Frankreich, Grossbritannien und Nordirland, Mexiko, Dänemark und den USA genehmigt und dem fakultativen Referendum unterstellt (AB 2010 S 284); der Nationalrat hat am 10. Juni 2010 den Bundesbeschlüssen zugestimmt. Zehn Doppelbesteuerungsabkommen sind in der Schlussabstimmung vom 18. Juni 2010 von beiden Kammern angenommen und dem fakultativen Referendum unterstellt worden (siehe BBl 2010 4343 ff.).

BBl 2004 6288 f. mit weiteren Hinweisen auf Lehre und Praxis.

A.a.O., S. 6290

6970

2.2

Gescheiterte Reformvorschläge

Auch nach der Reform der Volksrechte im Jahr 2002 wurden verschiedene Korrekturen am Staatsvertragsreferendum angeregt. So verlangte etwa Nationalrat Zisyadis mit einer parlamentarischen Initiative, dass der Beitritt zum Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS)29 dem obligatorischen Referendum zu unterstellen sei30. Die Mehrheit der vorberatenden Kommission lehnte diese Initiative ab; sie wies darauf hin, dass das obligatorische Referendum nur dann angezeigt wäre, wenn ein Staatsvertrag automatische Anpassungen des Landesrechts bewirken würde, was aber beim GATS nicht der Fall sei: «Das GATS schafft nicht automatische Rechtsanpassungen, es schafft nur Möglichkeiten, die gesetzliche Anpassungen erlauben würden, die dann ohnehin in der Regel dem fakultativen Referendum unterstellt werden. (...) Die Logik bezüglich Staatsvertragsreferenden lautet so, dass nur dann, wenn unabänderliche Rechtsanpassungen automatisch akzeptiert werden müssen, das obligatorische Referendum vorgesehen ist. Wenn dies nicht der Fall ist, dann ist das obligatorische Referendum von der Verfassung her nicht gerechtfertigt.»31 Das Ratsplenum lehnte die Initiative am 19. Juni 2006 ab.

Am 17. Juni 2005 reichte die SVP-Fraktion die parlamentarische Initiative «Mehr Demokratie in der Aussenpolitik. Ausweitung des Staatsvertragsreferendums» (05.426) ein. Die Initiative verlangte die Streichung von Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV und die Ergänzung von Artikel 140 Absatz 1 BV um einen neuen Buchstaben d, wonach Volk und Ständen völkerrechtliche Verträge zu unterbreiten sind, die «1. unbefristet und unkündbar sind; 2. den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen; 3. wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten, deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert oder die anderweitige Auswirkungen auf die Souveränität, die Unabhängigkeit des Landes oder die Volksrechte enthalten.» Die SVP-Fraktion forderte, dass Volk und Stände über alle wichtigen völkerrechtlichen Verträge, Abkommen, Konventionen und Programme ­ welche praktisch immer die Souveränität und die Unabhängigkeit des Landes tangieren bzw. einschränken sowie die Rechte des Volkes schmälern ­ abstimmen sollen. Die SPK-N beantragte mit 11:5 Stimmen, der Initiative keine Folge zu geben. Der Nationalrat schloss sich dem Kommissionsantrag
am 6. März 2007 an. Begründet wurde diese Haltung mehrheitlich damit, dass keine erneute Novellierung des Staatsvertragsreferendums nötig sei, dass die Initiative den angestrebten und mittlerweile verwirklichten Grundsatz des Parallelismus von nationalem und internationalem Recht untergrabe und dass die Initiative zwingend zu etwa zehn zusätzlichen Abstimmungsvorlagen pro Jahr führen würde, die zudem in der Mehrzahl kaum bestritten wären32.

29 30 31 32

Anhang 1.B zum Abkommen vom 15. April 1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation (SR 0.632.20) Parlamentarische Initiative 05.407 vom 18. März 2005 «GATS. Obligatorisches Referendum».

AB 2006 N 980 (Schlüer) AB 2007 N 54

6971

Zwei im Jahr 2009 von Nationalrat Reimann eingereichte parlamentarische Initiativen verlangten eine Änderung des allgemeinen Referendumsregimes33: Einerseits soll ein ausserordentliches fakultatives Referendum eingeführt werden, mit dem eine qualifizierte Minderheit (z.B. ein Drittel) eines Rates verlangen könnte, dass ein nicht dem fakultativen Referendum unterstehender Erlass oder Beschluss dem fakultativen Referendum unterstellt wird. Andererseits soll ein Ratsreferendum einer qualifizierten Minderheit des Rates (ebenfalls beispielsweise ein Drittel) erlauben, einen dem fakultativen Referendum unterstehenden Erlass der Volksabstimmung zu unterstellen34. Auf Antrag der vorberatenden SPK-N hat der Nationalrat am 15. März 2010 beschlossen, den beiden Initiativen keine Folge zu geben35.

3

Ziel und Zweck der Initiative

Das Initiativkomitee geht gemäss seinen eigenen Darstellungen36 von der Annahme aus, dass bei den Volksrechten wesentliche Defizite bestehen und dass die Bürgerinnen und Bürger «bei vielen wichtigen politischen Weichenstellungen nicht oder nur ungenügend mitbestimmen» können. Die Volksinitiative versteht sich als Gegengewicht zu den Tendenzen, die direkte Demokratie einzuschränken, und soll insbesondere «den schleichenden Beitritt zur EU sowie zu anderen internationalen Machtgebilden» und die «Aushebelung» der Volksrechte durch internationale Verträge und durch fremdes Recht verhindern. Eine Stärkung der Volksrechte gerade auch in aussenpolitischen Fragen sei für den Wohlstand des Landes unerlässlich.

Völkerrechtliche Verträge in wichtigen Bereichen sollen deshalb dem obligatorischen Referendum unterstehen, für das auch ein Ständemehr erforderlich wäre. Die geltende Verfassungslage, die ein obligatorisches Referendum nur für den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften und zu Organisationen für kollektive Sicherheit vorsieht, wird von den Initiantinnen und Initianten als ungenügend bewertet. Dass die Kantone, die oft direkt betroffen seien, bei Staatsverträgen nichts zu sagen hätten, wird als Missstand dargestellt, den die Volksinitiative korrigiert. Weiter sollen die Volksrechte durch die Initiative eine «Kampfwertsteigerung»37 erfahren.

Faktisch werde heute der «Zugang zu den direktdemokratischen Instrumenten» etwa «durch die briefliche Abstimmung, durch das E-Voting, durch bürokratische Hürden 33 34

35

36

37

09.443 und 09.444 Das sogenannte fakultative Ratsreferendum wurde 2003 mit der neuen Bundesverfassung abgeschafft (die bis dahin geltende Bestimmung ­ Art. 89 Abs. 4 aBV ­ lautete wie folgt: «Durch Beschluss beider Räte können weitere völkerrechtliche Verträge Absatz 2 unterstellt werden.»).

AB 2010 N 397. Für die Kommission analysierte Nationalrätin Humbel die beiden Initiativen wie folgt: «Die Kommissionsmehrheit sieht in beiden Initiativen nicht eine Stärkung der Demokratie, der Volksrechte, wie es die Titel versprechen, sondern eine Änderung des bestehenden Gleichgewichts zwischen Volk und Parlament, eine Stärkung von Minderheiten gegenüber Mehrheiten. In unserem bewährten demokratischen System, das auf Mehrheitsbeschlüssen basiert, wäre es heikel, wenn Mehrheiten von Minderheiten majorisiert würden. Zudem würde das Parlament mit beiden Initiativen geschwächt, denn auch das Parlament ist Teil unserer direkten Demokratie: Das Parlament ist vom Volk gewählt und nimmt die unterschiedlichen Interessen des Volkes wahr.» Die nachfolgenden Aussagen und Erläuterungen stammen ­ wo nicht anders angemerkt ­ aus den Unterlagen, die anlässlich der Pressekonferenz vom 11. August 2009 veröffentlicht wurden und die sich auf der Website der AUNS (www.auns.ch/medien.php) finden.

Hans Fehr, Wie wirkt die Staatsvertrags-Initiative? Manuskript der Pressekonferenz vom 11. August 2009.

6972

beim Unterschriftensammeln und durch erhöhte Unterschriftenzahlen» erschwert.

Das neue obligatorische Referendum würde daher auch das aufwendige Sammeln von Unterschriften erübrigen, womit die personellen und finanziellen Mittel auf den Abstimmungskampf konzentriert werden könnten.

Die «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (AUNS) führt einzelne Beispiele aus der Vergangenheit an, die unter das neue Staatsvertragsreferendum gefallen wären. So wird etwa betont, dass die Schengen-/Dublin-Assoziierungsabkommen dem von der Initiative geforderten neuen obligatorischen Referendum unterstanden wären, weil sie zur Übernahme fremden Rechts verpflichten würden; an der Urne wäre der Beitritt aber aufgrund des fehlenden Ständemehrs gescheitert.

Zur Illustration werden verschiedene Sachgebiete erwähnt, in denen die Schweiz zurzeit Verhandlungen über Staatsverträge ­ in allerdings unterschiedlich fortgeschrittenem Zustand ­ führt und die dereinst unter das neue Referendumsregime fallen müssten. So wären nach Auffassung der Initiantinnen und Initianten die Bundesbeschlüsse in Zusammenhang mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EG und ihren Mitgliedstaaten (Verlängerung und Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien) neu dem obligatorischen Referendum unterstellt wie auch der Beschluss über die Kohäsionsmilliarde38. In Zukunft würden beispielsweise ein allfälliges Rahmenabkommen mit der EU, die Verträge über den Dienstleistungsverkehr, den Agrar-, Lebensmittel- und Gesundheitsbereich oder ein Abkommen im Elektrizitätsbereich mit der EU unter das neue Referendumsregime fallen. Weiter erwähnt das Initiativkomitee heute wohl wenig aktuelle Beispiele wie den Beitritt der Schweiz zu einer Zollunion oder zur weiteren Veranschaulichung nicht mehr aktuelle Fälle wie den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zu anderen multilateralen Menschenrechtsverträgen sowie zum WTO-Abkommen39.

Der Entscheid des Bundesrates, in Abkehr von seiner ursprünglichen Haltung nun doch alle Doppelbesteuerungsabkommen mit dem neu am OECD-Musterabkommen orientierten Amtshilferegime dem fakultativen Referendum zu unterstellen, hat die AUNS auch ihrer Volksinitiative zugeschrieben, die damit präventive Wirkungen entfaltet haben soll40. Nach Auffassung des Initiativkomitees müssten diese Doppelbesteuerungsabkommen aber dereinst dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden.

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39

40

Festzuhalten ist, dass die Grundzüge der Kohäsionsleistungen der Schweiz in einem Dokument festgehalten wurden, das keinen Staatsvertrag darstellt (siehe BBl 2007 527).

Staatsvertraglich geregelt sind indessen die konkreten Leistungen, welche die Schweiz bilateral mit den jeweiligen Mitgliedstaaten der EU vereinbart hat.

Die AUNS erwähnt auch die Auslandseinsätze der Armee, die dem obligatorischen Referendum unterstellt sein müssten. Allerdings sind diese Einsätze nicht staatsvertraglich geregelt und würden daher nicht unter den neuen Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe d BV fallen. 2008 erwähnte die AUNS noch, dass zu diesem Thema eine separate Volksinitiative geprüft werde.

Presse-Mitteilung der AUNS vom 27. September 2009.

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4

Würdigung der Initiative

4.1

Erweiterung der direkten Demokratie bei Staatsverträgen

Die Volksinitiative will die direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten in der Aussenpolitik substanziell ausbauen. Vordergründig hätte eine Annahme der Initiative zuerst zur Folge, dass über mehr Staatsverträge eine Volksabstimmung durchzuführen wäre als bisher. Damit wird aber auch erreicht, dass sich die Stimmbürgerschaft zu mehr aussenpolitischen Entscheidungen verbindlich äussern kann, als dies heute der Fall ist.

4.1.1

Mehr Volksabstimmungen

Volksabstimmungen über Staatsverträge stellen quantitativ die Ausnahme dar. Seit 1976 sind zwei Staatsverträge dem obligatorischen Referendum unterstellt worden, die beide in der Abstimmung sowohl am fehlenden Volks- wie am nicht erreichten Ständemehr scheiterten41. Im gleichen Zeitraum wurden 166 Staatsverträge dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt42. Seit der Neuregelung des Staatsvertragsreferendums im Jahre 1977 wurde das Referendum nur in wenigen Fällen ergriffen; betroffen waren nahezu ausschliesslich Staatsverträge im Verhältnis zur Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten43. In einem weiteren Fall ­ Beitritt zur WTO ­ kam ein angekündigtes Referendum nicht zustande44.

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42

43 44

Bundesbeschluss vom 14. Dezember 1984 über den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (BBl 1984 III 1464); Bundesbeschluss vom 9. Oktober 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (BBl 1992 VI 56). Im Falle des EWR ging der Bundesrat davon aus, dass die expliziten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Unterstellung unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum zwar nicht erfüllt seien, dass eine obligatorische Abstimmung durch Volk und Stände aber namentlich wegen früherer Präjudizien sowie wegen den zusammen mit der Genehmigung des Staatsvertrages vorgesehenen Anpassungen der Bundesverfassung nötig sei (BBl 1992 IV 541).

Biaggini, Giovanni, BV-Kommentar, Zürich 2007, Art. 141 N 21 zählt sieben Volksabstimmungen bis Ende 2006. Thürer, Daniel, St. Galler BV-Kommentar, Zürich/ St. Gallen 2008, Art. 141 N 25 und 28, erwähnt für die Jahre 1977 ­ 2007 24 unkündbare oder unbefristete Abkommen und 34 Abkommen, die den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsahen. Für das 2003 neu geregelte fakultative Referendum werden bis Ende 2007 58 Abkommen erwähnt.

Ein weiterer Fall war der Beitritt zu den Institutionen von Bretton Woods, über den am 17. Mai 1992 abgestimmt wurde (BBl 1992 V 453).

Bundesbeschluss vom 16. Dezember 1994 über die Genehmigung der in den Multilateralen Handelsverhandlungen unter der Aegide des GATT (Uruguay-Runde) abgeschlossenen Abkommen (BBl 1995 II 669).

6974

Untersucht man die Praxis der letzten Jahre, so ergibt sich das folgende Bild: Staatsvertragspraxis

2006

2007

2008

2009

Vom Bundesrat selbstständig abgeschlossene Staatsverträge45 (davon Änderungen bestehender Verträge)

349

376

414

43046

(65)

(62)

(95)

(84)

30

35

22

24

Antrag auf Unterstellung unter das (fak.)

15 Referendum (5) (davon Fälle, in denen gleichzeitig der Erlass oder die Änderung von Bundesgesetzen vorgesehen war)48

16

14

12

(5)

(2)

(8)

Dem Parlament zur Genehmigung unterbreitete Staatsverträge47

Zwischen 2006 und 2008 gelangte kein Staatsvertrag zur Abstimmung49; 2009 wurde indessen über zwei Staatsverträge abgestimmt, gegen die das Referendum ergriffen worden war: Die Erweiterung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf Bulgarien und Rumänien wurde am 8. Februar 2009 mit 59,6 % Ja-Stimmen angenommen; 19 ½ Stände wiesen Ja-Mehrheiten auf50. Am 17. Mai 2009 wurde der Bundesbeschluss vom 13. Juni 2008 über die Genehmigung und die Umsetzung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft betreffend die Übernahme der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 über biometrische Pässe und Reisedokumente51 mit 50,1 % Ja-Stimmen angenommen; die Vorlage konnte lediglich 9 Ständestimmen auf sich vereinigen und wäre demnach gescheitert, wenn ein Ständemehr erforderlich gewesen wäre52.

45 46

47

48

49

50 51

52

Zahlen gemäss den jeweiligen Berichten des Bundesrates über die von ihm abgeschlossenen Staatsverträge.

In dieser Zahl ist auch der Staatsvertrag mit den USA über das Amtshilfeersuchen in Sachen UBS enthalten (BBl 2010 3746), der nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgericht nachträglich der Bundesversammlung zur Genehmigung vorgelegt wurde (siehe BBl 2010 2965).

Für diese Erhebung wurden die Botschaften der jeweiligen Jahre untersucht. In einzelnen Fällen erstreckte sich der Genehmigungsbeschluss auf mehrere Verträge. So werden typischerweise die Freihandelsabkommen der EFTA-Staaten zusammen mit einem separaten bilateralen Landwirtschaftsabkommen genehmigt.

Am 26. November 2008 unterbreitete der Bundesrat den Räten eine Zusatzbotschaft über die Genehmigung des Abkommens über die Teilnahme der Schweiz am EG-Programm MEDIA (BBl 2008 9105), für das er bereits am 21. September 2007 eine Botschaft an die Räte gerichtet hatte (BBl 2007 6681). Dieses Abkommen wird hier nicht noch einmal mitgezählt.

Am 26. November 2006 wurde über das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas abgestimmt, welches vom Initiativkomitee zur Illustration der Behauptung herangezogen wird, dass die Volksrechte ausgehebelt würden. Die Vorlage wurde mit 53,4 % Ja-Stimmen angenommen und hätte 14 Standesstimmen auf sich vereinigen können.

BBl 2009 1671 Der eigentliche Notenaustausch war politisch weitgehend unbestritten; das Referendum wurde vor allem wegen Gesetzesänderungen ergriffen, die formell Bestandteil des Genehmigungsbeschlusses waren, die aber als autonomer Nachvollzug zu qualifizieren sind.

BBl 2009 7539

6975

Es ist davon auszugehen, dass in den Jahren 2006-2009 wahrscheinlich sieben Staatsverträge unter das von der Volksinitiative verlangte neue obligatorische Referendum gefallen wären. Eine genauere Zahl zu bestimmen, fällt deshalb schwer, weil zweifelhaft sein kann, ob ein Vertrag tatsächlich einen wichtigen Bereich betrifft. Bei folgenden Staatsverträgen nimmt der Bundesrat an, dass sie unter das neue obligatorische Staatsvertragsreferendum gefallen wären: ­

Zusatzprotokoll vom 24. Januar 200253 über die Transplantation menschlicher Organe und Gewebe zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin;

­

Revidiertes Übereinkommen vom 30. Oktober 200754 über die gerichtliche Zuständigkeit, die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen);

­

Notenaustausche vom 21. August 2008 und vom 24. Oktober 200855 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme der Verordnung und des Beschlusses über das Visa-Informationssystem (VIS);

­

Notenaustausch vom 28. März 200856 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme des Schengener Grenzkodex;

­

Übereinkommen vom 4. April 199757 zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin);

­

Zusatzprotokoll vom 12. Januar 199858 zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin über das Verbot des Klonens menschlicher Lebewesen;

­

Haager Übereinkommen vom 5. Juli 200659 über die auf bestimmte Rechte an intermediärverwahrten Wertpapieren anzuwendende Rechtsordnung.

Sofern Staatsverträge überhaupt in der Öffentlichkeit thematisiert wurden, haben allenfalls die Schengen-relevanten Staatsverträge eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich gezogen; die Gegenstände der anderen Abkommen ­ Biomedizin, Abkommen des internationalen Privatrechts ­ waren politisch weitgehend unbestritten; Referen53

54 55 56 57

58

59

BBl 2009 4489. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt, weil das Zusatzprotokoll wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält (BBl 2008 7959).

BBl 2009 8809. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Referendum unterstellt, weil gleichzeitig verschiedene Bundesgesetze angepasst werden mussten.

BBl 2009 8823. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Referendum unterstellt, weil gleichzeitig zwei Bundesgesetze angepasst werden mussten.

AS 2008 5629. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Referendum unterstellt, weil gleichzeitig das Ausländergesetz angepasst werden musste (BBl 2008 5319).

SR 0.810.2. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt, weil das Übereinkommen wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält (BBl 2002 271). Das Übereinkommen ist für die Schweiz am 1. November 2008 in Kraft getreten (AS 2008 5125).

SR 0.810.21. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstellt, weil das Zusatzprotokoll wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält (BBl 2008 2339). Das Zusatzprotokoll ist für die Schweiz am 1. November 2008 in Kraft getreten.

AS 2009 6579. Der Genehmigungsbeschluss wurde dem fakultativen Referendum unterstellt, weil gleichzeitig das IPRG angepasst werden musste (BBl 2008 8355).

6976

den sind jedenfalls zu keinem Zeitpunkt angekündigt oder gar ergriffen worden.

Hinzuweisen ist auch auf den Umstand, dass die Schweiz in der Vergangenheit keinen Staatsvertrag abgeschlossen hat, der sie zu einer einmaligen Ausgabe von mindestens 1 Milliarde Franken oder zu wiederkehrenden Ausgaben von mehr als 100 Millionen Franken verpflichten würde, wie dies Ziffer 4 des Initiativtextes aber vorsieht60.

Quantitativ würde die Annahme der Volksinitiative wahrscheinlich dazu führen, dass jährlich über durchschnittlich drei zusätzliche Vorlagen abgestimmt werden müsste, was einer Steigerung von über 30 Prozent gleichkommen könnte61 und zusätzliche Aufwendungen des Bundes und der Kantone für die Durchführung der Abstimmungen auslösen würde62. Gleichzeitig würden in diesen Fällen aber auch potenzielle Referendumsgruppierungen vom finanziellen und logistischen Aufwand und von den politischen Risiken entlastet werden, die ihnen im Fall eines fakultativen Referendums aufgebürdet sind. Die Ressourcen, die sonst bereits für das Sammeln der Unterschriften mobilisiert werden müssten, könnten dann für den eigentlichen Abstimmungskampf eingesetzt werden.

4.1.2

Mehr Mitsprache

Mit der Annahme der Initiative würden die direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten erweitert und die Mitgestaltungskraft der Kantone in der Aussenpolitik gestärkt werden. Wie die Geschichte des Staatsvertragsreferendums belegt (siehe oben Ziff. 2), wurde in den letzten 30 Jahren regelmässig nach Optimierungen gesucht; die verfassungsrechtlichen Anpassungen waren stets getragen vom Bedürfnis, die demokratische Legitimität der aussenpolitischen Entscheidungen zu erhöhen und die Mitwirkungsmöglichkeiten von Stimmbürgerschaft, Parlament und Kantonen63 zu verbessern. Würden neu zusätzliche Staatsverträge dem obligatorischen Referendum unterstellt sein, für die bisher nur das fakultative Referendum vorgesehen war oder die sogar nur der parlamentarischen Genehmigung unterlagen, könnte die öffentliche Debatte über ausgewählte aussenpolitische Themen intensiviert werden. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass es in der öffentlichen Debatte nicht nur darum gehen kann, ob ein bestimmter Staatsvertrag abzulehnen oder zu genehmigen wäre, sondern auch um die politisch brisante Entscheidung, ob ein Vertrag 60

61

62 63

Die vom Initiativkomitee angeführte Kohäsionsmilliarde beruht nicht auf einem Staatsvertrag, sondern auf einer politischen Absichtserklärung und einem parlamentarischen Finanzierungsbeschluss (BBl 2007 527). Die bilateralen Rahmenabkommen, die die Schweiz in der Folge mit den einzelnen Staaten abgeschlossen hat, würden die Schwelle des Initiativtextes nicht überschreiten: Der grösste Betrag ist im Rahmenabkommen mit Polen (SR 0.973.264.92) vorgesehen. Gemäss Art. 3 Abs. 1 gewährt die Schweiz Polen «einen nicht rückzahlbaren Beitrag für Anstrengungen zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten innerhalb der erweiterten EU in Höhe von bis 489,020 Millionen Franken, der für einen Verpflichtungszeitraum von fünf Jahren und einen Auszahlungszeitraum von zehn Jahren ab der Genehmigung des Beitrags durch das Schweizerische Parlament vom 14. Juni 2007 bereitgestellt wird».

In den Jahren 2001­2009 wurde über durchschnittlich 8,3 Vorlagen pro Jahr abgestimmt.

Die Zahlen schwanken indessen zwischen 2 Vorlagen im Jahr 2007 (in dem National- und Ständeratswahlen stattfanden) und 13 Vorlagen im Jahr 2004.

Siehe Ziffer 6.4 Ausdruck für dieses Bemühen ist insbesondere auch das Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK, SR 138.1).

6977

tatsächlich eine derart wichtige Materie betrifft oder so wichtige Anordnungen enthält, dass er dem obligatorischen Referendum zu unterstellen wäre. Es wäre an der Bundesversammlung, auf Antrag des Bundesrates letztinstanzlich die Rechtsfrage zu entscheiden, ob die Voraussetzungen der Bundesverfassung erfüllt wären oder nicht.

Werden Staatsverträge von Volk und Ständen angenommen, würden sie über eine derart erhöhte demokratische Legitimität verfügen, die sie auf die gleiche Stufe wie Verfassungsbestimmungen stellen würde, weil auch diese dem gleichen obligatorischen Referendum unterstehen. Einmal von Volk und Ständen genehmigt, würde ein solcher Staatsvertrag auch gegenüber dem ausländischen Vertragspartner als besonders bestandessicher und politisch gefestigt gelten dürfen. Ob und wie empfindlich und wie nachhaltig der aussenpolitischen Handlungsspielraum und die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz als Vertragspartner beeinträchtigt würden, wenn eine Vorlage am Volks- oder Ständemehr scheitern sollte, lässt sich abstrakt wohl nicht näher bestimmen.

4.2

Auslegungsspielraum des Initiativtextes

Das Initiativkomitee stellt selber fest, dass der vorgeschlagene Text Spielraum für verschiedene Auslegungen zulässt, was insbesondere auf die Formel der «wichtigen Bereiche» zutrifft, die sich ­ so das Initiativkomitee weiter ­ in vergleichbarer Form aber auch in der bestehenden Bundesverfassung, nämlich in Artikel 164 BV, findet.

4.2.1

Wichtigkeit eines Staatsvertrages

In den ersten drei Ziffern sieht die Volksinitiative das obligatorische Referendum nur vor, wenn es um staatsvertragliche Bestimmungen «in wichtigen Bereichen» geht. In der Tat bedient sich auch die aktuelle Bundesverfassung dieses Begriffs, wonach Staatsverträge mit «wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen» dem fakultativen Referendum zu unterstellen sind (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV). Diese Formulierung orientiert sich an Artikel 164 BV, wo der Begriff der Wichtigkeit jedoch für einzelne Regelungen und Normen verwendet wird und nicht für ganze Erlasse oder Sachbereiche: Es gibt keine nicht wichtigen oder wichtige Erlasse, sondern nur wichtige oder weniger wichtige Normen in den Erlassen des Bundesrechts. Die Verfassung unterscheidet damit zwischen besonders legitimationsbedürftigen Regelungen und weniger zentralen Detailbestimmungen. Angesichts des reichen Vergleichsmaterials im Bundesrecht und mithilfe der bundesgerichtlichen Praxis etwa zu den Delegationsregeln gelingt diese Unterscheidung in rechtlich und politisch durchaus befriedigender Weise. Demgegenüber versucht die Initiative, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Bereichen zu trennen und müsste daher die einzelnen Politikbereiche und Themenkomplexe nach ihrer Wichtigkeit bewerten, wofür aber kaum objektive Kriterien und Verfahren zur Verfügung stünden. Es ist der Bundesverfassung und der schweizerischen Politik fremd, ganze Sachgebiete als weniger wichtig einzustufen und andere, möglicherweise vorläufig besonders delikate Politikbereiche als wichtig zu qualifizieren. Gerade die Europapolitik zeigt, dass eine solche Unterscheidung nicht funktionieren kann: Sind alle Verträge, welche die Schweiz mit der EU abschliessen will, allein aufgrund des Umstands, dass es 6978

um Europapolitik geht, wichtig? Ist das Statistikabkommen weniger wichtig als das Abkommen über die Betrugsbekämpfung? Ist ­ immer im europapolitischen Kontext ­ Luftverkehr wichtiger als Forschungsförderung? Diese Schwierigkeiten werden noch deutlicher, wenn man einzelne Staatsverträge untersucht, die der Bundesversammlung in den letzten Jahren zur Genehmigung unterbreitet worden sind: ­

Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 2. Dezember 200464 über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit: Stellt die gerichtliche Immunität der Eidgenossenschaft und der Kantone einen wichtigen Bereich dar?

­

Haager Übereinkommen vom 5. Juli 200665 über die auf bestimmte Rechte an intermediärverwahrten Wertpapieren anzuwendende Rechtsordnung: Ist aus dem Umstand, dass das Abkommen Bezüge zur verfassungsmässig garantierten Eigentumsgarantie aufweist66, zu folgern, dass ein wichtiger Bereich betroffen ist?

­

Die Notenaustausche vom 21. August 2008 und vom 24. Oktober 200867 zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme der Verordnung und des Beschlusses über das Visa-Informationssystem (VIS) beschlagen datenschutzrechtliche Themen und Fragen68: Handelt es sich dabei um wichtige Bereiche im Sinne der Volksinitiative?

­

Würden die von der Schweiz nicht ratifizierten Zusatzprotokolle Nr. 1, 4 und 12 zur EMRK als derart wichtig eingestuft werden müssen, dass sie dem von der Volksinitiative geforderten obligatorischen Referendum unterstellt werden müssten?

4.2.2

Unbestimmte Tatbestandsmerkmale

Über diesen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber dem Begriff der «wichtigen Bereiche» hinaus werfen die einzelnen Ziffern des Initiativtextes spezifische Interpretationsfragen auf: ­

64 65 66 67 68 69

Die Figur der multilateralen Rechtsvereinheitlichung, für die bis 2003 das fakultative Referendum vorgesehen war, stammt aus der früheren Bundesverfassung. Eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung lag vor, «wenn ein Staatsvertrag multilaterales (weitgehend direkt anwendbares) Einheitsrecht schafft, das Landesrecht unmittelbar ersetzt oder zumindest ergänzt und grundsätzlich einen gewissen Mindestumfang erreicht»69. Gemäss der Praxis der Bundesversammlung, der sich der Bundesrat angeschlossen hat, ist hauptsächlich auf die politische oder rechtliche Tragweite der fraglichen Bestimmungen abzustellen. Eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung kann auch dann vorliegen, wenn nur wenige oder gar nur eine internationale

BBl 2009 8805 AS 2009 6579 Siehe BBl 2006 9414 BBl 2009 8823 BBl 2009 4271 BBl 1997 I 366

6979

Norm in Frage steht, «diese aber von grundlegender Bedeutung ist»70. In diesem Sinne hatte die Bundesversammlung beispielsweise die Zusatzprotokolle Nr. 6 und 7 zur EMRK dem fakultativen Referendum unterstellt71.

Die Figur der multilateralen Rechtsvereinheitlichung wurde ­ wie oben in Ziffer 2 dargestellt ­ im Rahmen der Reform der Volksrechte bewusst aufgegeben. Gerade im Bereich der Europapolitik war zweifelhaft, ob ein Vertrag mit der EU ­ obschon er formell betrachtet nur einen Vertragspartner kennt und daher ein bilateraler Vertrag ist ­ eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen könnte72.

70 71 72

73

74

­

Dem Referendum unterstellt werden sollen auch Verträge, die die Schweiz verpflichten, zukünftige rechtsetzende Bestimmungen in wichtigen Bereichen zu übernehmen. Aus der Vergangenheit sind keine Beispiele bekannt, bei denen die Schweiz sich staatsvertraglich verpflichtet hätte, ohne eigene Entscheidungsfreiheit zukünftige Rechtsentwicklungen des Auslands automatisch zu übernehmen. Wo Verträge vorsehen, dass die Parteien zukünftige Änderungen des ausländischen oder des internationalen Rechts zu übernehmen hätten, stehen regelmässig Ausstiegsmöglichkeiten und Widerspruchsrechte zur Verfügung. Der Bundesrat hat sich erst jüngst wieder gegen die automatische Übernahme von EU-Recht ausgesprochen73.

­

Nach Meinung des Initiativkomitees müsste beispielsweise die EMRK, wäre die Schweiz ihr nicht schon beigetreten, dem neuen obligatorischen Referendum unterstellt werden, weil sich die Schweiz darin verpflichtet, die Rechtsprechungszuständigkeit eines internationalen Gerichts zu akzeptieren74. Wie aber verhält es sich mit staatsvertraglichen Schiedsklauseln im Allgemeinen und den verschiedenen Streitschlichtungsmechanismen im Besonderen, die in den Bilateralen I und II oder in einigen neuen Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehen sind?

­

Weniger Auslegungsbedarf besteht beim Begriff der wiederkehrenden Ausgabe, der bei der Unterstellung unter die Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) und im Bereich des ­ auf Bundesebene nicht vorgesehenen ­ Finanzreferendums geläufig ist. Allerdings finden sich in der staatsvertraglichen Praxis der Schweiz kaum wiederkehrende Leistungen in dieser Grössenordnung.

A.a.O. Siehe dazu auch Fraoua, Ridha/Mader, Luzius, Les accords sectoriels et la démocratie suisse, in: Accords bilatéraux Suisse-UE: commentaires, Basel/Genf 2001, S. 161.

AS 1987 1806 und AS 1988 1596.

Weil das Abkommen über die Personenfreizügigkeit einen «gemischten» Vertrag mit der EG und den Mitgliedstaaten darstellt und weil insbesondere sein Anhang I weitgehend einheitliches Recht schafft, grösstenteils für eine direkte Anwendung geeignet ist und die Bestimmungen genügend präzis sind, um eine direkte Wirkung zu entfalten und im Einzelfall als Grundlage für eine konkrete Entscheidung dienen zu können, war die Qualifikation als multilaterale Rechtsvereinheitlichung unbestritten (siehe BBl 1999 6437).

Siehe beispielsweise die Antwort des Bundesrates vom 20. Mai 2009 auf die Interpellation der SVP-Fraktion vom 20. März 2009 «Rahmenabkommen mit der EU zur Stärkung des Automatismus» (09.3249).

Es bestehen keine Zweifel darüber, dass der Beitritt der Schweiz zur EMRK heute zumindest dem fakultativen Staatsvertragsreferendum unterstehen würde; siehe beispielsweise Villiger, Mark E., Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. A., Zürich 1999, N 50.

6980

4.2.3

Risiken einer ungefestigten Verfassungspraxis

Es ist dem Verfassungsrecht in der Tat nicht fremd, dass Verfassungsbestimmungen einen (entwicklungs-)offenen und verschiedenen Interpretationen zugänglichen Wortlaut aufweisen, der durch die Praxis der Behörden und der Bundesversammlung, durch die Gerichtspraxis75 oder durch gesetzgeberische Präzisierungen konkretisiert werden kann. Das gilt auch für die geltende Staatsvertragsreferendumsordnung, bei der Lehre und Praxis etwa zu klären hatten, was eine supranationale Organisation sei oder ­ früher ­ wodurch sich eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung auszeichne. Der Auslegungsspielraum des Initiativtextes ist aber derart erheblich, dass sich zuerst eine längere Praxis entwickeln müsste, bis man einigermassen zuverlässig wüsste, was wirklich unter die Bestimmung fällt und was nicht.

Bis sich eine solche Praxis etabliert hätte, wäre in jedem potenziellen Einzelfall mit erheblichem politischen Aufwand sowie mit innen- und aussenpolitisch möglicherweise belastender Prognoseunsicherheit über das Verständnis der Verfassungsnorm neu zu befinden. Dadurch wiederum könnte die aussenpolitische Verlässlichkeit der Schweiz auf längere Zeit beeinträchtigt werden, da jeder Abschluss eines Vertrages, der möglicherweise in den Anwendungsbereich des Initiativtextes fallen könnte, mit Unsicherheiten über das anwendbare landesinterne Verfahren belastet wäre.

4.3

Politische Bedeutung der Initiative

4.3.1

Legitimationsgewinn für die Aussenpolitik?

Wie oben (Ziff. 4.1.1) dargestellt, wäre bei einer Annahme der Initiative mit jährlich zwei bis drei zusätzlichen Abstimmungsvorlagen zu rechnen. Darunter würden sich mehrheitlich auch Staatsverträge befinden, die politisch weitgehend unbestritten sind und die daher kaum eine solidere Legitimationsbasis benötigen. Die geltende Referendumsregelung bei Staatsverträgen überzeugt vor allem dadurch, dass sie auf tauglichen und praktikablen Kriterien für die Unterstellung unter das Referendum aufbaut; diese Kriterien wiederum bilden die innen- und aussenpolitische Bedeutung eines Staatsvertrages zuverlässig und richtig ab: Zu politisch bedeutsamen Vorlagen ist ­ in richtiger Anwendung der Verfassungsbestimmung ­ die Mitsprache des Stimmvolkes möglich. Das der Bundesverfassung zugrunde liegende bewährte Konzept des Parallelismus zwischen Rechtsetzung im Landesrecht und durch Staatsverträge, wonach gesetzesrelevante Fragen dem fakultativen Referendum unterstehen und das obligatorische Referendum für Verfassungsmaterien vorbehalten bleibt, würde mit der Initiative ohne nennenswerten Gewinn verwässert: Während Änderungen des Landesrechts nur ausnahmsweise ­ nämlich bei formellen Verfassungsänderungen oder bei extrakonstitutionellem Dringlichkeitsrecht ­ dem obligatorischen Referendum mit doppeltem Mehr unterstehen, würden eine vergleichsweise grosse Zahl von Staatsverträgen diesem Referendum unterstehen. Die Frage, wer bei Staatsverträgen gewissermassen das letzte Wort hat, soll aber gleich beantwortet werden wie beim Landesrecht: Was für das Staatswesen von fundamentaler Bedeutung ist, muss in der Verfassung geregelt werden und bedarf der obligatorischen Zustimmung von Volk und Ständen. Was wichtig ist, hat der Gesetzgeber zu befinden, dessen Entscheidungen das Volk (ohne Stände) mit dem fakultativen Referen75

Gerade der Inhalt der von der Verfassung garantierten Grundrechte wurde und wird von den Gerichten, insbesondere vom Bundesgericht, mitbestimmt und fortgeschrieben.

6981

dum sanktionieren kann. Das gleiche Muster soll auch für Staatsverträge gelten: Nur besonders bedeutsame Verträge haben dem obligatorischen Referendum zu unterstehen. Verträge, welche diese Schwelle nicht erreichen, aber gesetzesähnliche Regelungen enthalten, sind dem fakultativen Referendum zuzuführen.

Hinzu kommt, dass die eingespielte Zuständigkeitsordnung aus dem Gleichgewicht geraten würde: Die Mehrzahl der Staatsverträge wird von der Bundesversammlung ohne fakultatives Referendum genehmigt oder auf der Grundlage einer Ermächtigung durch den Gesetzgeber vom Bundesrat abgeschlossen76. Die fakultative Mitwirkung des Volkes ist für jene Fälle vorgesehen, die gewissermassen über das staatsvertragliche Alltagsgeschäft hinausgehen und die innen- und aussenpolitisch bedeutsame Weichenstellungen darstellen. Eine zwingende Mitentscheidung von Volk und Ständen ist dagegen nur bei jenen sehr seltenen Staatsverträgen vorgesehen, mit denen die Schweiz freiwillig eine Selbstbindung ihrer politischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit hinnehmen will, aus der Überzeugung heraus, dass die Unterwerfung unter ein staatsvertragliches Regime den Interessen des Landes und seiner Bevölkerung entscheidende und dauerhafte Vorteile bringt. Der Befund des Bundesrates aus dem Jahre 1974 hat auch heute noch seine Gültigkeit: «Das Ideal unserer Demokratie ist nicht ein planloser Ausbau und das Erreichen eines Maximums an direktdemokratischen Institutionen. Erstrebenswert scheint vielmehr die Konzentration des Mitspracherechts des Volkes auf das Grundsätzliche unter Ausklammerung alles Unwesentlichen.»77 Auch ohne den möglichen Inhalt verschiedener Abkommen, die vom Initiativkomitee als Beispiele angeführt werden (ein allfälliges Rahmenabkommen mit der EU, Abkommen über den Agrar-, Lebensmittel- und Gesundheitsbereich usw.), heute schon kennen zu können, darf man davon ausgehen, dass die meisten Abkommen mindestens unter das geltende fakultative Staatsvertragsreferendum fallen würden. In der Vergangenheit ist es praktisch immer gelungen, innert der gesetzlichen Frist die erforderlichen Unterschriften zu sammeln, um eine Volksabstimmung zu erwirken78. Würden jährlich drei Urnengänge zu Staatsverträgen stattfinden, könnte zudem auch die Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung mit den meistens komplexen Vertragsthemen und -regelungen leiden.

76

77 78

Zwei ähnlich formulierte Motionen, welche die aussenpolitische Kommission des Ständerates am 27. Mai 2010 (10.3354) und die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates am 2. Juni 2010 (10.3366) eingereicht haben, verlangen eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen für den Abschluss von Staatsverträgen durch den Bundesrat. Der Bundesrat hat die Annahme der Motionen beantragt, die bereits an den Zweitrat überwiesen worden sind.

BBl 1974 II 1153 f.

Entgegen der Behauptung der Initianten (Hans Fehr, Wie wirkt die Staatsvertrags-Initiative? Manuskript der Pressekonferenz vom 11. August 2009: «Zudem wurden die Unterschriftenzahlen in der Vergangenheit mehrfach erhöht») ist die Zahl der für das Referendum erforderlichen Unterschriften ­ jedenfalls seit 1977 ­ unverändert bei 50 000 Unterschriften geblieben. Die Erhöhung im Jahr 1977 trug im Übrigen der Einführung des Frauenstimmrechts Rechnung und hatte nicht das Ziel, eine höhere Hürde für die Ergreifung des Referendums zu schaffen.

6982

4.3.2

Privilegierung der Kantone

Die Initiative will nicht nur, dass bestimmte Staatsverträge automatisch ­ d.h. ohne dass aktiv ein Referendum zu ergreifen wäre ­ zur Abstimmung gelangen müssten, sondern sie will für die Genehmigung auch ein Ständemehr verlangen. Man kann sich aber fragen, ob für Staatsverträge eine akzentuierte Mitsprache der Kantone angezeigt ist. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Kantone bei der Gestaltung der Aussenpolitik des Bundes sind in den letzten Jahren stetig ausgebaut worden: Nach geltendem Verfassungsrecht können mindestens acht Kantone das Referendum auch gegen Staatsverträge ergreifen ­ wovon allerdings bis heute noch nie Gebrauch gemacht worden ist. Auch hier ist die Verfassungsordnung von der Idee des Parallelismus durchdrungen: Staatsverträge, welche Gesetzesmaterien regeln, sind ­ wie Bundesgesetze ­ dem fakultativen Referendum zu unterstellen, für die kein Ständemehr erforderlich ist; für darüber hinausgehende Abkommen ist indessen ­ wie bei Verfassungsfragen ­ die Zustimmung der Mehrheit der Stände zwingend.

Das mit der neuen Bundesverfassung geschaffene System von Interventionsmöglichkeiten und Konsultationsverfahren, die den Kantonen die aktive Einflussnahme auf die Aussenpolitik des Bundes erlaubt, hat sich grundsätzlich bewährt. Die Kantone haben von ihren Möglichkeiten rege Gebrauch gemacht, und der Bund hat insbesondere bei europapolitischen Dossiers, die Fragen aus dem Interessen- und Zuständigkeitsbereich der Kantone beschlagen, den Dialog mit den einzelnen Kantonen, mit der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) und mit den verschiedenen Exekutivkonferenzen intensiviert79. In ihrer Standortbestimmung zur Europapolitik vom 25. Juni 2010 hat die KdK eine Stärkung des partizipativen Föderalismus gefordert. Dazu würden verbesserte Informationsrechte gehören, die den Kantonen auch erlauben würden, dem Bund mindestens bei Verhandlungsmandaten zur Übernahme von EU-Recht verbindliche Vorgaben zu machen. Zudem verlangt die KdK eine bessere institutionalisierte Zusammenarbeit mit dem Bund im Rahmen der Entscheidprozesse zur Übernahme von EU-Recht. Eine Verletzung der Informations- und Partizipationsrechte sollte nach Meinung der KdK gerichtlich überprüfbar werden. Diese Forderungen werden zwischen Bund und KdK einlässlich erörtert werden und können gegebenenfalls in entsprechende Anpassungen
des Bundesrechts münden. Im vorliegenden Zusammenhang ist indessen entscheidend, dass die Kantone die ihnen zustehenden Referendumsrechte und -gewichte nicht in Frage stellen80.

Es ist schliesslich auch nicht einzusehen, wieso die Kantone ein grösseres Gewicht haben müssten, wenn es ­ wie von der Initiative verlangt ­ um Staatsverträge geht, die nicht zentrale Elemente des Föderalismus berühren, sondern aus anderen Gründen als wichtig gelten müssen. Die Initiative würde gewissermassen den Kantonen 79

80

Siehe dazu auch die Antwort des Bundesrates vom 28. November 2007 zur Interpellation Nordmann «Umsetzung der bilateralen Verträge mit der EU» (07.3720): «Die schweizerischen Delegationen [bei den Gemischten Ausschüssen] werden jeweils vom federführenden Amt geleitet. Während sowohl das Integrationsbüro wie auch die Mission der Schweiz bei der Europäischen Union grundsätzlich immer vertreten sind, nehmen die jeweiligen mitinteressierten Ämter und die Kantone dann teil, wenn sie von einem bestimmten Diskussionsgegenstand betroffen bzw. für diesen zuständig sind.» Die Kantonsregierungen empfehlen immerhin, dass zu prüfen wäre, ob «allenfalls bestehende allgemeine Mitwirkungsrechte für den Kontext europapolitischer Entscheidfindungsprozesse des Bundes ausgebaut werden könnten» (Ziff. 44 der Europapolitischen Standortbestimmung der Kantonsregierungen vom 25. Juni 2010).

6983

ein Vetorecht über die Mehrheit der Stimmberechtigten gewähren, ohne dass es aber zwingend um Fragen geht, welche sie direkt und nachhaltig betreffen würden. Der Kurztitel der Initiative «Staatsverträge vors Volk» täuscht im Übrigen darüber hinweg, dass die Initiative hauptsächlich die Mitsprache der Kantone und weniger jene der Stimmberechtigten stärkt.

4.3.3

Aussenpolitische Handlungsfreiheit

Der aussenpolitische Spielraum der Schweiz droht durch den weiteren Ausbau der nachgelagerten Referendumsrechte eingeschränkt zu werden. Die demokratische Legitimation der Aussenpolitik soll vielmehr durch einen frühzeitigen Einbezug der wichtigsten politischen Akteure bei der Ausgestaltung der Verhandlungsmandate und bei den Verhandlungen gestärkt werden statt durch nachträgliche «Sanktionsmöglichkeiten». Das Vernehmlassungsverfahren, das auch bei referendumspflichtigen Staatsverträgen zur Anwendung kommt81 und das grundsätzlich auch für die Vorbereitung von Staatsverträgen aktiviert werden könnte82, die (gesetzlichen) Konsultations- und Partizipationsrechte, welche parlamentarische Kommissionen und die Kantone geniessen, und die Praxis der Bundesbehörden, etwa im Rahmen der WTO-Verhandlungen frühzeitig und regelmässig die Zivilgesellschaft zu informieren und beizuziehen, haben sich bewährt. Nachteilig wäre die von der Initiative verlangte Neuregelung, weil auch politisch weitgehend unbestrittene Staatsverträge obligatorisch der Abstimmung durch Volk und Stände zugeführt werden müssten.

Zusätzlich akzentuiert wird dieses Problem durch die sehr offene und interpretationsbedürftige Formulierung des Initiativtextes, die eine Prognose, welche Verträge tatsächlich dem Referendum zu unterstellen sind, erheblich erschweren dürfte.

5

Direkter Gegenentwurf

Der Bundesrat ist der Meinung, dass der vorgeschlagene Verfassungstext an verschiedenen Mängeln leidet und dass die Initiative das bewährte Gleichgewicht der politischen Organe stört. Er anerkennt aber das Bedürfnis nach einer verbesserten direkt-demokratischen Mitgestaltung der Aussenpolitik, wie es in der Initiative zum Ausdruck kommt. Aus diesem Grund will er der Volksinitiative einen direkten Gegenentwurf gegenüberstellen, der die berechtigten Anliegen der Initiative aufnimmt, aber die festgestellten Nachteile vermeidet.

Wie unter Ziffer 2 dargestellt, kennt die Bundesverfassung für Staatsverträge zwei ausdrücklich geregelte Referendumsformen: ­

81 82

das fakultative Referendum für unbefristete und unkündbare Staatsverträge, für den Beitritt zu internationalen Organisationen sowie für Staatsverträge.

die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder den Erlass von Bundesgesetzen erfordern,

Art. 3 Abs. 1 Bst. c des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 2005 (VlG, SR 172.061).

Grundlage dafür wäre Art. 3 Abs. 2 VlG.

6984

­

das obligatorische Referendum für Staatsverträge, mit denen die Schweiz einer supranationalen Gemeinschaft oder einer Organisation der kollektiven Sicherheit beitritt.

Neben diesen beiden Referendumsformen für Staatsverträge haben die Praxis der Bundesbehörden83 und die Lehre84 die Meinung vertreten, dass ein Staatsvertrag auch dann der Zustimmung von Volk und Ständen bedarf, wenn ihm eine Bedeutung beigemessen werden muss, die ihn auf die Stufe der Bundesverfassung hebt. Für dieses ungeschriebene obligatorische Referendum haben sich im deutschsprachigen Schrifttum die Begriffe «Referendum sui generis» bzw. «ausserordentliches Referendum» etabliert, während die französischsprachige Lehre von einem «référendum extraordinaire» spricht85. Ansätze für dieses ungeschriebene obligatorische Referendum wurden bereits anlässlich des Abschlusses des Freihandelsabkommens mit der EG von 1972 entwickelt ­ also zu einer Zeit, zu der die Bundesverfassung nur ein fakultatives Staatsvertragsreferendum kannte. Der Bundesrat erklärte damals, dass ein Staatsvertrag dem Verfassungsgeber, also Volk und Ständen im Rahmen eines obligatorischen Referendums, vorgelegt werden dürfe und solle, wenn es um Angelegenheiten «von besonderer und grundlegender Bedeutung» geht86, wenn also der Staatsvertrag «tiefgreifende Änderungen der Staatsstruktur mit sich bringt oder einen grundsätzlichen Wandel in der schweizerischen Aussenpolitik zur Folge hat»87. Doktrin und Praxis gingen schon damals davon aus, dass Verträge, «die schwerwiegende Eingriffe in die innere Struktur der Schweiz mit sich bringen» oder «eine grundlegende Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik bedingen», einem ungeschriebenen obligatorischen Referendum zu unterstellen wären88. Ein solches weit gefasstes Referendum in der Bundesverfassung zu kodifizieren, lehnte der Bundesrat aber ab, weil ihm die damals diskutierten oder in der Vernehmlassung geforderten Kriterien ­ Eingriffe in die Souveränität, Abtretung von Hoheitsrechten, Eingriffe in Freiheitsrechte, verfassungsändernde Verträge ­ zu ungenau waren89.

Stattdessen schlug er vor, die beiden bedeutsamsten Konstellationen solch grundlegender Staatsverträge zu kodifizieren, nämlich den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften und zu Organisationen der kollektiven Sicherheit.

Auch nach der Umgestaltung des Staatsvertragsreferendums im Jahre 1977 bestand in der Praxis der Bundesbehörden und in der Lehre die Auffassung, dass es weiterhin ein ungeschriebenes obligatorisches Referendum ­ eben ein Referendum sui generis oder ein ausserordentliches Referendum ­ geben könne und geben dürfe90.

83 84

85 86 87 88 89 90

BBl 1992 IV 541 Aubert, Jean- François, in: Aubert/Mahon (Hrsg.), Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999, Zürich/Basel/Genève 2003, Art. 140, N 12; Lombardi, Aldo/Thürer, Daniel, in: St. Galler Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen 2008, Art. 140, N 18; Rhinow, René/Schefer, Markus, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. A., Basel 2009, N 3691; Hangartner, Yvo/Kley, Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, N 1156 ff.; Biaggini, Giovanni, Kommentar BV, Zürich 2007, Art. 140 N 9, der dieses «gewillkürte obligatorische Referendum» dem ungeschriebenen Verfassungsrecht zuweist.

Grisel, Etienne, Initiative et référendum populaires, 3. A., Bern 2004, N 793.

BBl 1972 II 736. Siehe dazu auch Zellweger, a.a.O., S. 284; Thürer, a.a.O., N 20; Hangartner/Kley, a.a.O., N 1157 BBl 1972 II 735 BBl 1974 II 1138 BBl 1974 II 1157 f.; Zellweger, a.a.O., S. 285.

BBl 1997 I 364; AB 2004 N 52 ff. und AB 2004 S 121.

6985

Ob einem Staatsvertrag eine derartige Bedeutung beizumessen sei, dass ihm Verfassungsrang zukommen müsste, wurde seither in folgenden Fällen aufgeworfen: ­

Obschon der Bundesrat der Meinung war, dass der EWR keinen Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft darstellen würde, beantragte er den Räten, dass das Abkommen dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen unterstellt werden sollte. Er begründete dies mit dem materiell umfassenden Anwendungsbereich des Abkommens, der unmittelbaren Anwendbarkeit zahlreicher Vertragsbestimmungen, den mit dem Beitritt verbundenen Verfassungsanpassungen und der Unterwerfung der Schweiz unter die Zuständigkeit des EFTA-Gerichtshofs und der EFTA-Überwachungsbehörde. Nach Meinung des Bundesrates entzog sich der EWR «den herkömmlichen Kategorien unserer Verfassung»91; ein solcher Vertrag sollte aber dann dem Verfassungsgeber vorgelegt werden, «wenn sachliche oder politische Gründe dafür sprechen»92.

­

In seiner Botschaft zu den Bilateralen II griff der Bundesrat erneut die Frage des obligatorischen Referendums sui generis auf. Näher geprüft wurde, ob die Abkommen über die Assoziierung der Schweiz an Schengen und an Dublin die von Praxis und Lehre entwickelten Kriterien erfüllen. Er kam aber zum Schluss, dass diese Abkommen keine «tiefgreifenden Änderungen unseres Staatswesens» herbeiführen und die verfassungsmässige Ordnung nicht tangieren: «Die Assoziierungsabkommen schränken weder die Souveränität unseres Landes ein noch beeinträchtigen sie die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung: Die Umsetzung der Abkommen kann im Rahmen der bestehenden Kompetenzen von Bund und Kantonen erfolgen»93.

Das bestehende Nebeneinander von obligatorischem und fakultativem Staatsvertragsreferendum folgt dem Leitmotiv des Parallelismus: Unabhängig davon, ob eine Norm in der Bundesgesetzgebung verankert oder ob sie in einen für die Schweiz verbindlichen Staatsvertrag aufgenommen wird, hat sich das Erlassverfahren an den Wichtigkeitskriterien von Artikel 164 der Bundesverfassung zu orientieren. Mit anderen Worten unterliegt ein Erlass des Bundesrechts oder ein Staatsvertrag dann dem fakultativen Referendum, wenn er wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält. «Der Wortlaut der Bestimmung und ihre Entstehungsgeschichte», so die Begründung einer Motion der nationalrätlichen SPK, «machen deutlich, dass für innerstaatliche Gesetze und für internationale Verträge dieselben Regeln gelten sollen («Parallelismus»): Was nach Artikel 164 BV «wichtig» ist und im referendumsfähigen Gesetz geregelt werden muss, ist im Falle eines internationalen Vertrages auch nach Artikel 141 BV «wichtig» und soll dem fakultativen Referendum unterstellt werden.»94 Das obligatorische Staatsvertragsreferendum sui generis nimmt im Grundsatz das Prinzip des Parallelismus auf: Was landesrechtlich in der Verfassung zu regeln ist, untersteht obligatorisch der Abstimmung und bedarf der Zustimmung von Volk und Ständen; wird der gleiche Inhalt nun in einem Staatsvertrag geregelt, so müsste ­ in 91 92 93 94

BBl 1992 IV 541 BBl 1992 IV 541 f.

BBl 2004 6290. Ein im Ständerat eingebrachter Antrag auf Unterstellung dieser Abkommen unter das obligatorische Referendum unterlag mit 31 zu 6 Stimmen, AB 2004 S 729.

Motion SPK-N vom 22. April 2004, Fakultatives Staatsvertragsreferendum. Parallelismus von staatsvertraglicher und innerstaatlicher Rechtsetzung (04.3203).

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konsequenter Fortführung der Parallelismusidee ­ dieser Staatsvertrag dem gleichen Verfahren unterworfen sein wie eine Verfassungsänderung, also dem obligatorischen Referendum unterstellt sein. Unerheblich ist dabei, ob es sich um einen zweiseitigen oder multilateralen Staatsvertrag handelt. Auch die Volksinitiative der AUNS verfolgt im Kern die gleiche Idee: Was für den Verfassungsstaat der Schweiz von fundamentaler Bedeutung ist, das sollte von Volk und Ständen beschlossen werden müssen, und zwar ohne dass dafür noch Unterschriften zu sammeln wären.

Insofern teilt der Bundesrat die Meinung der Initiantinnen und Initianten, dass das geltende Referendumsrecht optimiert werden kann. Der Bundesrat ist ­ wie dargestellt ­ allerdings der Meinung, dass diese Optimierung nicht mit einem mehrfach auslegungsbedürftigen und kasuistisch geprägten Verfassungstext erreicht werden kann, der über das Ziel des Parallelismus hinausgeht, sondern mit einer Bestimmung, welche ­ inspiriert von den Überlegungen, die zum Referendum sui generis angestellt worden sind ­ neu ein obligatorisches Referendum für Staatsverträge mit Verfassungsrang vorschreibt. In diesem Sinne stellt der Bundesrat der Volksinitiative den folgenden direkten Gegenentwurf gegenüber: Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV 1

Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: b.

völkerrechtliche Verträge, die: 1. den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vorsehen; 2. Bestimmungen enthalten, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern oder einer solchen gleichkommen;

6

Kommentar

6.1

Formale Überlegungen

Aus formeller Sicht erscheint es sinnvoll, in Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV die völkerrechtlichen Verträge ausdrücklich zu erwähnen und in zwei Ziffern zu unterteilen, um die beiden Kategorien völkerrechtlicher Verträge, die dem Referendum unterliegen, zu erfassen. Ziffer 1 übernimmt den Inhalt des geltenden Artikels 140 Absatz 1 Buchstabe b BV. In Ziffer 2 wird das ausserordentliche Referendum für völkerrechtliche Verträge eingeführt, die Bestimmungen enthalten, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern oder einer Änderung der Bundesverfassung gleichkommen.

Artikel 140 Absatz 1 BV gewinnt auf diese Weise an Klarheit, indem er alle Fälle des obligatorischen Referendums zusammenfasst. Buchstabe a behandelt das Referendum bei Verfassungsänderungen, Buchstabe b das Referendum bei völkerrechtlichen Verträge und Buchstabe c das Referendum gegen dringlich erklärte Bundesgesetze, deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt und die keine Verfassungsgrundlage haben.

6987

6.2

Inhaltliche Aspekte

Das Ziel ist es, dem Bestreben des Bundesrates und der Bundesversammlung, die demokratische Legitimation des Staatsvertragsrechts zu erhöhen, Nachdruck zu verleihen. Um den angestrebten Parallelismus zwischen der Rechtsetzung im nationalen und im internationalen Recht fortzuführen, gilt es, die Abgrenzungskriterien für die Unterstellung unter das fakultative (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV) und das obligatorische Referendum (Art. 140 Abs. 1 Bst. b Ziff. 1 und 2 BV) zu präzisieren.

Hierfür tendiert die heutige Praxis dazu, die verfassungsrechtliche Bedeutung des völkerrechtlichen Vertrages, also dessen inhaltliche Tragweite, als materielles Kriterium zu verwenden. In dieser Hinsicht ist der Bundesrat unverändert der Ansicht, «dass nur Angelegenheiten von besonderer und grundlegender Bedeutung das Verfahren der Verfassungsgesetzgebung rechtfertigen»95. Es ist sicherlich nicht leicht, jene Normen zu bestimmen, die von diesem unbestimmten Rechtsbegriff abgedeckt werden. Die Frage, was «für verfassungswürdig erachtet wird, mithin als von so grundlegender rechtlicher Bedeutung für diesen Bundesstaat, dass es in der Verfassung zu verankern ist (oder eben nicht)» hat sich insbesondere im Rahmen der Nachführung der Verfassung gestellt96. Obwohl diese Frage damals nicht abschliessend beantwortet werden konnte, ist es jedoch möglich zu bestimmen, ob eine staatsvertragliche Norm inhaltlich verfassungsrechtlichen Rang geniesst, und zwar unabhängig davon, ob die Verfassung formell tatsächlich geändert werden muss.

Dazu gehören Normen, welche Grundrechte garantieren, die föderale Staatsstruktur sichern und die Behördenorganisation regeln. Ebenfalls davon betroffen sind die Beitrittsverträge zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften, welche Kernelemente der staatlichen Souveränität so verändern, dass sie eine räumliche, strukturelle oder internationale Neuausrichtung des Staates bewirken. Diese Verträge unterliegen bereits heute dem obligatorischen Referendum aufgrund von Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV in seiner derzeitigen Fassung97.

6.3

Denkbare Anwendungsfälle

Der Bundesrat will den zukünftigen Entwicklungen nicht vorgreifen und verzichtet deshalb auf verbindliche Aussagen darüber, ob ein bestimmter Staatsvertrag, über den zurzeit Verhandlungen geführt werden oder der sich erst in der Phase von exploratorischen Gesprächen befindet, dereinst unter das neue obligatorische Referendum fallen würde. Er erachtet es aber als unerlässlich, schon heute zu präzisieren, welche Anwendungsfälle denkbar wären. Ausgehend von der oben vorgenommenen Analyse lassen sich nämlich schon heute denkbare Szenarien für die Praxis skizzieren.

95

96 97

Botschaft vom 16. August 1972 über die Genehmigung der Abkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften (BBl 1972 II 736). Dieselben Kriterien wurden in der Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums (BBl 1974 II 1159) und in der Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (BBl 1992 IV 541) wieder aufgegriffen.

Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 45.

Auer, Andreas/Malinverni, Giorgio/Hottelier, Michel, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, Bern 2006, N 784 ff.

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Zu den zentralen Verfassungsthemen gehört die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen. Staatsverträge, die beispielsweise dem Bund direkt Befugnisse einräumen, die von Verfassungs wegen bisher den Kantonen zugestanden sind oder die anderweitig den Handlungsspielraum der Kantone erheblich begrenzen, würden einer Verfassungsänderung gleichkommen und wären dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Es ist allerdings einzuwenden, dass Staatsverträge meistens «föderalismusblind» sind, weil sich die Vertragspflichten an die Eidgenossenschaft als Völkerrechtssubjekt richten. Für den Staatsvertrag ist es in der Regel unerheblich, welche staatliche Ebene schliesslich die Vertragspflichten erfüllen wird. Allerdings gibt es durchaus auch Beispiele von Staatsverträgen, welche die föderale Aufgabenverteilung und die Zuweisungen von Handlungsbefugnissen zum Thema haben ­ wie dies etwa beim Europäischen Rahmenübereinkommen vom 21. Mai 198098 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und seinen Zusatzprotokollen der Fall ist ­ oder die spezifische «Föderalismusbestimmungen» enthalten99. Sofern solche Verträge die bestehende Kompetenzverteilung unberührt lassen, wären sie vom neuen obligatorischen Staatsvertragsreferendum ausgenommen. Wo Staatsverträge etwa die Errichtung von zentralen Behördenstrukturen vorsehen, sind Konflikte mit der kantonalen Organisationsautonomie, wie sie von Artikel 47 Absatz 2 BV gewährleistet wird, grundsätzlich denkbar, die aber in der Regel durch geeignete Umsetzungsmassnahmen vermieden werden können100. In anderen Fällen ­ wie dies namentlich bei der Alpenkonvention und ihren von der Schweiz bisher nicht ratifizierten Durchfüh-

98

SR 0.131.1. Der Bundesrat war damals allerdings auch der Meinung, dass das Rahmenübereinkommen keine Kompetenzverschiebung bewirke, siehe BBl 1981 II 837. Der Genehmigungsbeschluss wurde nicht dem Referendum unterstellt.

99 Siehe beispielsweise Art. 35 des Übereinkommens vom 17. Oktober 2003 zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes (SR 0.440.6). Dazu hat sich der Bundesrat wie folgt geäussert: «Diese für die Übereinkommen der UNESCO typische Klausel stellt eine ausdrückliche Anerkennung der internen Kompetenzverteilung in föderativen Staaten dar. Wenn es, gestützt auf die interne Kompetenzverteilung, den Kantonen obliegt, Massnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens zu ergreifen, informiert der Bund die kantonalen Behörden über die entsprechenden Bestimmungen des Übereinkommens und empfiehlt ihnen ihre Umsetzung. Die Klausel hat dagegen keinen Einfluss auf die Kompetenz des Bundes, das Übereinkommen zu ratifizieren, die sich aus Artikel 54 BV ergibt.» (BBl 2007 7274) 100 So stellte sich etwa anlässlich des Beitritts der Schweiz zum Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (SR 0.211.221.311) die Frage, wo und wie die vom Übereinkommen verlangte Zentralbehörde anzusiedeln wäre. Der Bundesrat hatte ­ auch aus föderalistischen Überlegungen ­ eine Aufteilung der Zentralstellenfunktion auf Bund und Kantone vorgeschlagen: «Mit dieser Zweiteilung der zentralbehördlichen Funktionen können die Vorzüge einer Ansiedlung auf kantonaler Ebene ­ Koordination mit den bestehenden und den nichtstaatsvertraglichen Verfahren, grössere Sachnähe ­ mit denen einer Bundeszentralbehörde ­ Schaffung von Kompetenz auf Grund einer grossen Zahl von Fällen ­ verbunden werden.» (BBl 1999 5810 f.). Ähnliche Fragen hatten sich auch bei der Ratifikation des Fakultativprotokolls vom 18. Dezember 2002 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (SR 0.105.1) gestellt. Die Verfassungsmässigkeit einer beim Bund angesiedelten Aufsichtsstelle begründete der Bundesrat damit, dass es sich bei den Umsetzungsmassnahmen des Bundes «um einen Mechanismus [handelt], der ausschliesslich eine Aufsichtsfunktion zu übernehmen hat; hingegen kann er nicht direkt und
verbindlich in Bezug auf die Modalitäten des Vollzugs von freiheitsentziehenden Massnahmen intervenieren, die überwiegend in die Zuständigkeit der Kantone fallen» (BBl 2007 279).

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rungsprotokollen geschehen ist101 ­ wäre genau zu untersuchen, ob die Schweiz in einem bestimmten Sachbereich staatsvertraglich zu Kompetenzverlagerungen verpflichtet sein könnte.

Verfassungsrang geniessen Grundrechtsgarantien und Freiheitsverbürgungen. Die neue Bundesverfassung hatte zum erklärten Ziel, ungeschriebene und vom Bundesgericht entwickelte Grundrechtsgarantien zu kodifizieren und mit den staatsvertraglichen Standards zu harmonisieren. Konsequenterweise wird man daher auch folgern müssen, dass Staatsverträge mit Grundrechtsgewährleistungen, die den Katalog der verfassungsrechtlichen Garantien erweitern oder bestehende Grundrechtspositionen inhaltlich weiterentwickeln oder auf bisher nicht erfasste Sachverhalte und Personen ausdehnen, unter das neue obligatorische Staatsvertragsreferendum fallen könnten.

Ob dies etwa bei der Europäischen Sozialcharta102 oder bei den noch nicht ratifizierten Zusatzprotokollen zur Europäischen Menschenrechtskonvention tatsächlich der Fall wäre, würden Bundesrat und Parlament im Rahmen der konkreten Genehmigungsanträge prüfen müssen.

Ähnliches würde für Staatsverträge gelten, mit denen die Schweiz in «quasi-supranationale» Beziehungen zu einer internationalen Organisation tritt, wie dies unter Umständen und abhängig von dessen Inhalt mit einem allfälligen Rahmenübereinkommen mit der EU vorstellbar wäre. Schliesslich müsste auch sorgfältig untersucht werden, ob Staatsverträge, mit denen sich die Schweiz verpflichten würde, auf eine eigene gesetzliche Regelung eines Sachgebietes zu verzichten und stattdessen ausländisches Recht in einem genau bestimmbaren, umfassenden Sachgebiet zu übernehmen, unter das Referendum fallen würden. Allerdings zeichnen sich hierfür keine konkreten Beispiele ab.

6.4

Finanzielle Auswirkungen der Initiative und des direkten Gegenentwurfs

Bei der Frage, wie das verfassungsrechtliche Referendumssystem auszugestalten ist, sollten finanzielle Erwägungen kaum im Vordergrund stehen. Die Kosten einer Volksabstimmung werden zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden geteilt. Der Bund stellt den Kantonen die Abstimmungsunterlagen und Stimmzettel zur Verfügung, während die Kantone die Abstimmung auf ihrem Gebiet durchführen und die erforderlichen Anordnungen erlassen103. Von der Bundeskanzlei durchge101

Der Ständerat hatte mit Beschluss vom 15. Juni 2004 noch beantragt, dass in den Genehmigungsbeschluss zu den Durchführungsprotokollen eine Bestimmung aufzunehmen wäre, wonach der Bundesrat bei der Ratifikation folgende Erklärungen abzugeben hätte: «Die Schweiz erklärt, dass die Bestimmungen der Alpenkonvention oder der Durchführungsprotokolle an der geltenden Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden nichts ändern.» Am 11. Dezember 2009 hatte der Nationalrat Nichteintreten auf das Geschäft beschlossen (AB 2009 N 2326); am 2. Juni 2010 hat der Ständerat mit 25 zu 15 Stimmen Eintreten beschlossen, womit das Geschäft wieder beim Nationalrat liegt.

102 In Erfüllung eines am 8. März 2010 überwiesenen Postulates der Aussenpolitischen Kommission des Ständerates (10.3004) wird der Bundesrat bis Ende 2010 einen Bericht «über die Vereinbarkeit der revidierten Europäischen Sozialcharta mit der schweizerischen Rechtsordnung und über die Zweckmässigkeit einer möglichst raschen Unterzeichnung und Ratifizierung» vorlegen müssen.

103 Art. 11 Abs. 1 und 10 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1).

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führten Schätzungen zufolge bemessen sich die Verwaltungskosten für die Vorbereitung, die Umsetzung und die Betreuung des Abstimmungstermins auf 7,5 Millionen Franken104. Hinzu kommen die Ausgaben für die Erläuterungen und die Stimmzettel (Kosten für die Papierbeschaffung, den Druck und die Verteilung an die Kantone), welche 600 000 Franken betragen, wobei die Kosten für die briefliche und elektronische Stimmabgabe nicht mitberechnet wurden. Die Annahme der Volksinitiative ­ die eine Steigerung der Abstimmungsgegenstände um 30 %105 und einen zusätzlichen Abstimmungstermin zur Folge hätte ­ würde also jährliche Ausgaben von über acht Millionen Franken nach sich ziehen. Der Gegenentwurf hingegen würde nur eine geringe Erhöhung der Abstimmungsgegenstände106 ­ und wahrscheinlich keinen zusätzlichen Abstimmungstermin ­ und folglich nur bescheidene Zusatzausgaben zeitigen.

7

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat beantragt, die Initiative Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten, mit der Empfehlung auf Ablehnung. Er beantragt zudem, dass gleichzeitig mit der Volksinitiative der direkte Gegenentwurf Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet wird, mit der Empfehlung auf Zustimmung.

104 105 106

Diese ­ nur sehr groben ­ Schätzungen gehen allerdings auf das Jahr 1979 zurück.

Siehe Ziffer 4.1.1.

Siehe Ziffer 6.3.

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