Stärkung der präventiven Rechtskontrolle Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren In Erfüllung des Postulats Pfisterer 07.3360 «Stärkung der präventiven Verfassungskontrolle» unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

5. März 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2009-1210

2187

Übersicht Die präventive Kontrolle der Rechtmässigkeit von Erlassentwürfen verfolgt das Ziel, bei der Entstehung von Rechtsnormen dafür zu sorgen, dass diese im Einklang mit dem übergeordneten Bundesrecht und dem Völkerrecht stehen und sich optimal in die bereits bestehende Rechtsordnung einfügen. Die präventive Rechtskontrolle geht einher mit dem politischen Prozess der Rechtsetzung. Sie zeigt der Bundesversammlung, dem Bundesrat und der Verwaltung bei der Ausarbeitung und dem Erlass von Verfassungsbestimmungen, Gesetzen und Verordnungen sowie beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge die rechtlichen Grenzen auf. Namentlich gilt es sicherzustellen, dass die verfassungsmässigen Kompetenzen der Kantone, die Zuständigkeiten von Bundesversammlung und Bundesrat sowie die Mitwirkungsrechte des Volkes (Referendum) nicht beschnitten werden und dass neue Regelungen die inhaltlichen Vorgaben des übergeordneten Rechts (z.B. Grundrechte) beachten.

Auf Bundesebene wird die präventive Rechtskontrolle hauptsächlich von Verwaltungsstellen mit Querschnittsaufgaben wahrgenommen. So überprüfen das Bundesamt für Justiz und im Hinblick auf gewisse Teilaspekte die Bundeskanzlei, die Eidgenössische Finanzverwaltung, die Direktion für Völkerrecht sowie das Integrationsbüro im Rahmen der verwaltungsinternen Konsultationsverfahren sämtliche Entwürfe zu rechtsetzenden Erlassen systematisch und von Amtes wegen auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht. Bei der parlamentarischen Beratung begutachten diese Verwaltungsstellen auf Ersuchen der zuständigen Departemente oder parlamentarischer Gremien die beantragten oder beschlossenen Änderungen der Erlassentwürfe auf ihre Verfassungs- und Völkerrechtskonformität.

Die Stärken dieser Art der Kontrolle liegen in der partnerschaftlichen Begleitung der federführenden Departemente und Fachämter, in der fachlichen Unterstützung der parlamentarischen Kommissionen, in der Praxisnähe, Flexibilität und Lösungsorientiertheit. Die präventive Rechtskontrolle erfolgt nicht punktuell und einmalig, sondern in verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsprozesses. Auf der anderen Seite gibt es in der geltenden Praxis auch Schwachstellen. Diese betreffen zum einen die Durchsetzung bereits bestehender Regeln für das verwaltungsinterne Verfahren (namentlich Fristen). Zum andern findet nicht
immer eine Überprüfung der Rechtmässigkeit von Anträgen statt, die im Rahmen der Beratungen des Bundesrates oder der Bundesversammlung eingebracht und akzeptiert werden. Das heutige System kann unter Umständen dazu führen, dass die Rechtmässigkeit eines Regelungsentwurfs nicht genügend geklärt wird. Der Bundesrat erachtet deshalb die Prüfung von Massnahmen zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle als angezeigt.

Nach einem Blick auf ausländische Modelle untersucht der Bundesrat denkbare Lösungsansätze zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle. Dazu gehört eine ganze Palette von Möglichkeiten, das bestehende System zu optimieren. Als weitere Massnahmen denkbar wären die Zentralisierung der Ausformulierung von Rechtserlassen in einem Bundesamt für Gesetzgebung, die Zentralisierung der Rechtskontrolle in einem Bundesamt oder in einer unabhängigen Verwaltungsstelle, die Schaffung einer parlamentarischen Verfassungsdelegation oder eines gemischten

2188

Hilfsorgans der Bundesversammlung sowie der Einsatz eines Gerichts zur Begutachtung von Erlassvorlagen. Ausgehend von dieser Auslegeordnung bieten sich aus der Sicht des Bundesrates vor allem folgende drei Handlungsoptionen an: ­

Optimierung des Status quo. Zur Stärkung des an sich bewährten Kontrollsystems erscheinen namentlich folgende Massnahmen als sinnvoll: Bestehen kontroverse Auffassungen zur Rechtmässigkeit von Erlassentwürfen, so wird dies in den Departementsanträgen an den Bundesrat, in den Botschaften des Bundesrates oder in den Berichten zu Kommissionsvorlagen stets transparent gemacht und beurteilt. Zu Aussprachepapieren, aufgrund derer Grundsatzfragen geklärt werden, die in rechtlicher Hinsicht für spätere Gesetzgebungsarbeiten wichtig sind, soll nach Möglichkeit eine Ämterkonsultation durchgeführt werden. Ferner wirken die Bundeskanzlei und die Departemente darauf hin, dass die für das verwaltungsinterne Verfahren geltenden Regeln, namentlich die Fristen, konsequent angewendet werden. Schliesslich werden die federführenden Departemente und Fachämter aufgefordert, die für die Rechtsprüfung zuständigen Verwaltungsstellen im parlamentarischen Verfahren beizuziehen, wenn in den Kommissionen oder im Plenum Anträge gestellt werden, die wichtige Rechtsfragen aufwerfen.

­

Zentralisierung der Rechtskontrolle. Die für die Rechtsetzungsbegleitung zuständigen Bereiche des Bundesamtes für Justiz, des Rechtsdienstes und der Sprachdienste der Bundeskanzlei sowie gegebenenfalls anderer Verwaltungsstellen werden in einem neuen Bundesamt oder in einer unabhängigen Verwaltungsstelle zentralisiert. Auf diese Weise haben die federführenden Departemente und Fachämter nur noch eine Ansprechstelle. Diese Lösung hat den Nachteil, dass die breitere Abstützung legistischer Anliegen sowie die Begutachtung von Vorlagen unter verschiedenen rechtlichen Gesichtswinkeln verloren geht. Ferner bedingt die Zentralisierung eine grössere Restrukturierung und die Definition neuer Schnittstellen.

­

Einsatz einer gerichtlichen Instanz. Die heute von Verwaltungsstellen wahrgenommene präventive Rechtskontrolle wird zum Teil auf ein bestehendes oder ein neu zu schaffendes Gericht übertragen. Der Vorteil dieser Option liegt darin, dass ein vom Parlament, vom Bundesrat und von der Verwaltung unabhängiges Organ Vorlagen ausserhalb der politischen Auseinandersetzung auf ihre Rechtmässigkeit prüft. Die Nachteile sind indessen gewichtig.

Hauptaufgabe der Gerichte ist es, Rechtsstreitigkeiten verbindlich zu entscheiden. Die Zuweisung einer Konsultativfunktion führt zu einer Zusatzbelastung des entsprechenden Gerichts und untergräbt möglicherweise dessen Autorität, wenn das Parlament von den Gutachten abweicht. Ferner muss eine permanente Begleitung der federführenden Departemente sowie eine kurzfristige Beratung des Bundesrates oder parlamentarischer Gremien durch Verwaltungsstellen zusätzlich gewährleistet bleiben.

2189

Der Bundesrat kommt zum Schluss, dass die Optimierung des status quo die sachgerechteste Lösung ist. Er wird in seinem Zuständigkeitsbereich die notwendigen Schritte einleiten und soweit erforderlich der Bundesversammlung Gesetzesanpassungen beantragen.

2190

Inhaltsverzeichnis Übersicht

2188

Abkürzungsverzeichnis

2193

1 Einleitung 1.1 Anlass und Aufbau des Berichts 1.2 Hintergrund 1.3 Ziel der präventiven Rechtskontrolle

2196 2196 2197 2202

2 Präventive Rechtskontrolle auf Bundesebene 2.1 Vorbemerkungen 2.2 Vorverfahren der Rechtsetzung 2.2.1 Verwaltungsinternes Verfahren 2.2.1.1 Selbstverantwortung der federführenden Stellen 2.2.1.2 Verwaltungsinterne Rechtskontrolle als Aufgabe von Querschnittsämtern 2.2.1.3 Stärken und Schwächen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle 2.2.2 Verfahren auf Regierungsstufe 2.2.2.1 Rechtsetzungsbefugnisse des Bundesrats 2.2.2.2 Verfahrensablauf 2.2.2.3 Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle 2.3 Verfahren bei parlamentarischen Initiativen 2.3.1 Verfahrensablauf 2.3.2 Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle 2.4 Parlamentarisches Verfahren 2.4.1 Rechtsetzungsbefugnisse der Bundesversammlung 2.4.2 Vorberatung in den parlamentarische Kommissionen 2.4.3 Beratung in den eidgenössischen Räten 2.4.4 Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle 2.5 Referendumsphase 2.6 Präventive Wirkung der Gerichtspraxis

2202 2202 2203 2203 2203

2211 2214 2214 2215 2216 2217 2217 2219 2219 2219 2220 2221 2223 2224 2225

3 Präventive Rechtskontrolle im Rechtsvergleich 3.1 Belgien (Conseil d'Etat) 3.2 Deutschland (Bundesministerium der Justiz) 3.3 Finnland (parlamentarische Verfassungskommission) 3.4 Frankreich (Conseil d'Etat, Conseil Constitutionnel) 3.5 Niederlande (Conseil d'Etat) 3.6 Schweden (Gesetzgebungsrat) 3.7 Slowakei (Verfassungsgericht) 3.8 Ungarn (Verfassungsgericht) 3.9 Synthese und Fazit

2226 2226 2227 2229 2229 2230 2231 2232 2234 2235

4 Denkbare Massnahmen zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle 4.1 Beibehaltung des status quo

2236 2237

2207

2191

4.2 Optimierung des status quo 4.2.1 Vorparlamentarisches Verfahren 4.2.2 Parlamentarisches Verfahren 4.3 Bundesamt für Gesetzgebung 4.4 Zentralisierung der Rechtskontrolle 4.5 Neue parlamentarische Organe 4.6 Gerichtliche Instanz 4.7 Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit

2237 2237 2240 2242 2244 2246 2248 2252

5 Würdigung 5.1 Beurteilung des status quo 5.2 Handlungsoptionen 5.2.1 Option 1: Optimierung des status quo 5.2.2 Option 2: Zentralisierung der Rechtskontrolle 5.2.3 Option 3: Einsatz einer gerichtliche Instanz

2254 2254 2255 2256 2258 2260

6 Schlussfolgerung

2261

2192

Abkürzungsverzeichnis AB aBV Abs.

ANAG AJP Art.

Aufl.

AuG BAG BBl BFM BGE BGer BGG BGMK BGÖ BJ BK BPR Bst.

BV bzw.

Commguide d.h.

DSG DV E.

EDÖB

Amtliches Bulletin alte Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (AS 1874 1 ff., BS 1 3 ff.), aufgehoben durch die BV vom 18. April 1999 Absatz Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (AS 1933 279 ff., BS 1 121 ff.), aufgehoben durch AuG per 1. Januar 2008 Aktuelle Juristische Praxis Artikel Auflage Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (SR 142.20) Bundesamt für Gesundheit Bundesblatt Bundesamt für Migration Bundesgerichtsentscheid Bundesgericht Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz; SR 173.110) Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (SR 138.1) Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz; SR 152.3) Bundesamt für Justiz Bundeskanzlei Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (SR 161.1) Buchstabe Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) beziehungsweise Sammlung von Merkblättern der Parlamentsdienste für die Arbeit der parlamentarischen Kommissionen das heisst Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (SR 235.1) Direktion für Völkerrecht Erwägung Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter 2193

EFD EFK EFV EG EGMR EJPD EMRK EPA EU f., ff.

fedpol FHG FKG Fn.

FZA

GRN GRS Hrsg.

IB i. V. m.

LeGes NFA NR NZZ OV-BK OV-EDA OV-EFD OV-EJPD ParlG

2194

Eidgenössisches Finanzdepartement Eidgenössische Finanzkontrolle Eidgenössische Finanzverwaltung Europäische Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101) Eidgenössisches Personalamt Europäische Union folgende, fortfolgende Bundesamt für Polizei Bundesgesetz vom 7. Oktober 2005 über den eidgenössischen Finanzhaushalt (SR 611.0) Bundesgesetz vom 28. Juni 1967 über die Eidgenössische Finanzkontrolle (SR 614.0) Fussnote Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (SR 0.142.112.681) Geschäftsreglement des Nationalrates vom 3. Oktober 2003 (SR 171.13) Geschäftsreglement des Ständerates vom 20. Juni 2003 (SR 171.14) Herausgeber Integrationsbüro in Verbindung mit Gesetzgebung & Evaluation Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen Nationalrat Neue Zürcher Zeitung Organisationsverordnung für die Bundeskanzlei vom 29. Oktober 2009 (SR 172.210.10) Organisationsverordnung für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten vom 29. März 2000 (SR 172.211.1) Organisationsverordnung für das eidgenössische Finanzdepartement vom 17. Februar 2010 (SR 172.215.1) Organisationsverordnung für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement vom 17. November 1999 (SR 172.213.1) Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, SR 171.10)

ParlVV RK-N RK-S RVOG RVOV Rz.

Redaktionskommissionsverordnung S.

sog.

SPK-N SPK-S SR StHG SZIER UNO vgl.

VIRK VlG VPB WAK-N WAK-S z.B.

ZBl ZGB Ziff.

ZSR

Verordnung der Bundesversammlung vom 3. Oktober 2003 zum Parlamentsgesetz und über die Parlamentsverwaltung (Parlamentsverwaltungsverordnung, SR 171.115) Rechtskommission des Nationsrates Rechtskommission des Ständerates Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (SR 172.010) Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November 1998 (SR 172.010.1) Randziffer Verordnung der Bundesversammlung vom 3. Oktober 2003 über die Redaktionskommission (SR 171.105) Seite sogenannt Staatspolitische Kommission des Nationalrates Staatspolitische Kommission des Ständerates Ständerat / Systematische Sammlung des Bundesrechts Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern (SR 642.14) Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Vereinte Nationen vergleiche Verwaltungsinterne Redaktionskommission Bundesgesetz vom 18. März 2005 über das Vernehmlassungsverfahren (SR 172.061) Verwaltungspraxis des Bundes, bis 2006 in gedruckter Form, ab 2007 nur noch in elektronischer Form, www.vpb.admin.ch Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats zum Beispiel Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210) Ziffer Zeitschrift für Schweizerisches Recht

2195

Bericht 1

Einleitung

1.1

Anlass und Aufbau des Berichts

Anlass für den vorliegenden Bericht ist das Postulat Pfisterer 07.3360 vom 20. Juni 2007 mit dem Titel «Stärkung der präventiven Verfassungskontrolle». Es wurde vom Ständerat am 26. September 2007 überwiesen und hat folgenden Wortlaut: «Der Bundesrat wird aufgefordert, zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten, wie die präventive Verfassungskontrolle bei der Vorbereitung insbesondere der Gesetz- sowie Verordnungsgebung und von sekundärem Völkerrecht durch Bundesversammlung, Bundesrat und Verwaltung institutionell verstärkt werden kann.

Zu erörtern ist im Sinne der (...) Begründung namentlich: a. Worin liegt das Problem? Wann kommen Verfassungsverletzungen tendenziell vor? Zukunft?

b. Welche Ziele soll die präventive Verfassungskontrolle erreichen? Welche Massnahmen bieten sich an? Ihre Vor- und Nachteile? Wie ist zur Realisierung vorzugehen? Ablauf, Zeit, Aufwand?

c. Wie kann (primär) die Rolle des Bundesamtes für Justiz verstärkt und in alle Bundesrats- und Parlamentsentscheide werden? Mit einer Stellung ähnlich der Finanzkontrolle? Eingeschlossen eine jährliche öffentliche Berichterstattung ans Parlament? Soll ergänzend ein Parlamentsdienst für Verfassungskontrolle geschaffen werden? Ist (sekundär) ein besonderes Kontrollorgan inner- oder ausserhalb des Parlaments einzurichten? Eine parlamentarische Verfassungsdelegation, ein Conseil d'Etat usw.?» Der Bericht wurde von einer Arbeitsgruppe vorbereitet, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundesamtes für Justiz, der Bundeskanzlei, der Direktion für Völkerrecht, des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zusammensetzte.1 Im Bericht wird anstelle des Ausdrucks «präventive Verfassungskontrolle» der Begriff «präventive Rechtskontrolle» beziehungsweise «Kontrolle der Rechtmässigkeit» verwendet. Dadurch soll transparent gemacht werden, dass es nicht allein um die präventive Überprüfung von Erlassentwürfen auf ihre Verfassungsmässigkeit geht, sondern generell auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Bundesrecht

1

Der Arbeitsgruppe gehörten an: Vorsitz: ­ Luzian Odermatt, Chef Fachbereich II für Rechtsetzung, Bundesamt für Justiz Mitglieder: ­ Dieter Cavalleri, Chef Sektion Völkerrecht, Direktion für Völkerrecht ­ Mathias Kuhn, Präsidialsekretariat, Bundesverwaltungsgericht ­ Patrick Mägli, Sektion Recht, Bundeskanzlei ­ Gerold Steinmann, Gerichtsschreiber (wissenschaftlicher Berater), Bundesgericht ­ Esther Tophinke, Fachbereich II für Rechtsetzung, Bundesamt für Justiz

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(einschliesslich Prüfung der Rechtmässigkeit von Verordnungen) und auf ihre Vereinbarkeit mit dem für die Schweiz verbindliche Völkerrecht.

Der Aufbau des Berichts orientiert sich an den Fragestellungen des Postulats. In der Einleitung werden der Hintergrund des Problems skizziert und das Ziel der präventiven Rechtskontrolle geklärt. Im zweiten Teil wird untersucht, wie die präventive Rechtskontrolle bei der Rechtsetzung heute von der Bundesverwaltung, vom Bundesrat und von der Bundesversammlung wahrgenommen wird (Analyse des IstZustandes). Dabei werden namentlich die Stärken und Schwächen des heutigen Systems aufgezeigt. Um Lösungsansätze zu gewinnen, wird im dritten Teil ein Blick auf ausländische Modelle der präventiven Rechts- beziehungsweise Verfassungskontrolle geworfen. Im vierten Teil werden denkbare Massnahmen zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle dargelegt und deren Vor- und Nachteile beleuchtet.

Nach einer Würdigung der Bestandesaufnahme werden im fünften Teil drei Handlungsoptionen formuliert.

1.2

Hintergrund

Stufenbau der Rechtsordnung Die Bundesverfassung bildet die rechtliche Grundordnung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Sie legt die Ziele und Aufgaben des Staates fest, verankert Grundrechte, bestimmt die Staatsorgane sowie deren Zuständigkeit und Verhältnis zueinander, ordnet die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen und die Aussenbeziehungen zur Völkergemeinschaft. Zu den wichtigsten Strukturmerkmalen der Bundesverfassung gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus.2 Diese Verfassungsprinzipien stehen sich gleichwertig gegenüber; sie bedingen und ergänzen sich gegenseitig.

Die Verfassung regelt nur die Grundzüge der Rechtsordnung und bedarf der Konkretisierung durch die hierfür zuständigen Organe. Zentrale Bedeutung kommen dabei auf Bundesebene dem Bundesgesetzgeber Bundesversammlung und Volk und ihm nachgeordnet dem Bundesrat und der Bundesverwaltung zu. Es ist primär ihre Aufgabe, die in der Verfassung festgelegten Ziele und Aufträge durch den Erlass von Gesetzen und Verordnungen sowie gegebenenfalls durch den Abschluss von Staatsverträgen umzusetzen.

Als oberster Rechtserlass, der die Grundwerte und -mechanismen des Gemeinwesens verankert und der von Volk und Ständen gutgeheissen wurde, beansprucht die Bundesverfassung Geltung und Vorrang vor dem Gesetzes- und Verordnungsrecht des Bundes sowie vor dem gesamten Recht der Kantone. Die innerstaatliche Rechtsordnung sowohl auf eidgenössischer als auch auf kantonaler Ebene wird als Stufenbau (Verfassung Gesetz Verordnung) verstanden. Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor (Art. 49 Abs. 1 BV). Zur Frage, welchen Rang das für die Schweiz verbindliche Völkerrecht (namentlich Staatsverträge und Völkergewohnheitsrecht) in der innerstaatlichen Normenhierarchie einnimmt, wird auf den

2

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 14 ff.; René Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Basel 2009, S. 34 ff.

2197

Bericht des Bundesrates zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht verwiesen, in dem das Thema differenziert dargestellt wird.3 Es ist eine zentrale staatspolitische Frage, welches Organ dafür Sorge trägt, dass Verfassungsbestimmungen, Gesetze und Verordnungen mit dem höherrangigen Recht konform sind. Auf Bundesebene gibt es keine für die Rechtskontrolle allein verantwortliche Instanz, vielmehr gibt es mehrere «Hüter des übergeordneten Rechts», die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten präventiv oder repressiv über die Verfassungs-, Gesetzes- und Völkerrechtskonformität der tieferstufigen Normen wachen: die Bundesversammlung, der Bundesrat, die für die rechtliche Qualitätssicherung der Rechtsetzung zuständige Bundesverwaltung, das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden.4 Präventive Rechtskontrolle Die Rechtskontrolle ist präventiv, wenn Rechtsnormen vor ihrer Verabschiedung5, spätestens aber vor ihrer Publikation oder ihrem Inkrafttreten, auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht überprüft werden. Bei der präventiven Kontrolle handelt es sich immer um eine abstrakte Kontrolle. Da die entsprechenden Rechtsnormen noch nicht in Kraft sind, können sie nicht Grundlage eines konkreten Anwendungsfalles werden. Auf Bundesebene kontrolliert insbesondere das Bundesamt für Justiz sämtliche Entwürfe für rechtsetzende Erlasse auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht, namentlich dem Verfassungs- und Gesetzesrecht, sowie auf ihre Vereinbarkeit mit dem für die Schweiz geltenden Völkerrecht.

Weitere Verwaltungsstellen nehmen im Hinblick auf bestimmte Rechtsbereiche ebenfalls entsprechende Aufgaben wahr, so die Bundeskanzlei, die Eidgenössische Finanzverwaltung, die Direktion für Völkerrecht und das Integrationsbüro. Eine spezielle präventive Normenkontrolle nimmt die Bundesversammlung bei der Prüfung der Gültigkeit von Volksinitiativen wahr. Sie prüft dabei insbesondere, ob der vom Initiativkomitee ausgearbeitete neue Verfassungstext mit zwingendem Völkerrecht übereinstimmt.

Es ist Aufgabe dieses Berichts, zu zeigen, wie die präventive Rechtskontrolle auf Bundesebene im Einzelnen funktioniert, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und wie sie allenfalls gestärkt werden könnte. Zur präventiven Rechtskontrolle gezählt werden dabei sämtliche Prüfungsmechanismen, also auch Massnahmen, die rechtlich nicht bindend sind (z.B. Begutachtung der Verfassungsmässigkeit einer Gesetzesvorlage zuhanden der Bundesversammlung).6

3 4

5

6

Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263 Eine gewisse Wächterfunktion kommt ferner faktisch auch der Rechtswissenschaft zu, auch wenn dies weder in der Verfassung noch in einem Gesetz verankert ist (Expertisen, wissenschaftliche Publikationen, Stellungnahmen in den Medien).

Bei Verfassungs- und Gesetzesvorlagen, bei Parlamentsverordnungen sowie bei Bundesbeschlüssen zur Genehmigung völkerrechtlicher Verträge, die dem Referendum unterstehen, erfolgt diese mit der Schlussabstimmung in den eidgenössischen Räten, bei Bundesratsverordnungen mit dem entsprechenden Bundesratsbeschluss.

Dies weicht von der gebräuchlichen Verwendung des Begriffs der präventiven Verfassungs- bzw. Rechtskontrolle ab, wonach von präventiver «Kontrolle» in der Regel nur die Rede ist, wenn die Überprüfung verbindlich ist und das Inkrafttreten der Norm verhindern kann. Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 510; Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, Basel/Frankfurt am Main 1984, S. 14.

2198

Der Bericht befasst sich dabei im Wesentlichen mit der präventiven Kontrolle staatlicher Normen (generell-abstrakte Regeln, Rechtsätze) und grundsätzlich nicht mit der präventiven Rechtskontrolle konkreter Einzelakte, z.B. nicht mit der Rechtmässigkeit einer vom Bundesrat zu erlassenden Verfügung oder der Vereinbarkeit eines Voranschlagbeschlusses des Parlaments mit der in Artikel 126 Absätze 2 und 3 sowie Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe c BV verankerten Schuldenbremse. Untersucht wird schliesslich die präventive Prüfung der Rechtmässigkeit von Bundeserlassen, in der Regel nicht jene von kantonalen Erlassen.7 Nachträgliche Rechtskontrolle Die Rechtskontrolle ist repressiv oder nachträglich, wenn Rechtsnormen erst nach ihrer Publikation oder ihrem Inkrafttreten abstrakt oder anlässlich eines konkreten Anwendungsfalles auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht überprüft und bei einem Verstoss dagegen in der Regel aufgehoben oder nicht mehr angewendet werden. In der Schweiz wird diese Art der Rechtskontrolle in erster Linie von den Gerichten wahrgenommen.

Während kantonale Erlasse sowohl der abstrakten als auch der konkreten Normenkontrolle unterliegen8, steht in Bezug auf Bundeserlasse einzig die konkrete Normenkontrolle zur Verfügung. Grundsätzlich können alle rechtsanwendenden Behörden und letztinstanzlich das Bundesgericht im konkreten Anwendungsfall entscheidrelevante Normen des Bundesrechts akzessorisch auf die Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht überprüfen und ihnen gegebenenfalls die Anwendung versagen (diffuses System).9 Dies gilt uneingeschränkt für Verordnungen der Bundesversammlung, des Bundesrates10 und der Departemente. Eine gewichtige Ausnahme sieht Artikel 190 BV vor. Danach sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts enthält dieser Verfassungsartikel kein Prüfungsverbot, sondern nur ein Anwendungsgebot.11 Es ist den Gerichten unbenommen, Bundesgesetze auf ihre Übereinstimmung mit Verfassungsrecht zu überprüfen, sie sind indessen an verfassungswidrige Entscheidungen des Bundesgesetzgebers gebunden. Noch offene Fragen bestehen hinsichtlich der Konsequenzen von

7

8

9 10 11

Nach Artikel 61b RVOG unterbreiten die Kantone dem Bund ihre Gesetze und Verordnungen zur Genehmigung, soweit ein Bundesgesetz dies vorsieht. Die Genehmigung ist Voraussetzung der Gültigkeit. Zuständig für die Genehmigung sind in nichtstreitigen Fällen die Departemente und in streitigen Fällen der Bundesrat.

Eine Besonderheit besteht bei den Kantonsverfassungen: Verfassungsänderungen werden nach der Praxis nicht im abstrakten Normenkontrollverfahren vor Bundesgericht angefochten (BGE 118 Ia 124); sie unterliegen der Gewährleistung durch die Bundesversammlung (Art. 51 und 172 Abs. 2 BV). Bestimmungen einer Kantonsverfassung können indessen jedenfalls dann akzessorisch auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht überprüft werden, wenn dieses erst nach der Gewährleistung der entsprechenden kantonalen Verfassung durch die Bundesversammlung in Kraft getreten ist. Vgl. dazu BGE 111 Ia 239 ff.; 116 Ia 359 E. 4b S. 366 f.; 121 I 138 E. 5c/aa S. 147; Heinz Aemisegger/Karin Scherrer, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, Rz. 40 zu Art. 82 BGG; Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2008, Rz. 1033.

Häfelin/Haller/Keller (Fn. 8), Rz. 2070 ff.

BGE 128 II 249 E. 5.4 S. 263; 119 IV 260; 114 Ib 17 BGE 128 II 249 E. 5.4 S. 263; 123 V 310 E. 6b/bb S. 322; 123 II 11 E. 2; 117 Ib 367 E. 2f S. 373

2199

Artikel 190 BV bei völkerrechtswidrigen Bundesgesetzen.12 Mögliche Konflikte zwischen Bundesgesetzen und Verfassungsrecht beziehungsweise Völkerrecht lassen sich in vielen Fällen durch eine verfassungs- oder völkerrechtskonforme Auslegung vermeiden.13 Verhältnis zwischen präventiver und nachträglicher Rechtskontrolle In den Bereichen, in denen die nachträgliche Rechtskontrolle eingeschränkt ist namentlich bei der Überprüfung der Verfassungskonformität von Bundesgesetzen kommt der präventiven Rechtskontrolle bei der Vorbereitung von Rechtserlassen erhöhte Bedeutung zu. Die präventive kann allerdings die nachträgliche Rechtskontrolle nicht ersetzen. Beide Instrumente ergänzen einander und dienen auf verschiedene Weise dem gleichen Ziel, nämlich die Verfassungs- und Gesetzeskonformität des nachgeordneten Rechts sowie die Vereinbarkeit von Landes- und Völkerrecht sicherzustellen. Die nachträgliche Rechtskontrolle wäre auch dann nicht entbehrlich, wenn eine lückenlos funktionierende präventive Rechtskontrolle bestände. Oft erweisen sich nämlich Gesetzesbestimmungen erst bei ihrer Anwendung als verfassungswidrig oder lassen zumindest entsprechende Zweifel aufkommen. Auch kann sich das Verfassungsrecht weiterentwickeln und auf diese Weise Gesetzesbestimmungen nachträglich mit übergeordnetem Recht unvereinbar werden lassen.14 Auf der anderen Seite dispensiert auch eine ausgebaute nachträgliche Rechtskontrolle nicht von einer präventiven Rechtskontrolle. Die Rechtsstaatlichkeit gebietet, Rechtsverletzungen möglichst zu vermeiden statt sie erst später zu korrigieren.

Reformbestrebungen In den letzten Jahren standen Reformprojekte und parlamentarische Vorstösse im Vordergrund, die den Ausbau der nachträglichen Rechtskontrolle, namentlich der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Ziel hatten. Erinnert sei an die Justizreform, die das Bundesgericht für zuständig erklären wollte, im Zusammenhang mit einem Anwendungsakt zu prüfen, ob ein Bundesgesetz verfassungsmässige Rechte, Völkerrecht oder die verfassungsmässig gewährleisteten Zuständigkeiten der Kantone verletzt.15 In der Botschaft zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kanton (NFA) hatte der Bundesrat auf Ersuchen der Kantone vorgeschlagen, das Bundesgericht auf staatsrechtliche Klage eines Kantons hin darüber entscheiden zu
lassen, ob ein Bundesgesetz verfassungsmässige Kompetenzen der Kantone missachte.16 In neuerer Zeit haben namentlich die parlamentarischen Initiativen Studer Heiner zur Verfassungsgerichtsbarkeit (05.445)17 und 12

13 14 15 16 17

Vgl. hierzu den Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263; Yvo Hangartner, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Rz. 29 ff. zu Art. 190 BV.

BGE 134 I 105 E. 6 S. 110; 134 II 249 E. 2.3; 128 IV 201 E. 1.2; 125 III 209 E. 4c S. 216.

Zu Grenzen der verfassungsmässigen Auslegung: 134 II 249 E. 2.3.

Vgl. BGE 116 Ia 359 E. 5c S. 368; BGer-Urteil 5F_6/2008 vom 18.07.2008 E. 3.1.

Vorlage C der Verfassungsreform, BBl 1997 641 (Art. 178 BV).

BBl 2002 2291 2464 ff. 2340 2564. Der Vorschlag des Bundesrates wurde vom Parlament nicht übernommen.

Die RK-N gab der Initiative am 12. Oktober 2007 Folge. Die RK-S stimmte dem am 13. Mai 2008 nicht zu. Die RK-N beschloss am 16. Oktober 2008, am Entscheid, der Initiative Folge zu geben, festzuhalten. Der Nationalrat entschied am 28. April 2009 mit 80 zu 67 Stimmen, der Initiative Folge zu geben. Am 15. Juni 2009 sprach sich die SPK-S dafür aus, der Initiative ebenfalls Folge zu geben.

2200

Müller-Hemmi zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung (07.476)18 das Anliegen der Verfassungsgerichtsbarkeit wieder aufgenommen. Das Thema ist ferner im Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative Vischer zur Gültigkeit von Volksinitiativen (07.477) wieder aufgetaucht.19 Schliesslich hat die SVP-Fraktion mittels einer parlamentarischen Initiative (08.401) ein Modell zur nachträglichen Kontrolle von Bundesratsverordnungen durch das Parlament vorgeschlagen (Verordnungsveto).20 Im Vordergrund dieses Vorstosses steht indessen weniger die Prüfung der Gesetzmässigkeit und Stufengerechtigkeit einzelner Verordnungsbestimmungen als vielmehr die Kontrolle, dass der Bundesrat den Willen des Gesetzgebers in der Verordnung korrekt umsetzt.

Weniger zahlreich und zum Teil etwas älter sind die Vorstösse zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle. Zu nennen sind etwa das vom Ständerat am 10. Juni 1954 angenommene Postulat Stüssi, das die Prüfung der Frage verlangte, ob das Justiz- und Polizeidepartement zur Mitwirkung bei der Vorbereitung aller gesetzgeberischen Erlasse beizuziehen sei.21 Ferner schlug der Bundesrat im Zusammenhang mit dem Erlass des neuen Geschäftsverkehrsgesetzes 1960 vor, zur Stärkung der Kontrolle der Verfassungsmässigkeit von Erlassen im Stadium der parlamentarischen Beratung eine parlamentarische Verfassungsdelegation einzusetzen.22 Im Rahmen der Verfassungsreform (Reform der Volksrechte) hatte der Bundesrat weiter vorgeschlagen, dass die Bundesversammlung bei Zweifeln, ob eine Volksinitiative die Einheit der Form und die Einheit der Materie wahrt oder die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts einhält, das Bundesgericht anzurufen habe, welches verbindlich entscheiden sollte.23 Nach dem Scheitern der Reform der Volksrechte hatte das Parlament diejenigen Vorschläge wieder aufgenommen, die mehrheitsfähig waren, unter anderem die allgemeine Volksinitiative. Volk und Stände haben am 9. Februar 2003 in diesem Zusammenhang einem neuen Artikel 189 Absatz 1bis BV24 zugestimmt, wonach das Bundesgericht Beschwerden wegen Missachtung von Inhalt und Zweck einer allgemeinen Volksinitiative durch die Bundesversammlung beurteilt. Nach dem Entwurf der entsprechenden Gesetzesvorlage hätte ein Initiativ18 19

20

21 22 23 24

Die RK-N beschloss am 16. Oktober 2008 und die RK-S am 15. Juni 2009, der Initiative Folge zu geben.

Die SPK-N gab der Initiative am 21. August 2008 Folge: die SPK-S stimmte dem am 14. Oktober 2008 nicht zu. Der Nationalrat beschloss am 11. März 2009, der Initiative Folge zu geben. Vgl. hierzu etwa folgende Artikel in der NZZ: Andreas Auer, Statt Abbau der Volksrechte Ausbau des Rechtsstaates, Völkerrechtswidrige Volksinitiativen als Anstoss zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, NZZ vom 10. September 2008, S. 15; Volk oder Richter ­ wenn keiner das letzte Wort hat, NZZ vom 13./14. September 2008, S. 13; Das Bundesgericht soll es richten, NZZ vom 23./24. August 2008, S. 16.

Nach diesem Vorschlag sollten beide Räte «zu bundesrätlichen Verordnungen ein einfaches Veto, ohne Möglichkeit der Abänderung, einlegen können, wenn dies von einem Drittel der Ratsmitglieder in einem der beiden Räte (von 67 Mitgliedern des Nationalrates oder 16 Mitgliedern des Ständerates) verlangt wird.» Der Nationalrat beschloss am 17. Dezember 2008 mit grosser Mehrheit, dieser parlamentarischen Initiative Folge zu geben. Der Ständerat hingegen beschloss am 12. März 2009 mit grossem Mehr das Gegenteil. Zum Verordnungsveto vgl. auch Georg Müller, Veto gegen Verordnungen fragwürdig: Eingriff ins Zweikammersystem und Überforderung des Parlaments, NZZ vom 17. Februar 2009, S. 15.

Vgl. Hinweis in der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über ein neues Geschäftsverkehrsgesetz vom 25. April 1960, BBl 1960 I 1487.

BBl 1960 1449 1496 ff. Vgl. dazu hinten Ziff. 4.5.

Vorlage B der Verfassungsreform, BBl 1997 639 (Art. 177a BV).

Vgl. Bundesbeschluss über die Änderung der Volksrechte vom 4. Oktober 2002, AS 2003 1949.

2201

komitee einen Umsetzungserlass der Bundesversammlung zu allgemeinen Volksinitiativen innert 30 Tagen seit der Eröffnung der Beschlüsse der eidgenössischen Räte durch die Bundeskanzlei beim Bundesgericht anfechten können.25 Das Parlament ist indessen auf die Umsetzung der allgemeinen Volksinitiative nicht eingetreten und hat beschlossen, die Bundesverfassung wieder zu ändern.26 Volk und Stände haben am 27. September 2009 der entsprechenden Verfassungsänderung zugestimmt.

1.3

Ziel der präventiven Rechtskontrolle

Die präventive Rechtskontrolle geht einher mit dem politischen Prozess der Rechtsetzung. Ihr Ziel ist es, das zuständige Rechtsetzungsorgan, namentlich die Bundesversammlung, den Bundesrat und die Bundesverwaltung dabei zu unterstützen, ihre Verantwortung bei der Umsetzung der Verfassung durch Gesetze und Verordnungen sowie beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge bestmöglich wahrzunehmen.

Wirkungsvolle Mechanismen sollen dazu beitragen, dass das Verfahren der Rechtsetzung und des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge im Einklang mit dem übergeordneten Recht verläuft, dass namentlich die Zuständigkeiten der Kantone und die Mitwirkungsrechte des Volkes (und der Stände) nicht beschnitten werden und dass neue Rechtsnormen die inhaltlichen Vorgaben des höherrangigen Bundesrechts beachten, mit dem Völkerrecht vereinbar sind und sich optimal in die bestehende Rechtsordnung einfügen. Die präventive Rechtskontrolle dient nicht nur rechtsstaatlichen Anliegen (Hierarchie der Normen, kohärentes Rechtssystem), sondern auch demokratischen und föderalistischen. Die rechtliche Qualitätsprüfung der Rechtsetzung stellt eine für die Volkswirtschaft wichtige Rahmenbedingung dar. Sie bildet Teil der Rechtssicherheit, die der Staat zu gewährleisten hat.

2

Präventive Rechtskontrolle auf Bundesebene

2.1

Vorbemerkungen

Die nachfolgende Analyse des Ist-Zustandes konzentriert sich darauf, gestützt auf die rechtlichen Grundlagen und anhand von typischen Konstellationen darzustellen, wie die präventive Rechtskontrolle in den einzelnen Stadien der Rechtsetzung Vorverfahren der Rechtsetzung und parlamentarisches Verfahren auf Bundesebene wahrgenommen wird. Eine an sich interessante, umfassende empirische Untersuchung über die Häufigkeit von Verfassungsverletzungen in der Rechtsetzung könnte nicht mit vernünftigem Aufwand bewerkstelligt werden, würde den Rahmen dieses Berichts sprengen und ist für die Schlussfolgerungen entbehrlich. Hinzu kommt, dass oftmals umstritten ist, ob eine Norm das übergeordnete Bundesrecht oder das Völkerrecht verletzt oder nicht. Zwar vermögen Gutachten und Stellungnahmen des Bundesamtes für Justiz oder anderer Verwaltungsstellen, Stimmen in der Wissenschaft sowie Einschätzungen in den eidgenössischen Räten gewichtige Indizien für 25

26

Entwurf eines Bundesgesetzes über die Einführung der allgemeinen Volksinitiative, Ziff I/3, Art. 89 Abs. 4 (neu) und Art. 101a (neu) BGG, BBl 2006 5331 5339. Vgl. auch Gerold Steinmann, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, Rz. 101 f. zu Art. 82 Bst. c BGG.

Bundesbeschluss vom 19. Dezember 2008 über den Verzicht auf die Einführung der allgemeinen Volksinitiative (BBl 2009 13).

2202

die Verfassungs- oder Völkerrechtswidrigkeit einer Norm zu liefern. Eine verbindliche Beurteilung erfolgt aber nur dann, wenn eine rechtsanwendende Behörde, insbesondere ein Gericht, veranlasst wird, die Rechtskonformität einer Norm zu prüfen.

Solche Fälle sind nicht häufig: Zu nennen sind etwa die Urteile des Bundesgerichts beziehungsweise des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Namen und Bürgerrecht der Ehegatten27, zur Ungleichbehandlung von Schweizer Staatsangehörigen und von jenen aus EU- oder EFTA-Staaten beim Familiennachzug28, zur tariflichen Gleichbehandlung von Eineltern- und Zweielternfamilien29 oder zur Adoption im Konkubinat30.

2.2

Vorverfahren der Rechtsetzung

2.2.1

Verwaltungsinternes Verfahren

2.2.1.1

Selbstverantwortung der federführenden Stellen

Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsgebung Im Bereich der Rechtsetzung auf Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsstufe leitet unter Vorbehalt der parlamentarischen Initiativen und der Standesinitiativen
der Bundesrat das Vorverfahren (Art. 7 RVOG). Die für den jeweiligen Sachbereich zuständigen Dienststellen der Bundesverwaltung (Fachämter)31 treffen dabei
die ersten Abklärungen, arbeiten Regelungskonzepte aus und entwerfen die Normtexte sowie die dazugehörenden Erläuterungen. Bezüglich des Vorgehens besteht ein grosser Gestaltungsspielraum.32 Die Vorentwürfe können durch das Fachamt selber, eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe, eine einzelne externe Fachperson, eine Studienkommission oder eine Expertenkommission ausgearbeitet werden. Bei komplexen Rechtsetzungsvorhaben kann es sachlich angebracht sein, dem Bundesrat

27

28 29 30

31

32

Unvereinbarkeit zwischen Bestimmungen des ZGB (Art. 30 Abs. 2, 160 Abs. 1, 161 und 271) und Art. 8 Abs. 3 BV (Gleichstellung der Geschlechter) bzw. zwischen Art. 160 Abs. 2 ZGB und Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK. Vgl. EGMR-Urteil vom 22.02.1994 (Burghartz gegen Schweiz), VPB 1994 Nr. 121 S. 768; BGE 132 I 68 E. 4.3.1 S. 78; BGer-Urteil 5A.4/2005 vom 24.05.2005; BGE 126 I 1 E. 2e S. 4; 125 III 209 E. 5 S. 216.

Inzwischen liegt ein Entwurf zu einer entsprechenden Änderung des ZGB vor (BBl 2009 423). Vgl. hierzu den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 22.08.2008 zur parlamentarischen Initiative (03.428n) Name und Bürgerrecht der Ehegatten. Gleichstellung (BBl 2009 403) sowie die Stellungnahme des Bundesrates vom 12.12.2008 (BBl 2009 429). Der Nationalrat hat am 11. März 2009 beschlossen, die Vorlage mit dem Auftrag an die Rechtskommission zurückzuweisen, ausschliesslich die durch das EGMR-Urteil Burghartz absolut notwendigen Schritte vorzuschlagen. Zum neuen Entwurf: BBl 2009 7573, 7579, 7581; AB 2009 N 2283.

Ungleiche Regelungen in Art. 17 Abs. 2 ANAG und in Art. 3 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA. BGE 129 II 249. Vgl. nun aber Art. 42 AuG.

Unvereinbarkeit zwischen Art. 11 Abs. 1 StHG und Art. 127 Abs. 2 BV (Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit). BGE 131 II 697 und 131 II 710.

(Teilweise) Unvereinbarkeit zwischen Art. 264a Abs. 3 sowie 267 Abs. 2 ZGB und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens). EGMR-Urteil vom 13.12.07 (Emonet und andere gegen Schweiz); BGer-Urteil 5F_6/2008 vom 18.07.2008 (Revisionsurteil).

Die Zuständigkeit der einzelnen Dienststellen zur Vorbereitung der Erlasse in bestimmten Sachbereichen wird in den Organisationsverordnungen der einzelnen Departemente geregelt.

Vgl. Giovanni Biaggini, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Rz. 12 zu Art. 181 BV.

2203

Aussprachepapiere zu wichtigen Fragen zu unterbreiten33. Gestützt auf die Ergebnisse der internen und externen Konsultationsverfahren bereinigen die Fachämter die Erlassentwürfe und arbeiten zuhanden des jeweiligen Departements die Botschaft und den Verfassungs- oder Gesetzesentwurf des Bundesrates beziehungsweise den Entwurf der Bundesratsverordnung aus. Die Rechtsetzung auf Bundesebene ist somit dezentral organisiert.34 Im Vorverfahren der Rechtsetzung werden wichtige Weichenstellungen getroffen.

Dabei haben die federführenden Stellen bereits bei der Ausarbeitung der Normkonzepte und der ersten Entwürfe das massgebende Recht zu beachten, insbesondere die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen, die Grundrechte sowie das für die Schweiz verbindliche Völkerrecht. Ferner ist die der Regelungsmaterie angemessene Stufe der Rechtsetzung (Verfassung, Bundesgesetz, Verordnung des Bundesrats oder untergeordneter Einheiten) sowie die Zulässigkeit von allfälligen Delegationen zu klären. Entsprechend sind nach Artikel 141 Absatz 2 Buchstabe a ParlG in der Botschaft des Bundesrates zu Erlassentwürfen die Rechtsgrundlage, die Auswirkungen auf die Grundrechte, die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht und das Verhältnis zum europäischen Recht zu erläutern. Wichtige Hilfsmittel bei dieser Arbeit sind die Praxis der eidgenössischen Gerichte, die Rechtslehre, der Gesetzgebungsleitfaden des BJ35 sowie der Botschaftsleitfaden der BK36. Die Fachämter sollten so organisiert sein, dass sie ihre Verantwortung bei der Rechtsetzung wahrnehmen können. Idealerweise verfügen sie über Mechanismen der Selbstkontrolle, sei es in Form von Rechtsdiensten oder gar in Form von Qualitätssicherungssystemen (wie z.B. das Bundesamt für Gesundheit37 oder das Bundesamt für Umwelt).

Volksinitiativen Bei Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung in Form des ausgearbeiteten Entwurfs (Art. 139 Abs. 2 BV38) wird der Verfassungstext vom entsprechenden Initiativkomitee ausgearbeitet. Die Bundeskanzlei kontrolliert im Rahmen der Vorprüfung, ob die Unterschriftenliste den gesetzlichen Formen entspricht und ob der Titel der Initiative nicht irreführend ist, kommerzielle oder persönliche Werbung enthält oder zu Verwechslungen Anlass gibt.39 Ferner prüft die BK die Initiative auf 33

34

35 36 37 38 39

Gemäss Artikel 17 RVOG führt der Bundesrat zu Fragen von weitreichender Bedeutung besondere Aussprachen durch. Mittels solcher Aussprachen trifft der Bundesrat Zwischenentscheide, legt Grundzüge einer Regelung fest und erteilt dem zuständigen Departement oder der Bundeskanzlei Anweisungen zur Bearbeitung eines Rechtsetzungsgeschäftes. Auf diese Weise werden wichtige Entscheide nicht auf Verwaltungs-, sondern auf Regierungsebene getroffen. Vgl. dazu Thomas Sägesser, Handkommentar zum Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG), Bern 2007, Rz. 3 ff. zu Art. 17 RVOG.

Entsprechendes gilt grundsätzlich auch für die kantonale Ebene. Zum Kanton Genf vgl.

etwa Raphaël Martin, L'élaboration décentralisée de la législation: la situation et les perspectives dans le canton de Genève, LeGes 2002/3, S. 67 ff.

Bundesamt für Justiz, Gesetzgebungsleitfaden, Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes, 3. nachgeführte Auflage, Bern 2007.

Schweizerische Bundeskanzlei, «Botschaftsleitfaden», Leitfaden zum Verfassen von Botschaften des Bundesrates (www.bk.admin.ch > Themen > Sprachen > Hilfsmittel).

Vgl. dazu Markus Schlatter, «Qualitätsmanagement Rechtsetzung» im Bundesamt für Gesundheit (BAG), in LeGes 2008/2, S. 315 ff.

Text gemäss Bundesbeschluss vom 19. Dezember 2008 über den Verzicht auf die Einführung der allgemeinen Volksinitiative (BBl 2009 13).

Vgl. BGer 1A.314/1997 vom 30.3.1998, in ZBl 1999 527.

2204

ihre sprachliche Übereinstimmung in den drei Amtssprachen. Sie veröffentlicht Titel und Text der Initiative sowie die Namen der Urheber im Bundesblatt (Art. 69 BPR).

Eine Überprüfung der vorgeschlagenen Verfassungsnorm(en) auf ihre Vereinbarkeit mit anderem Verfassungsrecht und mit Völkerrecht findet zu diesem Zeitpunkt nicht statt.40 Nach Ablauf der Sammelfrist (18 Monate) stellt die Bundeskanzlei fest, ob die Volksinitiative die verfassungsmässig vorgeschriebene Zahl gültiger Unterschriften (100 000) aufweist (Art. 72 BPR).

Ist die Volksinitiative zustande gekommen, so hat das in der Sache zuständige Departement beziehungsweise Fachamt zuhanden des Bundesrates die Botschaft und den Entwurf eines Bundesbeschlusses für eine Stellungnahme der Bundesversammlung vorzubereiten. Allenfalls kann auch ein Gegenentwurf oder ein mit der Volksinitiative eng zusammenhängender Erlassentwurf ausgearbeitet werden (Art. 139 Abs. 5 BV41, Art. 97 Abs. 2, 101 und 105 ParlG). Im Entwurf der Botschaft ist insbesondere darzulegen, ob eine Volksinitiative nach den Kriterien von Artikel 139 Absatz 3 BV (Einheit der Form, Einheit der Materie, Vereinbarkeit mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts) als gültig zu betrachten ist.

Abschluss völkerrechtlicher Verträge Rechtsetzende Staatsverträge gewinnen als Rechtsquelle im innerstaatlichen Bereich neben dem Gesetzesrecht zunehmend an Bedeutung.42 Das Vertragsabschlussverfahren unterscheidet sich vom Gesetzgebungsverfahren namentlich dadurch, dass der Inhalt der völkerrechtlichen Normen im Rahmen der Verhandlungsmandate der Regierungen in internationalen Verhandlungen festgelegt wird.43 Um die Aufgaben, die den Fachämtern im Bereich der Staatsverträge zukommen, transparenter zu machen, soll das Abschlussverfahren kurz skizziert werden.

Beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge teilen sich die Bundesversammlung und der Bundesrat die Kompetenzen. Der Bundesrat entscheidet über die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, ernennt die Verhandlungsdelegation, erteilt das Verhandlungsmandat und unterzeichnet den ausgehandelten Vertragstext unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Bundesversammlung, eines allfälligen fakultativen oder obligatorischen Referendums sowie der nachfolgenden Ratifikation.44 Er konsultiert dabei die für die Aussenpolitik zuständigen Kommissionen zu
wesentlichen Vorhaben sowie zu den Richt- und Leitlinien zum Mandat für bedeutende internationale Verhandlungen, bevor er diese festlegt oder abändert. Ferner informiert er diese Kommissionen über den Stand der Realisierung solcher Vorhaben und über den 40

41 42

43 44

Die Bundeskanzlei pflegt die Urheberschaft eidgenössischer Volksinitiativen seit Jahrzehnten indessen auf Probleme hinzuweisen, die hinsichtlich der Gültigkeit einer Volksinitiative entstehen könnten, und in solchen Fällen zu empfehlen, einen schweizerischen Staatsrechtslehrer zu konsultieren. Die Vorprüfungsverfügung der Bundeskanzlei macht zudem standardmässig und ausdrücklich darauf aufmerksam, dass über die Gültigkeit der Volksinitiative erst nach ihrem Zustandekommen entschieden wird (für die Volksinitiative «gegen den Bau von Minaretten» vgl. BBl 2007 3231 Ziff. 1 letzter Satz).

Text gemäss Bundesbeschluss vom 19. Dezember 2008 über den Verzicht auf die Einführung der allgemeinen Volksinitiative (BBl 2009 13).

Vgl. zu dieser Entwicklung statt vieler Thomas Cottier, Einleitung und Synthesen, in: Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht, Beiträge zu Verhältnis und methodischer Angleichung von Völkerrecht und Bundesrecht, Bern 2001, S. 1 ff.

Vgl. hierzu Silvio Arioli, Besonderheiten der Rechtsetzung durch Staatsverträge, LeGes 2004/2, S. 9 ff.

Daniel Thürer/Binh Truong/Felix Schwendimann, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Art. 11 ff. zu Art. 184.

2205

Fortgang der Verhandlungen (Art. 152 Abs. 3 ParlG). In das Vertragsschlussverfahren einzubeziehen sind ausserdem die Kantone nach Massgabe des Bundesgesetzes über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik (BGMK). Es ist grundsätzlich Sache der Bundesversammlung, die vom Bundesrat unterzeichneten Verträge zu genehmigen (sog. ordentliches Verfahren). Keiner parlamentarischen Genehmigung bedürfen jedoch Verträge, die der Bundesrat aufgrund eines Bundesgesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags selbstständig abschliessen darf (Art. 166 Abs. 2 BV; sog. vereinfachtes Verfahren). Überdies hat der Gesetzgeber den Bundesrat mit Artikel 7a RVOG ermächtigt, Staatsverträge von beschränkter Tragweite selbstständig abzuschliessen. Nach Artikel 48a Absatz 1 RVOG kann der Bundesrat diese Zuständigkeit an ein Departement oder gegebenenfalls auch an eine Gruppe oder an ein Bundesamt delegieren. Damit die Bundesversammlung die Vertragspraxis des Bundesrates überprüfen kann, erstattet dieser jährlich Bericht über die von ihm oder untergeordneten Einheiten abgeschlossenen Verträge (Art. 48a Abs. 2 RVOG).45 Mittels Motion kann die Bundesversammlung verlangen, dass ihr ein Vertrag nachträglich zur Genehmigung unterbreitet wird.

Das federführende Departement beziehungsweise das Fachamt hat aus rechtlicher Sicht namentlich zu prüfen, ob der ausgehandelte Staatsvertrag von der Bundesversammlung zu genehmigen ist (Art. 166 Abs. 2 BV) und ob er dem obligatorischen (Art. 140 Abs. 1 Bst. b BV) oder dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV) unterliegt. Gegebenenfalls sind der entsprechende Genehmigungsbeschluss sowie die Botschaft des Bundesrates vorzubereiten. Bedingt die Umsetzung des Staatsvertrags eine Änderung des Landesrechts, sind auch die entsprechenden Umsetzungserlasse zu erarbeiten. Untersteht der Genehmigungsbeschluss eines völkerrechtlichen Vertrages dem obligatorischen beziehungsweise dem fakultativen Referendum, können die Verfassungs- beziehungsweise die Gesetzesänderungen, die der Umsetzung des Vertrages dienen, direkt in den entsprechenden Genehmigungsbeschluss aufgenommen werden (Art. 141a BV).

Sekundäres Völkerrecht Unter sekundärem beziehungsweise abgeleitetem Völkerrecht werden Beschlüsse internationaler Organisationen verstanden. Völkerrechtliche
Verträge können vorsehen, dass solche Organisationen verbindliche Beschlüsse (z.B. Entscheidungen des Sicherheitsrates der UNO wie z.B. die Anordnung nicht-militärischer Zwangsmassnahmen) oder Empfehlungen und Deklarationen (z.B. Resolutionen der Generalversammlung der UNO) erlassen können.46

45 46

Vgl. z.B. den Bericht des Bundesrats vom 14. Mai 2008 über die im Jahr 2007 abgeschlossenen internationalen Verträge, BBl 2008 4611.

Vgl. hierzu Daniel Thürer/Franziska Isliker, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Rz. 51 ff. zu Art. 166 BV.

2206

2.2.1.2

Verwaltungsinterne Rechtskontrolle als Aufgabe von Querschnittsämtern

Organe und Aufgaben Eine zentrale Rolle bei der präventiven Rechtskontrolle im verwaltungsinternen Rechtsetzungsverfahren kommt dem Bundesamt für Justiz zu. Gemäss Artikel 7 Absatz 3 OV-EJPD überprüft das BJ sämtliche Entwürfe für rechtsetzende Erlasse auf ihre Verfassungs- und Gesetzmässigkeit, auf ihre Übereinstimmung und Vereinbarkeit mit dem geltenden nationalen und internationalen Recht sowie auf ihre inhaltliche Richtigkeit. Zu den Gegenständen, die das BJ überprüft, gehören in erster Linie Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsentwürfe sowie Entwürfe zu Bundesbeschlüssen betreffend völkerrechtliche Verträge oder Volksinitiativen. In die Prüfung eingeschlossen sind die Entwürfe der entsprechenden Botschaften des Bundesrates oder die Erläuterungen bei Verordnungsentwürfen. Bei Erlassen, die nicht rechtsetzend sind, wie namentlich Verwaltungsverordnungen (interne Richtlinien, Dienstanweisungen usw.), kommt dem BJ zumindest eine Beratungsfunktion zu. Dies bedeutet, dass die Fachämter mit dem BJ klären können, ob die entsprechenden Regelungen infolge möglicher Aussenwirkungen als Verordnungs- oder als Gesetzesbestimmungen zu erlassen wären.

Massstab für die Überprüfung der Erlassentwürfe bilden sämtliche einschlägigen Normen des übergeordneten Bundesrechts und des Völkerrechts. Typische Fragestellungen bei der Rechtskontrolle betreffen die Respektierung der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen, die Klärung der Vertragsabschlusskompetenzen bei Staatsverträgen, die Vereinbarkeit von Rechtsätzen mit den Grundrechten, die Stufengerechtigkeit von Rechtsnormen, die Gesetzmässigkeit von Verordnungsbestimmungen, die Zulässigkeit von Delegationen von Rechtsetzungsbefugnissen (fehlende oder nicht ausreichend präzise formell-gesetzliche Grundlagen) sowie übergangsrechtliche Fragen. Die Rechtskontrolle dient darüber hinaus aber auch dazu, Normwidersprüche, Inkongruenzen und Regelungslücken auszumerzen und dadurch die Kohärenz der Rechtsordnung insgesamt sicherzustellen.

Innerhalb des BJ nehmen hauptsächlich die beiden Fachbereiche für Rechtsetzungsbegleitung sowie der Fachbereich Europarecht und internationaler Menschenrechtsschutz, Untereinheiten des Direktionsbereichs Öffentliches Recht, die Funktion der sogenannten Rechtsetzungsbegleitung wahr. Diese Fachbereiche wirken dabei je nach Rechtsgebiet
eng mit anderen Fachbereichen innerhalb des BJ zusammen.

In Zusammenarbeit mit der Bundeskanzlei überprüft das BJ ferner Erlassentwürfe auf ihre gesetzestechnische und sprachlich-redaktionelle Angemessenheit (Art. 7 Abs. 3 OV-EJPD, Art. 4 Abs. 1 Bst. b OV-BK; Reglement vom 1. November 2007 über die verwaltungsinterne Redaktionskommission VIRK, www.bk.admin.ch > Themen > Sprachen > Qualitätssicherung). Dabei ist hauptsächlich der Rechtsdienst der Bundeskanzlei zuständig für die gesetzestechnische Rechtskontrolle. Die aus Linguistinnen und Linguisten der Sprachdienste der BK sowie aus Juristinnen und Juristen des BJ zusammengesetzte verwaltungsinterne Redaktionskommission überprüft die Entwürfe in sprachlicher Hinsicht (logischer Aufbau, Verständlichkeit, sprachliche Richtigkeit, inhaltliche und terminologische Kohärenz).47 Bei der geset47

Vgl. zum Ganzen Thomas Sägesser, Gesetzgebung und begleitende Rechtsetzung: Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundeskanzlei und Bundesamt für Justiz, AJP 2008, S. 901 ff.

2207

zestechnischen und sprachlichen Überprüfung der Rechtserlasse handelt es sich zwar nicht primär um eine Kontrolle der Rechtmässigkeit von Rechtsätzen. Doch durch das Aufdecken von inneren Widersprüchen und Unklarheiten in den Normtexten oder von Normenkollisionen tauchen immer wieder rechtliche Fragen auf. Dabei erweist sich nicht zuletzt auch die Mehrsprachigkeit des Bundesrechts immer wieder als Chance; so wirft gerade die Überprüfung von Rechtstexten in mehreren Sprachen häufig materielle Fragen auf und setzt Klärungsprozesse in Gang.48 Darüber hinaus überprüft der Rechtsdienst der Bundeskanzlei die Vereinbarkeit der Erlassentwürfe mit dem Verwaltungsorganisationsrecht, dem Vernehmlassungsrecht, dem Publikationsrecht und den politischen Rechten (Art. 4 Abs. 2 OV-BK).

Auch die Eidgenössische Finanzverwaltung nimmt in ihrem Zuständigkeitsbereich Aufgaben bei der Rechtskontrolle wahr. So überprüft sie namentlich die Übereinstimmung von Erlassentwürfen mit dem Finanzhaushalt- oder dem Subventionsrecht. Darüber hinaus kontrolliert sie, welche finanziellen Auswirkungen Erlassentwürfe haben (vgl. Art. 58 Abs. 3 FHG und Art. 8 Abs. 1 Bst. c OV-EFD).49 Die Direktion für Völkerrecht sorgt für die korrekte Auslegung und Anwendung aller völkerrechtlichen Regeln durch die schweizerischen Behörden (Art. 9 Abs. 2 Bst. a OV-EDA). Im Rahmen der präventiven Rechtskontrolle prüft die DV dabei namentlich die Vereinbarkeit von innerstaatlichen Erlassentwürfen mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz, wie sie aus dem Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht erwachsen. Im Bereich der Rechtsetzung auf internationaler Ebene wirkt die DV bei den Verhandlungen mit (Art. 9 Abs. 3 Bst. b OV-EDA) und weist darin auf allfällige Konflikte mit bestehendem internationalem und innerstaatlichem Recht hin. Die DV klärt dabei ebenfalls ab, ob es sich bei der zwischenstaatlichen Regelung um einen völkerrechtlichen Vertrag oder um ein rechtlich nicht verbindliches Instrument handelt; davon abhängig prüft die DV in Zusammenarbeit mit dem BJ die innerstaatliche Kompetenzausscheidung zum Abschluss der zwischenstaatlichen Regelung (Art. 9 Abs. 3 Bst. d OV-EDA). Schliesslich ist die DV in Zusammenarbeit mit dem BJ dafür zuständig, völkerrechtliche Begriffe, auf die das innerstaatliche Recht verweist, zu interpretieren und im
Rahmen der präventiven Rechtskontrolle zur Anwendung zu bringen.

Eine Zusammenarbeit kann sich im Bereich des Europarechts allenfalls mit dem Integrationsbüro ergeben, das auch über einen Rechtsdienst verfügt. Das IB koordiniert unter anderem den Vollzug und die Weiterentwicklung von Verträgen mit der EU und berät die gesamte Bundesverwaltung in integrationsrechtlichen Angelegenheiten (Art. 8 Abs. 3 Bst. b und d OV-EDA). Es unterstützt dabei insbesondere andere Bundesstellen bei Verhandlungen mit der EU in rechtlicher Hinsicht. Ferner stellt es sicher, dass institutionelle Bestimmungen in den Verträgen zwischen der Schweiz und der EU (z.B. Kompetenzen der Gemischten Ausschüsse) kohärent ausgestaltet sind. Schliesslich überprüft es in Zusammenarbeit mit dem BJ die schweizerische Rechtsetzung auf ihre Vereinbarkeit mit den staatsvertraglichen Verpflichtungen der Schweiz gegenüber der EU.

48

49

Entsprechendes gilt auch für die Kontrollarbeiten vor der Publikation in der Amtlichen Sammlung und die Integration der Texte in die Systematische Rechtsammlung durch das Kompetenzzentrum Amtliche Veröffentlichung der BK.

Die EFV und das Generalsekretariat des EFD verfügten bis 1. März 2010 über einen gemeinsamen Rechtsdienst, der auf diesen Zeitpunkt hin auf die beiden Verwaltungseinheiten sowie das neu gegründete Staatssekretariat für internationale Finanzfragen aufgeteilt worden ist.

2208

Auch andere Ämter und Stellen mit Querschnittsfunktionen nehmen bezogen auf bestimmte Rechtsgebiete Aufgaben der präventiven Rechtskontrolle wahr. So überprüft das Eidgenössische Personalamt Erlassentwürfe auf ihre Übereinstimmung mit dem Personalrecht. Sofern Vorlagen Gleichstellungsfragen von Frau und Mann, Gleichstellungsfragen für Menschen mit Behinderungen oder den Datenschutz betreffen, nehmen das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, das Büro für Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen oder der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte eine Prüfung auch unter diesen spezifischen Gesichtswinkeln vor.

Verfahren Die Rechtskontrolle des BJ, der BK und der EFV sowie gegebenenfalls der DV und des IB bei der Vorbereitung von Erlassen erfolgt spätestens in der Phase der Ämterkonsultation im Sinne von Artikel 4 RVOV. Dieses verwaltungsinterne Konsultationsverfahren dient der Koordination des in der Bundesverwaltung vorhandenen Fachwissens und der Ausräumung von Differenzen auf Verwaltungsebene.50 Bei der Vorbereitung von Anträgen an den Bundesrat lädt das federführende Bundesamt die mitinteressierten Verwaltungseinheiten zur Stellungnahme ein. Nach den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte51 sind das BJ und die BK neben der EFV und den Generalsekretariaten der Departemente immer zu konsultieren. Die Frist für die Ämterkonsultation muss angemessen sein (Art. 4 Abs. 1 RVOV). Sie beträgt grundsätzlich drei Wochen; bei kleinen, voraussichtlich unproblematischen Geschäften beziehungsweise bei Geschäften mit Routinecharakter sind kürzere Fristen zulässig, sie sollten aber eine Woche nicht unterschreiten (Richtlinien für Bundesratsgeschäfte).

Die Stellungnahmen des BJ und anderer Ämter sind formell nicht bindend. Das federführende Amt ist nicht verpflichtet, diese zu übernehmen, hat sich indessen damit auseinanderzusetzen52. Können Differenzen nicht bereinigt werden, so ist das im Antrag des Departements an den Bundesrat offenzulegen (Art. 4 Abs. 2 RVOV).

Eine Ausnahme besteht bei departementsinternen Differenzen. Die Ämter des gleichen Departements sind gehalten, sich zu einigen. Nötigenfalls entscheidet die Departementsspitze. Die Stellungnahmen im Rahmen der Ämterkonsultation werden in der Regel nicht publiziert. Nach Artikel 8 Absätze 2 und 3 BGÖ besteht
indessen nach dem Entscheid des Bundesrates grundsätzlich ein Recht auf Zugang zu diesen Dokumenten, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Art. 7 BGÖ).53 Namentlich bei technisch schwierigen Gegenständen oder politisch heiklen Rechtsetzungsgeschäften werden das BJ, die BK und die EFV, bei völker- oder europarechtlichen Fragen auch die DV oder das IB, oft bereits vor der Ämterkonsultation in die Erlassvorbereitung einbezogen. So wirken Mitarbeitende dieser Dienststellen etwa in verwaltungsinternen Arbeitsgruppen oder in Expertenkommissionen mit, 50 51

52 53

Sägesser, Handkommentar (Fn. 33), Rz. 27 zu Art. 15 RVOG.

Richtlinien für die Vorbereitung und Erledigung der Bundesratsgeschäfte, am 21. Juni 1996 von der Generalsekretärenkonferenz gutgeheissen und von der Bundeskanzlei auf den 1. Januar 1997 in Kraft gesetzt. Seit dem 1. November 2000 ist die elektronische Fassung, die laufend aktualisiert wird, die massgebliche Fassung.

Sägesser, Handkommentar (Fn. 33), Rz. 36 zu Art. 15 RVOG.

Vgl. hierzu Laurenz Rotach, Zugang zu den Materialien des Gesetzgebungsverfahrens, LeGes 2008/2, S. 261; Pascal Mahon/Olivier Gonin, in: Stephan C. Brunner/Luzius Mader (Hrsg.), Handkommentar zum Öffentlichkeitsgesetz, Bern 2008, Rz. 34 ff. zu Art. 8 BGÖ.

2209

diskutieren mit den federführenden Amtsstellen über Probleme und Lösungsmöglichkeiten, erteilen schriftlich oder telefonisch Auskünfte, formulieren selber Normvorschläge oder nehmen Stellung im Rahmen einer Vorkonsultation.54 In der Regel erhält das BJ auch später in der Phase des sogenannten Mitberichtsverfahrens, das den Entscheiden des Bundesrates vorausgeht (vgl. Ziff. 2.2.2.2), Gelegenheit, sich zuhanden des EJPD zu den Erlassentwürfen anderer Departemente zu äussern. Entsprechendes gilt auch für den Rechtsdienst der BK sowie zuhanden der jeweiligen Departemente für die EFV, die DV und das IB.

Verfassungs-, Gesetzes- und gegebenenfalls Verordnungsentwürfe sowie Entwürfe zu parlamentarischen Genehmigungsbeschlüssen über referendumspflichtige Staatsverträge werden den für die Rechtskontrolle zuständigen Querschnittsämtern somit in der Regel mindestens vier Mal vorgelegt: bei der Ausarbeitung der Vernehmlassungsvorlage55 (Ämterkonsultation und Mitberichtsverfahren) sowie bei der Ausarbeitung der Vorlage des Bundesrates (Ämterkonsultation und Mitberichtsverfahren).

Werden bei Entwürfen zu Bundesratsverordnungen betroffene Kreise ausserhalb der Bundesverwaltung angehört (Art. 10 VlG), unterliegen die entsprechenden Vorlagen mindestens dreimal der präventiven Rechtskontrolle: bei der Ausarbeitung der Anhörungsvorlage (Ämterkonsultation)56 sowie bei der Ausarbeitung der Vorlage des Bundesrates (Ämterkonsultation und Mitberichtsverfahren). Erlassentwürfe, die nicht der Vernehmlassung unterliegen und bei denen keine Anhörung durchgeführt wird, wie in der Regel Bundesratsverordnungen, Botschaftsentwürfe zu formulierten Volksinitiativen auf Teilrevision der Verfassung57 oder Beschlussentwürfe oder Anträge zu nicht referendumspflichtigen Staatsverträgen, werden mindestens zwei Mal kontrolliert: bei der Ämterkonsultation und im Mitberichtsverfahren. Hingegen werden Entwürfe zu Departements- und Amtsverordnungen und gegebenenfalls zu Richtlinien in der Regel nur ein einziges Mal überprüft, nämlich bei der Ämterkonsultation.

Das BJ, die BK und die EFV sowie gegebenenfalls die DV und das IB haben auf diese Weise unter Vorbehalt der Ressourcensituation grundsätzlich ausreichend Gelegenheit, die Erlassentwürfe auf ihre Übereinstimmung mit zu beachtendem anderen Recht zu überprüfen. Der wesentliche Beitrag zur präventiven Rechtskon-

54

55

56

57

Vgl. hierzu Markus Spinatsch, Kompetent, hartnäckig, konstruktiv, Die Hauptabteilung Staats- und Verwaltungsrecht des Bundesamtes für Justiz im Urteil ihrer Partner in der Bundesverwaltung, Bericht zuhanden des Leiters der Hauptabteilung Staats- und Verwaltungsrecht des Bundesamtes für Justiz, Bern 2006, S. 6 f.

Im Vernehmlassungsverfahren werden die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise bei der Vorbereitung wichtiger Erlasse und anderer Vorhaben von grosser Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen zur Stellungnahme eingeladen (Art. 147 BV, Art. 3 VlG). Nach Art. 2 VlG bezweckt dieses verwaltungsexterne und öffentliche Konsultationsverfahren, die wichtigsten Interessengruppen im Staat an der Meinungsbildung und Entscheidfindung des Bundes zu beteiligen. Es soll Aufschluss geben über die sachliche Richtigkeit, die Vollzugstauglichkeit und die Akzeptanz eines Vorhabens des Bundes. Auch wenn einzelne Vernehmlassungsteilnehmer rechtliche Bedenken äussern können, dient es nicht in erster Linie der Rechtskontrolle.

Vor einer externen Anhörung ist zwar keine formelle Ämterkonsultation nach Artikel 4 RVOV durchzuführen, aufgrund von Artikel 15 RVOV ist indessen eine Konsultation aller mitinteressierten Verwaltungseinheiten obligatorisch. Praktische Unterschiede zur «richtigen» Ämterkonsultation gibt es kaum.

Formulierte Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung unterliegen nicht der Vernehmlassung. Vgl. Thomas Sägesser, Handkommentar zum Vernehmlassungsgesetz, Bern 2006, Rz. 26 zu Art. 3 VlG.

2210

trolle wird in den meisten Fällen in einer frühen Phase des Gesetzgebungsprozesses, etwa im Rahmen der Ämterkonsultation zu Vernehmlassungsvorlagen, geleistet.58 Neben der Rechtsetzungsbegleitung dient auch die Begutachtung grundsätzlicher Rechtsfragen der präventiven Rechtskontrolle, soweit sie im Zusammenhang mit einem Rechtsetzungsvorhaben steht. Nach Artikel 7 Absatz 2 OV-EJPD erteilt das BJ namentlich im Bereich Verfassungsrecht und internationale Menschenrechtsverträge Rechtsauskünfte und erstellt Rechtsgutachten zuhanden der Bundesversammlung, des Bundesrates und der Bundesverwaltung. Auch der Rechtsdienst der BK oder die DV erstellen in ihrem Zuständigkeitsbereich Gutachten. Oft werden diese in der VPB oder in der SZIER veröffentlicht. Am häufigsten wird das BJ auf Ersuchen anderer Amtsstellen oder Organe des Bundes (andere Bundesämter, Einheiten der dezentralen Bundesverwaltung, andere Departemente, Bundesrat, parlamentarische Kommissionen etc.), manchmal im Auftrag des EJPD und eher selten aus eigener Initiative gutachterlich tätig.59 Die Amtstellen sind anders als bei der Ämterkonsultation grundsätzlich nicht verpflichtet, zur vertieften Klärung von Rechtsfragen das BJ beizuziehen. Bei Fragestellungen, bei denen das BJ oder das EJPD als befangen erscheint, oder wenn es um politisch heikle Geschäfte geht, lassen die Ämter die Gutachten gelegentlich auch von externen Sachverständigen erstellen.60 In diesen Fällen wird das BJ gelegentlich um eine Zweitmeinung ersucht.

2.2.1.3

Stärken und Schwächen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle

Die präventive Rechtskontrolle im verwaltungsinternen Verfahren ist als rechtliche Qualitätskontrolle der Gesetzgebung konzipiert. Sie bildet Teil der umfassenden Prüfung der Erlassentwürfe auf ihre Rechtmässigkeit, materielle Richtigkeit, Zweckmässigkeit und sprachliche Korrektheit. Bereits die federführenden Amtsstellen sind gehalten, sich an die im Gesetzgebungsleitfaden umschriebenen Leitlinien einer guten Gesetzgebung sowie an die Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes zu halten. Die mit der Rechtsprüfung betrauten verwaltungsinternen Fachstellen unterstützen und kontrollieren die Fachämter bei dieser Arbeit.

Stärken

58

59 60

­

Die federführenden Fachämter werden selber in die Verantwortung genommen, Erlasse zu erarbeiten, die mit dem übergeordneten Bundesrecht und mit Völkerrecht konform sind. Sie können diese Verantwortung nicht an eine entfernte Kontrollinstanz delegieren.

­

Alle Entwürfe zu rechtsetzenden Erlassen werden vom BJ, der BK, der EFV sowie gegebenenfalls von der DV und dem IB systematisch und von Amtes wegen auf ihre Übereinstimmung mit dem gesamten übergeordneten Bundesrecht und mit Völkerrecht überprüft. Auch wenn diese abstrakte NorVgl. zum Ganzen Luzius Mader, Das Bundesamt für Justiz: eine Dienerin vieler Herren?, in: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Justiz (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Rechts, Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Koller, Basel 2006, S. 3 ff.

Mader, Bundesamt (Fn.58), S. 4.

Vgl. hierzu auch Luzius Mader, Le rôle du ministère suisse de la Justice, Les Cahiers de Droit, vol. 42, n° 3, septembre 2001, S. 511, 513 f.

2211

menkontrolle angesichts der teilweise umfangreichen Erlassentwürfe und mangels Erkennbarkeit aller möglichen Anwendungsfälle61 nicht immer in allen Punkten in die Tiefe gehen kann, können offensichtliche Verletzungen des massgebenden Rechts auf diese Weise vermieden werden.

61

62 63

­

Die präventive Rechtskontrolle bezweckt darüber hinaus, die Rechtsetzung zu koordinieren, widersprüchliche Regelungen in verschiedenen Erlassen zu vermeiden und eine einheitliche Praxis, beispielsweise bei der Formulierung von Evaluationsklauseln, zu gewährleisten. Sie dient damit der Kohärenz der Rechtsordnung insgesamt. Überprüft werden ferner nicht nur die Erlassentwürfe selber, sondern auch die entsprechenden Erläuterungen, Botschaften und Anträge. Die Botschaften spielen später bei der Auslegung der Normen durch die rechtsanwendenden Organe eine wichtige Rolle.

­

Eine der grossen Stärken der vorliegenden Art der präventiven Rechtskontrolle liegt im partnerschaftlichen Zusammenwirken und Dialog zwischen dem BJ, der BK, der EFV sowie gegebenenfalls der DV und des IB auf der einen Seite und den federführenden Fachämtern auf der anderen Seite. Die Rechtsetzungsbegleitung zeichnet sich durch Lösungsorientiertheit und grosse Praxisnähe aus. Dadurch, dass die Stellungnahmen des BJ für die anderen Ämter rechtlich nicht bindend sind, ist das BJ gehalten, sich in erster Linie mit guten Argumenten und hochstehender Arbeit durchzusetzen. In der Regel ist die Akzeptanz der Stellungnahmen des BJ denn auch gut.62 Gelingt es in Einzelfällen nicht, Differenzen im Rahmen der Ämterkonsultation auszuräumen63, so steht noch der Weg über das Mitberichtsverfahren offen. Dasselbe gilt auch für die BK, die EFV, die DV und das IB in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich.

­

Das Zusammenwirken verschiedener Querschnittsämter (BJ, BK, EFV, DV, IB) bei der Kontrolle gewährleistet, dass Vorlagen unter verschiedenen rechtlichen Aspekten begutachtet werden.

­

Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die Kontrolle nicht punktuell und einmalig erfolgt, sondern begleitend in verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsprozesses (bei Gesetzes- oder Verfassungsentwürfen z.B. mindestens bei der Erarbeitung der Vernehmlassungsvorlage sowie der bundesrätlichen Vorlage, je im Ämterkonsultationsverfahren und im Mitberichtsverfahren).

­

Das bestehende System der begleitenden Rechtskontrolle ist kostengünstig, flexibel und effizient. Mit relativ bescheidenen personellen Ressourcen wird eine flächendeckende präventive Rechtskontrolle sichergestellt.

Anders als bei einer gerichtlichen Normenkontrolle gibt es keine konkreten Rügen, in denen die Verletzung bestimmter Normen des übergeordneten Rechts behauptet und auch begründet wird. Die Arbeit verlangt somit gute Kenntnis des übergeordneten Rechts und grosse Sensibilität namentlich für Verfassungsfragen und rechtsstaatliche Verfahrensabläufe.

Bericht Spinatsch (Fn. 54), S. 25 f.

Zur Ämterkonsultation gehören nicht nur die Einholung und Verarbeitung der Stellungnahmen, sondern auch die Bereinigung von Differenzen in nachträglichen Gesprächen.

2212

­

Ferner erlaubt dieses System, schnell zu reagieren, wenn dringender politischer Handlungsbedarf besteht, und den Aspekten des übergeordneten Rechts auch dann Gehör zu verschaffen64.

Schwächen

64

65

­

Die präventive Rechtskontrolle funktioniert dann besser, wenn die federführenden Fachämter von sich aus auf Probleme hinweisen. Gelegentlich besteht hier eine gewisse «Betriebsblindheit», d.h. es mangelt an der entsprechenden Sensibilität oder Transparenz. Die Fachämter haben eine bestimmte fachliche Optik, stehen häufig zeitlich und politisch unter Druck.

Die Beachtung der rechtlichen Vorgaben kann als zweitrangig erlebt werden. Manchmal fallen die Ausführungen zur Rechts-, Verfassungs- und Völkerrechtskonformität in den Botschaften sowie den erläuternden Texten zu Verordnungen trotz bestehender Probleme summarisch aus.65 Gelegentlich werden die eigenen Rechtsdienste nicht konsultiert oder deren Stellungnahmen nicht berücksichtigt.

­

Um die Kontrolle der Rechtmässigkeit optimal wahrnehmen zu können, ist die Einhaltung der für die Ämterkonsultation und das Mitberichtsverfahren vorgesehenen Fristen von drei Wochen wichtig. Die Fristen werden indessen oft verkürzt, was die Rechtsprüfung erschwert. Es gibt keine wirkungsvollen Mechanismen, um die Einhaltung der Fristen durchzusetzen.

­

Gewisse Mängel und Lücken in der präventiven Rechtskontrolle sind auch darauf zurückzuführen, dass die für diese Aufgaben eingesetzten personellen Ressourcen auch im internationalen Vergleich sehr knapp sind und deshalb zu konsequenter Prioritätensetzung zwingen. Vertiefte Prüfungen sind nicht in allen Fällen möglich.

­

Namentlich bei rechtsetzungsbezogenen Aussprachepapieren, d.h. bei Aussprachepapieren, aufgrund derer Vorgehens- oder Grundsatzentscheide für Rechtsetzungsvorhaben getroffen werden sollen, wird nicht immer eine Ämterkonsultation durchgeführt.

­

Eine Schwierigkeit ist gelegentlich auch, dass die Fachämter im Rahmen der Ämterkonsultation neue Vorschläge der anderen Fachämter aufnehmen, ohne dass Anpassungen, die möglicherweise problematisch sind, dem BJ oder anderen Querschnittsämtern in einer zweiten Runde (vor Eröffnung des Mitberichtsverfahrens) zur Prüfung vorgelegt werden.

So hatte das BJ vor dem Entscheid des Bundesrats Gelegenheit, sich zur Frage zu äussern, ob sich die Verordnung vom 15. Oktober 2008 über die Rekapitalisierung der UBS AG (SR 611.055) auf die Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV stützen lässt. Ende Januar 2009 hat das BJ zur Frage der Rechtsgrundlagen für diese Stützungsmassnahmen zuhanden der WAK-N ein Gutachten erstellt und dieses auch in der SPK-N erläutert. Kritisch zur Verfassungsmässigkeit der genannten Verordnung: Andreas Lienhard und Agata Zielniewicz, Finanzhilfen wie im Fall UBS bedürfen einer neuen gesetzlichen Ausgestaltung, Der Bundesrat mit dem Erlass der Notverordnung für den Milliardenkredit verfassungsrechtlich auf dünnem Eis, NZZ vom 16. Februar 2009, S. 8.

Ein Gegenbeispiel bildet das Hooligan-Gesetz (BWIS I), wo offengelegt wurde, dass die Kompetenzgrundlage verfassungsrechtlich umstritten war. Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 17. August 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (Massnahmen gegen Gewaltpropaganda und gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen), BBl 2005 5613 5637 ff.

2213

­

Beim BJ, das hauptsächlich mit der Rechtskontrolle betraut ist, handelt es sich nicht um eine verwaltungsunabhängige Instanz, sondern um ein Bundesamt, das hierarchisch eingebunden ist und grundsätzlich den Weisungen des Departements unterliegt.66 Dies ist bereits im System einer verwaltungsinternen Kontrolle angelegt. Ferner lässt das EJPD dem BJ grösstmögliche Freiheit im Bereich der Rechtsetzungsbegleitung. Bestehen Differenzen zwischen dem BJ und anderen Ämtern des EJPD (BFM, fedpol usw.), z.B. im Bereich Asyl- und Ausländerrecht, so können diese nach der Eröffnung des Mitberichtsverfahrens nicht mehr bereinigt werden. Dem BJ werden die Vorlagen, die das Departement ins Mitberichtsverfahren gibt, nämlich nicht zugestellt. Bei Differenzen zwischen den Ämtern gibt das EJPD allerdings dem BJ in der Regel Gelegenheit zur Stellungnahme, bevor der Antrag an den Bundesrat unterzeichnet wird. Ähnliche Probleme stellen sich zum Teil auch für die übrigen an der Rechtskontrolle beteiligten Stellen.

­

Das BJ ist ferner nicht allein für die Rechtsetzungsbegleitung zuständig, sondern in bestimmten Sachgebieten auch für die Vorbereitung von Erlassen und Staatsverträgen (z.B. Verfassungsrecht, ausgewählte Bereiche des öffentlichen Rechts wie Opferhilfe- oder Datenschutzrecht; Zivil- und Zivilprozessrecht, Straf- und Strafprozessrecht). In diesen Bereichen ist das BJ sowohl federführendes Amt als auch Kontrollinstanz.67

­

Ein gewisser Nachteil kann auch die Doppelfunktion sein, welche die Fachbereiche des BJ für Rechtsetzungsbegleitung kennzeichnen: einerseits partnerschaftliche Begleitung und Beratung der Ämter bei der amtsinternen Redaktion und andererseits Rechtskontrolle im Rahmen der Ämterkonsultation und des Mitberichtsverfahrens. Bei einer intensiven Zusammenarbeit und in der Regel guten Kontakten, etwa in Arbeitsgruppen, oder wenn Mitarbeitende des BJ selber Normtexte verfassen, kann gelegentlich die kritische Distanz verloren gehen, die für jede Rechtsprüfung geboten ist.

2.2.2

Verfahren auf Regierungsstufe

2.2.2.1

Rechtsetzungsbefugnisse des Bundesrats

Der Bundesrat berät die von der Verwaltung vorbereiteten Erlassentwürfe und Botschaften zu Verfassungs-, Gesetzes- und Parlamentsverordnungsvorlagen sowie zu Volksinitiativen und völkerrechtlichen Verträgen und verabschiedet diese zuhanden der Bundesversammlung (vgl. Art. 181 BV, Art. 7 RVOG). Der Bundesrat muss sich bei Erlassentwürfen wie bereits erwähnt gemäss Artikel 141 Absatz 2 Buchstabe a ParlG in der Botschaft unter anderem zur Rechtsgrundlage, zu den Auswirkungen auf die Grundrechte, zur Vereinbarkeit mit dem übergeordneten Recht sowie zum Verhältnis zum europäischen Recht äussern.

Der Bundesrat erlässt ferner die von der Verwaltung vorbereiteten Bundesratsverordnungen, genehmigt die von den schweizerischen Delegationen ausgehandelten Staatsverträge oder die geplanten Beschlüsse gemischter Ausschüsse, soweit er durch Verfassung, Gesetz oder einen von der Bundesversammlung genehmigten 66 67

Vgl. Mader, Le rôle (Fn. 60) S. 520 ff.

Vgl. Mader, Le rôle (Fn. 60), S. 522.

2214

völkerrechtlichen Vertrag hierzu ermächtigt ist (Art. 166 Abs. 2 und 182 Abs. 1 BV; Art. 7 und 7a RVOG).

2.2.2.2

Verfahrensablauf

Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse in der Regel gestützt auf schriftliche Anträge der zuständigen Departemente oder der Bundeskanzlei und nach abgeschlossenem Mitberichtsverfahren (Art. 3 Abs. 1 RVOV).

Vom zuständigen Departement vorbereitete Geschäfte, über die der Bundesrat zu beschliessen hat, werden den anderen Departementen zum Mitbericht vorgelegt (Art. 15 Abs. 1 RVOG). Das Mitberichtsverfahren dient der Entscheidvorbereitung auf Stufe Bundesrat. Ziel des Verfahrens ist es, dass sich der Bundesrat in den Verhandlungen auf grundsätzliche Aspekte konzentrieren kann (Art. 5 Abs. 1 RVOV). Durch dieses schriftliche interdepartementale Konsultations- und Einigungsverfahren sollen Differenzen möglichst vor der Bundesratssitzung ausgeräumt werden.68 Das Mitberichtsverfahren beginnt mit der Unterzeichnung des Antrags durch das federführende Departement oder die BK (Art. 5 Abs. 1bis RVOV). Für die Durchführung ist die BK verantwortlich. Die Departemente sind verpflichtet, der Bundeskanzlei den unterzeichneten Antrag rechtzeitig einzureichen (Art. 5 Abs. 2 RVOV). Nach den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte soll das Mitberichtsverfahren von der Ablieferung des Departementsantrags in der Bundeskanzlei bis zur Behandlung im Bundesrat in der Regel drei Wochen dauern, um eine Differenzbereinigung möglich zu machen. Ist ein Departement mit dem Antrag eines anderen Departements nicht oder nur teilweise einverstanden, kann es bei der Bundeskanzlei einen schriftlichen Mitbericht mit eigenem Antrag und mit Begründung der abweichenden Haltung einreichen.

Zu diesem Zeitpunkt hat das Bundesamt für Justiz soweit es sich in gewissermassen pathologischen Einzelfällen69 nicht bereits in der Ämterkonsultation durchsetzen konnte in der Regel nochmals Gelegenheit, über einen Mitbericht des EJPD dem übergeordneten Recht zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. vorne Ziff. 2.2.1.2).

Entsprechendes gilt auch zuhanden der jeweiligen Departemente für die anderen Organe der Rechtskontrolle.

In der Regel vor dem Mitberichtsverfahren beziehungsweise im Verlaufe desselben überprüft die BK (Rechtsdienst und Sprachdienste) nochmals den bereinigten Rechtstext, bevor er dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorgelegt wird. Diese Überprüfung bezieht sich auf gesetzestechnische und redaktionelle Fragen sowie darauf, ob die amtssprachlichen
Fassungen übereinstimmen, beinhaltet indessen nicht eine Kontrolle des Erlassentwurfs auf seine Übereinstimmung mit dem übergeordneten Bundesrecht oder mit Völkerrecht.

An der Bundesratssitzung werden in der Regel nur noch die Differenzen beraten, die im Mitberichtsverfahren nicht ausgeräumt werden konnten. Die Bundesratsmitglieder und im Zuständigkeitsbereich der BK die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler können aber auch jederzeit neue Anträge einbringen. Nach Artikel 18 Absatz 4 RVOG hätte der Bundesrat die Möglichkeit, sich bei strittigen Rechtsfra68 69

Sägesser, Handkommentar (Fn. 33), Rz. 7 ff. zu Art. 15 RVOG.

Mader, Bundesamt (Fn. 58), S. 5.

2215

gen von Führungskräften der Bundesverwaltung oder von verwaltungsinternen oder externen Sachkundigen beraten zu lassen. Von der Möglichkeit des direkten Beizugs von Fachpersonen wird allerdings nur sehr zurückhaltend und punktuell Gebrauch gemacht.70

2.2.2.3

Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle

Die Prüfung der Erlassentwürfe auf ihre Übereinstimmung mit zu beachtendem anderen Recht erfolgt in erster Linie im verwaltungsinternen Verfahren, namentlich bei der Ämterkonsultation. Im Mitberichtsverfahren oder an den Sitzungen des Bundesrates sind die Einflussmöglichkeiten eingeschränkter.

Stärken ­

Das bestehende System unterstützt den Bundesrat bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung für eine mit dem massgeblichen Recht konforme Rechtsetzung. Er kann diese Verantwortung nicht an eine andere Instanz delegieren.

­

Alle wesentlichen Punkte werden im Vorfeld der bundesrätlichen Entscheidfindung in der Regel offengelegt. Das vorliegende System der präventiven Rechtskontrolle erlaubt dem Bundesrat grundsätzlich, in Kenntnis aller rechtlichen Aspekte zu entscheiden.

­

Die vorliegende Art der Rechtskontrolle hat sich bewährt und ist kostengünstig. Das BJ kennt die Rechtsetzungsgeschäfte bereits von der Ämterkonsultation her und kann im Mitberichtsverfahren zuhanden des EJPD in der Regel nochmals Stellung zu rechtlich heiklen Punkten nehmen. Dies gilt entsprechend auch für die anderen mit der Rechtsprüfung betrauten Verwaltungsstellen.

Schwächen

70

­

Bei Grundsatz- beziehungsweise Zwischenentscheiden des Bundesrates aufgrund von Aussprachepapieren werden rechtliche Aspekte nicht immer genügend einbezogen. Dies erschwert deren Berücksichtigung im späteren Rechtsetzungsverfahren.

­

Bisweilen werden im Rahmen des Mitberichtsverfahrens oder im Verlauf der Beratungen des Bundesrates Anträge eingebracht (und akzeptiert), deren Rechtmässigkeit vorgängig nicht überprüft wurde.

­

Oft werden die in den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte vorgesehenen Fristen für das Mitberichtsverfahren nicht eingehalten. In diesen Fällen erfolgt die Prüfung der Rechtmässigkeit der Vorlagen und Anträge unter zeitlichem Druck. Manchmal werden Mitberichte auch erst am Abend vor der Bundesratssitzung eingereicht. Die Rechtskontrolle wird auf diese Weise zur Feuerwehrübung.

Sägesser, Handkommentar (Fn. 33), Rz. 42 zu Art. 18 RVOG.

2216

­

Da das Mitberichtsverfahren auf Departementsstufe stattfindet, ist das BJ bei der Rechtskontrolle in diesem Stadium auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Generalsekretariat des EJPD angewiesen. In der Regel funktioniert dies problemlos. Grundsätzlich ist das Generalsekretariat für die politische Beurteilung der Vorlage zuständig und das BJ für die rechtliche. Gelegentlich stellen sich bei primär politisch motivierten Mitberichten auch Rechtsfragen, bei denen das BJ nicht konsultiert wird. Bei Rechtsetzungsgeschäften aus dem eigenen Amt oder aus anderen Ämtern des EJPD steht der Weg über einen Mitbericht nicht offen. Dies gilt entsprechend auch für die anderen mit der Rechtsprüfung betrauten Stellen.

­

Dem EJPD kommt bei Geschäften aus dem eigenen Departement eine Doppelfunktion zu. Einerseits ist es zuständig für die entsprechenden Fachbereiche und andererseits für die präventive Rechtskontrolle. Dies kann zu Interessenkollisionen führen.

­

Der Bundesrat ist ein politisches Gremium. Manchmal wird die Beachtung des übergeordneten Rechts nur als ein Aspekt unter anderen betrachtet, nicht als eine unter allen Umständen zu beachtende Rahmenbedingung für die Entscheidfindung.71 Dieses Risiko besteht namentlich bei dringlichen und vertraulichen Geschäften.

­

In den Botschaften des Bundesrates werden rechtliche Probleme nicht immer offengelegt. Dies gilt erst recht, wenn Erlassänderungen erst im Mitberichtsverfahren oder an den Sitzungen des Bundesrates beschlossen werden.

2.3

Verfahren bei parlamentarischen Initiativen

2.3.1

Verfahrensablauf

Bei parlamentarischen Initiativen (Art. 160 Abs. 1 BV) ist nicht der Bundesrat, sondern die Bundesversammlung selber für die Erlassvorbereitung verantwortlich.

Jedes Ratsmitglied, jede Fraktion und jede parlamentarische Kommission kann den Entwurf zu einem Erlass der Bundesversammlung oder Grundzüge eines solchen Erlasses vorschlagen oder anregen (Art. 107 ParlG). Wird einer Initiative nach Durchführung des Vorprüfungsverfahrens Folge gegeben, arbeitet die zuständige Kommission des Rates, in der die Initiative eingereicht wurde, die Vorlage innert zwei Jahren aus (Art. 111 Abs. 1 ParlG). Da die Parlamentsverwaltung in der Schweiz nicht gleich ausgebaut ist wie die Bundesverwaltung (Prinzip der «einfachen Staatsverwaltung»), die Bundesversammlung namentlich auf den Aufbau eigener umfangreicher Gesetzgebungsdienste verzichtet hat72, kann die Kommission die Departemente und die BK ersuchen, Mitarbeitende zu bezeichnen, die alle für die Ausarbeitung eines Erlassentwurfs notwendigen Rechts- und Sachauskünfte erteilen (Art. 112 Abs. 1 ParlG).73 Der Vorentwurf der Kommission unterliegt in der Regel der Vernehmlassung (Art. 112 Abs. 2 ParlG, Art. 5 Abs. 2 und 6 Abs. 2 VlG).

Gleichzeitig mit der Unterbreitung von Erlassentwurf und erläuterndem Bericht an ihren Rat überweist die Kommission diese Dokumente dem Bundesrat zur Stellung71 72 73

Vgl. Mader, Le rôle (Fn. 60), S. 518 f.

Vgl. Martin Graf, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Rz. 7 zu Art. 155 BV.

Zum Beizug der Verwaltung vgl. Graf (Fn. 72), Rz. 7 ff. zu Art. 155 BV.

2217

nahme innert einer angemessenen Frist (Art. 112 Abs. 3 ParlG). Der Bericht der Kommission hat den gleichen Anforderungen zu genügen, wie sie an Botschaften des Bundesrates gestellt werden (Art. 111 Abs. 3 ParlG). So hat er namentlich die Rechtsgrundlage, die Auswirkungen auf die Grundrechte, die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht und das Verhältnis zum europäischen Recht zu erläutern (Art. 141 Abs. 2 Bst. a ParlG).

Die Kommissionsvorlagen werden während der Ausarbeitung, spätestens aber im Rahmen der Ämterkonsultation und des Mitberichtsverfahrens zum Entwurf der bundesrätlichen Stellungnahme auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht überprüft. Die Stellungnahmen des Bundesrates sind in der Regel eher politischer als rechtlicher und gesetzestechnischer Art.74 Sehr häufig wirken Mitarbeitende der Bundesverwaltung im Vorprüfungsverfahren und bei der Ausarbeitung der Erlasse mit. Dabei ist es Aufgabe der Kommission, die politischen Anliegen zu definieren. Den Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung obliegt es hingegen, auf rechtliche Aspekte (bestehende bzw. mangelnde Kompetenzen von Bund und Kantonen, betroffene Rechtsstufe, Grundrechtsschutz, Völkerrecht usw.)

sowie auf Kongruenzen und Divergenzen mit früheren Entscheiden oder mit laufenden Rechtsetzungsvorhaben des Bundes oder der Kantone hinzuweisen. Ferner sind die beigezogenen Mitarbeitenden der Bundesverwaltung zuständig für die rechtlich korrekte Umsetzung der angestrebten Regelung, die inhaltliche Erläuterung der Normentwürfe sowie die Zusammenarbeit mit anderen, am Erlass interessierten Ämtern bevor der Vorentwurf und der erläuternde Bericht in die Vernehmlassung gehen.75 Auch das BJ wird im Rahmen seiner Zuständigkeiten bei der Erlassvorbereitung oftmals beigezogen oder um Stellungnahmen und Gutachten zu Rechtsfragen ersucht. Auf diese Weise kann auf die Einhaltung des zu beachtenden anderen Rechts hingewirkt werden.

Mittels Standesinitiative kann jeder Kanton den Entwurf zu einem Erlass der Bundesversammlung einreichen oder die Ausarbeitung eines Entwurfes vorschlagen (Art. 160 Abs. 1 BV; Art. 115 ParlG). Das gesetzgeberische Vorverfahren folgt jenem bei der parlamentarischen Initiative (Art. 116 f. ParlG). Das Gleiche gilt für die präventive Rechtskontrolle.

74

75

Vgl. jedoch die Stellungnahme des Bundesrates vom 20. Mai 2009 zum Bericht der WAK-N vom 20. April 2009 zur parlamentarischen Initiative Regulierung der Bücherpreise. Der Bundesrat erachtete darin den Gesetzesentwurf der Kommission als verfassungswidrig (fehlende Bundeskompetenzen, Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit).

BBl 2009 4169 4174 ff.

Ausführlicher hierzu das vom Bundesamt für Justiz herausgegebene Modul Parlamentarische Initiative des Gesetzgebungsleitfadens sowie die im Commguide verfügbaren Merkblätter der Parlamentsdienste über parlamentarische Initiativen. Gemäss Commguide sind im Zuge der Erarbeitung einer parlamentarischen Initiative das BJ und die BK beizuziehen für eine materiell-rechtliche, formell-rechtliche und redaktionelle Prüfung. Diese Praxis hat sich in den letzten Jahren gut eingespielt. Eine analoge Praxis hat sich zudem auch beim übrigen Bundesrecht entwickelt, das ausserhalb der Bundesverwaltung entsteht (eidgenössische Gerichte etc.).

2218

2.3.2

Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle

Stärken ­

Das bestehende System hat sich als tauglich erwiesen und ist kostengünstig.

Die parlamentarischen Kommissionen können auf das Knowhow der gut funktionierenden Bundesverwaltung zurückgreifen. Der Aufbau einer ressourcenintensiven parallelen Parlamentsverwaltung erübrigt sich dadurch.

­

Der Beizug der Bundesverwaltung ermöglicht eine einheitliche Praxis bei der Rechtskontrolle und verbessert die Koordination zwischen unterschiedlichen Rechtsetzungsvorhaben. Da in der Regel die gleichen Fachstellen (BJ, BK, EFV sowie die entsprechenden Fachämter) sowohl bei der Erarbeitung der bundesrätlichen wie der Kommissionvorlagen mitwirken, kann ein einheitlicher Standard eher verwirklicht werden.

Schwächen ­

Die verwaltungsinternen Konsultationsverfahren (Ämterkonsultation und Mitberichtsverfahren) werden erst zur Stellungnahme des Bundesrates durchgeführt, also erst, wenn ein fertiger Erlassentwurf bereits dem entsprechenden Rat überwiesen worden ist. Es bleibt der Umsicht der beigezogenen Fachämter und gegebenenfalls der Kommission und ihrem Sekretariat überlassen, die für die Rechtsprüfung zuständigen Fachstellen rechtzeitig vor der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens und später zu wichtigen Änderungen der Erlasse zu konsultieren.

­

Rechtsetzungsarbeiten bei komplexeren Materien können für die beigezogenen Mitarbeitenden der Bundesverwaltung mit einer hohen Arbeitsbelastung verbunden sein. Gelegentlich sind zuerst die angestrebten Ziele, die möglichen Massnahmen und die Wirkungsmechanismen einer Erlassvorlage näher zu klären, bevor mit den eigentlichen Gesetzgebungsarbeiten begonnen werden kann. Vielfach bedürfen die Mitarbeitenden der weiteren Unterstützung durch das Fachamt (insb. für Übersetzungen). Dies kann zu Ressourcenproblemen bei den Fachämtern führen.

­

Die Ausführungen zu Fragen des übergeordneten Rechts fallen in den Erläuterungen zu Erlassvorlagen der Kommissionen in der Regel noch summarischer aus als bei den Botschaften des Bundesrates.

2.4

Parlamentarisches Verfahren

2.4.1

Rechtsetzungsbefugnisse der Bundesversammlung

Die Bundesversammlung erlässt Rechtsätze auf Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsstufe (Art. 163 Abs. 1 und Art. 192 Abs. 2 BV). Sie genehmigt ferner Staatsverträge, soweit die Vertragsschlusskompetenz nicht dem Bundesrat zusteht (Art. 166 Abs. 2 BV).

Bei Volksinitiativen überprüft die Bundesversammlung deren Gültigkeit und damit die Vereinbarkeit der vorgeschlagenen Verfassungsnorm(en) mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (Art. 139 Abs. 3 BV). Sie kann Volksinitiativen in der Form ausgearbeiteter Verfassungsentwürfe nicht abändern (Art. 99 ParlG).

2219

Hingegen kann sie dazu Stellung nehmen und eine Abstimmungsempfehlung abgeben (Art. 100 ParlG).

Nach Artikel 151 ParlG kann die zuständige Parlamentskommission ferner verlangen, dass ihr der Entwurf zu einer wichtigen Verordnung des Bundesrates zur Konsultation unterbreitet wird. Von diesem Instrument der präventiven Kontrolle wird relativ häufig Gebrauch gemacht. In diesem Zusammenhang können auch rechtliche Aspekte thematisiert werden, namentlich die Frage, ob sich die bundesrätliche Verordnung im Rahmen der delegierten Rechtsetzungskompetenzen bewegt.

2.4.2

Vorberatung in den parlamentarische Kommissionen

Bei Rechtsetzungsgeschäften einschliesslich der Genehmigung von Staatsverträgen sowie bei der Behandlung von Volksinitiativen beraten und beschliessen Nationalund Ständerat getrennt (Art. 156 Abs. 1 BV). Beide Kammern verfügen über eigene Kommissionen, welche die Geschäfte im jeweiligen Zuständigkeitsbereich zuhanden des Rates vorberaten und Antrag stellen (Art. 153 BV; Art. 44 Abs. 1 Bst. a und Abs. 2 ParlG; Art. 21 Abs. 1 GRN; Art. 17 Abs. 1 GRS). Auf diese Weise wird die Chance fundierter Ratsdebatten und tragfähiger Vorlagen verbessert76. Ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Rechtsetzungsarbeit geschieht in den Kommissionen.

Ausgangspunkt der Kommissionsarbeit bilden in der Regel die Botschaft und der entsprechende Erlassentwurf des Bundesrates. Soweit rechtliche Probleme im Vorverfahren nicht ausgeräumt werden konnten, sollte dies in der Botschaft des Bundesrates transparent gemacht worden sein.77 Bei Vorlagen, die im Rahmen einer parlamentarischen Initiative oder einer Standesinitiative durch das Parlament selber erarbeitet wurden, fällt in der Kommission des Erstrates die Ausarbeitung mit der Vorberatung zusammen. In diesem Fall wird nur noch die Stellungnahme des Bundesrates vorberaten, falls dieser eine Änderung beantragt (Art. 112 Abs. 4 ParlG).

Das Verfahren in der Kommission richtet sich grundsätzlich nach den Verfahrensregeln des entsprechenden Rates (Art. 46 Abs. 1 ParlG). Somit kann jedes Kommissionsmitglied zu hängigen Rechtsetzungsvorlagen Änderungsanträge stellen (Art. 160 Abs. 2 BV; Art. 6 Abs. 2 und Art. 76 ParlG). Bei der Behandlung von bundesrätlichen Erlassentwürfen oder von Kommissionsentwürfen, zu denen der Bundesrat Stellung genommen hat, nimmt in der Regel die Vorsteherin oder der Vorsteher des zuständigen Departements oder eine Vertretung, allenfalls in Begleitung von Sachverständigen, an den Kommissionssitzungen teil (Art. 160 ParlG).78 Die Kommission kann auch aussenstehende Sachverständige beiziehen (Art. 45 Abs. 1 Bst. b ParlG). Bei der Erfüllung ihrer Aufgaben werden die Ratsmitglieder und die Kom76 77

78

Vgl. Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, § 34 Rz. 24.

Dies war beispielsweise beim sogenannten Hooligan-Gesetz (BWIS I) der Fall, wo die Kompetenzgrundlage verfassungsrechtlich umstritten war. Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 17. August 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (Massnahmen gegen Gewaltpropaganda und gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen), BBl 2005 5613 5637 ff.

Auch das Bundesratsmitglied bzw. seine Vertretung kann im Namen des Gesamtbundesrates Anträge stellen (Art. 160 Abs. 2 BV). Vgl. hierzu Graf (Fn. 72), Rz. 10 zu Art. 160 BV.

2220

missionspräsidien durch die Parlamentsdienste unterstützt. Diese nehmen unter anderem Beratungsfunktionen in Sach- und Verfahrensfragen wahr (vgl. Art. 64 ParlG; Art. 17 ParlVV). Wie bereits im Abschnitt über die parlamentarischen Initiativen dargelegt (Ziff. 2.2.3.1), ist die Parlamentsverwaltung weniger weitgehend ausgebaut als die Bundesverwaltung. Die Kommissionen und die Parlamentsdienste können deshalb bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben Dienststellen der Bundesverwaltung beiziehen, namentlich für Sach- und Rechtsauskünfte (Art. 155 BV; Art. 68 ParlG; Art. 18 ParlVV).

Änderungsanträge zu Verfassungs-, Gesetzes- oder Verordnungsvorlagen werden nicht mehr systematisch auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Bundesrecht und mit Völkerrecht überprüft. Der Kommission obliegt hier eine Selbstkontrolle. Zweifelt sie an der Gesetzes-, Verfassungs- oder Völkerrechtskonformität neuer Regelungsvorschläge oder des Entwurfs des Bundesrates, kann sie entsprechende Gutachten beim BJ, bei anderen Verwaltungsstellen oder bei externen Sachverständigen einholen. In der Regel wird ferner die zuständige Departementsvorsteherin oder der zuständige Departementsvorsteher an den Kommissionssitzungen von den Sachverständigen des federführenden Amtes begleitet oder vertreten. Diese sind gehalten, die Kommissionen auf rechtlich problematische Regelungen und auf Unstimmigkeiten hinzuweisen. Wenn eine Kommission oder das federführende Departement darum ersucht, wirken auch Mitarbeitende des BJ bei der Vorberatung der Vorlage in den Kommissionen mit. Die Kommission kann ferner dem Rat beantragen, Vorlagen zur vertieften Prüfung der Vereinbarkeit mit dem übergeordneten Bundesrecht und mit Völkerrecht an den Bundesrat zurückzuweisen. Heisst der Rat den Rückweisungsantrag gut, so kann er mit Zustimmung des anderen Rates die Vorlage an den Bundesrat zurückweisen.79 Beispielsweise beantragte die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen beim Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (präventive Informationsbeschaffung) die Rückweisung an den Bundesrat, um unter anderem eine detaillierte Prüfung der Verfassungsmässigkeit vorzunehmen80.

2.4.3

Beratung in den eidgenössischen Räten

Für Beschlüsse der Bundesversammlung zu Rechtsetzungsvorlagen ist die Übereinstimmung beider Räte erforderlich (Art. 156 Abs. 2 BV; Art. 81 ParlG). Gesetze und Verordnungen sowie Bundesbeschlüsse (Verfassungsvorlagen, Beschlüsse zu Volksinitiativen, Genehmigungsbeschlüsse zu Staatsverträgen) müssen vom Nationalrat und vom Ständerat in getrennter Abstimmung mit übereinstimmendem Wortlaut gutgeheissen werden. Beide Kammern sind gleichberechtigt.

Grundlage der Beratung im Erstrat bildet die Vorlage in der Fassung der vorberatenden Kommission (sog. Fahne mit Mehrheits- und Minderheitsanträgen der Kommission). Im Zweitrat ist die Vorlage in der Fassung des Erstrates, ergänzt um die Anträge der vorberatenden Kommission des Zweitrats, massgebend. Die Räte sind nicht an die Anträge ihrer Kommissionen gebunden, auch wenn diese faktisch ein grosses Gewicht haben. Wie bereits in den Kommissionen haben die Ratsmitglieder 79

80

Hält der Rat, der Rückweisung beschlossen hat, an seinem Beschluss fest, so ist die Rückweisung auch dann wirksam, wenn der andere Rat nicht zugestimmt hat (Art. 87 Abs. 2 ParlG).

AB 2009 S 19, N 672.

2221

und der Bundesrat das Recht, Änderungsanträge zu den Vorlagen zu stellen (Art. 160 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 2 und 76 ParlG).

Verbleiben nach der Detailberatung eines Erlassentwurfes und der Gesamtabstimmung in beiden Räten Differenzen, so gehen die abweichenden Beschlüsse des einen Rates zur Beratung an den anderen Rat zurück (Art. 89 Abs. 1 ParlG). Grundsätzlich wird nur noch über die Differenzen beraten (Art. 89 Abs. 2 ParlG). Ein Rat kann nur dann auf andere Fragen zurückkommen, wenn dies als Folge von neuen Beschlüssen nötig wird oder wenn die vorberatenden Kommissionen beider Räte einen gemeinsamen Rückkommensantrag stellen (Art. 89 Abs. 3 ParlG). Bestehen nach drei Detailberatungen in jedem Rat weiterhin Differenzen, so wird eine Einigungskonferenz eingesetzt, die sich aus Mitgliedern der vorberatenden Kommissionen beider Räte zusammensetzt und von der Kommissionspräsidentin oder vom Kommissionspräsidenten des Erstrates geleitet wird (Art. 91 ParlG). Die Einigungskonferenz hat nach einer Verständigungslösung zu suchen und einen Einigungsantrag auszuarbeiten (Art. 91 Abs. 1 und 92 Abs. 3 ParlG). Wird dieser in einem der Räte verworfen, so wird der Erlassentwurf abgeschrieben (Art. 93 Abs. 2 ParlG). Spezialregelungen gelten für die Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrages (Art. 95 Bst. c ParlG) und für die Gültig- oder Ungültigerklärung einer Volksinitiative (Art. 98 Abs. 2 ParlG). Hier gibt es keine verhandelbaren Differenzen.

Vor der Schlussabstimmung werden die Erlasse durch die Redaktionskommission eine gemeinsame Kommission beider Räte (Art. 56 Abs. 1 ParlG) überprüft. Dies betrifft den Wortlaut der Erlasse und die Festlegung der endgültigen Fassung für die Schlussabstimmung (Art. 57 Abs. 1 ParlG). Die Redaktionskommission darf nur redaktionelle, nicht jedoch materielle Änderungen vornehmen. Stösst sie auf materielle Lücken, Unklarheiten oder Widersprüche, kann sie den vorberatenden Kommissionen und nach Beendung der Differenzbereinigung den Räten vor der Schlussabstimmung die erforderlichen Anträge stellen (Art. 57 Abs. 3 ParlG und Art. 5 Redaktionskommissionsverordnung). Die Subkommissionen der Redaktionskommission ziehen bei ihrer Arbeit Vertreterinnen und Vertreter der Bundesverwaltung bei, insbesondere Mitarbeitende der BK (Zentrale Sprachdienste und Sektion Recht), des federführenden
Amtes und des BJ. Nötigenfalls können auch Berichterstatterinnen und Berichterstatter der vorberatenden Kommission beigezogen werden (Art. 4 der Redaktionskommissionsverordnung).

Wie bereits bei der Vorberatung in der Kommission findet auch bei der Beratung im Plenum keine eigentliche Rechtskontrolle statt. Anträge werden zwar auf die formale Rechtmässigkeit überprüft, nicht jedoch auf die Vereinbarkeit mit dem übergeordneten Bundesrecht und mit Völkerrecht. Die Einflussmöglichkeit von Bundesrat und Bundesverwaltung ist bei den Parlamentsdebatten geringer. Die politische Auseinandersetzung mit der Vorlage steht hier im Vordergrund. Rechtsfragen werden zwar auch diskutiert, aber unter einem politischen Blickwinkel. Der Rat kann Vorlagen an die vorberatende Kommission oder den Bundesrat zurückweisen, wenn Zweifel an der Rechtmässigkeit aufkommen. Ein Automatismus besteht jedoch nicht. Verbliebene Differenzen zwischen den Räten werden in den Kommissionen jeweils wieder vorberaten. Dort können rechtlich problematische Anträge auch vertieft geprüft werden. Allgemein kommt der Bundesversammlung eine grosse Selbstverantwortung bei der Respektierung der Verfassung und des Völkerrechts zu.

2222

2.4.4

Stärken und Schwächen der Rechtskontrolle

Stärken ­

Der Bundesversammlung obliegt in erster Linie die politische Kontrolle der vom Bundesrat ausgearbeiteten und inhaltlich geprägten Vorlagen. Es ist indessen eine Stärke des bestehenden Systems, dass im parlamentarischen Verfahren neben politischen Aspekten gleichzeitig auch Rechtsfragen ausdiskutiert werden können. Dass das Parlament seine Verantwortung als Gesetzgeber wahrnimmt und namentlich Verfassungsfragen gründlich behandelt, zeigt etwa, dass hierzu unterschiedliche Expertenmeinungen angehört werden.81

­

Das Recht der Parlamentsmitglieder, in den Kommissionen, aber auch in den Räten jederzeit Änderungsanträge zu stellen, kann zu Verbesserungen der Vorlagen führen.

Schwächen

81

­

Die Arbeit in der Kommission bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Sache, Politik und Recht. Dieses Spannungsfeld kann zu einer Instrumentalisierung des Rechts sowie zu Konflikten und Reibungen zwischen den Anliegen der Ratsmitglieder, des Bundesratsmitglieds, der federführenden Dienststelle und den Vertreterinnen und Vertretern des BJ führen. Die Rechtmässigkeit einer Vorlage wird gelegentlich nur als eine Vorgabe unter anderen verstanden.

­

Ein gewisses Gefahrenpotenzial für die Schaffung verfassungs- oder völkerrechtswidriger Bestimmungen bergen Änderungsanträge, die nicht vorgängig auf ihre Übereinstimmung mit dem zu beachtenden anderen Recht überprüft wurden. Änderungsanträge werden zwar von den Kommissionspräsidien auf ihre formale Rechtmässigkeit überprüft (Art. 50 Abs. 3 GRN; Art. 38 Abs. 2 GRS). Dies umfasst indessen keine materielle Rechtsprüfung.

­

Im Differenzbereinigungsverfahren und namentlich innerhalb der Einigungskonferenz kann der Druck, sich zu einigen und einen Kompromiss zu finden, gross sein, sodass der Beachtung des übergeordneten Rechts nicht immer genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

­

Die von der Kommission oder im Rat beschlossenen Änderungen werden nur dann vom Fachamt, dem BJ oder anderen Verwaltungsstellen auf ihre Verfassungsmässigkeit und Völkerrechtskonformität überprüft, wenn entsprechende Aufträge erteilt werden.

Z.B. hat die WAK-S zusammen mit Mitgliedern der WAK-N im Rahmen der Beratung der Unternehmenssteuerreform II neben dem BJ auch einen externen Gutachter angehört.

Vgl. hierzu das Gutachten von Professor Etienne Grisel vom 29. November 2006, De la constitutionnalité d'une réduction de l'imposition des dividendes et participations relevant de la fortune commerciale ou privée, sans l'introduction d'un impôt sur les gains en capital, VPB 2008.3, S. 30­67, sowie das Gutachten des BJ vom 29. November 2006, Avis de droit relatif à la constitutionnalité d'une imposition partielle des dividendes de la fortune privée, VPB 2008.4, S. 68­119.

2223

­

Für das Verfassen von Stellungnahmen und Gutachten stehen dem BJ oder anderen Verwaltungsstellen in der Regel oft nur wenig Zeit zur Verfügung.

Dies verhindert eine vertiefte Auseinandersetzung mit den gestellten Fragen.82

­

Es besteht keine Pflicht der Kommissionen, allfällige Gutachten und Stellungnahmen des BJ, anderer Verwaltungsstellen oder externer Sachverständiger zur Verfassungs- und Völkerrechtskonformität von Vorlagen zu behandeln.

­

Gelegentlich berufen sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch auf Artikel 190 BV, um die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit hervorzuheben und zu rechtfertigen. Nach dieser Bestimmung sind das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden auch an verfassungswidrige Gesetze gebunden.

­

Die Redaktionskommission überprüft den Erlassentwurf vor der Schlussabstimmung auf sprachliche und gesetzestechnische Aspekte und auf die Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Räte. Eine Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht wird summarisch vorgenommen, sofern Unstimmigkeiten im Erlasstext vorliegen.

2.5

Referendumsphase

Änderungen der Verfassung (Volksinitiativen oder Behördenvorlagen), völkerrechtliche Verträge, die den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vorsehen, sowie dringlich erklärte Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt, unterliegen dem obligatorischen Referendum (Art. 140 BV). Bundesgesetze sowie völkerrechtliche Verträge, die unbefristet und unkündbar sind, die den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert, unterliegen dem fakultativen Referendum (Art. 141 BV). In diesen Materien haben also Volk und Stände beziehungsweise wenn das fakultative Referendum ergriffen wird hat das Volk das letzte Wort.

Im Abstimmungskampf können verfassungs- oder völkerrechtliche Argumente zwar eine Rolle spielen (z.B. Verwahrungsinitiative, Einbürgerungsinitiative, Unternehmenssteuerreform II, Asylgesetzrevision). Die Zustimmung von Volk (und Ständen) zu einer Vorlage ist jedoch ein politischer Entscheid und kann nicht als eine eigentliche Kontrolle der Vorlage auf ihre Verfassungs- und Völkerrechtskonformität verstanden werden.83 Eine vertiefte Diskussion von Verfassungs- und völkerrechtlichen Fragen findet in der Regel nur statt, wenn solche bereits in den Parlamentsdebatten kontrovers diskutiert wurden oder wenn Parteien oder Interessenverbände sich diesbezüglich im Vorfeld der Abstimmung in der Öffentlichkeit engagieren.

82 83

Mader, Le rôle (Fn. 60), S. 524.

Vgl. hierzu die Debatte im Ständerat vom 5. März 1998 zu Art. 178 des Entwurfs des Bundesbeschlusses über die Reform der Justiz (Verfassungsgerichtsbarkeit), insbesondere Voten von SR Carlo Schmid und SR Fritz Schiesser, AB 1998 S 261 ff.

2224

2.6

Präventive Wirkung der Gerichtspraxis

Wie eingangs dargelegt, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Erlassen des Bundes nicht voll ausgebaut. Von Bedeutung ist vorab, dass kein abstraktes Normkontrollverfahren existiert. Die Gerichte können Erlasse des Bundes (ausser Bundesgesetze) lediglich im Einzelfall vorfrageweise auf die Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht überprüfen und vor dem Hintergrund einer konkreten Streitigkeit einzelnen Bestimmungen die Anwendung versagen. Die damit verbundene Normkorrektur ist oftmals nur punktueller Natur und vermag auf das vorangegangene Rechtsetzungsverfahren keine und hinsichtlich zukünftiger Rechtsetzung nur eine eingeschränkte Wirkung zu entfalten.

Gleichwohl kommt der Rechtsprechung des Bundesgerichts und anderer Gerichte für die Rechtsetzung eine bedeutende Rolle zu. In Bezug auf Bundesgesetze erachtet sich das Bundesgericht für zuständig, die Übereinstimmung mit Völkerrecht, insbesondere mit zwingendem Völkerrecht und mit der EMRK, im Einzelfall zu prüfen und unter Beachtung der übergeordneten Norm eine Bundesgesetzesbestimmung im Einzelfall nicht anzuwenden.84 Wo kein derartiger Bezug zu Völkerrecht besteht, kann es zwar ungeachtet des aus Artikel 190 BV fliessenden Anwendungsgebotes die Verfassungsmässigkeit eines Bundesgesetzes überprüfen und, soweit eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist, dessen Verfassungswidrigkeit feststellen. Indessen darf es einem Bundesgesetz nicht die Anwendung versagen.85 Solche Feststellungen können früher oder später zu verfassungsgemässen Gesetzesrevisionen führen.86 Im gleichen Sinne können Urteile des EGMR, mit welchen EMRK-Verletzungen festgestellt werden, Revisionen der Bundesgesetzgebung zur Folge haben.87 Darüber hinaus entfaltet die Verfassungsrechtssprechung des Bundesgerichts gegenüber kantonalen Erlassen im Verfahren der abstrakten oder vorfrageweisen Überprüfung auch Auswirkungen auf die Rechtsetzung im Bund. Der vom Bundesgericht vorgenommenen Auslegung der Bundesverfassung gilt es in der Rechtsetzung Rechnung zu tragen. In diesem Sinne können bundesgerichtliche Urteile die Normsetzung direkt beeinflussen88 oder zu Gesetzgebungsrevisionen Anlass geben.89

84 85 86

87

88

89

BGE 125 II 417, 117 Ib 367 E. 2e S. 373, 124 II E. 3a S. 487 BGE 125 III 209, 131 II 679 und 131 II 710 Vgl. Parlamentarische Initiative Leutenegger Oberholzer im Zusammenhang mit BGE 125 III 209 zu Namen und Bürgerrechte der Ehegatten; der Kritik des Bundesgerichts an einer Bestimmung des Organisationsgesetzes in BGE 103 Ia 53 wurde in einer späteren Revision Rechnung getragen.

Vgl. EGMR-Urteil Kopp gegen Schweiz vom 25.03.1998, Recueil des arrêts et décisions de la CourEDH 1998-II, n° 67, S. 524 ff sowie Interimsresolution des Ministerkomitees vom 08.10 1999, DH (99) 677.

Vgl. BGE 115 Ia 234 und 119 Ia 460 einerseits sowie Art. 119 BV [Art. 24novies aBV] und Fortpflanzungsmedizingesetz [SR 810.11] andererseits; vgl. Gerold Steinmann, Der Beitrag des Schweizerischen Bundesgerichts zur Regelung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung, in: Bioéthique: de l'éthique au droit, du droit à l'éthique, Zürich 1997, S. 169 ff.

Vgl. BGE 109 Ia 273 betreffend die damals kantonalrechtlich geregelte Telefonüberwachung und die entsprechende Revision des Bundesstrafprozesses (SR 312.0).

2225

3

Präventive Rechtskontrolle im Rechtsvergleich

Das BJ hat das Institut für Rechtsvergleichung beauftragt, in einem kurzen Rechtsvergleich aufzuzeigen, wie die präventive Rechts-, namentlich die präventive Verfassungskontrolle, in verschiedenen europäischen Ländern wahrgenommen wird.

Ausgewählt wurden dabei Länder mit unterschiedlichen Systemen der Rechtskontrolle (verwaltungsinterne Kontrollmechanismen, unabhängiges Beratungsorgan in Form eines Conseil d'Etat, parlamentarische Verfassungskommission, Verfassungsgericht). Im Rechtsvergleich sollte auch ein Hinweis enthalten sein, ob die entsprechenden Länder auch eine nachträgliche Kontrolle der Verfassungsmässigkeit kennen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse des Rechtsvergleichs zusammengefasst. Für eine vertiefte Auseinandersetzung auch vor dem Hintergrund des jeweiligen politischen Systems und des entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens sei auf das Gutachten verwiesen.90 Anzumerken bleibt, dass es neben den im Folgenden hervorgehobenen Modellen der präventiven Rechtskontrolle selbstverständlich in allen Ländern auch verwaltungsinterne «Selbstkontrollen» gibt.

3.1

Belgien (Conseil d'Etat)

In Belgien wird die präventive Verfassungskontrolle durch den Conseil d'Etat das höchste Verwaltungsgericht Belgiens wahrgenommen. Der Conseil d'Etat ist von der Exekutive und der Legislative unabhängig und seit der Verfassungsrevision von 1993 selber Verfassungsorgan. Der Conseil d'Etat hat zwei Abteilungen: Die verwaltungsgerichtliche Abteilung (la section du contentieux administratif) beurteilt verwaltungsrechtliche Streitigkeiten, die Gesetzgebungsabteilung (la section de législation) erstellt als Beratungsorgan der Regierung Gutachten zu allen rechtsetzenden Erlassen des Föderalstaates, der Gemeinschaften und der Regionen (Gesetze einschliesslich solcher zur Umsetzung von völkerrechtlichen Verträgen und EU-Richtlinien, Dekrete und Verordnungen91, Reglemente) mit Ausnahme von Verfassungsvorlagen. Prüfungsmassstab bildet das jeweils übergeordnete Recht, bei Gesetzen die Verfassung und die für Belgien verbindlichen völkerrechtlichen Verträge, bei Reglementen zusätzlich die entsprechenden Gesetze. Die Gesetzgebungsabteilung setzt sich aus zwölf Mitgliedern des Conseil d'Etat, die vom König auf Lebenszeit ernannt werden, und höchstens 10 Beisitzern (assesseurs), die sich vor allem aus Universitätsprofessoren rekrutieren, zusammen.

Im vorparlamentarischen Verfahren ist die Einholung eines Gutachtens durch die zuständige Regierung obligatorisch. Bei Gesetzesprojekten hat dies vor der Überweisung an das jeweilige Parlament, bei Reglementsentwürfen vor der Verabschiedung des Textes auf Regierungsebene zu geschehen. Im parlamentarischen Verfahren ist die Begutachtung fakultativ. Das Gutachten kann von der Präsidentin oder vom Präsidenten des Senats, der Abgeordnetenkammer oder eines Parlaments der Gemeinschaften oder der Regionen eingeholt werden. Die Gutachten sind für die Regierungen und die parlamentarischen Instanzen rechtlich nicht bindend, sie geniessen indessen aufgrund ihrer Qualität eine grosse Autorität.

90

91

Gutachten des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung vom 15. September 2008 über die präventive Verfassungskontrolle in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Niederlanden, Schweden, Slowakei und Ungarn (im Folgenden Gutachten).

Dekreten und Verordnungen für die Region Brüssel-Hauptstadt kommt Gesetzeskraft zu.

2226

Neben dem Conseil d'Etat gibt es in Belgien ein politisches Organ, das Comité de concertation, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Regierungen im Föderalstaat zusammensetzt und ebenfalls eine präventive Kontrolle wahrnimmt. Dieses Organ überprüft einen Gesetzesentwurf, wenn der Conseil d'Etat eine Verletzung der Kompetenzverteilung zwischen dem Föderalstaat und den föderativen Einheiten festgestellt hat. Teilt das Comité de concertation einstimmig diese Auffassung, so wird die Vorlage zur Korrektur an den Urheber des Gesetzesentwurfes zurückgewiesen. Diese Prüfung ist somit rechtlich bindend.

Das belgische Verfassungsgericht (früher Cour d'arbitrage) prüft nachträglich Gesetze und Rechtsnormen entsprechender Stufe (Dekrete und Verordnungen, Kooperationsverträge) auf die Vereinbarkeit mit gewissen Bestimmungen der Verfassung (namentlich Grundrechte). Seit 1989 können Individuen Verfassungsbeschwerde führen.

3.2

Deutschland (Bundesministerium der Justiz)

In Deutschland wird die präventive Rechtskontrolle wie in der Schweiz im Wesentlichen von spezialisierten Diensten der Verwaltung mit Querschnittsfunktion wahrgenommen. Bei Gesetzesentwürfen der Regierung sowie bei Regierungs- und Ministerialverordnungen nimmt das Bundesministerium der Justiz zwingend eine relativ weitreichende inhaltliche Rechtsprüfung vor. Geprüft wird namentlich, ob die Regelungen mit Verfassungsrecht, Gemeinschaftsrecht (soweit der EG-Bezug offenkundig ist) und Völkerrecht vereinbar sind.92 Intern wird die Rechtskontrolle von den jeweils spezialisierten Referaten des Bundesministeriums der Justiz durchgeführt (Mitprüfungsreferate). Für die Prüfung des Verfassungsrechts gibt es spezialisierte Verfassungsreferate (insb. ein Grundrechtsreferat). Das Bundesjustizministerium nimmt entweder bereits an der Entwurfsabfassung aktiv teil oder wird vor der Beschlussfassung der Bundesregierung als Kontrollinstanz93 hinzugezogen. Es kann von den federführenden Ministerien schon zu den Vorarbeiten eines Gesetzesentwurfs hinzugezogen und um die Klärung einzelner Rechtsfragen gebeten werden.

Ergibt die Rechtsprüfung, dass keine Einwendungen in rechtlicher Hinsicht bestehen, wird dies vom Mitprüfungsamt des Justizministeriums bescheinigt. Diese Bescheinigung kann vom federführenden Ministerium zusammen mit der Kabinettvorlage weitergereicht werden, um den Entwurf rechtlich abzusegnen. Ist das Ergebnis negativ, wird der Entwurf nicht zur Beschlussfassung vorgelegt.

Bevor Gesetzesentwürfe im Bundestag (oberstes Legislativorgan) beraten werden, sind Regierungsentwürfe dem Bundesrat (Länderkammer) und Entwürfe, die vom Bundesrat initiiert wurden, der Bundesregierung zur Stellungnahme vorzulegen. Bei Gesetzesentwürfen aus der Mitte des Bundestags besteht keine Vorlagepflicht an den Bundesrat oder die Bundesregierung. Aber auch hier hat das federführende Bundesministerium eine Stellungnahme der Bundesregierung herbeizuführen und sie gegenüber dem Bundestag zu vertreten. Im Rahmen dieser Stellungnahme kann auch

92 93

Der unabhängige Nationale Normenkontrollrat prüft hingegen nicht die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen, sondern die durch Gesetze verursachten Bürokratiekosten.

Der sog. Widerspruch gegen Gesetzesentwürfe obliegt dem Bundesjustizministeroder der Bundesjustizministerin. Er kann auch vom Bundesminister oder von der Bundesministerin für Inneres eingelegt werden.

2227

die Verfassungsmässigkeit der Vorlagen geprüft werden. Die Stellungnahmen können allerdings nicht verhindern, dass ein Entwurf im Parlament behandelt wird.

Nach Verabschiedung des Gesetzesentwurfs im Bundestag (drei Lesungen) wird er dem Bundesrat zugeleitet. Dieser kann, je nach Ermächtigungsgrundlage, die Zustimmung zum Gesetz verweigern oder was die Regel ist dagegen Einspruch erheben (Vetorecht). In beiden Fällen kann ein Vermittlungsausschuss angerufen werden, der versucht, einen Kompromissvorschlag auszuarbeiten. Ein Einspruch des Bundesrates kann vom Bundestag überstimmt werden. Gelingt dies bei einem Einspruchgesetz nicht oder wird bei einem Zustimmungsgesetz die Zustimmung verweigert, so scheitert das Gesetz endgültig. Der Bundesrat ist bei seiner Kontrolle nicht an einen konkreten rechtlichen Prüfungsmassstab gebunden. Er muss seinen Einspruch nicht begründen und ist auch nicht an seine früheren Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf gebunden.

Ist ein Gesetz vom Bundestag verabschiedet worden und hat der Bundesrat diesem zugestimmt bzw. keinen Einspruch erhoben, wird das Gesetz durch die Bundesregierung an den Bundespräsidenten oder die Bundespräsidentin zur Unterzeichnung weitergeleitet. Bevor diese erfolgt, hat der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin zu kontrollieren, ob die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzgebungsverfahrens, einschliesslich der Kompetenzvorschriften, eingehalten worden sind (formelle Prüfung). Umstritten ist, ob er oder sie darüber hinaus allenfalls berechtigt und verpflichtet ist, bei schweren und offensichtlichen Verfassungsverstössen die Unterzeichnung des Gesetzes aus materiellen Gesichtspunkten (Grundrechte, übriges Verfassungsrecht) zu verweigern.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat verschiedene Kontrollbefugnisse, diese setzen aber erst nach der Verkündung eines Gesetzes ein (nachträgliche Normenkontrolle). Eine präventive Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich unzulässig. Auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestags überprüft das Bundesverfassungsgericht Bundesrecht oder Landesrecht abstrakt auf seine Übereinstimmung mit dem Grundgesetz oder Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit Bundesrecht. Mittels Verfassungsbeschwerde kann jede Person vor
Bundesverfassungsgericht geltend machen, durch die öffentliche Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder in einer Reihe weiterer verfassungsmässiger Rechte verletzt zu sein. Ferner sind alle Fachgerichte auf Landes- und Bundesebene verpflichtet, entscheidungserhebliche Rechtsnormen dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, wenn sie diese als verfassungswidrig erachten (konkrete Normenkontrolle). Die nachträgliche Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ist auf die Prüfung der Verfassungsmässigkeit anhand des Grundgesetzes (dort allerdings auf alle verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte) beschränkt. Die Europarechtskonformität wird hingegen nicht geprüft.94 Bei Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans entscheidet das Bundesverfassungsgericht ferner über die Auslegung des Grundgesetzes.

94

Die Prüfung von europarechtlichen Vorgaben kann allerdings inzident vor nationalen Gerichten erfolgen und zu einer Vorlage an den EuGH führen.

2228

3.3

Finnland (parlamentarische Verfassungskommission)

In Finnland wird die präventive Verfassungskontrolle durch das Parlament und insbesondere durch die parlamentarische Verfassungskommission (grundlagsutskott) wahrgenommen. Diese wird in jeder Legislatur neu bestellt und umfasst mindestens siebzehn Abgeordnete. Die Zuständigkeit der Verfassungskommission ist in der Verfassung geregelt. Die Verfassungskommission erstellt auf Antrag einer Regierungskommission oder einer parlamentarischen Kommission Gutachten über die Vereinbarkeit von Gesetzesvorlagen und Beschlussentwürfen mit der Verfassung und mit internationalen Menschenrechtsverträgen. Bestehen Zweifel an der Verfassungsmässigkeit oder der Vereinbarkeit einer Vorlage mit den Menschenrechten, so ist die entsprechende Kommission verpflichtet, ein Gutachten einzuholen. Die Gutachten sind indessen rechtlich nicht verbindlich.

Finnland kennt kein Verfassungsgericht, welches die Gesetze nachträglich abstrakt auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen könnte. Hingegen regelt die Verfassung die Hierarchie der Normen und namentlich den Vorrang der Verfassung im Anwendungsfall. Die Gerichte sind gehalten, der Verfassung Vorrang einzuräumen, wenn die Anwendung einer Gesetzesbestimmung in einem konkreten Einzelfall in offensichtlichem Widerspruch zur Verfassung steht.95 Normenkonflikte sind indessen nach Möglichkeit durch verfassungs- und menschenrechtskonforme Auslegung zu vermeiden.

3.4

Frankreich (Conseil d'Etat, Conseil Constitutionnel)

Der französische Conseil d'Etat, der den Niederlanden und Belgien als Modell gedient hat, wirkt einerseits als oberstes Verwaltungsgericht und andererseits als unabhängiges Beratungsorgan der Regierung. Er prüft von Amtes wegen die Gesetzes- und Verordnungsentwürfe und seit 1992 auch die Entwürfe von EU-Akten, bevor diese der Regierung vorgelegt werden. Der Conseil d'Etat nimmt Stellung zur Rechtmässigkeit, zur Erlassform und zur Zweckmässigkeit der Entwürfe. Die Regierung kann ferner zu Einzelfragen Stellungnahmen einholen. Die Stellungnahmen sind grundsätzlich nicht öffentlich und für die Regierung nicht verbindlich.96 Daneben nimmt der Conseil Constitutionnel eine präventive und abstrakte gerichtliche Verfassungskontrolle von Gesetzen und von völkerrechtlichen Verpflichtungen wahr. Der Conseil Constitutionnel ist ein Verfassungsorgan und setzt sich aus neun 95

96

Artikel 106 der finnischen Verfassung lautet wie folgt: «Toute juridiction est tenue d'accorder la primauté à la Constitution, si l'application d'une disposition d'une loi au cas soumis à son examen est en évidente contradiction avec la Constitution.» Artikel 107 regelt die Beziehung zwischen einer Norm unterhalb der Gesetzesstufe und der Verfassung oder dem Gesetz: «Aucune disposition d'un décret ou d'une norme de niveau inférieur à la loi, qui est en contradiction avec la constitution ou quelque autre loi, ne peu être appliqueé par un tribunal ou une autre autorité.» Übersetzung des finnischen Justizministeriums, zitiert gemäss Gutachten (Fn. 90), S. 28 f.

Vgl. Arnd Vollmer, Die Prüfung von Gesetzesentwürfen durch den französischen Conseil d'Etat: Gibt es in Deutschland funktional vergleichbare Prüfverfahren?, Speyer 2005.

Daneben wacht das französische Justizministerium in den verschiedenen Stadien der Gesetzgebung über die Kohärenz der Rechtsordnung. Vgl. hierzu Mireille ImbertQuaretta, L'évolution du rôle du ministère de la Justice français, Les Cahiers de Droit, vol. 42, n° 3, septembre 2001, S. 499, 503.

2229

Mitgliedern zusammen. Die Amtszeit beträgt neun Jahre und kann nicht verlängert werden. Der Verfassungsrat wird alle drei Jahre zu je einem Drittel erneuert. Drei Mitglieder werden von der Präsidentin oder vom Präsidenten der Republik ernannt, drei von der Präsidentin oder vom Präsidenten der Nationalversammlung und drei von der Präsidentin oder vom Präsidenten des Senats. Dem Verfassungsrat gehören ferner von Rechts wegen und auf Lebenszeit die ehemaligen Präsidentinnen und Präsidenten der Republik an.

Dem Conseil Constitutionnel zwingend vorgelegt werden müssen Verfassungsergänzungsgesetze (lois organiques) vor ihrer Verkündung, dem Referendum unterstehende Gesetzesentwürfe vor der Volksabstimmung sowie die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrem Inkrafttreten. Auf Antrag der Präsidentin oder des Präsidenten der Republik, der Premierministerin oder des Premierministers, der Präsidentin oder des Präsidenten der Nationalversammlung oder des Senats oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatorinnen oder Senatoren prüft der Conseil Constitutionnel die Verfassungsmässigkeit der übrigen Gesetze vor ihrer Verkündung oder der internationalen Verpflichtungen vor der Ermächtigung zu deren Ratifikation oder Zustimmung. Prüfungsmassstab bildet dabei der sogenannte «bloc de constitutionnalité», bestehend aus der Verfassung von 1958, der Menschenrechtserklärung von 1789, der Präambel der Verfassung von 1946, die von den Gesetzen anerkannten Grundprinzipien sowie die allgemeinen Grundsätze, denen der Conseil Constitutionnel Verfassungswert zuerkannt hat.97 Indessen hat er sich als nicht zuständig erklärt, Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Verträgen zu überprüfen98. Die Entscheidungen des Conseil Constitutionnel binden alle staatlichen Organe und Behörden. Eine für verfassungswidrig erklärte Bestimmung kann weder verkündet noch angewandt werden. Bei einer internationalen Verpflichtung, die eine verfassungswidrige Klausel enthält, kann die Ermächtigung zu deren Ratifikation oder Zustimmung erst nach einer Änderung der Verfassung erfolgen.99 Die Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008 sieht neu auch eine nachträgliche konkrete Normenkontrolle durch den Conseil Constitutionnel vor. Wird bei einem hängigen Gerichtsverfahren vorgebracht, eine Rechtsvorschrift verstosse
gegen die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, kann der Conseil d'Etat oder der Kassationsgerichtshof diese Frage dem Conseil Constitutionnel vorlegen. Erklärt dieser die fragliche Rechtsvorschrift für verfassungswidrig, wird sie mit der Veröffentlichung der Entscheidung oder zu einem in der Entscheidung festgelegten Zeitpunkt aufgehoben.

3.5

Niederlande (Conseil d'Etat)

In den Niederlanden übt wie in Frankreich oder Belgien ein Conseil d'Etat (Raad van State) die präventive Verfassungskontrolle aus. Der Conseil d'Etat ist ein von der Exekutive unabhängiges Verfassungsorgan und wird von der Königin präsidiert. Er umfasst 28 Mitglieder, die auf Antrag der Ministerin oder des Ministers des Innern und der Justiz von der Königin oder vom König auf Lebenszeit ernannt 97 98 99

Gutachten (Fn. 90), S. 35.

Gutachten (Fn. 90), S. 35, letzter Abschnitt.

Art. 54 der französischen Verfassung.

2230

werden. Die Zusammensetzung des Conseil d'Etat soll die verschiedenen sozialen und politischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft widerspiegeln. Der Conseil d'Etat berät einerseits die Regierung und das Parlament bei der Gesetzgebungstätigkeit, anderseits wirkt es als höchstes Verwaltungsgericht. Entsprechend verfügt dieses Organ über eine Gesetzgebungsabteilung (section de législation) und eine verwaltungsgerichtliche Abteilung (section du contentieux). Die Gesetzgebungsabteilung ist in fünf Kammern aufgeteilt, welche je für einzelne Ministerien zuständig sind und die entsprechenden Gutachtensentwürfe vorbereiten, die von der Generalversammlung des Staatsrats unter Vorsitz des Vizepräsidenten verabschiedet werden. Die Arbeit der 28 Staatsrätinnen und Staatsräte (in der Gesetzgebungsabteilung und der verwaltungsgerichtlichen Abteilung) wird von rund 600 Angestellten, davon 300 Juristinnen und Juristen, unterstützt.

Bevor Entwürfe der Regierung zu Gesetzen und zu Genehmigungsbeschlüssen betreffend völkerrechtliche Verträge dem Parlament zugestellt werden, müssen sie obligatorisch dem Conseil d'Etat zur Begutachtung ihrer Verfassungsmässigkeit vorgelegt werden. Das Gleiche gilt für Regierungsverordnungen vor ihrer Verabschiedung. Vor oder während der parlamentarischen Beratungen können ebenfalls Gutachten des Conseil d'Etat zur Verfassungsmässigkeit von parlamentarischen Initiativen eingeholt werden. In diesem Fall ist die Begutachtung fakultativ. Der Conseil d'Etat überprüft die jeweiligen Normen auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht (Gesetz, Verfassung, völkerrechtliche Verträge, EG-Verträge). Die Gutachten sind rechtlich nicht verbindlich. Ihnen kommt indessen eine wichtige politische Bedeutung zu. Seit 1980 werden die Gutachten zu Regierungsverordnungen publiziert und bilden auf diese Weise ein Instrument zur Kontrolle der Regierung. Die Gutachten zu Gesetzesentwürfen werden den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zugestellt und bilden eine wichtige Quelle in den parlamentarischen Beratungen.

In den Niederlanden gibt es keine nachträgliche abstrakte Kontrolle der Verfassungsmässigkeit der Gesetze. Es gibt denn auch kein Verfassungsgericht. Indessen können alle Gerichte bis zum obersten Gericht (Hoge Raad der Nederlanden) Gesetze im konkreten Anwendungsfall vorfrageweise auf ihre Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Verträgen und Beschlüssen völkerrechtlicher Organisationen überprüfen und gegebenenfalls nicht anwenden.100

3.6

Schweden (Gesetzgebungsrat)

In Schweden kommt dem Gesetzgebungsrat (lagrådet) eine wichtige Funktion bei der präventiven Verfassungskontrolle von Gesetzesentwürfen zu. Der Gesetzgebungsrat wird auf Verfassungsebene vorgesehen. Er setzt sich aus amtierenden Richterinnen und Richtern der beiden obersten Gerichte dem obersten Gericht in Zivil- und Strafsachen (Högsta domstolen) und dem höchsten Verwaltungsgericht (Regeringsrätten) zusammen. Er übt seine Tätigkeit nicht regelmässig aus. Seine Arbeit und Einberufung sind abhängig von den Gutachtenersuchen der Regierung oder des Parlaments. Der Gesetzgebungsrat setzt sich aus ein bis vier Abteilungen 100

Vgl. Art. 94 der niederländischen Verfassung: Innerhalb des Königreichs geltende gesetzliche Vorschriften werden nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen völkerrechtlicher Organisationen nicht vereinbar ist.

2231

zusammen. Die Regierung legt die Zahl der Abteilungen je nach Arbeitsbelastung des Gesetzgebungsrates fest. Eine Abteilung umfasst in der Regel drei abgeordnete Richterinnen und Richter. Es können höchstens sechs Richterinnen und Richter der obersten Gerichte und nicht deren Präsidentinnen oder Präsidenten in den Gesetzgebungsrat abgeordnet werden. Steigt die Arbeitsbelastung, können auch andere Juristinnen und Juristen, namentlich oberste Richterinnen und Richter im Ruhestand ernannt werden. Der Umstand, dass sich der Gesetzgebungsrat grundsätzlich allein aus Richtern der obersten Gerichte zusammensetzt, garantiert Sachkompetenz und Unabhängigkeit.

Der Gesetzgebungsrat erstellt auf Antrag der Regierung oder einer Parlamentskommission juristische Gutachten unter anderem zur Übereinstimmung von Gesetzesentwürfen der Regierung oder des Parlaments mit den Verfassungsgesetzen (lois fondamentales) und der Rechtsordnung im Allgemeinen. In gewissen, auf Verfassungsebene aufgelisteten Materien101 muss ein Gutachten immer eingeholt werden, wenn der Gesetzesentwurf für die Individuen oder aus allgemeiner Sicht von grosser Bedeutung ist und die Vorlage nicht dringlich ist. Dies gilt beispielsweise im Bereich der Medienfreiheit, der Gemeindesteuern, des Bürgerrechts oder des Verfahrensrechts. Verzichtet die Regierung auf die Einholung eines Gutachtens, da sie die Regelungsmaterie als nicht bedeutend oder als dringlich einstuft, kann die zuständige Parlamentskommission, allenfalls nach Rückweisung der Vorlage durch das Parlament, das entsprechende Gutachten einfordern. Die Gutachten sind rechtlich nicht verbindlich. Die Regierungskanzlei oder die Parlamentskommission hat die Wahl, ob sie den Gesetzesentwurf entsprechend überarbeiten oder ihn unverändert dem Parlament vorlegen will. Meistens werden die Gutachten indessen berücksichtigt.

Für eine Änderung der Verfassungsgesetze besteht ferner ein spezielles Verfahren: Die Verfassungsänderungen müssen zweimal vom Parlament (Riksdag) gutgeheissen werden, einmal in der aktuellen Zusammensetzung und ein zweites Mal in der neuen Zusammensetzung nach den nächsten Wahlen.

Schweden hat kein Verfassungsgericht, kennt aber eine nachträgliche konkrete Normenkontrolle durch alle Gerichte und rechtsanwendenden Behörden (diffuses System). Geprüft werden kann dabei nicht nur,
ob die fragliche Norm inhaltlich gegen übergeordnetes Rechts verstösst, sondern auch ob sie vom zuständigen Organ erlassen worden ist. Ein Verstoss gegen höheres Recht führt zur Nichtanwendung der entsprechenden Rechtsregel. Gesetzesbestimmungen kann allerdings nur dann die Anwendung versagt werden, wenn sie offensichtlich gegen die Verfassungsgesetze oder die EMRK, die als Gesetz in das wichtigste Verfassungsgesetz inkorporiert wurde, oder ein anderes übergeordnetes Gesetz verstossen («the clear mistake rule»).

3.7

Slowakei (Verfassungsgericht)

In der Slowakei sind verschiedene Instanzen mit der präventiven Verfassungskontrolle betraut. Erlassentwürfe können jederzeit während des Gesetzgebungsverfahrens einer Überprüfung von verschiedenen internen Gremien (Legislativrat bei Regierungsentwürfen oder Parlamentsdienst beim gesetzgebenden Prozess im 101

Vgl. Gutachten (Fn. 90), S. 47.

2232

Nationalrat) unterstellt werden. Die entsprechenden Stellungnahmen sind indessen nicht verbindlich und werden im weiteren Verlauf der Gesetzgebung oft auch nicht berücksichtigt.102 In der zweiten Lesung im Parlament werden Gesetzesentwürfe von den jeweils zuständigen Parlamentsausschüssen behandelt. Jede Gesetzesvorlage muss den Verfassungsausschuss durchlaufen, der vor allem seine Vereinbarkeit mit der Verfassung, mit für die Slowakei verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen, mit Gesetzen und dem Recht der Europäischen Union prüft.103 Das Verfassungsgericht ist primär für die nachträgliche Verfassungskontrolle zuständig, nimmt jedoch auch Aufgaben der präventiven Kontrolle wahr. Es besteht aus dreizehn Richterinnen und Richtern. Die Verfassungsrichterinnen und -richter werden auf Vorschlag des Nationalrats von der Präsidentin oder vom Präsidenten der Republik auf zwölf Jahre ernannt (keine Wiederwahl möglich). Nach Artikel 125 Absatz 4 der slowakischen Verfassung darf das Verfassungsgericht zur Frage der Vereinbarkeit von Gesetzesentwürfen und zu Entwürfen von sonstigen allgemeinverbindlichen Rechtsvorschriften mit der Verfassung und den Verfassungsgesetzen nicht Stellung nehmen. Indessen ist das Verfassungsgericht zuständig, auf Antrag der Präsidentin oder des Präsidenten der Republik oder der Regierung einen vereinbarten internationalen Vertrag, welcher der parlamentarischen Zustimmung bedarf, präventiv, d.h. bevor dieser dem Nationalrat zur Beratung vorgelegt wird, auf seine Verfassungsmässigkeit zu überprüfen. Erachtet das Verfassungsgericht den internationalen Vertrag als verfassungswidrig, darf er nicht ratifiziert werden.104 Auf Antrag der Präsidentin oder des Präsidenten der Republik überprüft das Verfassungsgericht ferner, ob der Gegenstand eines Referendums (Petition von Bürgerinnen und Bürgern, Beschluss des Nationalrats) mit der Verfassung oder den Verfassungsgesetzen in Einklang steht. Stellt es eine Verfassungswidrigkeit fest, darf das Referendum nicht ausgeschrieben werden.

Die Präsidentin oder der Präsident der Republik, vom Volk in direkter Wahl auf fünf Jahre gewählt, hat im Rahmen der Unterzeichnung der Gesetze ein Vetorecht.

Auch hier kann eine Kontrolle ausgeübt werden.

Das Verfassungsgericht urteilt auf Antrag eines Fünftels der Parlamentsabgeordneten, der Präsidentin
oder des Präsidenten der Republik, der Regierung, eines Gerichts im Zusammenhang mit einem konkreten Anwendungsfall oder des Generalstaatsanwalts nachträglich über die Vereinbarkeit von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften mit der Verfassung, den Verfassungsgesetzen, ratifizierten internationalen Verträgen oder Gesetzen. Erachtet es eine Rechtsvorschrift als mit höherrangigem Recht unvereinbar, so verliert diese mit der Veröffentlichung des verfassungsgerichtlichen Entscheids in der Gesetzessammlung seine Wirksamkeit und tritt 6 Monate später ausser Kraft.

102 103 104

Gutachten (Fn. 90), S. 55.

Gutachten (Fn. 90), S. 55.

Gutachten (Fn. 90), S. 56.

2233

3.8

Ungarn (Verfassungsgericht)

Das 1989 in Ungarn geschaffene Verfassungsgericht, das sich aus elf vom Parlament gewählten Mitgliedern zusammensetzt, verfügt über Kompetenzen sowohl bei der präventiven als auch bei der nachträglichen Verfassungskontrolle von Rechtstexten.

Die Präsidentin oder der Präsident der Regierung kann vor der Unterzeichnung und Verkündung eines vom Parlament verabschiedeten Gesetzes das Verfassungsgericht anrufen, wenn sie oder er Zweifel an der Verfassungsmässigkeit einer Gesetzesbestimmung hat (sog. «Verfassungsveto»). Stellt das Verfassungsgericht in einem Dringlichkeitsverfahren eine Verfassungswidrigkeit der fraglichen Gesetzesbestimmung fest, überweist die Präsidentin oder der Präsident der Republik das Gesetz dem Parlament zur Behebung des Mangels. Vom Verfassungsveto wurde bisher nicht oft, indessen in wichtigen Fällen Gebrauch gemacht. Auf Antrag des Parlaments, der Präsidentin oder des Präsidenten der Republik oder der Regierung überprüft das Verfassungsgericht ferner staatsvertragliche Bestimmungen vor der Ratifikation des entsprechenden Vertrages. Stellt das Verfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit fest, kann der Vertrag nicht ratifiziert werden, solange der Mangel nicht behoben wurde. Bisher gab es noch keine entsprechende Beschwerde.

Schliesslich kann das Parlament dem Verfassungsgericht sein Ratsregelement vor seiner Verabschiedung zur Verfassungsmässigkeitskontrolle vorlegen. Prüfungsmassstab für das Verfassungsgericht bildet die Verfassung der Republik Ungarn.

Nach Artikel 7 der Verfassung akzeptiert das ungarische Rechtssystem zudem die allgemein anerkannten Regeln des internationalen Rechts und sichert den Einklang der internationalen Rechtsverpflichtungen und des inneren Rechts. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind verbindlich.

Im Jahre 1998 wurde eine weitergehende Form der präventiven Verfassungskontrolle vom Gesetzgeber abgeschafft. Danach konnten mindestens 50 Parlamentarierinnen und Parlamentarier verlangen, dass ein Gesetzesentwurf vor der Endabstimmung dem Verfassungsgericht vorgelegt wurde. Grund für die Abschaffung dieser Kontrollmöglichkeit war offenbar, dass man dem Verfassungsgericht nicht mehr quasi gesetzgeberische Funktion zukommen lassen wollte.

Das Verfassungsgericht befasst sich schwergewichtig mit der nachträglichen Verfassungskontrolle von
Rechtstexten aller Stufen (mit Ausnahme der Verfassung selber).

Stellt das Verfassungsgericht eine Verfassungswidrigkeit fest, so hebt es die betreffende Norm auf. Ist die verfassungswidrige Norm zwar verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten, so tritt sie nicht in Kraft. Beschwerdeberechtigt ist jede Person, unabhängig davon, ob sie in ihren Interessen betroffen ist (Popularklage). Zweifelt ein Gericht in einem konkreten Anwendungsfall an der Verfassungsmässigkeit der massgebenden Rechtsnorm, hat es das Verfahren zu suspendieren und die Verfassungsfrage dem Verfassungsgericht vorzulegen.

2234

3.9

Synthese und Fazit105

In sechs der acht untersuchten europäischen Staaten106 nehmen in erster Linie unabhängige Organe, meist Verfassungsorgane Conseil d'Etat, Gesetzgebungsrat, Verfassungsgericht die präventive Kontrolle von Rechtsnormen und teilweise auch von internationalen Verträgen wahr. Daneben gibt es auch verwaltungsinterne «Selbstkontrollen». In drei Ländern107 können die Staatspräsidentinnen oder -präsidenten die Unterzeichnung eines Gesetzes verweigern, wenn sie dieses als verfassungswidrig erachten. Deutschland setzt ähnlich wie die Schweiz im Wesentlichen auf eine gut ausgebaute, systematische Rechtsprüfung durch spezialisierte Verwaltungsdienste. In Finnland ist hauptsächlich eine parlamentarische Verfassungskommission mit der präventiven Kontrolle betraut. Mit Ausnahme der Niederlande verfügen alle Staaten seit der Verfassungsreform vom Juli 2008 auch Frankreich über eine nachträgliche Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn auch teilweise nur in Form einer konkreten Normenkontrolle. Es lassen sich anhand der Länderberichte grob vier «Modelle» der präventiven Rechtskontrolle skizzieren: Verfassungsgericht Typisch für dieses Modell ist, dass ein höchstes, auf Verfassungsfragen spezialisiertes Gericht obligatorisch (z.B. bei referendumspflichtigen Gesetzen oder Ratsreglementen) oder auf Antrag der wichtigsten Staatsorgane Gesetze nach der parlamentarischen Schlussabstimmung, aber vor deren Verkündung bzw. vor der Volksabstimmung abstrakt auf ihre Übereinstimmung mit höherrangigem Recht kontrolliert. Präventiv auf ihre Verfassungskonformität überprüfbar sind auch internationale Verträge vor oder nach der parlamentarischen Genehmigung, aber immer vor der Ratifizierung. Die Entscheidungen des Gerichts sind bindend, d.h. die als verfassungswidrig erachteten Gesetze oder internationalen Verträge können nicht in Kraft gesetzt beziehungsweise dürfen ohne entsprechende Verfassungsänderung nicht ratifiziert werden. Vertreter dieses Modells sind Frankreich (Conseil Constitutionnel), Ungarn und die Slowakei.

Unabhängiges Beratungsorgan Charakteristisch für dieses Modell ist, dass eine unabhängige, gerichtsähnliche Behörde die Regierung und das Parlament in Rechtsetzungsgeschäften berät (obligatorische Begutachtung aller Regierungsvorlagen auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht, fakultative Begutachtung auf Antrag
im parlamentarischen Verfahren). Die Gutachten sind rechtlich nicht bindend, geniessen aufgrund der Sachkompetenz und der Unabhängigkeit der (richterlichen) Gutachterinnen und Gutachter indessen grosse Autorität. Ferner werden sie zum Teil publiziert oder dem Gesetzesentwurf für die parlamentarische Beratung beigelegt. In Frankreich, in Belgien und den Niederlanden übt der Conseil d'Etat neben der obersten Verwaltungsgerichtsbarkeit auch diese Beratungsfunktion aus. Eine ähnliche Aufgabe übernimmt in Schweden der Gesetzgebungsrat, der sich aus Richterinnen und Richtern der beiden obersten Gerichte zusammensetzt. In Belgien beurteilt das Comité de 105 106 107

Vgl. auch die Einführung zum Gutachten (Fn. 90).

Belgien, Frankreich, Niederlande, Schweden, Slowakei, Ungarn.

Deutschland, Slowakei, Ungarn. In Deutschland obliegt dem Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin insbesondere die Prüfung, ob das Gesetzgebungsverfahren eingehalten worden ist. In Ungarn verfügt der Präsident oder die Präsidentin über das sog. «Verfassungsveto».

2235

concertation, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Regierungen im Föderalstaat zusammensetzt, hier in rechtlich bindender Weise Gesetzesentwürfe auf die Einhaltung der Kompetenzverteilung zwischen Föderalstaat und föderativen Einheiten.

Parlamentarische Verfassungskommission Ein Gesetzesentwurf wird im Parlament in mehreren Lesungen beraten. Die Beratungen werden durch verschiedene Parlamentskommissionen vorbereitet. Bei diesem Modell wird ein rein parlamentarisches Organ, eine Verfassungskommission, mit der Begutachtung der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität von Gesetzesvorlagen und Beschlussentwürfen betraut. Die Begutachtung kann obligatorisch (bei sämtlichen Gesetzesvorlagen108 oder bei Zweifeln an der Verfassungsmässigkeit einer Vorlage109) oder fakultativ (z.B. auf Antrag einer Parlamentskommission) sein.

Die Gutachten sind rechtlich nicht verbindlich. Vor allem Finnland folgt diesem Modell. Auch die Slowakei und Ungarn haben Verfassungskommissionen. In Deutschland wird auch das Zweikammersystem des Parlaments (Stellungnahmen des Bundesrates) zu einer allerdings mehr politischen Kontrolle ausgenutzt.

Verwaltungsinterne Fachstelle(n) mit Querschnittsaufgabe Bei diesem Modell übernehmen eine oder mehrere in die allgemeine Staatsverwaltung eingebundene Fachstellen die Überprüfung der Erlassentwürfe der federführenden Dienststellen auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht. Die Rechtskontrolle ist für Regierungsvorlagen in der Regel obligatorisch und erfolgt vor der Beschlussfassung der Regierung. Die Begutachtung ist für die Regierung und das Parlament grundsätzlich nicht bindend. In Deutschland werden Entwürfe zu Kabinettvorlagen jedoch nicht zur Beschlussfassung vorgelegt, wenn die Rechtsprüfung negativ ist. Typischerweise beschränkt sich die Aufgabe der Fachstellen nicht auf eine einmalige Kontrolle der Vorlagen. Sie begleiten vielmehr auf Wunsch der federführenden Dienststellen auch die Vorarbeiten zu einem Erlassentwurf und beantworten diesbezügliche Rechtsfragen. Vor allem in Deutschland ist dieses Modell (Bundesministerium der Justiz) gut ausgebaut. In der Slowakei übernimmt der Legislativrat eine solche Funktion. In praktisch allen Ländern existieren in der einen oder anderen Form verwaltungsinterne Selbstkontrollen, welche die rechtliche Qualitätssicherung der Gesetzgebung sicherstellen.

4

Denkbare Massnahmen zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle

Die Formulierung denkbarer Massnahmen hat an den in der Analyse des IstZustandes herauskristallisierten Stärken und Schwächen des heutigen Systems der präventiven Rechtskontrolle anzusetzen (Ziff. 2.2.1.3, 2.2.2.3, 2.3.2 und 2.4.4).

Impulse geben kann auch die Rechtsvergleichung (vgl. Ziff. 3). Im Folgenden werden im Sinne einer Auslegeordnung verschiedene Lösungsansätze aufgezeigt, das Vorgehen skizziert und die Vor- und Nachteile beleuchtet. Die denkbaren Massnahmen sind abgestuft von der Belassung des satus quo bis zum Einsatz einer ge-

108 109

Z.B. in der Slowakei.

Z.B. in Finnland.

2236

richtlichen Instanz zur präventiven Rechtskontrolle beziehungsweise zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit.

4.1

Beibehaltung des status quo

Das bestehende System der präventiven Rechtskontrolle hat sich im Grossen und Ganzen bewährt. Eine mögliche Lösung wäre, am status quo nichts zu verändern (Null-Option).

Der Vorteil dieser Lösung besteht darin, dass keine Kosten für die Verbesserung des Systems aufgewendet werden müssen, der Nachteil, dass auch offensichtliche und unbestrittene Mängel nicht behoben werden.

4.2

Optimierung des status quo

Das bestehende System der präventiven Rechtskontrolle liesse sich mit verschiedenen Massnahmen optimieren. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem vorparlamentarischen und dem parlamentarischen Verfahren.

4.2.1

Vorparlamentarisches Verfahren

Viele der für das vorparlamentarische Verfahren im Folgenden vorgeschlagenen Massnahmen liegen in der Zuständigkeit des Bundesrates, der Departemente, der BK oder der Fachämter. Soweit dies der Fall ist, ist es Sache dieser Behörden und nicht des Parlaments, aktiv zu werden.

Stärkung der Sachkompetenz der Fachämter Um die Beachtung des übergeordneten Rechts bereits bei der (dezentralen) Vorbereitung der Rechtserlasse sicherzustellen, ist es wichtig, die Sachkompetenz und Sensibilität der mit Rechtsetzungsaufgaben betrauten Mitarbeitenden der Fachämter zu fördern. Dazu zählt auch das Verständnis für rechtsstaatliche Entscheid- und Beschwerdeverfahren. Die betreffenden Mitarbeitenden sollten entsprechend ausund weitergebildet werden, entweder amtsintern oder durch den Besuch von Veranstaltungen (Murtener Gesetzgebungsseminare, Séminaire de légistique de Montreux, Forum für Rechtsetzung, Fachtagungen usw.). Hilfreich wäre, wenn alle mit Rechtsetzungsaufgaben betrauten Fachämter über eigene Rechtsdienste verfügen würden, die entweder Erlasse selber ausarbeiten oder die Entwürfe anderer Abteilungen zumindest überprüfen. Die Verantwortung für diese Massnahmen liegt in erster Linie bei den einzelnen Departementen und Fachämtern. Allenfalls könnten die Organisationsverordnungen der Departemente oder Artikel 7 RVOG (Rechtsetzung, Vorverfahren der Gesetzgebung) entsprechend ergänzt werden.110 Dem BJ, der BK und anderen Verwaltungsstellen obliegt es, über bestehende Dienstleistungen und Weiterbildungsveranstaltungen zu informieren.

110

Art. 7 RVOG könnte beispielsweise mit einem zweiten Absatz ergänzt werden: «Der Bundesrat sorgt dafür, dass die Dienststellen der Bundesverwaltung bei der Ausarbeitung rechtsetzender Erlasse das übergeordnete Recht beachten.»

2237

Stärkung der Transparenz der Stellungnahmen Das bestehende System der präventiven Rechtskontrolle könnte dadurch optimiert werden, dass den rechtlichen Stellungnahmen der für die Rechtskontrolle zuständigen Querschnittsämter eine grössere Transparenz eingeräumt würde.

In den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte könnte präzisiert werden, dass in den Departementsanträgen an den Bundesrat rechtliche Differenzen, die im Rahmen der Ämterkonsultation (einschliesslich nachträglicher Gespräche) nicht bereinigt werden können, konsequenter als bisher offengelegt werden. Weicht der Antrag eines Departements oder der Bundeskanzlei von der rechtlichen Stellungnahme eines für die präventive Rechtskontrolle zuständigen Querschnittsamts aus einem anderen Departement ab, ist dies bereits heute im Antrag an den Bundesrat auszuweisen. Bei departements- oder bundeskanzleiinternen Differenzen ist dies hingegen nicht der Fall. Es besteht in diesem Sinne ein strukturelles Ungleichgewicht, das dazu führt, dass der Bundesrat unter Umständen nicht in Kenntnis gesetzt wird über solche Differenzen. Dieser Mangel könnte behoben werden, wenn departements- und bundeskanzleiinterne Differenzen, die klare Rechtsfragen betreffen (keine Ermessensfragen) und die ausnahmsweise vor der Antragstellung an den Bundesrat nicht bereinigt werden können, im Antrag erwähnt und konzis dargelegt würden. Die antragstellenden Departemente oder die Bundeskanzlei könnten dabei begründen, weshalb sie die rechtliche Beurteilung nicht teilen oder sie nicht berücksichtigen.

Diese Massnahme würde es dem Bundesrat stets ermöglichen, seine Gesamtverantwortung für die Rechtmässigkeit der Erlasse wahrzunehmen. Sie würde eine vertiefte argumentative Auseinandersetzung erlauben und zur rechtlichen Qualitätssicherung der bundesrätlichen Entscheide beitragen.

Darüber hinaus könnte neu vorgesehen werden, dass sich die Ausführungen in den bundesrätlichen Botschaften zur Vereinbarkeit von Erlassentwürfen mit dem übergeordneten Recht nicht auf ein paar summarische Aussagen beschränken dürfen, wenn es hierzu im vorparlamentarischen Verfahren unterschiedliche Einschätzungen gegeben hat oder in Lehre und Praxis verschiedene Meinungen vertreten werden. In der Botschaft sollten die verschiedenen Rechtsauffassungen soweit es sich nicht um blosse Behauptungen oder
entlegene Argumente handelt konzis dargelegt und beurteilt werden. Dabei müsste nicht kenntlich gemacht werden, welches Amt oder welche Stimme der Wissenschaft welche Meinung vertreten hat. Die diesbezüglichen Anforderungen an Botschaften des Bundesrates und entsprechend auch an Berichte zu Kommissionsvorlagen könnten im Botschaftsleitfaden der BK111 festgehalten und allenfalls auch gesetzlich verankert werden, etwa durch Ergänzung von Artikel 141 ParlG. Der Botschaftsleitfaden könnte von Seiten der BK mit relativ bescheidenem Aufwand ergänzt werden. Ein grösserer Aufwand wäre für die Änderung des Parlamentsgesetzes nötig. Eine solche Lösung würde die Transparenz erhöhen und dem Parlament erlauben, sich in Kenntnis der verfassungs- und völkerrechtlichen Argumente mit den entsprechenden Vorlagen zu befassen.

Denkbar wäre ferner, wichtige Stellungnahmen des BJ sowie der anderen Organe der präventiven Rechtskontrolle im Einvernehmen mit den Adressaten nach Abschluss des vorparlamentarischen Verfahrens zu veröffentlichen. Als zentrales Publikationsorgan würde sich die VPB anbieten. Wichtige Gutachten werden dort 111

Ein entsprechender Passus könnte auch in die Leitlinien der Parlamentsdienste (Commguide) in Bezug auf Kommissionsberichte zu parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen aufgenommen werden.

2238

schon heute publiziert. Ergänzend könnten Stellungnahmen auch dezentral auf der Homepage der entsprechenden Verwaltungsstelle zugänglich gemacht werden. In Betracht kommen könnte ausserdem das Verfassen eines ämterübergreifenden Jahresberichts über die Rechtsetzungsbegleitung. Diese Massnahmen würden mehr Transparenz schaffen, die Bedeutung der präventiven Rechtskontrolle stärken und dazu beitragen, deren Qualität zu sichern. Ein Nachteil wäre der Ressourcenaufwand, der betrieben werden müsste, die Stellungnahmen und Gutachten für die Publikation aufzubereiten beziehungsweise einen Jahresbericht zu verfassen. Die Initiative liegt hier in erster Linie bei den Verwaltungsstellen selber, eine rechtliche Regelung drängt sich nicht auf.

Stärkung der selbstständigen Aufgabenwahrnehmung der Organe der Rechtskontrolle Eine andere Möglichkeit zur Optimierung des status quo wäre, die faktisch bestehende Selbstständigkeit des BJ bei der Rechtsetzungsbegleitung namentlich gegenüber dem EJPD auch rechtlich zu verankern. So könnte Artikel 7 Absatz 3 OV-EJPD, der die Aufgabe der präventiven Rechtskontrolle umschreibt, mit folgendem Satz ergänzt werden: «Bei dieser Prüfung ist das BJ nicht an Weisungen des Departements gebunden.» Allenfalls könnte auch im RVOG oder in der RVOV eine entsprechende Regelung für alle mit der präventiven Rechtskontrolle befassten Verwaltungsstellen aufgenommen werden. Angesichts der bestehenden Praxis, wonach die Querschnittsämter bereits heute ihre Aufgaben im Rahmen der präventiven Rechtskontrolle praktisch selbstständig und ohne verbindliche Vorgaben der übergeordneten Instanzen wahrnehmen, drängt sich diese Massnahme nicht auf.

Stärkung der Rolle der Organe der Rechtskontrolle im Mitberichtsverfahren Eine obligatorische Prüfung aller Entwürfe für rechtsetzende Erlasse auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Bundesrecht und mit Völkerrecht findet nur im Rahmen der Ämterkonsultation statt. Im Mitberichtsverfahren erhält das BJ in der Regel vom EJPD nochmals Gelegenheit, sich zu den Erlassentwürfen und zu allfälligen Änderungsanträgen in Mitberichten anderer Departemente zu äussern. Auch andere Departemente, namentlich das EFD ziehen im Sinne einer «Good Practice» ihre Querschnittsämter im Mitberichtsverfahren bei. In der OV-EJPD könnte festgeschrieben werden, dass das EJPD das
BJ immer beizieht, soweit rechtliche Aspekte betroffen sind. Analoges könnte auch in der OV-EFD für die EFV und das EPA und in der OV-EDA für die DV und das IB festgehalten werden. Wichtig wäre hier vor allem, dass auch rechtsetzungsbezogene Aussprachepapiere miteinbezogen werden.

Diese Lösung hätte den Vorteil, dass die bereits bestehende Praxis auch rechtlich verankert würde. Angesichts dieser Praxis kann es den einzelnen Departementen überlassen werden, ob sie diesen Einbezug der Ämter im Mitberichtsverfahren in ihren Organisationsverordnungen verankern wollen.

Mechanismen zur Durchsetzung der Fristen Eines der grossen Probleme der verwaltungsinternen Rechtskontrolle ist die häufige Praxis, dass die für die Ämterkonsultation und das Mitberichtsverfahren vorgesehenen Fristen verkürzt werden und die Überprüfung oft unter Zeitdruck erfolgen muss.

Die wichtigste Norm in diesem Zusammenhang ist Artikel 4 Absatz 1 RVOV: Das federführende Amt hat den mitinteressierten Verwaltungseinheiten, namentlich dem BJ, der BK und der EFV, im Rahmen der Ämterkonsultation eine angemessene Frist zur Stellungnahme einzuräumen. Nach den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte 2239

beträgt die Frist grundsätzlich 3 Wochen. Nicht geregelt ist, was geschieht, wenn diese Frist nicht eingehalten wird. Die für die Rechtskontrolle zuständigen Stellen bemühen sich zwar, die Prüfung auch innerhalb kürzerer Fristen durchzuführen.

Diese kann dann unter Umständen nicht mit der erwünschten Tiefe durchgeführt werden. Um die Ansetzung genügend langer Fristen besser durchzusetzen, könnte in Artikel 4 RVOV die Frist von 3 Wochen verbindlich festgeschrieben werden, allenfalls ergänzt durch eine Ausnahmeklausel (unproblematische Fälle, Routinefälle, dringender Handlungsbedarf). Ferner könnte als Massnahme vorgesehen werden, dass sich die Frist automatisch von Rechts wegen auf 3 Wochen (allenfalls 2 Wochen) verlängert, wenn die federführenden Ämter kürzere Fristen ansetzen.

Diese Lösung hätte indessen den Nachteil, dass sie nicht flexibel wäre und die Ausnahme bald die Regel werden würde.

Noch kürzer sind oft die Fristen im Mitberichtsverfahren. Auch hier sieht Artikel 5 Absatz 2 RVOV an sich vor, dass das federführende Departement den unterzeichneten Antrag rechtzeitig der Bundeskanzlei einreicht nach den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte in der Regel drei Wochen vor der Bundesratssitzung. Nicht selten treffen Mitberichte indessen in letzter Minute am Abend vor der Bundesratssitzung ein. Hier könnte dadurch Abhilfe geschaffen werden, dass die Behandlung des Rechtsetzungsgeschäfts automatisch auf die nächste Bundesratssitzung verschoben wird, wenn Mitberichte nicht spätestens eine Woche vor der Sitzung vorliegen.

Auch diese Lösung hätte indessen den Nachteil, dass sie den politischen Gegebenheiten zu wenig Rechnung trägt.

Regelung der präventiven Rechtskontrolle in einem eigenen Erlass Die Organisation der präventiven Rechtskontrolle, die Zuständigkeiten der einzelnen Organe und das Verfahren sind sehr punktuell in Gesetzen und Bundesratsverordnungen, zur Hauptsache jedoch in den Organisationsverordnungen der Departemente sowie in Richtlinien geregelt. Diese wären entsprechend den Schlussfolgerungen zu ändern und anzupassen. Stattdessen könnte die präventive Rechtskontrolle auch in einer Bundesratsverordnung oder in einem Bundesgesetz ausdrücklich geregelt werden. Dadurch würde die Handhabung dieser staatspolitisch wichtigen Aufgabe transparenter. Anders als die präventive Rechtskontrolle
ist die nachträgliche gerichtliche Rechtskontrolle auf Verfassungs- und Gesetzesstufe geregelt. Es fragt sich allerdings, ob sich der Aufwand lohnt, wenn nicht gleichzeitig substanzielle Änderungen vorgenommen werden (z.B. die Schaffung einer verwaltungsunabhängigen Stelle für die präventive Rechtskontrolle).

4.2.2

Parlamentarisches Verfahren

Im parlamentarischen Verfahren geht es darum, eine Vorlage aus unterschiedlicher Sicht zu beurteilen und einen Entscheid herbeizuführen. Zwar verfügt das Parlament selber über Sachverstand in Verfassungsfragen. Letztlich ist es auch seine ureigenste Aufgabe und Verantwortlichkeit als Legislative, die Verfassung durch den Erlass von Gesetzen zu konkretisieren. Es kann auch jederzeit Gutachten des BJ, anderer Verwaltungsstellen oder externer Fachleute einholen. Es fehlt indessen ein gewisser Automatismus der Kontrolle. Die präventive Rechtskontrolle steht in diesem Stadium auch unter einem gewissen Zeitdruck. Änderungen der Vorlagen in den Kommissionen oder im Plenum werden weder vorgängig (Überprüfung der Anträge) 2240

noch nachträglich (nach Beschluss der Änderungen) konsequent auf ihre Übereinstimmung mit dem Verfassungs- und Völkerrecht überprüft. Dies gilt in besonderem Masse für das Differenzbereinigungsverfahren, wo der zeitliche und politische Druck, eine Lösung zu finden, gross ist. Die nachfolgenden Vorschläge wären jeweils in der Parlamentsgesetzgebung zu verankern.

Ausbau des Beizugs der Bundesverwaltung Die Schweiz geht vom Prinzip der «einfachen Staatsverwaltung» aus. Die Verwaltung stellt ihre Fachkompetenz dem gesamten Staat zur Verfügung.112 Die Bundesversammlung und ihre Organe werden von der Bundesverwaltung inhaltlich und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützt. Diese Aufgabe könnte im Sinne der präventiven Rechtskontrolle akzentuiert werden. Denkbar ist, die federführenden Departemente und Fachämter aufzufordern, das BJ und gegebenenfalls die BK, die EFV und die DV beizuziehen, wenn in den Kommissionen oder im Plenum Anträge gestellt werden, die wichtige Rechtsfragen (namentlich die Vereinbarkeit der Anträge mit Verfassungs- und Völkerrecht) aufwerfen. Den Fachämtern obliegt es dabei, gegebenenfalls eine Triage der Anträge und eine Vorprüfung der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität der beantragten Erlassänderungen vorzunehmen. Diese Aufgabe der Fachämter besteht bereits heute. Es wäre deshalb dafür zu sorgen, dass diese kontinuierlich wahrgenommen wird.

Vorstellbar ist auch die Verankerung einer Pflicht der zuständigen parlamentarischen Kommissionen, wesentliche Änderungen von Gesetzesvorlagen auf ihre Verfassungsmässigkeit und Völkerrechtskonformität überprüfen zu lassen (durch externe Expertinnen und Experten oder durch das federführende Departement unter Beizug des BJ). Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Parlamentsdienste das BJ kontinuierlich mit den Fahnen zu Gesetzesvorlagen bedienten. Auf diese Weise könnten die Änderungsanträge laufend überprüft und die Interventionsmöglichkeiten verstärkt werden.

Ein Vorteil dieser verschiedenen Spielarten wäre, dass ein gewisser Automatismus der Kontrolle durch eine mit der Rechtsprüfung und mit der Vorlage vertrauten Behörde sichergestellt wäre. Ein Nachteil wäre die Zusatzbelastung.

Ausbau der Parlamentsdienste (parlamentarischer Verfassungsdienst) Anstelle eines vermehrten Beizugs der Bundesverwaltung wäre auch ein Ausbau der
Parlamentsverwaltung denkbar, etwa die Einrichtung eines parlamentarischen Verfassungsdienstes. Ein Vorteil eines solchen Dienstes wäre, dass er im Gegensatz zu einem parlamentarischen Organ flexibler Verfassungsfragen prüfen und auch permanent diese Tätigkeit, unabhängig von Sitzungsplänen, vornehmen könnte. Ein Nachteil wäre, dass ein entsprechender Aufbau eines parlamentarischen Verfassungsdienstes zu Doppelspurigkeiten führen würde, nachdem schon die Bundesverwaltung mit dem BJ, der BK, der EFV und der DV über mehrere auf die Rechtskontrolle spezialisierte Stellen verfügt. Zudem würde dieser Stelle in den Parlamentsdiensten wichtige Informationen aus dem vorparlamentarischen Verfahren fehlen, auf die die Bundesverwaltung heute zurückgreifen kann.

112

Vgl. hierzu Moritz von Wyss, Gesetzesformulierung oder Gesetzesabsegnung durch das Parlament, LeGes 2002/3, S. 63.

2241

Ausbau der Kompetenzen der parlamentarischen Redaktionskommission Denkbar wäre auch die Lösung, dass die Redaktionskommission nicht nur eine Qualitätssicherung sprachlicher und rechtsetzungstechnischer, sondern auch rechtlicher Art (Vereinbarkeit der Erlassentwürfe mit der Verfassung und dem Völkerrecht) vornimmt, wie dies die Redaktionskommissionen in mehreren Kantonen113 tun. Sinnvoll wäre es deshalb, wenn die Redaktionskommission schon zu einem früheren Zeitpunkt eine solche Kontrolle vornehmen könnte, etwa nach der Behandlung der Vorlage durch die Kommission des Erstrates, nach der Beratung durch den Erstrat, nach der Beratung durch die Kommission des Zweitrates beziehungsweise nach der Beratung durch den Zweitrat. In den Kantonen gibt es viele Spielarten für derartige Interventionen.114 Eine andere Variante wäre, dass die Redaktionskommission alle Änderungsanträge auf ihre sprachliche, gesetzestechnische und rechtliche Qualität hin überprüfte. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Redaktionskommission praktisch permanent tagte und dass Anträge ein paar Tage zum Voraus schriftlich gestellt werden müssten, was kaum realistisch ist. Zudem geht das Parlamentsgesetz davon aus, dass es keine Hierarchie der Kommissionen gibt. Dieses Prinzip würde mit diesem Vorschlag durchbrochen.

Ausnutzung des Zweikammersystems Die Rechtskontrolle im parlamentarischen Verfahren könnte auch durch die Ausnutzung des Zweikammersystems gestärkt werden, indem der Zweitrat die vom Erstrat verabschiedete Vorlage explizit auf ihre Rechtmässigkeit überprüft und bei entsprechenden Zweifeln die Verfassungs- oder Völkerrechtskonformität durch das federführende Departement in Verbindung mit dem BJ oder anderer Organe der Rechtskontrolle, die Parlamentsdienste oder durch externe Fachleute abklären lässt. Als Variante käme auch in Frage, dem BJ einen Auftrag zu erteilen, diese Überprüfung «von Amtes wegen» vorzunehmen.

Fraglich bleibt aber, inwieweit eine solche Regel mit der strikten Gleichbehandlung der Räte vereinbar ist, würde diese Aufgabe dem Zweitrat im Differenzbereinigungsverfahren doch einen gewissen Vorteil verschaffen. Zudem würde das parlamentarische Verfahren schwerfälliger, und es würde eine Aufgabe der vorberatenden Kommissionen des Zweitrates im Speziellen normiert, die heute die vorberatenden Kommissionen sowohl des Erstrats, als auch des Zweitrats aufgrund ihrer Gesetzgebungsaufgabe wahrnehmen müssen.

4.3

Bundesamt für Gesetzgebung

Eine Alternative zur Optimierung des status quo im vorparlamentarischen Verfahren wäre die Zentralisierung der Ausformulierung von Erlassvorlagen für alle Fachbereiche bei einer entsprechenden Verwaltungsstelle (zentraler «Drafting Service»).

113

Zum Beispiel in Bern, Baselland, Jura, Nidwalden, St. Gallen oder Uri. Vgl. die Übersicht bei Christian Schuhmacher/Gérard Caussignac, Sicherstellung der legistischen Qualität von Gesetzen in den kantonalen Parlamenten, LeGes 2006/2, S. 58.

114 Vgl. die Tabelle bei Schuhmacher/Caussignac (Fn. 113), S. 48. In den Kantonen fällt zwar das Zweikammersystem weg, dafür gibt es mehrere «Lesungen».

2242

Diese Stelle könnte beim EJPD115 oder allenfalls auch bei der BK angesiedelt werden. Denkbar wäre auch ein direkt dem Bundesrat unterstelltes Bundesamt für Gesetzgebung, wie dies etwa Eichenberger schon 1954 vorgeschlagen hat116. Nach letzterem Vorschlag würde das Gesetzgebungsamt Expertinnen und Experten zusammen mit Fachkräften der betroffenen Departemente einberufen, Vorentwürfe erstellen, die Vernehmlassung durchführen und auswerten sowie Entwürfe für Gesetze, Parlaments- und Bundesratsverordnungen zuhanden der Regierung ausarbeiten. Dem Amt käme zugleich die Funktion zu, die Rechtmässigkeit der Erlassentwürfe sorgfältig zu prüfen und ihr in der praktischen Gesetzgebungsarbeit Rechnung zu tragen.117 Eine solche Lösung hätte den Vorteil, dass stets auf Gesetzgebungsfragen spezialisierte Fachleute am Werk wären, welche die gesamte Rechtsordnung besser berücksichtigen könnten und weniger mit dem politischen Tagesgeschäft verhängt wären.

Dies könnte der Qualität der Rechtsetzung von der sachlichen Richtigkeit über die Verfassungsmässigkeit und Koordination bis zum Stil des Erlasses von allem Anfang an zugute kommen. Erlasse müssten dann weniger in einem späteren Zeitpunkt, z.B. anlässlich der Ämterkonsultation, wegen mangelnder Qualität nochmals tiefgreifend überarbeitet werden. Ein weiterer Vorteil wäre, dass ein Bundesamt für Gesetzgebung in der Verwaltungsordnung hoch genug eingestuft würde, um die zugedachte Funktion zu erfüllen. Denkbar wäre auch, dass bei parlamentarischen Initiativen eine Parlamentskommission das Bundesamt für Gesetzgebung beauftragen könnte, entsprechende Kommissionsvorlagen auszuarbeiten. Regierungs- und Kommissionsvorlagen unterstünden dann den gleichen Qualitätsstandards, auch hinsichtlich der Prüfung der Rechtmässigkeit.

Ein Nachteil einer solchen Lösung wäre eine umfassende und kostspielige Restrukturierung der Fachämter, des BJ, der BK, der EFV und der DV sowie eine Neuordnung der entsprechenden Zuständigkeiten. Ferner könnte die Konzentration der Rechtsetzungstätigkeit zu einer Verschiebung der Verantwortung für die Erlassentwürfe von den Fachämtern auf das neue Bundesamt führen. Die für die Redaktion zuständigen Fachleute wären zudem weit weg von der Praxis im konkreten Fachbereich. Der Dialog zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung innerhalb eines Amtes ginge
verloren. Bei der Rechtsetzung in einem Amt wird oft aus den Bedürfnissen der Rechtsanwendung heraus gehandelt beziehungsweise bei der Rechtsetzung wird wiederum an die Rechtsanwendung gedacht. Deshalb wäre es unerlässlich, sich das Sachwissen der Departemente und Verwaltungsstellen durch den Beizug der entsprechenden verwaltungsinternen Expertinnen und Experten zu beschaffen. Insgesamt betrachtet scheinen dem Bundesrat die Nachteile dieser Lösung zu gross, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

115

Kanada kennt ein solches System (Direction des services législatifs du Ministère de la Justice). Vgl. hierzu Robert C. Bergeron, La centralisation des fonctions rédactionnelles dans la filière législative fédérale au Canada, LeGes 2002/3, S. 85 ff.

116 Kurt Eichenberger, Rechtsetzungsverfahren und Rechtsetzungsformen in der Schweiz, ZSR 1954, S. 68a ff., 109a ff.

117 Ein etwas weniger weit gehender Vorschlag findet sich im Bericht der Expertenkommission für die Totalrevision des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesverwaltung von 1971 (Bericht Huber), S. 48 ff. Nach dieser Konzeption wäre das Eidgenössische Amt für Gesetzgebung federführend für die Verfassungsrechtsetzung, wobei die betroffenen Fachdepartemente zur Beratung beigezogen würden. Bei der übrigen Rechtsetzung wäre es umgekehrt: die Fachdepartemente wären federführend, Kräfte aus dem Gesetzgebungsamt würden indessen möglichst frühzeitig beigezogen. Das Gesetzgebungsamt würde ferner die Verfassungsmässigkeit der Gesetzesentwürfe überwachen.

2243

4.4

Zentralisierung der Rechtskontrolle

Ein Nachteil für die federführenden Fachämter ist, dass sie im heutigen System mehrere Ansprechpartner (BJ, BK, EFV und gegebenenfalls DV) haben. Ferner sind die mit der Rechtskontrolle betrauten Stellen, insbesondere das BJ, in die Verwaltungshierarchie eingebunden und unterstehen den Weisungen des jeweiligen Departements beziehungsweise des Bundesrats. Auch wenn das BJ im Bereich der präventiven Rechtskontrolle inhaltlich weitgehende Unabhängigkeit geniesst, hat die Einbindung in die Verwaltungshierarchie gewisse Nachteile. So sind die Möglichkeiten, bei Erlassentwürfen des eigenen Amtes oder anderer Ämter des EJPD Einfluss zu nehmen, geringer. Über Differenzen entscheidet hier die Amts- beziehungsweise Departementsleitung. Eine Intervention im Mitberichtsverfahren ist nicht möglich. Differenzen werden gegenüber dem Bundesrat oder dem Parlament nicht offengelegt.

Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, käme die Lösung in Frage, die für die Rechtsetzungsbegleitung zuständigen Fachbereiche des BJ, der BK und anderer Querschnittsämter in ein neues Bundesamt oder in eine unabhängige Verwaltungsbehörde überzuführen. Im Rahmen der Bundesverwaltungsreform 2005­2007 wurden auch die Optionen geprüft, die für die präventive Rechtskontrolle zuständigen Bereiche des BJ und der BK zusammenzulegen und entweder beim BJ oder bei der BK anzusiedeln.118 Diese Optionen wurden jedoch verworfen; dies insbesondere, weil die Synergiegewinne als gering betrachtet wurden, wenn beide Amtsstellen sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Im Postulat Pfisterer wird unter anderem angeregt, die Stellung des BJ derjenigen der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) anzunähern. Neben der EFK hat auch die oder der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) eine unabhängige Position. Die Stellung der beiden Behörden soll deshalb kurz skizziert werden.

Modell EFK Stellung, Organisation und Aufgaben der EFK sind im Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzkontrolle (FKG) geregelt. Die EFK ist nach Artikel 1 FKG das oberste Finanzaufsichtsorgan des Bundes, das selbstständig und unabhängig, nur der Verfassung und dem Gesetz verpflichtet, die Bundesversammlung und den Bundesrat bei der Ausübung ihrer Finanz- und Aufsichtskompetenzen unterstützt. Sie wacht darüber, dass die Bundesfinanzen nach den Kriterien der
Ordnungsmässigkeit, der Rechtmässigkeit und der Wirtschaftlichkeit eingesetzt werden (Art. 5 FKG). Administrativ ist die EFK dem Eidgenössischen Finanzdepartement zugeordnet (vgl.

Art. 25 f. OV-EFD), unterliegt indessen keinen Weisungen. Die institutionelle Unabhängigkeit der EFK kommt etwa darin zum Ausdruck, dass sie ihr jährliches Revisionsprogramm autonom festlegt und Sonderaufträge ablehnen kann (Art. 1 Abs. 2 FKG), dass sie einen Jahresbericht im Bundesblatt veröffentlicht (Art. 14 Abs. 3 FKG; vgl. etwa BBl 2008 2823 ff.) und dass sie mit den Finanzkommissionen und der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, dem Bundesrat, den Bundesverwaltungsstellen oder den eidgenössischen Gerichten direkt verkehrt (Art. 14 Abs. 4 FKG). Die Direktorin oder der Direktor der EFK wird vom Bundesrat für eine Amtsdauer von sechs Jahren gewählt (unbeschränkte Wiederwahlmöglichkeit).

Die Wahl bedarf der Genehmigung durch die Bundesversammlung. Im Falle 118

Vgl. hierzu Sägesser, Gesetzgebung und begleitende Rechtsetzung (Fn. 47), S. 901 ff.

2244

schwerwiegender Amtspflichtverletzung gibt es eine Abberufungsmöglichkeit durch den Bundesrat. Der jährliche Voranschlag und der Personalbestand werden direkt von den eidgenössischen Räten festgelegt (Art. 2 FKG). Insgesamt kommt der EFK eine ähnliche institutionelle Unabhängigkeit wie den eidgenössischen Gerichten zu.

Allerdings ist die Aufgabe eine andere.

Modell EDÖB Stellung, Organisation und Aufgaben der oder des Eidgenössischen Datenschutzund Öffentlichkeitsbeauftragten sind in den Bundesgesetzen über den Datenschutz (DSG) und über das Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) geregelt. Dem EDÖB kommen im Bereich dieser beiden Gesetze verschiedene Aufsichts-, Beratungs- und Schlichtungsfunktionen zu. Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, dass der EDÖB auch Stellung zu Rechtsvorlagen des Bundes nimmt, die für den Datenschutz erheblich sind (Art. 31 Abs. 1 Bst. b DSG) beziehungsweise das Öffentlichkeitsgesetz wesentlich betreffen (Art. 18 Bst. c BGÖ). In diesem Bereich ist der EDÖB somit selber ein Organ der präventiven Rechtskontrolle. Artikel 26 DSG sieht vor, dass der EDÖB vom Bundesrat gewählt wird, die Aufgaben unabhängig erfüllt und über ein ständiges Sekretariat verfügt. Der EDÖB ist administrativ der Bundeskanzlei zugeordnet. Er ist in materieller Hinsicht nicht an allfällige Weisungen des Bundesrates gebunden und entscheidet über die Festlegung der Prioritäten und die Art und Weise der Mittelverwendung autonom.119 In der Literatur wird verschiedentlich die institutionelle Unabhängigkeit des EDÖB in Zweifel gezogen, da er vom Bundesrat und nicht vom Parlament und zudem nicht auf eine feste Amtsdauer gewählt wird.120 Im Rahmen des Mitberichtsverfahrens nimmt der EDÖB über die BK Stellung. Die BK muss Anträge und Stellungnahmen des EDÖB an den Bundesrat weiterleiten, das heisst indessen nicht unbedingt, dass sie diese auch unterzeichnen muss.

«Eidgenössische Rechtsetzungskontrolle» In Analogie zum Modell EFK oder zum Modell EDÖB könnte eine fachlich unabhängige Behörde für die Rechtsetzungsbegleitung beziehungsweise Rechtsetzungskontrolle geschaffen werden. Im Unterschied zum Ansatz «Bundesamt für Gesetzgebung» würde diese «Eidgenössische Rechtsetzungskontrolle»121 die bisherigen Aufgaben des BJ, des Rechtsdienstes der BK sowie anderer Stellen im Bereich der Rechtsetzungsbegleitung
wahrnehmen. Da rechtliche und redaktionelle Fragen oft eng zusammenhängen wäre als Variante denkbar, auch die Sprachdienste der BK einzubeziehen. Zuständig für die Ausarbeitung der Erlassentwürfe wären nach wie vor die Fachämter. Hier würde also keine Zentralisierung stattfinden. Die «Eidgenössische Rechtsetzungskontrolle» würde die mit Rechtsetzungsaufgaben betrauten Verwaltungsstellen begleiten, in der vorparlamentarischen Phase die Rechtskontrolle systematisch sicherstellen und in der parlamentarischen Phase wesentliche Änderungsanträge begutachten.

119

Monique Cossali Sauvain, in: Stephan C. Brunner/Luzius Mader (Hrsg.), Handkommentar zum Öffentlichkeitsgesetz, Bern 2008, Rz. 11 zu Art. 18 BGÖ.

120 René Huber, in: Urs Maurer-Lambrou/Nedim Peter Vogt (Hrsg.), Basler Kommentar, Datenschutzgesetz, 2. Aufl., Basel 2006, Rz. 24 ff. zur Vorbemerkung zum 5. Abschnitt, Rz. 18 ff. zu Art. 26 DSG.

121 Je nach Akzentlegung käme auch der Name «Eidgenössische Rechtsetzungsbegleitung» oder «Kompetenzzentrum für Rechtsetzung» in Frage.

2245

Diese Lösung hätte den Vorteil, dass die Position der mit der präventiven Rechtskontrolle betrauten Behörde gegenüber den federführenden Departementen, dem Bundesrat und dem Parlament gestärkt würde. Ferner hätten die mit der Vorbereitung der rechtsetzenden Erlasse zuständigen Fachämter im Hinblick auf die Rechtskontrolle nur noch eine Ansprechstelle.

Auf der anderen Seite ginge durch die Zentralisierung der präventiven Rechtskontrolle die breitere Abstützung legistischer Anliegen, die Begutachtung von Vorlagen unter verschiedenen rechtlichen Gesichtswinkeln und damit Knowhow verloren. Bei Rechtsfragen können manchmal unterschiedliche Auffassungen bestehen, die gleichermassen vertretbar sind. Ein Nachteil könnte auch darin erblickt werden, dass die federführenden Fachämter diese neue Behörde weniger als partnerschaftliche Begleitstelle, sondern als entfernte Kontrollstelle empfinden würden. Ferner bedingt die Einrichtung einer solchen Stelle eine grössere Restrukturierung und die Definition neuer Schnittstellen.

4.5

Neue parlamentarische Organe

Anstelle der denkbaren Massnahmen zur Optimierung der Rechtskontrolle im parlamentarischen Verfahren (institutionalisierter Beizug der Bundesverwaltung, Ausbau der Parlamentsverwaltung, Ausbau der Kompetenzen der Redaktionskommission, Ausnutzung des Zweikammersystems) käme auch die Schaffung eines auf Fragen des Verfassungs- und Völkerrechts spezialisierten parlamentarischen Organs oder Hilfsorgans in Frage.

Parlamentarische Verfassungsdelegation Bereits anlässlich des Erlasses des Geschäftsverkehrsgesetzes, dem Vorläufer des heutigen Parlamentsgesetzes, vor bald 50 Jahren wurde über die Einführung einer ständigen parlamentarischen Delegation zur Begutachtung verfassungsrechtlicher Fragen diskutiert.122 Um eine gründliche und objektive Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Vorlagen und Änderungsanträgen besser zu garantieren, schlug der Bundesrat damals eine gemeinsame Verfassungsdelegation beider Räte vor, die sich nur aus Ratsmitgliedern zusammensetzen sollte (z.B. aus je vier Mitgliedern des Ständerats und des Nationalrats). Die Verfassungsdelegation sollte auf Antrag Gutachten über verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der parlamentarischen Behandlung von Geschäften erstatten (z.B. Gesetzesentwürfe, Entwürfe zu Bundesbeschlüssen und Botschaften des Bundesrates über Volksbegehren). Die Gutachten sollten die Räte in keiner Weise binden, sondern durch ihre schlüssige Argumentation überzeugen. Dieser Verfassungsdelegation wurde eine rein konsultative Funktion zugedacht, ohne Entscheidungskompetenz oder Antragsrecht (deshalb auch die Bezeichnung Delegation und nicht Kommission). Die Räte sollten indessen in Kenntnis des Gutachtens entscheiden. Das Gutachten sollte entsprechend auch zu einem Zeitpunkt eingeholt werden, in dem die Vorlage noch geändert werden kann.

Jeder Rat, jede vorberatende Kommission, 60 Nationalräte und Nationalrätinnen, 14 Ständeräte und Ständerätinnen sowie der Gesamtbundesrat sollten das Recht haben, eine Begutachtung zu verlangen.

122

Botschaft des Bundesrates vom 25. April 1960 an die Bundesversammlung über ein neues Geschäftsverkehrsgesetz, BBl 1960 I 1449 1496 ff.

2246

Geprüft werden könnte auch eine Variante, wonach beide Räte eigene Verfassungskommissionen aus ihrer Mitte einsetzten, die sämtliche oder zumindest wichtige Erlassentwürfe und Änderungsanträge hierzu sowie Entwürfe für Bundesbeschlüsse zu völkerrechtlichen Verträgen und zu Volksinitiativen systematisch überprüfen und der vorberatenden Kommission oder nach Beendigung der Differenzbereinigung direkt den Räten Antrag stellen könnten.

Diese Lösung hätte den Vorteil, dass eine Sicherung innerhalb der Bundesversammlung eingebaut würde, die geeignet wäre, deren Ansehen und Stellung zu stärken.

Die Kompetenzen, Aufgaben und Verantwortung der Bundesversammlung blieben dabei unberührt. Ein Nachteil wäre hingegen, dass der unabhängige Blick von aussen fehlte. Grundsätzlich stellt sich dabei die staatpolitische Frage der Legitimation eines solchen Organs. Hat es nur beratende Funktion, so ist es den politischtaktischen Auseinandersetzungen ähnlich ausgesetzt wie die vorberatenden Fachkommissionen. Seine Anträge könnten als Argumente in einer Volksabstimmung oder später bei der Rechtsanwendung gegen die Beschlüsse des Parlaments eingebracht werden. Die Anträge erhielten eine präjudizielle Wirkung. Zudem bedürfte die Verfassungsdelegation für ihre Legitimation der Grösse im Umfang einer kleinen Parlamentskammer. Inwieweit aber eine solche fiktive dritte Parlamentskammer im Zweikammersystem erwünscht ist, ist fraglich.

Gemischtes Hilfsorgan der Bundesversammlung Ein weiteres Modell wäre die Einsetzung eines gemischten Hilfsorgans der Bundesversammlung in Analogie zu dem im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege diskutierten Justizkommission (Conseil de la magistrature).123 Ein solches Hilfsorgan könnte sich etwa aus je einem Mitglied des Stände- und des Nationalrats, aus einer Richterin oder einem Richter des Bundesgerichts sowie aus je einer Vertretung der Rechtswissenschaft und der Kantone zusammensetzen. Zu den Beratungen könnten auch die Vorsteherin oder der Vorsteher des EJPD, Vertreterinnen oder Vertreter des BJ oder anderer Ämter beigezogen werden. Dem Organ käme die Aufgabe zu, auf Antrag die Verfassungs- und Völkerrechtskonformität von Erlassentwürfen, Änderungsanträgen oder beschlossenen Änderungen zu begutachten, wobei die Gutachten rechtlich nicht bindend wären. Das Recht, eine Begutachtung
einzuholen, könnte ähnlich geregelt werden wie beim Modell der Verfassungsdelegation. Dieses Hilfsorgan könnte administrativ bei den Parlamentsdiensten angesiedelt werden.

Ein Vorteil dieser Lösung wäre, dass ein solches Hilfsorgan verfassungs- und völkerrechtliche Fragestellungen aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten könnte.

Die Einsetzung eines solchen Gremiums und die Festlegung der Aufgaben könnten im Parlamentsgesetz oder in einem eigenen Erlass geregelt werden. Auch hier stellt sich aber die Frage, welche staatspolitische Legitimation dieses Hilfsorgans besässe und wie es zweckmässig in das parlamentarische Verfahren eingebaut werden sollte.

123

Diese hätte bei der Vorbereitung der Wahl und Wiederwahl der eidgenössischen Richterinnen und Richter mitwirken und die Bundesversammlung bei der Ausübung der Oberaufsicht über die erstinstanzlichen Bundesgerichte unterstützen sollen. Vgl. den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Justizkommission (JKG), BBl 2002 1199 und Zusatzbericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. November 2001 zum Entwurf für ein Bundesgesetz über die Justizkommission (JKG), BBl 2002 1181.

2247

4.6

Gerichtliche Instanz

Eine weitere Möglichkeit zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle könnte mit dem Einsatz einer gerichtlichen oder zumindest gerichtsähnlichen Instanz erreicht werden. Wesentliches Merkmal eines solchen Modells wäre es, dass ein vom Parlament, vom Bundesrat und von der Verwaltung unabhängiges Organ Vorlagen ausserhalb der politischen Auseinandersetzungen auf ihre Rechtmässigkeit hin prüft.

Der Einsatz eines solchen aussenstehenden Organs fällt lediglich in Betracht hinsichtlich von Bundesbeschlüssen über Verfassungsänderungen und über die Gültigkeit von Volksinitiativen sowie von Bundesgesetzen, Bundesbeschlüssen über die Genehmigung (noch nicht ratifizierter) völkerrechtlicher Verträge und von Parlamentsverordnungen. Eine entsprechende Begutachtung ist einerseits denkbar nach Verabschiedung bundesrätlicher Botschaften und im Laufe des parlamentarischen Verfahrens. Andererseits kann erwogen werden, dass sich eine solche gerichtliche Instanz nach der Schlussabstimmung, aber noch vor der Publikation entscheidmässig zu einer Vorlage äussert. Im Einzelnen wären die Zuständigkeit und das Verfahren mit einer Vielzahl von Varianten näher zu bestimmen. Im Ausland ist ein gängiges Modell der Conseil d'Etat (z.B. Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg); auch die Einholung einer gerichtlichen «Advisory Opinion» ist ein im Ausland oder auf internationaler Ebene verbreitetes Instrument.124 Früher diskutierte Modelle Im Zusammenhang mit der Prüfung der Gültigkeit von Volksinitiativen wurden schon verschiedene Varianten diskutiert, das Bundesgericht in die Entscheidfindung des Parlaments einzubeziehen. Anlässlich des Reformpakets zu den Volksrechten (Vorlage B der Verfassungsreform) hatte der Bundesrat folgende ­ über eine blosse Beratung hinausgehende ­ Lösung vorgeschlagen: Zweifelt die Bundesversammlung, ob eine Volksinitiative die Einheit der Form und die Einheit der Materie wahrt oder die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts einhält, so ruft sie das Bundesgericht an. Der Entscheid des Bundesgerichts bindet die Bundesversammlung.125 Bei dieser Lösung wäre die Bundesversammlung weiterhin primär für die Prüfung von Volksinitiativen und deren Gültigerklärung zuständig gewesen. Das Bundesgericht hätte hingegen verbindlich über die Ungültigkeit befinden müssen, wenn es von der Mehrheit der Stimmenden
in beiden Räten angerufen worden wäre.126 Anlässlich des schweizerischen Juristentags von 1934 und infolge einer Umfrage im Jahre 1949, bei welcher der Vorstand des Juristenvereins seine Mitglieder um Vorschläge zur Wahrung der Verfassungstreue bat, wurden verschiedene Spielarten der Begutachtung von Gesetzesentwürfen durch das Bundesgericht eingebracht. So sprach sich Fritz Fleiner unter anderem dafür aus, dass beide Kammern der Bundesversammlung sowie der Bundesrat befugt sein sollten, ein verbindliches Gutachten des Bundesgerichts einzuholen, wenn während der Beratung einer Gesetzesvorlage Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten über deren Verfassungsmässigkeit entstünden.127 Hans Huber empfahl, dass bei Zweifeln über die Verfassungsmässigkeit einer Vorlage schon auf Begehren einer Ratsminderheit ein Gutachten des Bundes124 125 126 127

Hangartner (Fn. 12), Rz. 6 zu Art. 190 BV.

BBl 1997 639 BBl 1997 482 ff.

Die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetze durch den Richter, ZSR NF 55 1934, S. 1a, These 6 S. 35a.

2248

gerichts einzuholen wäre, das zwar nicht verbindlich wäre, aber eine gewisse Autorität besässe. Die Räte müssten dazu formell Stellung nehmen. Bei abweichender Auffassung würde sich das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit empfehlen.128 Imhof unterbreitete den Vorschlag, einen besonderen Gerichtshof zu bilden (9 Mitglieder, darunter 3 Bundesrichterinnen und -richter), der während des Gesetzgebungsverfahrens auf Antrag einer bestimmten Minderheit eines der beiden Räte, eines Kantons oder allenfalls einer bestimmten Zahl von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern über die Verfassungsmässigkeit entscheiden sollte. Stellte das Gericht eine Verfassungswidrigkeit fest, so könnte das Gesetz in dieser Form nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände zustande kommen.129 Bundesgericht Aufgrund der heutigen staatspolitischen Strukturen fällt für eine unabhängige Begutachtung in erster Linie das Bundesgericht in Betracht. Eine solche könnte sich auf Verfassungsvorlagen (Behördenvorlagen oder Volksinitiativen), Gesetzesvorlagen, Parlamentsverordnungsvorlagen oder Genehmigungsbeschlüsse zu völkerrechtlichen Verträgen beziehen. Allenfalls könnten auch wichtige Verordnungen des Bundesrates, bei welchen eine parlamentarische Konsultation nach Artikel 151 ParlG verlangt wird, einbezogen werden.

Von besonderem Gewicht ist die Frage, welche rechtliche Bedeutung und Verbindlichkeit einem solchen bundesgerichtlichen Entscheid oder Gutachten zukommt.

Diese Frage hängt überdies vom Zeitpunkt ab, in welchem das Bundesgericht angerufen würde und dieses sich zu den vorgelegten Fragen äussert. Denkbar ist zum einen, dass nach der Schlussabstimmung im Parlament das Bundesgericht eine Vorlage auf einen entsprechenden Antrag hin prüft und einen für die Bundesversammlung verbindlichen Entscheid trifft. Dies fällt in Betracht bei der Prüfung von Volksinitiativen, die die Bundesversammlung nicht verändern kann und bei denen vor dem Hintergrund des zwingenden Völkerrechts zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit zu entscheiden ist, gleichermassen auch hinsichtlich anderer Vorlagen. Der verbindliche Charakter eines gerichtlichen Entscheides hätte zur Folge, dass die Vorlage, so wie sie in der Schlussabstimmung verabschiedet worden ist, im Ausmasse des Gerichtsentscheides aufgehoben werden müsste. Ein solches Modell würde die Zuständigkeit
der Bundesversammlung stark einschränken und wäre wohl politisch kaum realisierbar.

Ein Kontrollverfahren durch eine gerichtliche Instanz kann auch schon früher einsetzen, nämlich dann, wenn sich nach Verabschiedung der bundesrätlichen Botschaften beziehungsweise des Berichts einer parlamentarischen Kommission zu einer parlamentarischen Initiative oder im Laufe der parlamentarischen Behandlung Zweifel an der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität einer Vorlage aufdrängen, diese indes noch nicht definitiv verabschiedet ist und daher den Räten noch Gestaltungsspielraum offensteht. Diesfalls könnte das Bundesgericht zur Begutachtung herbeigezogen werden. Das Gericht würde sich im Rahmen eines nicht bindenden Gutachtens zur Frage der Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Völkerrecht aussprechen können, ohne dass die Bundesversammlung ihren Handlungsspielraum einbüssen würde. Die bundesgerichtliche Überprüfung würde ausgelöst durch einen for128

Wiedergegeben gemäss Botschaft über eine neues Geschäftsverkehrsgesetz, BBl 1960 I 1495.

129 Wiedergegeben gemäss Botschaft über eine neues Geschäftsverkehrsgesetz, BBl 1960 I 1495.

2249

mellen Antrag. Die Antragsberechtigung könnte ­ wie bereits beim Modell einer parlamentarischen Verfassungsdelegation ­ jedem Rat, jeder vorberatenden Kommission, 60 Nationalräten und Nationalrätinnen, 14 Ständeräten und Ständerätinnen sowie dem Bundesrat zukommen. Zudem könnte einer bestimmten Anzahl von Kantonen ein Antragsrecht zugebilligt werden, wenn Zweifel an der Regelungskompetenz des Bundes aufkommen oder die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen in Frage gestellt wird.

Der Vorteil einer solchen Lösung wäre, dass die Rechtslage von der höchsten gerichtlichen Instanz geklärt würde, die unter Umständen auch anlässlich einer konkreten Streitigkeit wieder mit der Frage konfrontiert werden könnte. Das Bundesgericht ist sich gewohnt, Verfassungs- und Völkerrechtsfragen zu beurteilen und allenfalls zu prüfen, ob eine verfassungs- oder völkerrechtskonforme Auslegung eines Erlasses in Betracht fällt. Soweit seine Zuständigkeit auf die Abgabe eines Gutachtens beschränkt wird und seine Entscheide für das Parlament nicht verbindlich sind, rückt das Gericht nicht an die Stelle des Parlaments und belässt diesem den erforderlichen Spielraum.

Gleichwohl liesse sich einwenden, dass auch ein solcher Einbezug des Bundesgerichts einen noch zu starken Eingriff in die Gewaltenteilung darstelle, weil die Gesetzgebung eine politische Angelegenheit und primär Sache des Parlaments sei.130 Zudem bedeutete eine Begutachtung durch das Bundesgericht für dieses eine Mehrbelastung, die es nicht sucht. Es gilt indes zu berücksichtigen, dass die Bundesversammlung selber an die Verfassung gebunden ist. Die Auslegung derselben schliesst zwar immer auch Wertungen mit ein. Die Bundesversammlung orientiert sich jedoch bei der Interpretation der Verfassung und in Bezug auf Völkerrecht stark an der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Praxis internationaler Gerichte.

Ausserdem nehmen Bundesrat und Bundesverwaltung längst wichtige Funktionen in der Gesetzgebung wahr, ohne dass dies als Einbruch in die Gewaltenteilung empfunden würde. Zudem ist zu beachten, dass das Bundesgericht nur punktuell und lediglich auf Antrag hin zu Fragen der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität von Vorlagen Stellung beziehen würde. Soweit die Verfassung Spielraum für unterschiedliche gesetzliche Regelungen offen lässt, ist es ferner
Aufgabe der politisch zuständigen Organe, diese nach politischen Massstäben zu diskutieren und zu beurteilen.

Allerdings gilt es bei diesem Vorgehen die Eigenart des bundesgerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen. Mit Blick auf die Autorität des Bundesgerichts wäre es fragwürdig, dass dieses in unverbindlicher Weise zu Verfassungs- und Völkerrechtsfragen Stellung nimmt. Wenn seine Stellungnahmen ­ abgesehen von der angesprochenen Möglichkeit einer bindenden Wirkung ­ für das Parlament nicht rechtsverbindlich sind, so ist doch zu fordern, dass eine Behandlungspflicht vorgesehen wird und dass bei Differenzen der entsprechende Rat dem vom Bundesgericht als verfassungs- oder völkerrechtswidrig taxierten Vorlage ohne entsprechende Änderungen nur mit einer qualifizierten Mehrheit zustimmen könnte. Zudem wäre zu beachten, 130

Die SPK-S hatte aus solchen Gründen den Vorschlag, dass die Bundesversammlung das Bundesgericht konsultativ anrufen sollte, wenn sie Zweifel an der Gültigkeit einer Volksinitiative hätte, abgelehnt. Bericht der SPK-S vom 2. April 2001 zur parlamentarischen Initiative (Kommission 96.091 SR) zur Beseitigung von Mängeln der Volksrechte, BBl 2001 4803 4830. Vgl. dazu kritisch Walter Haller, in: Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Ehrenzeller und andere (Hrsg.), 2. Aufl. 2008, Rz. 60 zu Art. 189 BV; Hangartner (Fn. 12), Rz. 80 zu Art. 173 BV.

2250

dass das Konsultativverfahren mit klaren Anträgen und Fragestellungen hinsichtlich genau umschriebener Bestimmungen formalisiert wird, wie das etwa bei der Gültigkeit einer Volksinitiative der Fall ist. Hingegen kann es nicht Sache des Bundesgerichts sein, eine Vorlage als Ganze auf ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen.

Nach Artikel 188 Absatz 1 BV ist das Bundesgericht die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes. Es beurteilt namentlich Streitigkeiten wegen Verletzung von Bundesrecht und Völkerrecht (Art. 189 Abs. 1 Bst. a und b BV). Nach Artikel 189 Absatz 3 BV kann das Gesetz weitere Zuständigkeiten des Bundesgerichts begründen. Eine Begutachtung von Verfassungs- und Völkerrechtsfragen im Gesetzgebungsverfahren könnte demnach grundsätzlich im Bundesgerichtsgesetz vorgesehen werden. Aufgrund der staatspolitischen Bedeutung einer solchen neuen Zuständigkeit des Bundesgerichts und auch im Hinblick auf Artikel 190 BV131 erachtet der Bundesrat eine allfällige Verankerung in der Verfassung als notwendig.

Unabhängiges Verfassungsorgan Nach dem französischen Vorbild des Conseil Constitutionnel könnte ein unabhängiges Verfassungsorgan geschaffen werden, das eine präventive und abstrakte gerichtliche Kontrolle von Vorlagen vornimmt. Die Zusammensetzung wäre im Einzelnen festzulegen, könnte in Anlehnung an den französischen Conseil Constitutionnel konstituiert werden oder entsprechend dem schwedischen Gesetzgebungsrat mit Richterinnen und Richtern des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts und überdies mit Persönlichkeiten aus Lehre und Wissenschaft besetzt werden. Diese Instanz wäre von Parlament, Bundesrat und Bundesgericht unabhängig und würde insoweit nicht in die traditionelle Auffassung der Gewaltenteilung eingreifen. Wie schon zum Bundesgericht ausgeführt, würden sich in ähnlicher Weise Fragen nach der Zuständigkeit und der Verbindlichkeit der Entscheidungen oder Gutachten dieses neuen Organs stellen. Ein solcher Verfassungsrat nach französischem Vorbild müsste allerdings erst noch geschaffen werden.

Erforderlich wäre die Aufnahme einer Bestimmung in der Bundesverfassung, worin insbesondere Funktion, Zusammensetzung und Wahl zu umschreiben wären. Ein derartiger Verfassungsrat würde allerdings einen namhaften Einbruch in die überkommenen Staatsstrukturen bedeuten
und ist daher wenig realistisch. Er hätte zudem zur Folge, dass die Beurteilung von Verfassungs- und Völkerrechtsfragen auf zwei Organe, den Verfassungsrat und das Bundesgericht, aufgespalten würde und somit die Gefahr unterschiedlicher Auffassungen entstehen könnte.

Legislativabteilung beim Bundesverwaltungsgericht Als weitere Variante und Alternative zum Bundesgericht als Beratungsorgan könnte ein erstinstanzliches Bundesgericht mit der präventiven Begutachtung von Gesetzen betraut werden. In gewisser Analogie zu dem in mehreren Staaten gängigen Modell

131

Hangartner (Fn. 12), Rz. 6 zu Art. 190 BV, wirft die Frage auf, ob ein Bundesgesetz die Begutachtung von Bundesgesetzen oder von Bundesbeschlüssen über die Genehmigung (noch nicht ratifizierter) völkerrechtlicher Verträge durch das Bundesgericht vorsehen dürfte. Dafür spreche, dass noch kein Bundesgesetz bzw. noch kein für die Schweiz gültiges Völkerrecht vorliege. Dagegen spreche, dass ein solches Verfahren den Spielraum, den Artikel 190 der Bundesversammlung gerade einräumen wolle, unterlaufen würde, auch wenn die Bundesversammlung an die Beurteilung des Bundesgerichts rechtlich nicht gebunden wäre.

2251

eines Conseil d'Etat132 würde sich die Schaffung einer eigentlichen Legislativabteilung beim Bundesverwaltungsgericht anbieten. Garantiert wäre damit ­ gleich wie beim Bundesgericht ­ die Unabhängigkeit von Parlament, Bundesrat und Verwaltung. Das Bundesverwaltungsgericht ist von seiner Tätigkeit her in der Lage, Verfassungs- und Völkerrechtsfragen zu beurteilen.

Denkbar ist, dass diese Legislativabteilung ­ ähnlich wie in den Niederlanden oder in Belgien ­ alle Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Bundesrates inklusive Volksinitiativen sowie Entwürfe zu Genehmigungsbeschlüssen betreffend völkerrechtliche Verträge obligatorisch überprüft, bevor sie dem Parlament zugeleitet werden. Gleichermassen ist es möglich, dass darüber hinaus im Laufe der parlamentarischen Behandlung von Vorlagen auf Antrag hin eine zusätzliche Prüfung vorgenommen wird, wenn Änderungsvorschläge Zweifel an der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität aufkommen lassen. Als Alternative möglich erscheint, dass diese Legislativabteilung lediglich auf Antrag von Seiten eines Rates, einer vorberatenden Kommission oder einer bestimmten Zahl von Mitgliedern des National- oder Ständerates oder aber des Bundesrates oder einer gewissen Zahl von Kantonen eine entsprechende Überprüfung vornimmt, wenn Zweifel an der Verfassungs- oder Völkerrechtskonformität namhaft gemacht werden.

Die Vor- und Nachteile einer solchen Lösung sind vergleichbar mit denjenigen, die oben zum Einsatz des Bundesgerichts dargelegt worden sind. Sie hängen wiederum stark von der konkreten Ausgestaltung des Verfahrens ab. Als zusätzlicher Nachteil kann empfunden werden, dass diesfalls der mit Überprüfungen verbundene Dialog nicht auf derselben Stufe geführt würde. Zudem ist fraglich, ob eine solche Legislativabteilung der heutigen Rolle des Bundesverwaltungsgerichts entsprechen würde.

Um einer Legislativabteilung des Bundesverwaltungsgerichts die nötige Legitimität zu verschaffen, wäre zu prüfen, ob eine Regelung in der Verfassung angezeigt wäre, z.B. in Artikel 191a BV.

4.7

Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit

Eine Verbesserung der präventiven Wirkung der Gerichtspraxis (vgl. Ziff. 2.6) könnte durch die Erweiterung der nachträglichen Normenkontrolle durch Gerichte erreicht werden. Das Thema Verfassungsgerichtsbarkeit bildet Gegenstand zweier parlamentarischer Initiativen: Pa. Iv. Studer Heiner zur Verfassungsgerichtsbarkeit (05.445) und Pa. Iv. Müller-Hemmi zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für rechtsanwendende Behörden (07.476). An dieser Stelle sollen deshalb nur ein paar Hinweise erfolgen.

Ein Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit könnte im Wesentlichen in der im Rahmen der Justizreform (Vorlage C der Verfassungsreform) vorgesehenen Form erfol-

132

Beim Conseil d'Etat in anderen Ländern handelt es sich jeweils um das höchste Verwaltungsgericht. Im Gegensatz dazu wirkt das Bundesverwaltungsgericht in Gebieten des Bundesverwaltungsrechts, die durch Bundesbehörden vollzogen werden, als Vorinstanz des Bundesgerichts. Nur in bestimmten Gebieten (z.B. Asylwesen) urteilt das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz. Das oberste Verwaltungsgericht ist somit in der Schweiz in den meisten Bereichen das Bundesgericht.

2252

gen. Der Nationalrat und der Ständerat haben im Sommer 1999 materiell folgender Regelung zugestimmt133: Art. 178

Überprüfung von Bundesgesetzen

Das Bundesgericht prüft im Zusammenhang mit einem Anwendungsakt, ob ein Bundesgesetz gegen Grundrechte oder gegen direkt anwendbares Völkerrecht verstösst.

1

Auf Begehren eines Kantons prüft das Bundesgericht im Zusammenhang mit einem Anwendungsakt, ob ein Bundesgesetz die verfassungsmässig gewährleisteten Zuständigkeiten der Kantone verletzt.

2

3

Es entscheidet, inwieweit das Bundesgesetz anzuwenden ist.

Im übrigen darf weder das Bundesgericht noch eine andere Behörde einem Bundesgesetz oder dem Völkerrecht die Anwendung versagen.134

4

Der Vorschlag im Rahmen der Justizreform sah somit in Bezug auf die Überprüfbarkeit von Bundesgesetzen eine beim Bundesgericht konzentrierte konkrete Normenkontrolle mit beschränkten Beschwerdegründen vor. Private sollten sich dabei auf eine Verletzung von Grundrechten und die Kantone auf eine Verletzung der Kompetenzordnung der Bundesverfassung berufen können. Ausdrücklich verankert werden sollte nach dem damaligen Vorschlag ferner die aufgrund der Gerichtspraxis135 bereits bestehende Befugnis des Bundesgerichts, Bundesgesetze vorfrageweise auf ihre Vereinbarkeit mit (direkt anwendbarem) Völkerrecht zu überprüfen und völkerrechtswidrige Gesetzesbestimmungen unter Vorbehalt der «Schubert»Praxis allenfalls nicht anzuwenden.136 Völkerrecht sollte massgebend bleiben. Das Bundesgericht sollte ratifizierte Staatsverträge nicht nachträglich im Anwendungsfall auf ihre Bundesverfassungskonformität überprüfen können.137 Verzichtet wurde namentlich auf ein Maximalmodell der Verfassungsgerichtsbarkeit, bei dem ein spezielles Verfassungsgericht Bundesgesetze auch abstrakt entsprechend den kantonalen Gesetzen oder gar präventiv prüfen und aufheben beziehungsweise zur Nachbesserung ans Parlament zurückweisen könnte. Zudem hätte das Bundesgericht bei Feststellung einer Verfassungs- oder Völkerrechtsverletzung durch ein Gesetz nicht zwingend eingreifen müssen. Vielmehr hätte es entscheiden können, die entsprechende Gesetzesbestimmung gleichwohl anzuwenden und den Gesetzgeber aufzufordern, für Abhilfe zu sorgen. Der Vorschlag gab somit dem Bundesgericht Spielraum, um im Einzelfall eine angemessene Lösung zu treffen.138 133

134

135 136 137 138

Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Vorlage zur Reform der Justiz aufgeteilt und die Verfassungsgerichtsbarkeit Volk und Ständen als Variante vorzulegen sei, kamen die Räte in der Herbstsession 1999 auf die Frage der Normenkontrolle zurück und lehnten eine Erweiterung auf Bundesgesetze in der Folge ab. Die Räte stimmten vielmehr der Regelung des heutigen Art. 190 BV zu. Vgl. AB 1999 N 2048, AB 1999 S 979 und AB 1999 N 2130.

Vgl. den Entwurf der Verfassungskommission des Ständerates vom 27. November 1997, BBl 1998 494, den Beschluss des Nationalrats vom 9. Juni 1999, AB 1999 N 1011, sowie den Beschluss des Ständerats vom 30. August 1999, AB 1999 S 606. Der Entwurf des Bundesrates vom 20. November 1996 findet sich im BBl 1997 641.

BGE 117 Ib 367 E. 2e S. 373 BBl 1997 514 BBl 1997 513. Vgl. Art. 26 f. des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Rechts der Verträge (SR 0.111).

BBl 1997 534 f.

2253

Eine solche massvolle Erweiterung der nachträglichen Verfassungsmässigkeitskontrolle von Bundesgesetzen durch das Bundesgericht hätte zweifellos Auswirkungen auf die vorausgehenden Phasen des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses und würde insbesondere dazu beitragen, dass verfassungsrechtlichen Anliegen im verwaltungsinternen Vorbereitungsverfahren, im Entscheidverfahren des Bundesrates und in der parlamentarischen Phase stärkere Beachtung geschenkt würde.

Denkbar wäre auch, die Verfassungsmässigkeitskontrolle in die ordentlichen Rechtsmittel zu integrieren und auf eine Konzentration beim Bundesgericht zu verzichten (diffuses System). Bei einer solchen Lösung könnte Artikel 190 BV gestrichen werden.

Im Zusammenhang mit der Diskussion um völkerrechtswidrige Volksinitiativen139 wird auch angeregt, die Ausnahme für Bundesgesetze zu streichen und das allgemeine akzessorische Prüfungsrecht bezüglich aller schweizerischen Rechtsnormen einschliesslich der Verfassungsnormen ausdrücklich in der Bundesverfassung zu verankern. «Das Bundesgericht wäre so in der Lage, vom Volk angenommene Verfassungsbestimmungen sowie ihre gesetzliche Ausführungsbestimmungen, seien sie auf Volks- oder Behördeninitiative zurückzuführen, auf ihre Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsgarantien zu prüfen, und verpflichtet, sie im Einzelfall nicht anzuwenden.»140 Eine etwas weniger weit gehende Massnahme könnte darin bestehen, das in Artikel 190 BV verankerte Anwendungsgebot zwar beizubehalten, aber durch ein ausdrückliches Überprüfungsgebot zu ergänzen.141 Auch diese Massnahme hätte wohl Vorwirkungen auf die vorausgehenden Phasen des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses.

5

Würdigung

5.1

Beurteilung des status quo

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich das bestehende System der präventiven Rechtskontrolle auf Bundesebene im Grossen und Ganzen bewährt hat. Bei Vorlagen von Erlassentwürfen an die Bundesversammlung muss sich der Bundesrat in der Botschaft auch zur Rechtsgrundlage, zu den Auswirkungen auf die Grundrechte, zur Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung und mit dem Völkerrecht sowie zum Verhältnis zum europäischen Recht äussern (Art. 141 Abs. 2 Bst. a ParlG). Die gleiche Pflicht obliegt nach Artikel 111 Absatz 2 Buchstabe a ParlG parlamentarischen Kommissionen, die einer parlamentarischen Initiative Folge geben und einen ent139

Diese Diskussion wurde namentlich mit der parlamentarischen Initiative Vischer zur Gültigkeit von Volksinitiativen (07.477) wieder aufgenommen. Vgl. die Hinweise in Fn. 19.

140 Andreas Auer, Statt Abbau der Volksrechte Ausbau des Rechtsstaates, Völkerrechtswidrige Volksinitiativen als Anstoss zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, NZZ vom 10. September 2008, S. 15.

141 Ähnlich auch Jörg Paul Müller, Verfassung und Gesetz: zur Aktualität von Art. 1 Abs. 2 ZGB, recht 2000, S. 128 und Hangartner (Fn. 12), Rz. 8 zu Art. 190 BV. Diese Autoren plädieren für eine Pflicht der Gerichte bzw. des Bundesgerichts, bei Normenkonflikten, die sich nicht auf dem Weg der verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung von Gesetzen lösen lassen, die Verfassungs- oder Völkerrechtswidrigkeit förmlich festzustellen und dem Gesetzgeber zu Kenntnis zu bringen.

2254

sprechenden Gesetzesentwurf und einen Bericht zuhanden des Parlamentes ausarbeiten. Die Bundesversammlung, der Bundesrat und die Bundesverwaltung werden bei ihren Rechtsetzungsaufgaben durch mehrere Verwaltungsstellen mit Querschnittsaufgaben unterstützt. So überprüfen das BJ, die BK, die EFV und gegebenenfalls die DV und das IB sämtliche Entwürfe zu rechtsetzenden Erlassen sowie die entsprechenden Botschaften und Berichte systematisch und von Amtes wegen auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Bundesrecht und mit Völkerrecht. Diese Prüfung findet hauptsächlich im Rahmen des Ämterkonsultations- und des Mitberichtsverfahrens statt. Die grossen Stärken dieser Art der Kontrolle liegen in der permanenten partnerschaftlichen Begleitung der federführenden Departemente und Fachämter, die Praxisnähe, Flexibilität und Lösungsorientiertheit. Das heutige System lässt sich auf unterschiedliche Konstellationen (kleine, einfache und grosse, schwierige Geschäfte) sachgerecht anwenden. Im parlamentarischen Verfahren nehmen die für die Rechtskontrolle zuständigen Verwaltungsstellen oft neben externen Sachverständigen auf Antrag der federführenden Departemente und Fachämter, der parlamentarischen Kommissionen oder der Parlamentsdienste Stellung zu Änderungsanträgen oder wesentlichen Änderungen von Vorlagen. Die präventive Rechtskontrolle erfolgt somit nicht punktuell und einmalig, sondern begleitend in verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsprozesses.

Der Bundesrat verkennt nicht, dass es in der geltenden Praxis Schwachstellen gibt.

Dies betrifft zum einen die Durchsetzung der bereits bestehenden Regeln, wie namentlich der Einhaltung der Fristen für die verwaltungsinternen Konsultationsund Mitberichtsverfahren. Zum anderen findet nicht immer eine Überprüfung der Rechtmässigkeit von Anträgen statt, die im Rahmen der Beratungen eingebracht und akzeptiert werden. Auf Bundesratsebene besteht namentlich bei rechtsetzungsbezogenen Aussprachepapieren (namentlich bei solchen dringlicher oder vertraulicher Natur) die Gefahr, dass rechtliche Aspekte nicht genügend einbezogen werden, was deren spätere Berücksichtigung erschwert. Im parlamentarischen Verfahren werden die für die präventive Rechtskontrolle zuständigen Stellen nicht systematisch beigezogen, wenn Anträge gestellt oder Änderungen beschlossen werden, bei denen
die Vereinbarkeit mit der Verfassung und dem Völkerrecht fraglich ist. Dies gilt insbesondere für das Differenzbereinigungsverfahren. Das heutige System kann unter Umständen dazu führen, dass die Rechtmässigkeit eines Regelungsentwurfs nicht genügend geklärt wird. Zum Teil ist dies auch auf die sehr knappen personellen Ressourcen zurückzuführen.

Aufgrund der Bestandesaufnahme kommt der Bundesrat zum Schluss, dass beim bestehenden System der präventiven Rechtskontrolle zwar keine gravierenden und dringenden Probleme bestehen, dass es aber Verbesserungspotenzial gibt, das mit relativ geringem Aufwand umgesetzt werden kann. Es erscheint deshalb sinnvoll, dieses zu nutzen und die entsprechenden Anpassungen vorzunehmen. Der Bundesrat erachtet somit die Prüfung von Massnahmen zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle als angezeigt.

5.2

Handlungsoptionen

Ausgehend von den unter Ziffer 4 diskutierten Lösungsansätzen bietet sich aus Sicht des Bundesrates in erster Linie die Handlungsoption «Optimierung des Status quo» an. Als Alternativen dazu, die jedoch aus der Sicht des Bundesrates nicht im Vor2255

dergrund stehen, sollen im Interesse einer umfassenden Meinungsbildung zwei weitergehende Handlungsoptionen dargestellt und bewertet werden, nämlich die Zentralisierung der Rechtskontrolle und die Begutachtung von Vorlagen durch eine gerichtliche Instanz.

Der Bundesrat sieht an dieser Stelle davon ab, die Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit als Handlungsoption weiterzuverfolgen. Bei der präventiven Rechtskontrolle im Rahmen der Vorbereitung von Rechtserlassen und bei der nachträglichen Überprüfung von Rechtsnormen auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht handelt es sich um zwei unterschiedliche, sich ergänzende Instrumente. Der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit bildet Gegenstand zweier parlamentarischer Initiativen. Der Bundesrat möchte hier nicht vorgreifen.

5.2.1

Option 1: Optimierung des status quo

Die Optimierung des status quo kann durch eine Bekräftigung und bessere Durchsetzung bestehender Regeln sowie durch eine punktuelle Ergänzung geltender Erlasse und Richtlinien erfolgen. Als Variante kommt die Ausarbeitung eines eigenen Erlasses zur präventiven Rechtskontrolle in Frage. In einem solchen Massnahmenpaket sind namentlich folgende Punkte anzugehen: ­

Zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle im vorparlamentarischen Verfahren sieht der Bundesrat namentlich Massnahmen als sinnvoll an, welche die Transparenz der Rechtsprüfung erhöhen. Diese Massnahmen zielen darauf ab, dass der Bundesrat und später das Parlament stets in Kenntnis aller rechtlichen Aspekte entscheiden und dadurch ihre Gesamtverantwortung für die Rechtmässigkeit der Erlasse bestmöglich wahrnehmen können.

­

Dazu gehört, dass in den Departementsanträgen an den Bundesrat rechtliche Differenzen, die im Rahmen der Ämterkonsultation (einschliesslich nachträglicher Gespräche) nicht bereinigt werden können, konsequenter als bisher offengelegt werden. Weicht der Antrag eines Departements oder der Bundeskanzlei von der rechtlichen Stellungnahme eines für die präventive Rechtskontrolle zuständigen Querschnittsamts aus einem anderen Departement ab, ist dies bereits heute im Antrag an den Bundesrat auszuweisen. Bei departements- oder bundeskanzleiinternen Differenzen ist dies hingegen nicht der Fall. Es besteht in diesem Sinne ein strukturelles Ungleichgewicht, das dazu führt, dass der Bundesrat unter Umständen nicht in Kenntnis gesetzt wird über solche Differenzen. Dieser Mangel kann behoben werden, wenn departements- und bundeskanzleiinterne Differenzen, die klare Rechtsfragen betreffen (keine Ermessensfragen) und die ausnahmsweise vor der Antragstellung an den Bundesrat nicht bereinigt werden können, im Antrag erwähnt und konzis dargelegt werden. Die antragstellenden Departemente oder die Bundeskanzlei können dabei begründen, weshalb sie die rechtliche Beurteilung nicht teilen oder sie nicht berücksichtigen. Diese Massnahme ermöglicht es dem Bundesrat, seine Gesamtverantwortung wahrzunehmen und trägt zur rechtlichen Qualitätssicherung der bundesrätlichen Entscheide bei. Sie beeinträchtigt die Führungsfunktion der Departemente oder der Bundeskanzlei nicht, weil diese ja frei bleiben, dem Bundesrat einen Antrag zu unterbreiten, der den rechtlichen Einwänden nicht Rechnung trägt. Sie schafft jedoch mehr Transparenz und sichert eine ver-

2256

tiefte argumentative Auseinandersetzung. Diese Massnahme erfordert eine Ergänzung der Richtlinien für Bundesratsgeschäfte.

­

Ferner dürfen sich die Ausführungen in den bundesrätlichen Botschaften zur Vereinbarkeit von Erlassentwürfen mit dem übergeordneten Bundesrecht und dem Völkerrecht nicht auf ein paar summarische Aussagen beschränken, wenn es hierzu im vorparlamentarischen Verfahren unterschiedliche Einschätzungen gegeben hat oder in Lehre und Praxis verschiedene Meinungen vertreten werden. In der Botschaft sind vielmehr die kontroversen Rechtsauffassungen soweit es sich nicht um blosse Behauptungen oder entlegene Argumente handelt konzis darzustellen und zu beurteilen. Dabei braucht nicht kenntlich gemacht zu werden, welches Amt oder welche Stimme der Wissenschaft welche Meinung vertreten hat. Entsprechendes gilt auch für Berichte zu Kommissionsvorlagen. Diese Massnahme erlaubt dem Parlament, sich in Kenntnis der unterschiedlichen verfassungs- und völkerrechtlichen Argumente mit den betreffenden Vorlagen zu befassen. Durch das Offenlegen der im Vorverfahren bereits geführten Diskussionen soll der parlamentarische Entscheidungsprozess transparenter gemacht und versachlicht werden. Der Botschaftsleitfaden der BK und Artikel 141 ParlG sind entsprechend zu ergänzen.

­

Darüber hinaus erachtet es der Bundesrat als zweckmässig, wenn wichtige Stellungnahmen und Gutachten des BJ, der BK, der EFV, der DV und des IB zur Vereinbarkeit von Rechtsnormen mit dem übergeordneten Bundesrecht und mit Völkerrecht im Einvernehmen mit den Adressaten nach Abschluss des vorparlamentarischen Verfahrens in der VPB oder auf der Homepage dieser Verwaltungsstellen publiziert werden. Diese Massnahme dient vor allem dazu, die Qualität der präventiven Rechtsprüfung auch auf lange Sicht zu gewährleisten.

­

Es erscheint sinnvoll, die bisherige Praxis weiterzuführen, wonach zu Aussprachepapieren, aufgrund derer Grundsatzfragen geklärt werden, die in rechtlicher Hinsicht für spätere Gesetzgebungsarbeiten wichtig sind, nach Möglichkeit eine Ämterkonsultation durchgeführt wird. Dabei sollten zumindest die für die Rechtskontrolle zuständigen Querschnittsämter konsultiert werden.

­

Um die Wirksamkeit der präventiven Rechtskontrolle zu gewährleisten, ist es wichtig, dass die federführenden Fachämter und Departemente die verwaltungsinternen Fristen, die für das Ämterkonsultations- und das Mitberichtsverfahren gelten, einhalten und bereits bei der Projektplanung einkalkulieren. Es ist Aufgabe der BK, darauf hinzuwirken, dass die bereits bestehenden Regeln in der Praxis konsequent angewendet werden. Auch die Departemente müssen dafür sorgen, dass ihre Ämter und übrigen Dienststellen die Geschäfte unter Einhaltung der vorgeschriebenen Fristen abwickeln.

Die BK hat zudem laufend zu prüfen, wie das verwaltungsinterne Verfahren optimiert werden kann.

­

Das BJ, die BK und die anderen Organe der Rechtskontrolle sind gehalten, namentlich auf dem Weg der bewährten Ausbildungs- und Weiterbildungsveranstaltungen (Gesetzgebungsseminare in Murten und Montreux, Gesetzgebungskurs des Bundes, Forum für Rechtsetzung usw.) über wichtige Fragen der Rechtsprüfung zu informieren (z.B. Beachtung der verfassungs2257

mässigen NFA-Grundsätze) und die für Rechtsetzungsfragen zuständigen Personen in der Bundesverwaltung und in den Parlamentsdiensten dafür zu sensibilisieren. Die Departemente und Fachämter ihrerseits sind aufgefordert, für eine adäquate Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden im Gesetzgebungsbereich zu sorgen.

­

Zur Stärkung der präventiven Rechtskontrolle im parlamentarischen Verfahren erachtet der Bundesrat einen konsequenteren Beizug der Bundesverwaltung als sinnvolle Massnahme. So sind die federführenden Fachämter und Departemente aufzufordern, das BJ oder gegebenenfalls die BK, die EFV, die DV und das IB beizuziehen, wenn in den Kommissionen oder im Plenum Anträge gestellt werden, die wichtige Rechtsfragen (namentlich die Vereinbarkeit der Anträge mit Verfassungs- und Völkerrecht) aufwerfen. Dem Fachamt obliegt es dabei, gegebenenfalls eine Triage der Anträge und eine Vorprüfung der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität der beantragten Erlassänderungen vorzunehmen. Mit diesem Mechanismus wird ein gewisser Automatismus der Kontrolle durch jene Verwaltungsstellen sichergestellt, die die Vorlagen vom gesetzgeberischen Vorverfahren her bereits kennen und die mit der Rechtsprüfung vertraut sind.

Für die Handlungsoption «Optimierung des status quo» spricht, dass das bestehende, gut eingespielte System mit seinen Stärken (vgl. Ziff. 5.1) beibehalten und optimiert wird. Die mit der präventiven Rechtskontrolle betrauten Verwaltungsstellen begleiten und unterstützen den politischen Prozess der Rechtsetzung und zeigen Grenzen auf, die sich aus dem übergeordneten Bundesrecht oder dem Völkerrecht in verfahrensmässiger oder materieller Hinsicht ergeben. Es ist in Kauf zu nehmen, dass sich die internen Stellen der Rechtsprüfung nur mit sachlichen Argumenten durchsetzen, nicht jedoch verbindlich über die Rechtmässigkeit von Erlassentwürfen entscheiden können. Der Vorteil dieser Lösung liegt auch darin, dass sie ohne grössere organisatorische Änderungen verwirklicht werden kann. Mit einem erheblichen zusätzlichen Ressourcenbedarf (Finanzen, Personal) ist allein wegen dieser Massnahmen nicht zu rechnen, hingegen würde sich die bereits bestehende Ressourcenknappheit verschärfen. Selbstverständlich wären aber die personellen und finanziellen Auswirkungen bei der Konkretisierung der Massnahmen detaillierter darzustellen.

5.2.2

Option 2: Zentralisierung der Rechtskontrolle

Die heute von verschiedenen Dienststellen der Bundesverwaltung wahrgenommene präventive Rechtskontrolle wird in einem neuen Bundesamt oder in einer unabhängigen Behörde zentralisiert. Konkret kommt die Zusammenlegung der für die Rechtsetzungsbegleitung heute zuständigen Fachbereiche des BJ und die für die gleiche Aufgabe zuständigen Bereiche des Rechtsdienstes der BK in Frage. Da rechtliche und redaktionelle Fragen häufig nahe beieinander liegen, ist es sinnvoll, auch die Sprachdienste der BK in die neue Organisation zu integrieren. Allenfalls sind auch Teile der EFV und der DV, die sich schwergewichtig mit der Rechtskontrolle beschäftigen, einzubeziehen.

Die Aufgaben einer neuen Behörde sind im Wesentlichen die gleichen, die heute von den für die Rechtskontrolle zuständigen Verwaltungsstellen wahrgenommen werden. Dies bedeutet einerseits Begleitung der Fachämter bei der Vorbereitung von rechtsetzenden Erlassen und andererseits obligatorische Prüfung dieser Erlassent2258

würfe auf ihre Rechtmässigkeit im Rahmen des Ämterkonsultations- und Mitberichtsverfahrens. Einer obligatorischen Rechtskontrolle unterzogen werden auch Kommissionsvorlagen und -berichte bei parlamentarischen Initiativen. Im parlamentarischen Verfahren wird die neue Behörde von den federführenden Departementen oder von parlamentarischen Kommissionen immer beigezogen, wenn Anträge von rechtlicher Relevanz gestellt oder wesentliche Änderungen der Vorlagen beschlossen werden. Wie im heutigen System sind die Stellungnahmen des neuen Organs rechtlich nicht bindend. Ihm kommt kein Vetorecht, sondern Konsultativfunktion zu.

Als Modell für die Ausgestaltung einer unabhängigen Behörde kommt der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte in Frage. Die neue Behörde wird dem EJPD oder der BK administrativ zugeordnet und deren Stellung, Organisation, Zuständigkeiten sowie das Verfahren und das Verhältnis zu den mit der Rechtsetzung betrauten Organen in einem Bundesgesetz geregelt. Da eine unabhängige Behörde im Gegensatz zu einem neuen Bundesamt nicht mehr in die Verwaltungshierarchie eingebunden ist, muss näher geklärt werden, welche Stellung ihr im Mitberichtsverfahren zukommt. Plausibel ist, dass je nach administrativer Zuordnung das EJPD oder die BK die Stellungnahme der neuen Rechtskontrollstelle im Bundesrat vertritt.

Die Handlungsoption «Zentralisierung der Rechtskontrolle» hat den Vorteil, dass die Position der mit der präventiven Rechtsprüfung betrauten Behörde je nach konkreter Ausgestaltung gegenüber den federführenden Departementen, dem Bundesrat und dem Parlament gestärkt wird. Ferner haben die mit der Vorbereitung der rechtsetzenden Erlasse zuständigen Fachämter im Hinblick auf die materiell-rechtliche, gesetzestechnische und redaktionelle Überprüfung eines Erlasses nur noch eine Ansprechstelle.

Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass bei Rechtsfragen manchmal unterschiedliche Auffassungen bestehen können, die gleicherweise vertretbar sind. Durch die Zentralisierung der präventiven Rechtskontrolle geht die Begutachtung von Vorlagen unter verschiedenen rechtlichen Gesichtswinkeln, die breitere Abstützung legistischer Anliegen und Knowhow verloren. Ein Nachteil kann auch darin erblickt werden, dass die federführenden Fachämter diese neue Behörde weniger als partnerschaftliche
Begleitstelle, sondern als entfernte Kontrollstelle empfinden könnten.

Ferner steht die Zentralisierung der präventiven Rechtskontrolle bei einer unabhängigen Stelle in einem Spannungsverhältnis zum Corporate-Governance-Bericht142.

Schliesslich bedingt die Einrichtung einer solchen Stelle eine grössere Restrukturierung und die Definition neuer Schnittstellen. So obliegt dem Rechtsdienst der BK auch die Einhaltung der formalen Vorgaben für Bundesratsgeschäfte (Richtlinien für Bundesratsgeschäfte). Die entsprechenden Bemerkungen werden heute im selben Verfahren wie die gesetzestechnischen Anmerkungen zur Kenntnis gebracht. Ausserdem ist die gesetzestechnische Überprüfung auch ein Bestandteil einer formal korrekten amtlichen Publikation, wofür das Kompetenzzentrum amtliche Veröffentlichung (KAV) in der BK zuständig ist. In diesen Bereichen müsste die Aufgabenteilung neu festgelegt werden. Eine solche grössere Restrukturierung würde zumindest für eine Übergangszeit einen zusätzlichen Ressourcenbedarf nach sich ziehen, der sich kaum rechtfertigen lässt.

142

Bericht des Bundesrates vom 13. September 2006 zur Auslagerung und Steuerung von Bundesaufgaben, BBl 2006 8233.

2259

Nach Auffassung des Bundesrates überwiegen die mit der Schaffung eines neuen Organs für die präventive Rechtskontrolle verbundenen Nachteile.

5.2.3

Option 3: Einsatz einer gerichtliche Instanz

Als weitere Option bietet sich an, einen Teil der präventiven Rechtskontrolle, die heute von Verwaltungsstellen wahrgenommen wird, einem bereits bestehenden oder neu zu schaffenden Gericht zuzuordnen.

In gewisser Analogie zum Conseil d'Etat in anderen Ländern könnte beim Bundesgericht oder beim Bundesverwaltungsgericht eine eigene Legislativabteilung geschaffen werden. Diese überprüft alle Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Bundesrates oder parlamentarischer Kommissionen sowie Entwürfe zu Bundesbeschlüssen betreffend Volksinitiativen oder völkerrechtliche Verträge obligatorisch auf ihre Rechtmässigkeit, bevor sie dem Parlament zugeleitet werden. Als Variante denkbar ist, die entsprechenden Erlassentwürfe vor der Beschlussfassung im Bundesrat beispielsweise während des Mitberichtsverfahrens durch diese gerichtliche Legislativabteilung begutachten zu lassen. In diesem Fall werden auch Entwürfe zu Verordnungen des Bundesrates miteinbezogen. Ferner begutachtet die Legislativabteilung wesentliche Änderungen von Erlassvorlagen während des parlamentarischen Verfahrens auf Antrag parlamentarischer Gremien oder des Bundesrates. Die Stellungnahmen haben konsultativen Charakter.

In Frage kommt auch die Lösung, das bestehende System der präventiven Rechtskontrolle nicht zu ändern, es jedoch im parlamentarischen Verfahren dadurch zu ergänzen, dass das Bundesgericht bei grundlegenden verfassungs- oder völkerrechtlichen Fragen auf Antrag parlamentarischer Gremien oder Minderheiten, des Bundesrates oder gegebenenfalls eines Kantons Vorlagen beziehungsweise einzelne Bestimmungen daraus auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Bundesrecht oder mit Völkerrecht überprüft. Die Stellungnahmen des Bundesgerichts sind für die Bundesversammlung nicht rechtsverbindlich, indessen besteht eine Behandlungspflicht. Denkbar ist auch die Möglichkeit, dass das Bundesgericht oder ein neu zu schaffendes Verfassungsorgan nach der Schlussabstimmung im Parlament, indes vor der Publikation der Vorlage zu einem verbindlichen Entscheid angerufen wird.

Die verschiedenen Varianten setzen eine Änderung der Bundesverfassung sowie eine Änderung von Bundesgesetzen (Bundesgerichtsgesetz beziehungsweise Verwaltungsgerichtsgesetz) voraus.

Der Vorteil einer solchen Lösung in der einen oder anderen Spielart ist, dass ein vom Parlament,
vom Bundesrat und von der Verwaltung unabhängiges Organ Vorlagen ausserhalb der politischen Auseinandersetzungen auf ihre Rechtmässigkeit prüft.

Sowohl das Bundesgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht sind es gewohnt, Verfassungs- und Völkerrechtsfragen zu beurteilen.

Eine solche Lösung hat indessen gewichtige Nachteile. Eine gerichtliche Instanz steht ausserhalb des Gesetzgebungsverfahrens und der verwaltungsinternen Konsultationsverfahren. Ihr kommt ausschliesslich Kontrollfunktion zu. Das Konsultativverfahren muss mit klaren Anträgen und Fragestellungen formalisiert werden. Die partnerschaftliche und permanente Begleitung der federführenden Departemente und Fachämter und eine kurzfristige Beratung des Bundesrates und parlamentarischer Gremien durch Verwaltungsstellen muss zusätzlich gewährleistet bleiben. Mögli2260

cherweise verliert die Rechtsetzungsbegleitung aufgrund der späteren obligatorischen oder fakultativen Begutachtung durch eine gerichtliche Instanz an Bedeutung.

Es besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für die Beachtung des übergeordneten Bundesrechts und des Völkerrechts auf das entsprechende Gericht ausgelagert wird. Auch wenn für die gerichtlichen Gutachten, die für das Parlament nicht rechtsverbindlich sind, eine Behandlungspflicht vorgesehen wird, würde die Autorität der Gerichte möglicherweise untergraben. Hauptaufgabe der Gerichte ist es, Rechtsstreitigkeiten verbindlich beizulegen. Schliesslich kommt den Gutachten bei der späteren Beurteilung konkreter Anwendungsfälle durch die rechtsanwendenden Behörden faktisch eine präjudizierende Wirkung zu. Nicht zuletzt führt der Einsatz einer gerichtlichen Instanz mit Konsultativfunktion zu einer Zusatzbelastung der entsprechenden Gerichtsinstanzen, die der Konzeption der Justizreform widerspricht. Der Bundesrat spricht sich deshalb gegen eine solche Lösung aus.

6

Schlussfolgerung

Aufgrund des Berichts kommt der Bundesrat zum Schluss, dass die Optimierung des status quo die sachgerechteste Lösung ist. Der Bundesrat wird in seinem Zuständigkeitsbereich die notwendigen Schritte einleiten und soweit erforderlich der Bundesversammlung Gesetzesanpassungen beantragen.

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