05.404 Parlamentarische Initiative Verbot von sexuellen Verstümmelungen Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 30. April 2010

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Strafgesetzbuches. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

30. April 2010

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anita Thanei

2010-1255

5651

Übersicht Das Phänomen der Verstümmelung weiblicher Genitalien betrifft auch die Schweiz.

Trotz der bereits heute geltenden Strafbarkeit dieser Praktiken und trotz der im Bereich der Sensibilisierung und Information eingeleiteten Massnahmen gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass das Auftreten solch schwerwiegender Eingriffe in die Integrität und Würde der betroffenen Mädchen und Frauen signifikant zurückgedrängt wird.

Um die mit der heute geltenden, nicht für alle Formen von Genitalverstümmelung einheitlichen Rechtslage einhergehenden Abgrenzungs- und Beweisschwierigkeiten zu überwinden und um ein eindeutiges Signal der Ächtung dieser gravierenden Menschenrechtsverletzungen zu setzen, schlägt die Kommission die Einführung eines neuen, spezifischen Straftatbestandes der Verstümmelung weiblicher Genitalien vor. Zudem soll ­ im Unterschied zum geltenden Recht ­ eine im Ausland begangene Verstümmelung weiblicher Genitalien in der Schweiz auch dann bestraft werden können, wenn sie am Tatort nicht strafbar ist.

5652

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Parlamentarische Initiative

Am 17. März 2005 reichte Nationalrätin Maria Roth-Bernasconi eine parlamentarische Initiative ein, die eine Strafnorm fordert, welche die sexuelle Verstümmelung von Frauen oder die Aufforderung dazu in der Schweiz mit Strafe bedroht. Für Personen, die sich in der Schweiz befinden, soll diese Regelung auch gelten, wenn die Tat im Ausland begangen wurde. Am 30. November 2006 prüfte die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates die Initiative vor und beschloss einstimmig, ihr gemäss Artikel 109 Absatz 2 des Parlamentsgesetzes (ParlG)1 Folge zu geben.

Die Kommission des Ständerates stimmte diesem Beschluss am 2. Juli 2007 ohne Gegenstimmen zu (Art. 109 Abs. 3 ParlG).

1.2

Arbeiten der Kommission und der Subkommission

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates setzte am 22. Mai 2008 eine Subkommission ein und beauftragte sie damit, die verschiedenen Möglichkeiten zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative zu prüfen, die damit verbundenen Fragen zu klären und der Kommission darüber Bericht zu erstatten.

Diese Subkommission trat zwischen September 2008 und Januar 2009 dreimal zusammen. Mitglieder der Subkommission waren Anita Thanei (Präsidentin), Andrea Martina Geissbühler, Daniel Jositsch, Christa Markwalder Bär, Lukas Reimann, Barbara Schmid-Federer und Brigit Wyss. Am 10. Oktober 2008 hörte die Subkommission einen Experten im Strafrecht, Vertreterinnen der im betroffenen Bereich tätigen Nichtregierungsorganisationen UNICEF Schweiz und Caritas sowie eine Vertreterin einer betroffenen Migrantengruppe an. Am 16. Januar 2009 verabschiedete die Subkommission einstimmig einen Vorentwurf zuhanden der Gesamtkommission.

Am 12. Februar 2009 verabschiedete die Kommission einstimmig einen Vorentwurf, zu welchem sie vom 16. März bis zum 22. Juni 2009 eine Vernehmlassung durchführte.

Nach Vorliegen der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens beauftragte die Kommission die Subkommission am 29. Oktober 2009 mit der Überarbeitung des Vorentwurfes unter Berücksichtigung der in der Vernehmlassung geäusserten Kritik.

Die Subkommission tagte mit Ausnahme von Lukas Reimann, der von Luzi Stamm ersetzt wurde, in unveränderter Zusammensetzung am 19. Januar 2010 und am 17. März 2010 und erarbeitete eine neue Fassung des Erlassentwurfes zuhanden der Gesamtkommission.

Am 30. April 2010 verabschiedete die Kommission den beiliegenden Gesetzesentwurf mit 20 zu 0 Stimmen bei 6 Enthaltungen.

1

SR 171.10

5653

Die Kommission wurde bei ihrer Arbeit gemäss Artikel 112 Absatz 1 ParlG durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.

2

Ausgangslage

2.1

Begriff, Verbreitung, Motive und Erscheinungsformen der Verstümmelung weiblicher Genitalien

Gemäss der Begriffsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) umfasst die Verstümmelung weiblicher Genitalien (auch «Genitalbeschneidung» genannt) die teilweise oder ganze Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien und sonstige Verletzungen der weiblichen Genitalien aus nicht-medizinischen Gründen2. Der von der WHO verwendete Begriff der «Verstümmelung» ist somit weiter als jener nach Artikel 122 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB)3 (dazu Ziff. 2.2.1.1 ff.).

Nach Schätzungen der WHO sind weltweit zwischen 100 und 140 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen, wobei jährlich schätzungsweise 3 Millionen bedrohte Mädchen und Frauen dazukommen. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien wird vorwiegend in Zentral- und Westafrika, aber auch in einigen Ländern des Mittleren Ostens und Südostasiens praktiziert. Durch die Migrationsströme hat dieses Phänomen auch Nordamerika und Europa erreicht4.

Gemäss einer auf einer Befragung von Gynäkologinnen und Gynäkologen basierenden Schätzung lebten in der Schweiz im Jahr 2001 rund 6700 Mädchen und Frauen, welche von Genitalverstümmelung betroffen oder davon bedroht sind5.

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien wird seit ungefähr 2000 Jahren praktiziert. Obwohl häufig auch religiöse Motive zur Rechtfertigung dieses Brauchs herangezogen werden, muss klargestellt werden, dass keine Religion die Verstümmelung weiblicher Genitalien vorschreibt. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien wird von Katholiken, Protestanten, Muslimen, orthodoxen Kopten, äthiopischen Juden, Animisten und Atheisten praktiziert. Neben den religiösen Motiven haben auch sozial und kulturell determinierte Argumente eine grosse Bedeutung (Tradition, Reinheitsgebot, ästhetische Gründe, Bewahrung der Jungfräulichkeit u.a.)6.

Seit 2008 definiert die WHO die verschiedenen Erscheinungsformen der Verstümmelung weiblicher Genitalien neu wie folgt7: ­

2 3 4 5 6

7

Klitoridektomie (Typ I). Darunter versteht man die partielle oder totale Entfernung der Klitoris und deren Vorhaut (Typ Ib). In seltenen Fällen wird einzig die Vorhaut der Klitoris entfernt (Typ Ia).

Vgl. World Health Organization (WHO), Eliminating female genital mutilation.

An interagency statement, Genf 2008, S. 4.

SR 311.0 WHO, a.a.O, S. 1.

Fabienne Jäger, Sylvie Schulze, Patrick Hohlfeld, Female genital mutilation in Switzerland: a survey among gynaecologists, in: Swiss Medical Weekly 2002, S. 259 ff.

Vgl. Richtlinie der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe «Patientinnen mit genitaler Beschneidung: Schweizerische Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Pflegefachkräfte», S. 4.

WHO, a.a.O, S. 4 und 23 ff.

5654

­

Exzision (Typ II). Unter Exzision versteht man die partielle oder totale Entfernung der Klitoris und der inneren Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der äusseren Schamlippen.

­

Infibulation (Typ III). Bei der Infibulation werden die inneren und/oder die äusseren Schamlippen entfernt, die Wundränder werden anschliessend bis auf eine minimale Öffnung zusammengenäht. Zusätzlich kann es zur Entfernung der Klitoris kommen.

­

Andere Formen (Typ IV). Gemeint sind alle anderen Verletzungen der weiblichen Genitalien aus nicht therapeutischen Gründen, wie etwa das Einstechen, Durchbohren oder Einschneiden der Klitoris und/oder der Schamlippen; das Dehnen der Klitoris und/oder der Schamlippen; das Ausbrennen der Klitoris und des umliegenden Gewebes; das Wegschaben des Gewebes um die Vaginalöffnung oder das Anschneiden der Vagina; das Einführen von Salz, ätzenden Substanzen oder Kräutern in die Vaginalöffnung, um diese zu verengen.

Rund 10 % der Verstümmelungen weiblicher Genitalien entsprechen der schwersten Form (Infibulation, Typ III). Die übrigen 90 % entsprechen den Typen I, II und IV8.

2.2

Die geltende Rechtslage

2.2.1

Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien im geltenden Recht

UNICEF Schweiz hat in den Jahren 2004 und 2007 zwei Rechtsgutachten vorgelegt, die sich eingehend zur Frage der Strafbarkeit weiblicher Genitalverstümmelung in der Schweiz äussern9. Die nachfolgende Analyse berücksichtigt die beiden erwähnten Gutachten weitgehend, gründet jedoch auf der neuen, seit 2008 geltenden Klassifizierung der WHO.

2.2.1.1

Im Allgemeinen

Das StGB enthält keine Bestimmung, die Verstümmelungen weiblicher Genitalien ausdrücklich unter Strafe stellt. Es ist jedoch unbestritten, dass alle vier Typen der Verstümmelung weiblicher Genitalien Körperverletzungen im Sinne der Artikel 122 und 123 StGB darstellen.

Artikel 122 StGB erfasst lebensgefährliche Verletzungen und andere Verletzungen desselben Schweregrades. Schwere Körperverletzungen werden von Amtes wegen verfolgt (Offizialdelikte) und mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen bestraft. Artikel 123 StGB erfasst Eingriffe in die körperliche Integrität, die eine Schädigung von Körper oder Gesundheit bewirken, 8 9

WHO, a.a.O, S. 5.

Stefan Trechsel und Regula Schlauri, Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag von UNICEF Schweiz, Zürich 2004; Marcel Alexander Niggli und Anne Berkemeier, Zur Frage der Strafbarkeit weiblicher Genitalverstümmelung gemäss den Typen I und IV, Rechtsgutachten erstellt im Auftrag von UNICEF Schweiz, Zürich 2007.

5655

aber keine schwere Körperverletzung darstellen. Einfache Körperverletzungen nach Artikel 123 Ziffer 1 StGB werden nur auf Antrag verfolgt. Qualifizierte einfache Körperverletzungen nach Artikel 123 Ziffer 2 StGB heben sich durch die Begehungsmodalitäten (Gebrauch bestimmter Tatwaffen) oder die Opfer (etwa Wehrlose wie namentlich Kinder und Lebenspartner) von anderen einfachen Körperverletzungen ab. Qualifizierte einfache Körperverletzungen werden wie die schweren Körperverletzungen von Amtes wegen verfolgt (Offizialdelikte) und mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Je nach den Umständen können im Einzelfall auch weitere Straftatbestände erfüllt sein, wie etwa: Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), Nötigung (Art. 181 StGB), Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1 StGB), Entführung (Art. 183 Ziff. 2 StGB), Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht (Art. 219 StGB), Entziehen von Unmündigen (Art. 220 StGB).

2.2.1.2

Zur Strafbarkeit der Klitoridektomie mit Entfernung der Klitoris (Typ Ib), der Exzision (Typ II) und der Infibulation (Typ III) gemäss Artikel 122 StGB

Objektive Tatbestandmässigkeit Je nach den konkreten Umständen können die Klitoridektomie des Typs Ib, die Exzision und die Infibulation lebensgefährliche Auswirkungen haben und somit als schwere Körperverletzungen im Sinne von Artikel 122 Absatz 1 StGB qualifiziert werden. Dies etwa, wenn das Opfer infolge des Eingriffs an einer schweren Infektion oder Blutvergiftung erkrankt, einen massiven Blutverlust erleidet oder wegen der Schmerzen in einen lebensbedrohlichen Schockzustand gerät.

Weil mit der Entfernung der Klitoris ein wichtiges Organ verstümmelt wird, sind die Klitoridektomie des Typs Ib, die Exzision und die Infibulation in aller Regel unter den Tatbestand der schweren Körperverletzung nach Artikel 122 Absatz 2 StGB zu subsumieren.

Zudem dürfte die Generalklausel der anderen schweren Schädigung des Körpers oder der körperlichen oder geistigen Gesundheit von Artikel 122 Absatz 3 StGB erfüllt sein, wenn der Eingriff ohne Betäubung und unter schlechten hygienischen Bedingungen durchgeführt wird: In solchen Fällen ist der Eingriff mit grossen Schmerzen verbunden und der Heilungsprozess sehr langwierig und schmerzhaft.

Subjektive Tatbestandmässigkeit Auf subjektiver Tatbestandsebene ist Vorsatz nach Artikel 12 StGB erforderlich.

Sollte dem Täter hinsichtlich der Tatvariante von Artikel 122 Absatz 2 StGB der Vorsatz fehlen, etwa weil er die Funktion der Klitoris nicht kennt, wird in aller Regel die Generalklausel nach Artikel 122 Absatz 3 StGB greifen. Handelt der Täter nicht vorsätzlich, wird er sich möglicherweise wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung nach Artikel 125 Absatz 2 StGB, die ebenfalls von Amtes wegen verfolgt wird, strafbar machen.

5656

Rechtswidrigkeit Bei der schweren Körperverletzung ist eine rechtfertigende Einwilligung nur möglich, wenn sie «im Blick auf das wohlverstandene Interesse des Betroffenen als eine sinnvolle oder doch vertretbare Entscheidung anzuerkennen ist.»10 Daraus folgt, dass bei der Klitoridektomie des Typs Ib, bei der Exzision und der Infibulation weder eine Einwilligung des Opfers noch eine stellvertretende Einwilligung der Eltern möglich ist. Eine Rechtfertigung der den Eingriff vornehmenden Fachperson (z.B. Arzt, Hebamme oder Kinderarzt) durch Notstandshilfe fällt wegen mangelnder Subsidiarität ebenfalls ausser Betracht, da Massnahmen des Kindesschutzes (Art. 307 ff. Zivilgesetzbuch [ZGB]11) oder die Einschaltung der Justiz (Art. 364 StGB) in jedem Fall möglich sein sollten.

Schuld Eine tatbestandsmässige und rechtswidrige Körperverletzung ist nur strafbar, wenn der Täter schuldhaft gehandelt hat und ihm die Tat vorwerfbar ist. Der in diesem Zusammenhang primär in Frage kommende Schuldausschliessungsgrund ist der Irrtum über die Rechtswidrigkeit nach Artikel 21 StGB. Dieser setzt voraus, dass der Täter bei Begehung der Tat nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich rechtswidrig verhält. Ob der Täter aus zureichenden Gründen angenommen hat, er tue nichts Unrechtes, und deshalb freizusprechen ist, lässt sich nur in Kenntnis der konkreten Umstände des Einzelfalls beantworten. Dabei dürften insbesondere folgende Faktoren relevant sein: Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien im Herkunftsland, Bildungsstand des Täters, innerstaatliche Herkunft aus eher primitivem oder eher aufgeklärtem Milieu, Dauer des Aufenthalts des Täters in der Schweiz, Grad der Integration sowie Kenntnis davon, dass die Verstümmelung weiblicher Genitalien in der Schweiz gegen den Willen der verletzten Person verboten ist. Abweichende Wertvorstellungen können bei der Strafzumessung berücksichtigt werden (Art. 47 ff. StGB).

Täterschaft und Teilnahme Es ist davon auszugehen, dass in der Regel jeweils mehrere Personen an der Organisation und an der Durchführung einer Genitalverstümmelung beteiligt sind.

Mittäter ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts, «wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Deliktes vorsätzlich und in massgeblicher Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, so dass er als
Hauptbeteiligter dasteht».12 Mittäter müssen nicht zwingend bei der Ausführung der Tat zugegen sein, die Mitwirkung bei Planung und Koordination kann genügen, wenn der Beteiligte einen massgeblichen Beitrag leistet, über die Tatherrschaft verfügt und ein eigenes Interesse an der Tat hat. Diese Voraussetzungen sind beispielsweise dann erfüllt, wenn die Eltern die Reise der Tochter in das Herkunftsland organisieren, bezahlen, sie allenfalls dorthin begleiten, oder wenn sie für die Einreise einer Beschneiderin sorgen. Die Planungs- und Organisationsleistung der Eltern fördert die Durchführung der Genitalverstümmelung massgeblich. Ihre aktive Mitwirkung bei der Tatausführung oder bereits ihre blosse Anwesenheit bei der Tatausführung 10 11 12

Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 3. Auflage, Bern 2005, § 10 N 17.

SR 210 BGE 108 IV 92, 125 IV 136

5657

genügen, um Mittäterschaft zu begründen, da das Opfer in einem Abhängigkeitsund Autoritätsverhältnis zu den Eltern steht und dies die Duldung des Eingriffs üblicherweise erheblich fördern wird. Das Eigeninteresse der Eltern an der Verstümmelung ihrer Tochter besteht darin, dass sie dadurch die Traditionen hochhalten und sich Achtung innerhalb ihrer Gemeinschaft verschaffen.

Anstifter nach Artikel 24 StGB ist, wer jemanden vorsätzlich zu dem von diesem verübten Verbrechen oder Vergehen bestimmt hat. Diese Voraussetzung könnte beispielsweise dann gegeben sein, wenn die Eltern eine Drittperson mit dem Eingriff beauftragen.

Gehilfe nach Artikel 25 StGB ist, wer zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Im Unterschied zur Mittäterschaft genügt hier jeder untergeordnete Tatbeitrag, der die Genitalverstümmelung in irgendeiner Weise fördert, wie etwa das Zurverfügungstellen von Räumlichkeiten, Instrumenten oder Medikamenten. Neben der oben erwähnten physischen Gehilfenschaft ist auch eine psychische oder intellektuelle Gehilfenschaft denkbar, wie etwa die Mithilfe bei der Suche nach einer Beschneiderin oder allenfalls einem Beschneider. Versuchte Gehilfenschaft ist nicht strafbar.

Vorbereitungshandlungen und Versuch Gemäss bundesgerichtlicher Praxis liegt ein strafbarer Versuch vor, wenn der «letzte entscheidende Schritt getan wurde, von dem es in der Regel kein Zurück mehr gibt, es sei denn wegen äusserer Umstände, die eine Weiterverfolgung der Absicht erschweren oder verunmöglichen».13 Bei den im Ausland vorgenommenen Genitalverstümmelungen stellt sich die Frage, ob die in der Schweiz getroffenen Reisevorbereitungen bereits als Versuch im obigen Sinne zu werten sind und damit die Strafbarkeit der Tatbeteiligten in der Schweiz begründen. Diese Frage wird nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls (finanzieller Aufwand für die Reise, Stand der Reisevorbereitungen) zu beantworten sein, das Vorliegen eines strafbaren Versuchs auf Schweizer Territorium ist aber angesichts der extensiven Praxis des Bundesgerichts14 in ähnlich gelagerten Fällen nicht auszuschliessen. Im Falle der hier diskutierten schwereren Formen von Genitalverstümmelung spielt diese Frage jedoch eine untergeordnete Rolle, da Vorbereitungshandlungen zur schweren Körperverletzung in jedem Fall strafbar sind
(Art. 260bis StGB). Dies hat nicht nur die Strafbarkeit in der Schweiz zur Folge, sondern auch, dass die Behörden zum Schutz des Opfers eingreifen können, bevor dieses die Schweiz verlassen hat bzw. die Beschneiderin oder allenfalls der Beschneider hier ankommt.

Auslandtaten Obwohl diesbezüglich keine konkreten Angaben erhältlich sind, ist davon auszugehen, dass Verstümmelungen weiblicher Genitalien auch in der Schweiz vorkommen, typischerweise aber in den Herkunftsländern der Opfer stattfinden. Grundsätzlich ist das schweizerische Strafrecht auf alle Straftaten anwendbar, die hier begangen, d.h.

zumindest versucht werden: Eine in der Schweiz vorgenommene Genitalverstümmelung kann hier verfolgt werden, selbst wenn das Opfer oder der Täter ausländische

13 14

BGE 104 IV 175 ff.

Vgl. etwa BGE 104 IV 175 ff. und 114 IV 112 ff., 114 f.

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Staatsangehörige sind (vgl. Art. 3 Abs. 1 StGB, Territorialitätsprinzip, und Art. 8 StGB).

Eine im Ausland vorgenommene Genitalverstümmelung kann in der Schweiz nur verfolgt werden, wenn die Tat auch am Begehungsort strafbar ist (doppelte Strafbarkeit) oder der Begehungsort keiner Strafgewalt unterliegt, der Täter sich in der Schweiz befindet oder ihr wegen dieser Tat ausgeliefert wird, und wenn nach schweizerischem Recht die Tat die Auslieferung zulässt, der Täter jedoch nicht ausgeliefert wird (Art. 7 Abs. 1 StGB, Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege). Sind weder Täter noch Opfer Schweizer Staatsangehörige, kann die Tat in der Schweiz nur verfolgt werden, wenn der ausländische Staat die Auslieferung verlangt hat und diese nicht nur wegen der Art der Tat verweigert worden ist oder wenn es sich um ein besonders schweres Verbrechen handelt (Art. 7 Abs. 2 StGB).

Sind die in der Schweiz handelnden Eltern als Mittäter zu beurteilen, wird die schweizerische Strafhoheit zu bejahen sein, auch wenn die eigentliche Tat im Ausland begangen wird, da nach herrschender Lehre und Praxis die Mittäterschaft eine Anknüpfung an allen Orten begründet, an welchen die einzelnen Mittäter gehandelt haben.

Teilnahmehandlungen (d.h. Anstiftung und Gehilfenschaft), die in der Schweiz erbracht wurden, sind dagegen nur strafbar, sofern auch die eigentliche Tat nach dem Recht des Ortes strafbar ist, an welchem sie durchgeführt wurde (Akzessorietät). Dies dürfte in fast allen Fällen zutreffen, da Genitalverstümmelungen in den meisten Ländern als strafbare Körperverletzung gelten. Dabei genügt es, wenn der entsprechende Staat die Genitalverstümmelung nach seinem gültigen Recht bestrafen könnte (nicht entscheidend ist, ob diese Regeln tatsächlich angewendet werden)15.

Verjährung Bei der schweren Körperverletzung verjährt die Strafverfolgung in 15 Jahren (Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB). Richtet sich die Tat gegen Kinder unter 16 Jahren, dauert die Verfolgungsverjährung in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers (Art. 97 Abs. 2 StGB).

2.2.1.3

Defibulation und Reinfibulation

Bei der Defibulation werden die zusammengewachsenen Schamlippen vollständig aufgeschnitten. Die Reinfibulation ist hingegen das Wiederzunähen der Öffnung.

Bei beiden Eingriffen liegt eine einfache Körperverletzung nach Artikel 123 Ziffer 1 StGB vor, sofern sie lege artis durchgeführt werden. Die Einwilligung in eine einfache Körperverletzung wird bei urteilsfähigen Opfern als generell wirksam erachtet.

Selbst wo aber keine rechtswirksame Einwilligung vorliegen sollte, bleibt es im Falle des lege artis durchgeführten Eingriffs der betroffenen Frau überlassen, ob sie sich an die Strafverfolgungsbehörden wenden will, da es sich bei der einfachen Körperverletzung nach Artikel 123 Ziffer 1 StGB um ein Antragsdelikt handelt.

15

Vgl. dazu Niggli/Berkemeier, a.a.O., S. 17.

5659

2.2.1.4

Spezielle Fragen zur Strafbarkeit der Klitoridektomie ohne Entfernung der Klitoris (Typ Ia) und anderer Formen der Verstümmelung weiblicher Genitalien (Typ IV) nach Artikel 122 und 123 StGB

Bei der Klitoridektomie ohne Entfernung der Klitoris (Typ Ia) und den Genitalverstümmelungen des Typs IV liegt nicht in jedem Fall eine schwere Körperverletzung nach Artikel 122 StGB vor. Eine schwere Körperverletzung dürfte jedoch immer vorliegen, wenn der Eingriff eine schwere Schädigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit im Sinne der Generalklausel nach Artikel 122 Absatz 3 StGB zur Folge hat.

In jedem Fall dürfte aber bei einer Genitalverstümmelung der Typen Ia und IV eine von Amtes wegen zu verfolgende qualifizierte einfache Körperverletzung nach Artikel 123 Ziffer 2 StGB vorliegen: Einerseits bringt praktisch jeder Gegenstand, der dazu verwendet wird, an den weiblichen Genitalien zu schneiden, zu stechen, zu bohren, wegzuschaben usw. die Gefahr einer schweren Körperverletzung mit sich und gilt folglich als gefährlicher Gegenstand im Sinne von Artikel 123 Ziffer 2 Absatz 2 StGB. Andererseits werden Genitalverstümmelungen zumeist an Kindern oder an Wehrlosen ausgeführt, womit die Qualifikation nach Artikel 123 Ziffer 2 Absatz 3 StGB in aller Regel ebenfalls gegeben sein wird.

Auch hier muss der Täter vorsätzlich handeln. Wenn er eine schwere, unter Artikel 122 StGB fallende Schädigung anstrebt und nur eine einfache erreicht, wird er für den Versuch einer schweren Körperverletzung zu bestrafen sein.

Die Eltern eines urteilsunfähigen Opfers können überhaupt nicht in eine Genitalverstümmelung des Typs I und IV an ihrer Tochter einwilligen, weil die gesetzlichen Vertreter ihre Befugnis nur im Rahmen ihrer Obhutspflicht (Art. 301 ff. ZGB) ausüben und sich dabei einzig am Wohl des Kindes orientieren dürfen. Sobald es urteilsfähig ist, kann nur noch das Opfer selber wirksam in die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter einwilligen. Die Einwilligung des urteilsfähigen Opfers bei der einfachen Körperverletzung wird generell als wirksam erachtet, ohne Rücksicht auf den mit der Verletzung verfolgten Zweck.

Bei der qualifizierten einfachen Körperverletzung gemäss Artikel 123 Ziffer 2 StGB verjährt die Strafverfolgung in 7 Jahren (Art. 97 Abs. 1 Bst. c StGB).

2.2.2

Genitalverstümmelungen und Kindesschutz

Die parlamentarische Initiative fordert eine Änderung im Strafrecht. Da in der Praxis ­ insbesondere im Bereich der Prävention ­ aber gerade auch das Vormundschaftsrecht eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, hat die Kommission auch die Möglichkeiten des zivilrechtlichen Kindesschutzes im Falle von Genitalverstümmelung geprüft. Der zivilrechtliche Kindesschutz enthält ein Instrumentarium von Massnahmen (Art. 307­315b ZGB), die zur Anwendung kommen, wenn die Eltern ihre umfassende Verantwortung für die Entwicklung des Kindes nicht wahrnehmen16.

Das Gesetz sieht vier nach ihrer Schwere abgestufte Eingriffe in die elterliche Sorge 16

Christoph Häfeli, Handkommentar ZGB, Art. 307 ZGB N 2

5660

vor, nämlich geeignete Massnahmen (Art. 307 ZGB), Beistandschaft (Art. 308 f.

ZGB) und Aufhebung der elterlichen Obhut (Art. 310 ZGB); diese Massnahmen können kombiniert werden, sofern ihre Summe nicht einer Entziehung der elterlichen Sorge gleichkommt17. Als ultima ratio ist die Entziehung der elterlichen Sorge möglich (Art. 311 f. ZGB).

Die Kommission kommt zum Schluss, dass die geltenden Bestimmungen des Kindesschutzes ausreichen.

2.2.3

Mitteilung bei strafbaren Handlungen gegen Unmündige

Die Kommission hat weiter die geltende Rechtslage in Bezug auf Melderechte und -pflichten geprüft. Sie erachtet auch diesbezüglich die geltenden ­ bzw. mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht18 beschlossenen ­ Regelungen als genügend.

Es existiert eine Vielzahl von Meldepflichten oder Melderechten, teils auf eidgenössischer, teils auf kantonaler Ebene19. Speziell zu erwähnen ist die Mitteilungspflicht nach Artikel 363 StGB, mit folgendem Wortlaut: «Stellt die zuständige Behörde bei der Verfolgung von strafbaren Handlungen gegenüber Unmündigen fest, dass weitere Massnahmen erforderlich sind, so informiert sie sofort die vormundschaftlichen Behörden.» Artikel 364 StGB gibt den zur Wahrung des Amts- und Berufsgeheimnisses (Art. 320 und 321) verpflichteten Personen das Recht, eine an einem Unmündigen begangene strafbare Handlung in seinem Interesse den vormundschaftlichen Behörden zu melden.

Auch erwähnenswert ist die Verfahrensbestimmung betreffend Melderechte und -pflichten im Verhältnis zu Erwachsenen- und Kindesschutzbehörden, welche im Rahmen der am 19. Dezember 2008 vom Parlament verabschiedeten Gesamtrevision des Vormundschaftsrechts eingeführt wurde (Art. 443 ZGB)20. Die neue Regelung geht sehr weit und sieht vor, dass jede Person der Erwachsenenschutzbehörde Meldung erstatten kann, wenn jemand hilfsbedürftig erscheint (Melderecht), und dass, wer in amtlicher Tätigkeit von einer solchen Person erfährt, Meldung erstatten muss (Meldepflicht). Die Bestimmung ist auch im Verhältnis zur Kindesschutzbehörde anwendbar (Art. 440 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 314 Abs. 1 ZGB). Während die zur Wahrung des Amtsgeheimnisses verpflichteten Personen in solchen Fällen von Gesetzes wegen vom Amtsgeheimnis entbunden sind, müssen sich die zur Wahrung des Berufsgeheimnisses verpflichteten Personen entweder vorgängig vom Berufsgeheimnis entbinden lassen (vgl. Art. 321 Ziff. 2 StGB) oder sich auf Artikel 364 StGB berufen können. Dieser greift entgegen seinem Wortlaut bereits in einem sehr frühen Stadium, nämlich dann, wenn der Geheimnisträger ernsthaften Anlass hat, von einer strafbaren Handlung (Versuch inbegriffen) an einem Unmündigen auszugehen. Die Kantone können weitere Meldepflichten vorsehen.

17 18 19

20

Cyril Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts, Bern, Ziff. 27.08.

BBl 2009 141 ff.

vgl. Yvo Biderbost, Vor Art. 363/364 StGB Rdz. 3, in: Marcel Alexander Niggli und Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht II, Basler Kommentar, Basel 2007, S. 2636; Michelle Cottier und Regula Schlauri, Übersicht über die Melderechte und Meldepflichten bei Genitalverstümmelungen an Unmündigen im Licht von Amts- und Berufsgeheimnis, in: FamPra 4/2005, S. 759 ff.

BBl 2009 165

5661

2.3

Rechtsvergleich

Im internationalen Vergleich sind drei Tendenzen auszumachen: die Einführung spezifischer Gesetzesbestimmungen gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien (Schweden, Grossbritannien und Norwegen), die Einführung eines spezifischen Hinweises auf die Verstümmelung weiblicher Genitalien in das Gesetz (Belgien, Dänemark, Italien und Spanien) und schliesslich die Subsumtion der Verstümmelung weiblicher Genitalien unter die geltenden strafrechtlichen Bestimmungen (Schweiz, Frankreich, Deutschland, Finnland, Griechenland und die Niederlande)21.

Die Kommission untersuchte die Rechtslage in je einem Land aus jeder der drei Gruppen, nämlich Grossbritannien, Italien und Frankreich22.

2.3.1

Grossbritannien

Grossbritannien hat schon 2003 ein spezielles Gesetz gegen Verstümmelungen weiblicher Genitalien für England, Wales und Nordirland erlassen23. Gemäss diesem Gesetz ist es strafbar, einem Mädchen die grossen Schamlippen, die kleinen Schamlippen oder die Klitoris ganz oder teilweise zu entfernen, zu verschliessen oder anderweitig zu verstümmeln24. Zugleich wird ausdrücklich auch eine Strafbarkeit von Personen vorgesehen, die dabei helfen, eine Genitalverstümmelung durchzuführen oder die dabei beraten25. Wer gegen dieses Gesetz verstösst, kann, da diese Verbrechen als schwere Gewaltstraftaten gelten, mit Gefängnis bis zu 14 Jahren oder Busse oder mit beidem bestraft werden26. Bräuche oder Riten des Herkunftlandes werden ausdrücklich für unbeachtlich erklärt27. Wie in allen drei untersuchten Ländern stellt auch das britische Gesetz Auslandtaten an im Inland niedergelassenen Ausländern unter Strafe. Schottland führte eigene vergleichbare Regeln ein28.

Die drohende Genitalverstümmelung wird in Grossbritannien oft als Hauptargument angeführt, um vor Gericht gegen Asylentscheide zu rekurrieren und die Aufnahme aus humanitären Gründen zu erwirken. Die Rechtsprechung zeigt, dass Asylbewerberinnen, denen nach der Auslieferung in ihr Herkunftsland die Genitalverstümmelung droht, nur begrenzt Schutz gewährt wird, wenn sie nach einer Umsiedlung in ihrem Herkunftsland vor Verfolgung sicher sind.

Jüngsten Statistiken zufolge sind in England und Wales über 21 000 Mädchen unter 15 Jahren von Genitalverstümmelung bedroht und weitere 11 000 Mädchen über

21 22

23 24 25 26 27 28

Vgl. u.a. Michael James Miller, Reaktionen auf die weibliche Genitalverstümmelung in Europa, in: Trechsel/Schlauri, a.a.O., S. 32 ff.

Das Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung erstellte zu diesem Zweck eine rechtsvergleichende Studie zu Handen der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates [unveröffentlicht].

Female Genital Mutilation Act 2003, chapter 31 (in Kraft seit dem 3. März 2004).

Section 1(1).

Section 2.

Section 5.

Section 1(5).

Prohibition of Female Genital Mutilation (Scotland) Act 2005, asp 8 (in Kraft seit dem 1. Juli 2005).

5662

8 Jahre dieser Praxis vermutlich bereits ausgesetzt worden29. Angesichts dieser Zahlen haben das Gesundheits-, das Innen- und das Bildungs- und Arbeitsministerium sowie der britische Ärzteverband Rundschreiben und Ratgeber für Ärzte zum Thema der Verstümmelung weiblicher Genitalien herausgegeben30.

2.3.2

Italien

Italien hat zur Bekämpfung von Genitalverstümmelungen im Jahr 2006 neue, spezifische Strafrechtsnormen eingeführt31. Das Strafgesetzbuch wurde mit dem Artikel 583bis ergänzt, der mit Haft zwischen vier und zwölf Jahren bestraft, wer ohne therapeutische Erfordernis eine Verstümmelung der weiblichen Genitalorgane veranlasst. Unter Verstümmelung versteht der Gesetzgeber neben der Infibulation auch die Klitoridektomie, die Beschneidung sowie jedes Vorgehen, das Auswirkungen derselben Art verursacht. Gleicherart wird mit Haft zwischen drei und sieben Jahren bestraft, wer ohne therapeutische Erfordernis und um die Sexualfunktionen zu beeinträchtigen andere als die erwähnten Verletzungen an den weiblichen Genitalorganen herbeiführt, die eine körperliche oder geistige Krankheit bewirken.

Die Bestimmungen gelten auch, wenn die Tat von italienischen Staatsangehörigen im Ausland oder von in Italien wohnhaften Ausländern begangen wird, oder wenn dabei im Ausland italienische Staatsangehörige oder in Italien wohnhafte Ausländer zu Schaden kommen. In diesem Fall wird die schuldige Person auf Antrag des Justizministers bestraft. Der ebenfalls neu eingeführte Artikel 583ter des Strafgesetzbuches sieht zudem für im Gesundheitswesen tätige Personen, die sich einer Straftat nach Artikel 583bis schuldig gemacht haben, als Nebenstrafe ein Berufsausübungsverbot zwischen drei und zehn Jahren vor.

Im Gesetz selbst ist zudem ein umfassendes Dispositiv zur Prävention von Verstümmelungen vorgesehen. Genannt werden Förder- und Koordinationstätigkeiten, Informationskampagnen, Weiterbildungen des Gesundheitspersonals sowie die Teilnahme an internationalen Zusammenarbeitsprogrammen32.

29

30

31 32

Rachel Williams, 21'000 girls at risk of genital mutilation, say campaigners, in: The Guardian vom 10. Oktober 2007 (Online-Ausgabe; www.guardian.co.uk/uk/2007/oct/10/gender.ukcrime).

Department of Health, Home Office, Department for Education and Employment, Working Together to safeguard children. A guide to inter-agency working to safeguard and promote the welfare of children, London, The Stationery Office 1999 (Kapitel 5) und Webseite des britischen Ärzteverbands (www.bma.org.uk/ap.nsf/Content/FGM~UK#Distribution).

Gesetz Nr. 7 vom 9. Januar 2006.

Artikel 2­4 und Artikel 7 des Gesetzes Nr. 7 vom 9. Januar 2006; vgl. zur Umsetzung beispielsweise die Leitlinien des Gesundheitsministeriums vom 8. März 2008 für Berufskräfte aus dem Gesundheitswesen und anderen Branchen für Präventions-, Hilfs- und Rehabilitationstätigkeiten (www.ministerosalute.it/imgs/C_17_pubblicazioni_769_allegato.pdf).

5663

2.3.3

Frankreich

Das französische Recht sieht zwar keine ausdrückliche Strafrechtsnorm gegen Genitalverstümmelung vor, unterwirft diese Eingriffe aber ­ wie die Schweiz ­ den allgemeinen Strafrechtsnormen zum Schutz der körperlichen Integrität. Diese bedrohen Gewalttätigkeiten, welche zu Verstümmelungen oder dauerhafter Behinderung führen, mit Freiheitsstrafe von 10 Jahren oder Geldstrafe von 150 000 Euro33. Die Strafe beträgt 15 Jahre Zuchthaus, wenn die Tat von einem Elternteil oder einem anderen Sorgeberechtigten an einem unter 15-Jährigen begangen wird34. Weiter kann der Straftatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllt sein35.

2006 wurden in das französische Recht einige neue Bestimmungen eingeführt, die zwar meist nicht ausdrücklich auf Genitalverstümmelungen abstellen, jedoch zugleich auch dem effektiven Schutz vor ihnen dienen sollen36. So wurde ein neuer Artikel ins Strafgesetzbuch eingefügt, welcher auch gewisse im Ausland begangene Taten an in Frankreich niedergelassenen Minderjährigen unter Strafe stellt37. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass in Frankreich niedergelassene Ausländer ihre Töchter in ihrem Heimatland verstümmeln lassen. Weiter wurde im Strafgesetzbuch präzisiert, dass im Fall der Meldung einer Genitalverstümmelung das Berufsgeheimnis ­ insbesondere das Arztgeheimnis ­ aufgehoben wird38. Zudem wurde die Verjährungsfrist von an Minderjährigen begangenen Taten erhöht. Sie beträgt nun 20 Jahre und beginnt neu erst mit der Volljährigkeit des Opfers zu laufen39.

Frankreich folgt in seiner Gerichtspraxis seit langem einer strengen Linie zur Bekämpfung von Genitalverstümmelungen. Bereits in einem Urteil vom 20. August 1983 entschied der oberste Gerichtshof, dass Verstümmelungen weiblicher Genitalien nach dem damaligen Artikel 312-3° des französischen Strafgesetzbuches (heute Artikel 222-9) strafbar sind. In einem Urteil vom 10. Juli 1987 entschied der Pariser Appelationshof, Bräuche des Herkunftlandes des Täters nicht als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die körperliche Integrität von Frauen und Mädchen anzuerkennen.

Die französische Regierung engagiert sich stark auf der Ebene der Prävention gegen Verstümmelungen weiblicher Genitalien. Sie unterstützt Vereinigungen, die Aufklärungsarbeit leisten und gibt Informationsbroschüren heraus, die das Thema sowohl rechtlich als auch moralisch aufarbeiten und auf medizinische Hilfsmöglichkeiten hinweisen40.

33 34 35 36 37 38 39 40

Artikel 222-9 des französischen Strafgesetzbuches.

Artikel 222-10 des französischen Strafgesetzbuches.

Artikel 222-7 und 222-8 (bei unter 15-jährigen Opfern) des französischen Strafgesetzbuches.

Gesetz vom 4. April 2006.

Artikel 222-16-2 des französischen Strafgesetzbuches.

Artikel 226-14, 1° des französischen Strafgesetzbuches.

Artikel 7 der französischen Strafprozessordnung.

Vgl. dazu insbesondere die Webseite des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Familie und Solidarität (http://www.travail-solidarite.gouv.fr/espaces/femmes-egalite/lutte-contreviolences-mutilations-sexuelles-feminines.html) und die hier erhältlichen Downloads.

5664

2.4

Problematik und Handlungsbedarf

Verstümmelungen weiblicher Genitalien sind gravierende Menschenrechtsverletzungen. Sie sind Ausdruck einer tief in den jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen verwurzelten Ungleichheit der Geschlechter und stellen eine extreme Form der Diskriminierung von Frauen dar. Der besondere Unrechtsgehalt von Verstümmelungen weiblicher Genitalien rührt einerseits daher, dass die Eingriffe äusserst schmerzhaft und üblicherweise mit grössten Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Betroffenen verbunden sind. Andererseits resultieren aus den Eingriffen oftmals chronische Komplikationen, welche die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen ein Leben lang beeinträchtigen können. Genitalverstümmelungen werden zumeist an Minderjährigen (zwischen 0 und 15 Jahren) vorgenommen41 und stellen somit auch eine schwere Verletzung der Rechte der Kinder dar. Als Folge einer Verstümmelung weiblicher Genitalien kann das gesamte Sexualleben in physischer und psychischer Hinsicht empfindlich gestört werden.

Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass Verstümmelungen weiblicher Genitalien zu Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt führen und somit auch die ungeborenen Kinder der Betroffenen gefährden können42.

Es zeigt sich, dass das heute zur Verfügung stehende strafrechtliche Instrumentarium als Mittel zur Bekämpfung der Verstümmelungen weiblicher Genitalien nicht die gewünschte Wirkung zeigt. Trotz der weiter oben erwähnten Verbreitung des Phänomens auch in der Schweiz wurden hierzulande erst zwei Strafverfahren geführt: Das Obergericht des Kantons Zürich hatte im Juni 2008 im ersten Strafverfahren, welches eine in der Schweiz vorgenommene Genitalverstümmelung zum Gegenstand hatte, zu urteilen. Es verurteilte die Eltern eines zum Zeitpunkt der Tatbegehung zweijährigen Mädchens wegen Anstiftung zur schweren Körperverletzung an ihrer Tochter zu je zwei Jahren Freiheitsstrafe bedingt. In einem Fall im Kanton Freiburg wurde ­ ebenfalls im Juni 2008 ­ gegen die Halbschwester eines zum Zeitpunkt der Tatbegehung 13-jährigen Mädchens wegen Verletzung ihrer Fürsorgeund Erziehungspflicht ein Strafbefehl erlassen. Da die Tat in Somalia ausgeführt wurde und Genitalverstümmelung dort nicht strafbar ist, konnte die Halbschwester wegen des Prinzips der doppelten Strafbarkeit nicht
unter dem Gesichtspunkt der schweren Körperverletzung belangt werden. Die Diskrepanz zwischen der geschätzten Anzahl Fälle und der Anzahl Strafverfahren deutet auf eine sehr hohe Dunkelziffer hin.

Zur Wirksamkeit der vielfältigen Bemühungen auf der Ebene der Sensibilisierung und Prävention, welche von in diesem Bereich engagierten Organisationen in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit43 unternommen wurden, können zum jetzigen Zeitpunkt noch keine verlässlichen Angaben gemacht werden.

Es ist offen, ob sie zu einer signifikanten Verbesserung der Situation führen werden.

Im Zuge der verschärften Gesetzeslage in anderen europäischen Ländern besteht

41 42 43

Vgl. WHO, a.a.O., S. 4.

Vgl. dazu die Richtlinie der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, a.a.O., S. 6 f.

Der Bundesrat wurde durch die am 2. Oktober 2007 überwiesene Motion RothBernasconi «Sexuelle Verstümmelungen an Frauen. Sensibilisierungs- und Präventionsmassnahmen» (05.3235) und die am 6. Oktober 2000 als Postulat überwiesene Motion Gadient «Kampf gegen Mädchenbeschneidung» (00.3365) zur Ergreifung von Massnahmen beauftragt.

5665

zudem die Gefahr, dass Personen aus dem Ausland in die Schweiz kommen könnten, um Genitalverstümmelungen vorzunehmen.

Es wird von keiner Seite bestritten, dass alle geeigneten Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, um Verstümmelungen weiblicher Genitalien wirksam zu bekämpfen.

Die Tatsache, dass die geltende Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien nicht allein zum Ziel führt, sowie die Unsicherheit über die Wirkung der eingeleiteten Sensibilisierungs- und Informationsmassnahmen sprechen für weitergehende Bemühungen, um dem Problem Herr zu werden. Nach Ansicht der Kommission kann eine Verbesserung der Situation mit gesetzlichen Massnahmen im Bereich des Strafrechts unterstützt werden.

Wie weiter oben ausgeführt, stellt das geltende Strafrecht Verstümmelungen weiblicher Genitalien als Körperverletzungen im Sinne der Artikel 122 und 123 StGB unter Strafe. Die Kommission ist jedoch der Ansicht, dass das geltende Strafrecht aus mehreren Gründen unzureichend ist: Der Umstand, dass das Gesetz Verstümmelungen weiblicher Genitalien nicht explizit untersagt, mindert die Bekanntheit des Verbots. So kann dieses seine abschreckende und damit präventive Wirkung nicht voll entfalten. Problematisch ist weiter, dass die verschiedenen Typen von Verstümmelung weiblicher Genitalien unterschiedlichen strafrechtlichen Bestimmungen unterliegen (vgl. Ziff. 2.2.1). Die Feststellung, ob in einem konkreten Fall ein Verbrechen oder ein Vergehen vorliegt, bedingt die Klärung von Einzelheiten des Sachverhalts. Diese Klärung ist insbesondere im Hinblick auf die Frage der Verjährung bedeutsam. In der Praxis sind Einzelheiten oftmals aber nur schwer abklärbar.

Ihre Abklärung bedarf intimer Untersuchungen, zu denen die Eltern möglicherweise die Zustimmung verweigern. Von den Strafbehörden können Untersuchungen nur angeordnet werden, wenn ein klarer Verdacht vorliegt. Die heutige, nicht für jeden Fall eindeutige Rechtslage führt zu Abgrenzungs- und Beweisschwierigkeiten und erschwert die Strafverfolgung insofern erheblich.

Eine weitere Schwierigkeit besteht aufgrund des grundsätzlichen Erfordernisses der doppelten Strafbarkeit zur Verfolgung von im Ausland begangenen Genitalverstümmelungen (vgl. dazu Ziff. 2.2.1.2). Die Problematik wird insbesondere im oben erwähnten Fall aus dem Kanton Freiburg deutlich. Nach
Ansicht der Kommission sollte die Verfolgungslücke, welche das Prinzip der doppelten Strafbarkeit nach sich zieht, in Bezug auf Genitalverstümmelungen geschlossen werden. Die Lücke ist problematisch, weil ein vermutlich hoher Anteil der Taten im Ausland begangen wird, darunter auch in Ländern, die Genitalverstümmelungen nicht bestrafen (wie beispielsweise Somalia). Die Kommission weist zudem auf einen gewissen Wertungswiderspruch hin, der besteht, wenn der Tatbestand der Genitalverstümmelungen an Minderjährigen nicht im Straftatenkatalog von Artikel 5 StGB enthalten ist.

Es ist ihrer Meinung nach nicht ersichtlich, warum beispielsweise sexuelle Handlungen mit unter 14-Jährigen einen schwerwiegenderen Eingriff in die psychische Integrität des Opfers darstellen sollten als Genitalverstümmelungen. Bei Letzteren kommt zudem ein physischer Eingriff mit dauerhaften Folgen hinzu. Die Einführung des Universalitätsprinzips lässt sich mit anderen Worten auch für Genitalverstümmelungen begründen.

Sensibilisierungs- und Informationsmassnahmen als Mittel der Prävention tragen entscheidend zu einem verbesserten Schutz vor Genitalverstümmelung bei. Dies schliesst aber Verbesserungen hinsichtlich der strafrechtlichen Grundlagen nicht aus.

Gerade auch «weiche» Massnahmen werden durch die heutige, differenzierte

5666

Rechtslage erschwert, da nicht auf eine klare, unmissverständliche und für alle Formen der Genitalverstümmelung geltende Strafnorm verwiesen werden kann.

3

Die beantragte Neuregelung

3.1

Vorentwurf und Ergebnisse der Vernehmlassung

Am 12. Februar 2009 hat die Kommission einen Vorentwurf verabschiedet, den sie in die Vernehmlassung schickte. Der Vorentwurf sah die Einführung eines neuen, spezifischen Straftatbestandes der Verstümmelung weiblicher Genitalien vor.

Gemäss dem Vorentwurf sollte mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen bestraft werden, wer die äusseren weiblichen Genitalien teilweise oder ganz entfernt oder die weiblichen Genitalien sonst wie verstümmelt, ohne dass dafür medizinische Gründe vorliegen. Eine Minderheit der Kommission schlug eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe vor. Allerdings sollte die Tat straflos bleiben, wenn die verletzte Person volljährig ist und in den Eingriff eingewilligt hat. Strafbar sollte auch der Täter sein, der die Tat im Ausland begangen hat, unabhängig davon, ob die Tat am Tatort strafbar ist (Verzicht auf das Kriterium der doppelten Strafbarkeit). Artikel 97 Absatz 2 StGB sollte dahingehend ergänzt werden, dass die Verfolgungsverjährung auch im Falle der Verstümmelung weiblicher Genitalien bei gegen Kinder unter 16 Jahren gerichteten Taten in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers dauert.

An der Vernehmlassung nahmen sämtliche Kantone, neun politische Parteien und 47 interessierte Organisationen teil.

Die Einführung eines spezifischen Straftatbestandes wurde von einer grossen Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden gutgeheissen. Zum Strafrahmen äusserte sich gut die Hälfte der Vernehmlassungsteilnehmenden: Die Mehrheit befürwortete die von der Kommissionsminderheit vorgeschlagene Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe. Die Möglichkeit der Einwilligung bei Volljährigkeit wurde von einer grossen Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden entschieden abgelehnt. Dagegen wurde das Absehen von der doppelten Strafbarkeit bei Auslandtaten mehrheitlich begrüsst. Zur vorgeschlagenen Ergänzung von Artikel 97 Absatz 2 StGB äusserte sich nur eine kleine Anzahl der Vernehmlassungsteilnehmenden, wobei die Mehrheit dem Vorschlag der Kommission zustimmte.

3.2

Die beantragte Neuregelung im Allgemeinen

Eine explizite und einheitliche Strafnorm erhöht die Sichtbarkeit des Verbots der Verstümmelung weiblicher Genitalien. Die damit einhergehende gesteigerte symbolische und abschreckende Wirkung trägt dazu bei, Genitalverstümmelungen präventiv zu verhindern. Mit der Einführung eines expliziten und einheitlichen Tatbestandes würde auch die Anwendbarkeit des Gesetzes verbessert werden: Wenn nicht mehr abgeklärt werden muss, welcher Typ von Genitalverstümmelung vorliegt, welches die genauen Tatumstände waren und ob die Tat in der Schweiz oder einem anderen Land begangen wurde, wo sie strafbar ist, können Strafverfahren einfacher und schneller geführt werden. Jede Genitalverstümmelung wäre dann ohne weiteres 5667

als Verbrechen zu qualifizieren und entsprechend zu verfolgen. Die Kommission erhofft sich davon eine Senkung der Dunkelziffer. Durch die explizite und unmissverständliche Nennung des Straftatbestandes im StGB kann das Verbot zudem einfacher und effektiver kommuniziert werden, was die Präventionsarbeit der damit befassten Behörden und Organisationen erheblich vereinfacht und die Wirkung dieser «weichen» Massnahmen steigert.

Die Kommission erachtet die Lösung, lediglich Artikel 5 StGB («Straftaten gegen Unmündige im Ausland») zu ergänzen, als suboptimal. Da ein genereller Verweis in Artikel 5 StGB auf Artikel 122 f. StGB zu weit ginge, müsste auf die Verstümmelung weiblicher Genitalien verwiesen werden, ohne dass eine entsprechende Strafbestimmung im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches existiert. Auch würden bei einer solchen Lösung die Auslandtaten an Mündigen nicht erfasst.

3.3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.3.1

Strafgesetzbuch

Ingress Der Ingress des Strafgesetzbuches verweist noch auf die alte Bundesverfassung (BV). Er wird deshalb angepasst, um den Verweis auf Artikel 123 Absatz 1 der BV vom 18. April 199944 aufzunehmen. Gemäss geltender Praxis werden im Ingress eines Bundesgesetzes einzig die kompetenzbegründenden, zur Rechtsetzung ermächtigenden Bestimmungen der BV aufgeführt; ist dies nicht der ganze Artikel, sondern sind es nur einzelne Absätze oder Buchstaben davon, werden nur diese aufgeführt.

Art. 97 Abs. 2

Verfolgungsverjährung; Fristen

Bei der Verstümmelung weiblicher Genitalien soll die Strafverfolgung wie bei den schweren Körperverletzungen in 15 Jahren verjähren (vgl. Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB). Richtet sich die Tat gegen Kinder unter 16 Jahren, soll die Verfolgungsverjährung in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers dauern.

Art. 124

Verstümmelung weiblicher Genitalien

Die neue Strafbestimmung soll sicherstellen, dass künftig alle Typen der Verstümmelung weiblicher Genitalien nach der Begriffsbestimmung der WHO45 durch einen eigenen Tatbestand erfasst und unter Strafe gestellt werden. Damit soll ein eindeutiges Signal der Ächtung solch schwerwiegender Eingriffe in die Integrität und Würde der betroffenen Mädchen und Frauen gesetzt werden. Die Kommission hat zudem die Frage erörtert, ob mit der neuen Strafbestimmung auch die Verstümmelung der männlichen Genitalien, namentlich auch die in der jüdischen und muslimischen Tradition praktizierte Beschneidung von männlichen Neugeborenen bzw. Kleinkindern, erfasst werden sollte. Die Kommission will Artikel 124 StGB nicht auf die 44 45

SR 101 Vorne Ziffer 2.1.

5668

Beschneidung der männlichen Genitalien ausdehnen, da sie diese grundsätzlich nicht als problematisch erachtet. Zugleich würde ein solcher Straftatbestand weit über das Anliegen der parlamentarischen Initiative hinausgehen.

Objektive und subjektive Tatbestandmässigkeit: Täter ist, wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, unbrauchbar macht oder in anderer Weise schädigt.

Im Unterschied zu dem in die Vernehmlassung geschickten Vorentwurf lehnt sich Artikel 124 StGB eng an die bestehenden Körperverletzungstatbestände in den Artikeln 122 und 123 StGB an. Damit werden sowohl die Tathandlungen der schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB) als auch der einfachen Körperverletzung (Art. 123 StGB) erfasst. Tatobjekt sind die inneren und äusseren Genitalien von weiblichen Personen. Tathandlungen sind das «Verstümmeln», «UnbrauchbarMachen» oder «In-anderer-Weise-Schädigen». «Verstümmeln» liegt vor bei einer teilweisen oder vollständigen Entfernung der weiblichen Genitalien, also beispielsweise wenn die Schamlippen, die Klitorisvorhaut oder die Klitoris ganz oder teilweise entfernt werden (Typen Ib, II und III). «Unbrauchbar-Machen» impliziert die dauernde und erhebliche Beeinträchtigung der Grundfunktionen der weiblichen Genitalien. Diese Variante ist etwa dann erfüllt, wenn die Vagina bis auf eine kleine Öffnung zugenäht wird (Typ III). «In-anderer-Weise-Schädigen» ist als Generalklausel zu verstehen und erfasst Beschädigungen der weiblichen Genitalien, die weder eine Verstümmelung noch eine erhebliche Beeinträchtigung der Grundfunktionen nach sich ziehen, etwa dann, wenn die Vagina mittels Einführen ätzender Substanzen verengt wird oder die Klitoris oder die Schamlippen gedehnt werden (Typ IV). Unerheblich ist, ob die Eingriffe unter einwandfreien hygienischen Bedingungen von ärztlich geschultem Personal vorgenommen und mit welchen Instrumenten sie ausgeführt werden. Mit dem vorgeschlagenen Artikel 124 StGB werden auch die Defibulation (Aufschneiden der zusammengewachsenen Schamlippen) und die Reinfibulation (Wiederzunähen der Öffnung) erfasst. Auf subjektiver Tatbestandsebene ist Vorsatz nach Artikel 12 StGB erforderlich.

Rechtswidrigkeit: Nach der herrschenden Lehre und der Rechtsprechung kann eine urteilsfähige Person in eine einfache Körperverletzung gemäss Artikel 123 StGB immer gültig
einwilligen; in eine schwere Körperverletzung gemäss Artikel 122 StGB jedoch nur, wenn die Einwilligung mit Blick auf ihr wohlverstandenes Interesse als sinnvoller und vertretbarer Entscheid erscheint. Eltern können in die Verletzung ihres Kindes nur einwilligen, wenn dieses nicht urteilsfähig ist und wenn der Eingriff zum Wohle des Kindes geschieht. Nach der Auffassung der Kommission stellen alle Arten von Verstümmelung weiblicher Genitalien gemäss der WHODefinition schwere Eingriffe in die körperliche Integrität dar. Somit ist eine Einwilligung nur unter den Voraussetzungen möglich, die für schwere Körperverletzungen gemäss Artikel 122 StGB gelten. Weil eine Genitalverstümmelung nach Artikel 124 StGB in der Regel kein sinnvoller und vertretbarer Eingriff darstellt, können weder die urteilsfähige erwachsene Person noch die Eltern eines urteilsunfähigen Kindes in eine Genitalverstümmelung nach Artikel 124 StGB einwilligen. Ausnahmen sind denkbar bei leichten Eingriffen wie Tätowierungen, Piercings oder gewissen Schönheitsoperationen. Damit nimmt die Kommission die in der Vernehmlassung geäusserte Kritik an der Einwilligungsmöglichkeit bei Volljährigkeit, welche der Vorentwurf vorsah, auf.

Schuld, Täterschaft und Teilnahme, Vorbereitungshandlungen und Versuch: In Bezug auf die Voraussetzung der schuldhaften Handlung des Täters, auf die Fragen der Täterschaft und Teilnahme sowie der Vorbereitungshandlungen und des Ver5669

suchs ändert sich mit dem vorgeschlagenen neuen Artikel 124 StGB nichts an der bereits heute geltenden Rechtslage. Es kann an dieser Stelle auf die Ziffer 2.2.1.2 verwiesen werden.

Auslandtaten: Um die Strafverfolgung bei Auslandtaten zu erleichtern, wird in Artikel 124 Absatz 2 StGB vorgesehen, dass grundsätzlich hierzulande strafbar sein soll, wer die Tat im Ausland begeht, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird. Damit wird von der Voraussetzung der doppelten Strafbarkeit abgesehen und es können somit in der Schweiz alle Täter strafrechtlich belangt werden, unabhängig davon, wo sie die Tat begangen haben und ob die Tat am Tatort überhaupt strafbar ist. Erledigungs- und Anrechnungsprinzip (Art. 7 Abs. 4 und 5 StGB) werden dagegen beibehalten.

Strafrahmen: Der von der Kommissionsmehrheit beantragte Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen entspricht dem geltenden Strafrahmen für schwere Körperverletzungen nach Artikel 122 StGB.

Eine Minderheit I (Schwander, Freysinger, Geissbühler, Heer, Kaufmann, Nidegger, Reimann Lukas, Stamm) ist der Ansicht, dass es die Schwere der hier betroffenen Taten verlangt, dass es nicht möglich sein soll, lediglich Geldstrafen zu verhängen.

Diese reichten nicht aus, um die beabsichtigte präventive Wirkung zu erzielen.

Zudem ist die Minderheit I der Meinung, dass ein Mindeststrafmass von einem Jahr Freiheitsstrafe festgelegt werden sollte. Auch in der Vernehmlassung wurde eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe gefordert. Die Mehrheit der Kommission lehnt diese Forderung ab. Sie weist darauf hin, dass mit dem neuen Straftatbestand auch für jene Formen von Genitalverstümmelung, welche bisher als (qualifizierte) einfache Körperverletzungen galten, der Strafrahmen für schwere Körperverletzungen angewendet wird. Nach Ansicht der Kommissionsmehrheit ist es nicht gerechtfertigt, die Mindeststrafe noch weiter anzuheben und damit für sämtliche Formen von Genitalverstümmelung Geldstrafen zu verunmöglichen, während sie für andere schwere Körperverletzungen möglich bleiben.

Konkurrenzen: Artikel 124 StGB geht als Spezialtatbestand den Artikeln 122 und 123 StGB (schwere und einfache Körperverletzung) vor.

Eine Minderheit II (Stamm, Freysinger, Kaufmann, Nidegger, Reimann Lukas, Schwander) der
Kommission ist der Ansicht, dass in der Formulierung des neuen Straftatbestandes die aus Artikel 123 StGB stammende Generalklausel «in anderer Weise schädigt» nicht enthalten sein sollte. Die umfassende Formulierung der Mehrheit erwecke den Eindruck, dass der Gesetzgeber alle Formen der an weiblichen Genitalien vorgenommenen Körperverletzungen, d.h. folglich auch Tätowierungen, Piercings und Schönheitsoperationen, als schwere Körperverletzungen versteht, in die nur unter den Voraussetzungen, die für schwere Körperverletzungen gemäss Artikel 122 StGB gelten, eingewilligt werden kann. Falls die Rechtsprechung die neue Bestimmung in dieser Weise auslegt, komme dies faktisch einem Verbot auch dieser Praktiken gleich, was weder im Sinne der Kommission noch der parlamentarischen Initiative ist. Um die strafrechtliche Gleichstellung einer Verstümmelung von weiblichen Genitalien mit der schweren Körperverletzung gemäss Artikel 122 StGB auch gesetzessystematisch zu verdeutlichen, beantragt die Minderheit II zudem, den neuen Straftatbestand als neuen Artikel 122a ins StGB einzufügen. Auch soll gemäss der Minderheit II der geltende Artikel 122 StGB im Randtitel als allgemeiner Straftatbestand der schweren Körperverletzung bezeichnet werden, während eine Verstümmelung von weiblichen Genitalien als eine Variante schwerer Körperverletzung gelten soll. Die Mehrheit lehnt die engere Formulierung 5670

der Minderheit II ab, da mit dieser nicht alle Formen der Genitalverstümmelung erfasst würden. Sie geht nicht davon aus, dass wegen Praktiken wie der Tätowierung oder des Piercings im Genitalbereich Strafverfahren eröffnet werden.

Art. 260bis Abs. 1 Strafbare Vorbereitungshandlungen Artikel 260bis StGB stellt die Vorbereitungshandlungen zu einigen schweren Gewaltdelikten, etwa den schweren Körperverletzungen gemäss Artikel 122 StGB, unter Strafe. Konsequenterweise sollten die Vorbereitungshandlungen zur Verstümmelung weiblicher Genitalien ebenfalls bestraft werden. Artikel 260bis Absatz 1 StGB ist mit einem Hinweis auf Artikel 124 StGB zu ergänzen.

3.3.2

Strafprozessordnung

Art. 168 Abs. 4 Bst. a, 251 Abs. 4, 269 Abs. 2 Bst. a, 286 Abs. 2 Bst. a Die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO)46 sieht vor, dass bei Verdacht auf schwere Körperverletzung das Zeugnisverweigerungsrecht aufgrund persönlicher Beziehungen entfällt (Art. 168 Abs. 4 Bst. a StPO), die körperliche Untersuchung am Opfer auch gegen dessen Willen möglich ist (Art. 251 Abs. 4 StPO) und die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs bzw. verdeckte Ermittlungen möglich sind (Art. 269 Abs. 2 Bst. a StPO bzw. Art. 286 Abs. 2 Bst. a StPO). Konsequenterweise müssen die entsprechenden Bestimmungen mit einem Hinweis auf Artikel 124 StGB ergänzt werden.

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Nach dem heutigen Stand der Dinge hat die vorgeschlagene Gesetzesbestimmung für den Bund keinerlei direkte Auswirkungen, weder auf finanzieller noch auf personeller Ebene.

Eine Zunahme der Anzahl der Strafverfolgsverfahren und damit ein Mehraufwand für die kantonalen Strafverfolgungsbehörden kann nicht ausgeschlossen werden. Die allenfalls entstehenden Mehrkosten können im jetzigen Zeitpunkt kaum abgeschätzt werden.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Die vorgeschlagene Gesetzesbestimmung stützt sich auf Artikel 123 Absatz 1 BV, gemäss dem der Bund für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts zuständig ist.

46

SR 312.0; AS 2010 1881

5671

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Der hier vorgeschlagene Artikel 124 StGB ist mit den einschlägigen, für die Schweiz verbindlichen internationalen Konventionen vereinbar. So fordert etwa das von der Schweiz 1997 ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK)47 die Vertragsstaaten dazu auf, «alle geeigneten Gesetzgebungs- Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen (zu ergreifen), um das Kind vor jeder Form körperlicher und geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs zu schützen...».48 Die Konvention fordert die Regierungen auf, «alle wirksamen und geeigneten Massnahmen (zu treffen), um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.»49 Das von der Schweiz ebenfalls 1997 ratifizierte Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW)50 fordert die Vertragsstaaten auf, auf die «Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder des anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken» hinzuarbeiten.51 Genitalverstümmelungen stellen unmenschliche Behandlungen dar, die gemäss Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention52, Artikel 7 UNO-Pakt II53 und Artikel 16 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe54 verboten sind. Die Vertragsstaaten sind entsprechend verpflichtet, Genitalverstümmelungen in ihrer Gesetzgebung mit Strafe zu bedrohen und diese Strafbestimmungen durch ihre Justizbehörden durchzusetzen.

47 48 49 50 51 52 53 54

SR 0.107 Art. 19 Abs. 1 KRK Art. 24 Abs. 3 KRK SR 0.108 Art. 5 CEDAW SR 0.101 SR 0.103.2 SR 0.105

5672