Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. Oktober 2007 und des Postulats 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 20. November 2008 vom 5. März 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren In Erfüllung des Postulats 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates und des Postulats 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht zur Kenntnisnahme.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

5. März 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

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Übersicht Der vorliegende Bericht beleuchtet in Erfüllung von Postulaten der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats sowie der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht und insbesondere auch das Verhältnis von Volksinitiativen und Völkerrecht. Aufgrund der Zunahme völkerrechtswidriger Volksinitiativen in den letzten Jahren hat diese Frage besondere Aktualität erhalten.

Für das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht sind drei Aspekte wichtig: erstens die Frage, ob Völkerrecht unmittelbar innerstaatlich gilt (sogenanntes monistisches System) oder ob es in Landesrecht transformiert werden muss, um innerstaatlich Geltung zu erlangen (Dualismus); zweitens die Frage, ob es von den Gerichten und den anderen rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich direkt angewendet wird oder ob diese eher davon ausgehen, dass es zuvor vom Gesetzgeber konkretisiert werden muss; und drittens die Frage, ob Völkerrecht dem Landesrecht im Konfliktfall vorgeht oder nicht.

Eine rechtsvergleichende Untersuchung zeigt, dass die Staaten diese Fragen differenziert angehen. So gelten das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze aus Praktikabilitätsgründen auch in dualistischen Staaten ohne Transformation, während manche monistischen Staaten die direkte Anwendbarkeit des Völkerrechts so weit einschränken, dass es nur bei einer Umsetzung durch das Parlament innerstaatliche Wirkungen erzielt, was im Ergebnis einer Transformation gleichkommt. In keinem Staat wird zudem dem Völkerrecht uneingeschränkt der Vorrang vor dem Landesrecht eingeräumt; vielmehr spielen immer auch Abwägungsprozesse eine zentrale Rolle. Wenn immer möglich wird dabei ein Konflikt durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts vermieden.

Der Umgang der Schweiz mit dem Völkerrecht bewegt sich im Rahmen dessen, was auch in anderen Staaten üblich ist. Dies gilt insbesondere für die sogenannte «Schubert-Praxis». Einzigartig ist die Schweiz hingegen in Bezug auf die Volksinitiative. Die sich aus diesem Instrument ergebenden besonderen Fragen stellen sich in den anderen Staaten nicht.

Die Schweiz gehört zu den Staaten mit einer monistischen Tradition. Das Völkerrecht erlangt somit unmittelbare Geltung. Es ist direkt anwendbar, wenn es genügend präzise ist, um in einem
konkreten Fall die Grundlage für eine Entscheidung darstellen zu können. Grundsätzlich geht Völkerrecht dem Landesrecht vor, wobei Konflikte durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts wenn möglich vermieden werden. Weicht die Bundesversammlung bewusst vom Völkerrecht ab, so ist das Bundesgericht an diesen Entscheid nach der erwähnten SchubertPraxis aus Gründen der Gewaltenteilung gebunden. Eine Ausnahme besteht bei internationalen Grundrechtsnormen, wie sie sich insbesondere in der EMRK finden.

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Eine Abkehr von dieser bewährten Ordnung brächte keine greifbaren Vorteile. Ein Wechsel zum Dualismus würde die Schweiz nicht von der Pflicht entbinden, internationale Verpflichtungen einzuhalten. Eine Festschreibung der Schubert-Praxis würde es dem Bundesgericht verwehren, auch inskünftig im konkreten Anwendungsfall aufgrund einer sorgfältigen Güterabwägung zu entscheiden und die SchubertPraxis dabei allenfalls weiterzuentwickeln. Die Einführung der Möglichkeit, alle Entscheide zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht bis an das Bundesgericht weiterzuziehen, um so eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten, liefe den Reformbemühungen zur Entlastung des Bundesgerichts zuwider. Es wäre zudem schwer nachvollziehbar, wieso Beschwerden hier ausnahmslos zulässig wären, nicht aber bei einer Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Eine mögliche Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird nicht behandelt; diese Frage wird im Rahmen der parlamentarischen Initiative 05.445 (Studer Heiner) zur Verfassungsgerichtsbarkeit und der parlamentarischen Initiative 07.476 (Müller-Hemmi) zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für rechtsanwendende Behörden zu untersuchen sein.

Was den schweizerischen Sonderfall der Kollision von Volksinitiativen und Völkerrecht betrifft, so gründet die Problematik hier darin, dass Volksinitiativen nur dann für ungültig erklärt werden können, wenn sie gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstossen. Dazu gehören einige wenige fundamentale völkerrechtliche Normen wie das Verbot von Völkermord, Folter oder Sklaverei. Seit den 1990er-Jahren sind vermehrt Volksinitiativen eingereicht worden, die gegen das übrige Völkerrecht verstossen. Solche Initiativen sind für gültig zu erklären. Im Falle der Annahme der Initiative stellt sich dann für die Umsetzung die Frage, wie der Konflikt mit dem Völkerrecht zu lösen ist. Dieser Frage kommt gerade nach der Annahme der Minarett-Initiative besondere Aktualität zu.

Die Praxis der Bundesversammlung zielt darauf ab, Volksinitiativen völkerrechtskonform umzusetzen und dabei den Willen der Initiantinnen und Initianten möglichst weitgehend zu berücksichtigen. Entgegenstehende Verträge müssten soweit möglich neu ausgehandelt oder gekündigt werden.

Insgesamt hat sich die gegenwärtige Regelung grundsätzlich bewährt. Sie hat in der
Praxis nur selten zu gravierenden Problemen geführt. In den meisten Fällen lässt sie der Bundesversammlung genügend Handlungsspielraum, um eine befriedigende Lösung zu treffen. Der Bundesrat ist deshalb der Auffassung, dass keine grundlegenden Änderungen der heutigen Regelung nötig sind. Er verkennt aber auch nicht, dass es gewisse Probleme mit Volksinitiativen gibt, die dem Völkerrecht widersprechen.

Es stellt sich infolgedessen die Frage, ob die Gültigkeit oder die Umsetzung der Volksinitiativen anderen Schranken als den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts zu unterstellen sei. Ein allgemeines Kriterium wie zum Beispiel die besondere Wichtigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags wäre zu unbestimmt. Ähnliche Schwierigkeiten stellten sich bei einer Ausdehnung der Ungültigkeitsgründe auf völkerrechtliche Verfahrensgarantien und Grundrechtsnormen oder einer Auflistung der zu beachtenden völkerrechtlichen Normen oder Verträge, wie beispielsweise bedeutender Bestimmungen der EMRK. Bei genauerer Betrachtung werfen diese Kriterien zahlreiche rechtliche und politische Fragestellungen auf. Als einfache, kurzfristig

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realisierbare Rezepte sind sie ungeeignet. Trotzdem will der Bundesrat sich dieser Diskussion nicht verschliessen. Doch bevor er sich zur Ausweitung materieller Schranken äussert, hält er es für angezeigt, die Konsequenzen einer solchen Massnahme vertiefter zu analysieren und die Realisierbarkeit von Lösungsansätzen zu evaluieren. Er wird daher dem Bundesamt für Justiz, der Direktion für Völkerrecht und der Bundeskanzlei einen entsprechenden Abklärungsauftrag erteilen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Einleitung

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2 Die Bedeutung des Völkerrechts

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3 Die innerstaatliche Legitimation des Völkerrechts

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4 Die völkerrechtlichen Normen 4.1 Übersicht 4.2 Völkerrechtliche Verträge 4.3 Völkergewohnheitsrecht 4.4 Allgemeine Rechtsgrundsätze 4.5 Einseitige Rechtsakte 4.6 Rechtsprechung und Lehre als Hilfsmittel 4.7 Die Hierarchie der völkerrechtlichen Normen

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5 Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Allgemeinen 5.1 Einleitung 5.2 Geltung 5.3 Anwendbarkeit 5.4 Rang

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6 Die Folgen der Verletzung von Völkerrecht 6.1 Überprüfung der Völkerrechtskonformität 6.2 Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit und ihre konkreten Folgen

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7 Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in ausgewählten Staaten 7.1 Einführung 7.2 Deutschland 7.2.1 Geltung 7.2.2 Anwendbarkeit 7.2.3 Rang 7.2.4 Gerichtliche Überprüfung 7.3 Frankreich 7.3.1 Geltung 7.3.2 Anwendbarkeit 7.3.3 Rang 7.3.4 Gerichtliche Überprüfung 7.4 Vereinigtes Königreich 7.4.1 Geltung 7.4.2 Anwendbarkeit 7.4.3 Rang 7.4.4 Gerichtliche Überprüfung 7.5 Vereinigte Staaten von Amerika 7.5.1 Geltung

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7.5.2 Anwendbarkeit 7.5.3 Rang 7.5.4 Gerichtliche Überprüfung 7.6 Schweden 7.6.1 Geltung 7.6.2 Anwendbarkeit 7.6.3 Rang 7.6.4 Gerichtliche Überprüfung 7.7 Indien 7.7.1 Geltung 7.7.2 Anwendbarkeit 7.7.3 Rang 7.7.4 Gerichtliche Überprüfung 7.8 Zusammenfassung

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8 Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz 8.1 Einleitung 8.2 Geltung 8.3 Anwendbarkeit 8.4 Rang 8.5 Völkerrechtskonforme Auslegung 8.6 Normenkonflikte 8.6.1 Konflikt zwischen Völkerrecht und Bundesverfassung 8.6.2 Konflikt zwischen Völkerrecht und Bundesgesetzen 8.7 Das Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen 8.7.1 Gegen zwingendes Völkerrecht verstossende Volksinitiativen 8.7.1.1 Zwingendes Völkerrecht 8.7.1.2 Völkerrechtskonforme Auslegung von Volksinitiativen 8.7.1.3 Teilungültigerklärung und Ausarbeitung eines Gegenentwurfs 8.7.2 Gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstossende Volksinitiativen 8.8 Gerichtliche Überprüfung

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9 Offene Fragen und Handlungsoptionen 9.1 Einleitung 9.2 Wechsel vom Monismus zum Dualismus 9.3 Regelung des Vorrangs in der Bundesverfassung 9.3.1 Nach der materiellen Bedeutung 9.3.2 Nach der demokratischen Legitimation 9.3.3 Vorrang jüngeren Verfassungsrechts 9.3.4 Verankerung der Schubert-Praxis 9.4 Ergänzung von Artikel 190 BV 9.5 Zuständigkeit des Bundesgerichts bei Fragen zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht

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9.6 Klärung des Verhältnisses von Völkerrecht und Volksinitiativen 9.6.1 Erweiterung der Ungültigkeitsgründe 9.6.1.1 Einleitung 9.6.1.2 Verletzung von Bestimmungen des Völkerrechts, die für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind 9.6.1.3 Verletzung internationaler Menschenrechtsgarantien (pa. Iv. 07.477) 9.6.1.4 Auflistung der (bedeutenden) völkerrechtlichen Bestimmungen oder Verträge (Postulat 08.3765) 9.6.1.5 Rechtliche oder politische Undurchführbarkeit 9.6.2 Vorprüfung der Gültigkeit von Volksinitiativen 9.6.2.1 Konsultative Kontrolle vor der Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative (Postulat 09.3118) 9.6.2.2 Konsultative Kontrolle nach dem Zustandekommen einer Volksinitiative 9.6.2.3 Obligatorischer Gegenentwurf zu ungültigen oder das Völkerrecht verletzenden Volksinitiativen 9.6.3 Zusammenfassung 10

Fazit

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Bericht 1

Einleitung

Mit dem vorliegenden Bericht erfüllt der Bundesrat das Postulat 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. Oktober 2007, das am 11. Dezember 2007 angenommen wurde, und das Postulat 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 20. November 2008, das am 11. März 2009 angenommen wurde.

Das Postulat der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates lautet wie folgt: «Der Bundesrat wird eingeladen, dem Parlament einen Bericht vorzulegen, in dem er: a. den Stellenwert des Völkerrechtes für die Schweiz und innerhalb unserer Rechtsordnung darlegt; b. sich zur Frage äussert, ob das monistische System durch das dualistische abgelöst werden soll und welches die Vor- und Nachteile eines solchen Wechsels wären; c. das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht aufzeigt und sich insbesondere über die Weiterführung und allfällige gesetzliche Verankerung der ausspricht; d. sich zur Frage äussert, ob Entscheide unterer Instanzen über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht in jedem Fall an das Bundesgericht weitergezogen werden können sollen, sodass eine einheitliche Rechtsprechung gewährleistet wäre.» Das Postulat der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates lautet: «Der Bundesrat wird beauftragt, in Ergänzung zum Postulat 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen SR, in einem Bericht aufzuzeigen: ­ wie dem Umstand Rechnung getragen werden kann, dass zunehmend Volksinitiativen zu Stande kommen und eingereicht werden, welche nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstossen, jedoch verfassungsmässige Grundrechte verletzen oder gegen internationales Recht verstossen und daher nicht oder nicht vollständig umgesetzt werden können; ­ wie sich die verfassungsrechtliche Ausweitung des Begriffes des auf bedeutende Bestimmungen der EMRK auf die Gültigerklärung von Volksinitiativen durch das Parlament auswirken würde.» Der vorliegende Bericht beantwortet ausserdem das im Nationalrat noch hängige Postulat 09.3676 der Schweizerischen Volkspartei vom 12. Juni 2009, das den Bundesrat beauftragt zu prüfen, ob die Schweiz einen Systemwechsel vom Monismus zum Dualismus vornehmen solle, und ergänzt die Antwort des Bundesrates zum vom Nationalrat noch nicht behandelten Postulat 09.3118
(Heim) vom 17. März 2009, das verlangt, dass Widersprüche mit dem Völkerrecht gut sichtbar auf der Front der Unterschriftenlisten ausgewiesen werden sollten.

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Die Postulate sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Völkerrecht im Zuge der Globalisierung quantitativ und qualitativ an Bedeutung gewonnen hat. Der Stellenwert des Völkerrechts in der Schweiz und die Beziehungen zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht sind deshalb Themen, die gegenwärtig in der Politik, den Medien und in der Rechtslehre häufig diskutiert werden. Zu den dabei hervorgehobenen Problemen gehören namentlich die Fragen, die sich aus der Annahme von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen ergeben, die Konflikte zwischen Verfassungsoder Gesetzesrecht und Völkerrecht sowie, auf allgemeinerer Ebene, die angeblichen Einschränkungen der Souveränität des Verfassungs- und des Gesetzgebers durch völkerrechtliche Normen und Entscheide internationaler Gerichte. Bei der Beurteilung dieser Probleme gehen indessen die Meinungen auseinander. Die Meinungen lassen sich grob in drei Haupttendenzen fassen.

Nach einer ersten Tendenz haben das Völkerrecht und die internationalen Gerichte einen zu grossen Einfluss auf unsere Rechtordnung. Genannt wird in diesem Zusammenhang die Einschränkung der Volksrechte durch das Völkerrecht, dessen mangelnde demokratische Legitimation sowie der wachsende Einfluss von Entscheiden internationaler Organe wie etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg, die gelegentlich nicht zögern, die Interessenabwägungen, die der nationale Gesetzgeber vorgenommen hat, wieder in Frage zu stellen. Dies gilt insbesondere für internationale Menschenrechtsgarantien, deren dynamische Auslegung zu Ergebnissen führen kann, mit denen beim Eingehen der staatsvertraglichen Verpflichtung nicht unbedingt gerechnet werden musste.

Nach einer zweiten Tendenz hingegen beachtet die Schweiz ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht ausreichend, insbesondere im Falle völkerrechtswidriger Volksinitiativen, welche nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstossen und deshalb nicht für ungültig erklärt werden können. Symptomatisch für diese Bedenken sind die Debatten, die bei der Umsetzung der Verwahrungsinitiative stattgefunden haben und die die Stellungnahme der Bundesversammlung zur Minarett-Initiative begleitet haben. Als weiteres Beispiel für diese Sorge sind die parlamentarische Initiative 07.477 (Vischer) zur Gültigkeit von Volksinitiativen sowie das eingangs erwähnte
Postulat 09.3118 (Heim) zu nennen.

Eine dritten Tendenz schliesslich geht von einer eher juristischen als politischen Sichtweise aus; sie ist der Ansicht, dass das geltende Recht keine klaren und befriedigenden Antworten auf eine Reihe von Fragen gibt, die sich im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht stellen. Die Postulate, die dem vorliegenden Bericht zugrunde liegen, mögen diese Sichtweise illustrieren, da sie den Schwerpunkt auf die internen Aspekte des Völkerrechts legen.

Nach Ansicht des Bundesrates sind jedenfalls die Bedenken, wie sie in den ersten beiden Tendenzen zum Ausdruck kommen, zu relativieren. Wie im zweiten Kapitel dieses Berichtes darzulegen sein wird, sollte der wachsende Einfluss des Völkerrechts auf das Landesrecht nicht als negatives Element wahrgenommen werden, selbst wenn im Gleichschritt damit der Spielraum des Gesetzgebers verkleinert wird.

Viele dringende Probleme ­ zum Beispiel die Umweltzerstörung, die Massenvernichtungswaffen, der Terrorismus und das organisierte Verbrechen, aber auch die Festlegung von Richtlinien für die Forschung ­ können nur noch länderübergreifend sinnvoll angegangen werden. Diese Interdependenz hat zu einer Intensivierung und Verrechtlichung der Beziehungen der Staaten geführt; die Schweiz hat aber grösstes Interesse daran, dass die internationalen Beziehungen vom Recht und nicht von der Macht bestimmt werden. Auch ist zu betonen, dass ein Staat grundsätzlich nur durch 2271

die völkerrechtlichen Normen gebunden ist, denen er zugestimmt hat. Und gerade in der Schweiz ist eine solche Zustimmung stets nach den von der Verfassung vorgegebenen Verfahren demokratisch legitimiert.

Die Schweiz kann im Übrigen als Staat bezeichnet werden, der seine völkerrechtlichen Verpflichtungen treu erfüllt. Die Behörden beachten in ihrer Praxis das Völkerrecht, wie es ihnen Artikel 5 Absatz 4 der Bundesverfassung (BV; SR 101) vorschreibt. Vor Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages versichern sich die Behörden beispielsweise, dass damit kein Widerspruch zum Landesrecht entsteht; gegebenenfalls wird dieses vorab oder gleichzeitig mit dem Vertragsschluss geändert. Deshalb wird die Schweiz selten von einem internationalen Gericht wegen der Verletzung völkerrechtlicher Pflichten verurteilt. Es trifft jedoch zu, dass die Annahme völkerrechtswidriger Volksinitiativen durch das Volk und die Stände diesbezüglich gewisse Probleme aufwirft. Diese werden gegen Ende dieses Berichts zu behandeln sein (Kap. 9.6). Zu betonen ist indessen, dass die Zahl der betroffenen Initiativen ­ selbst wenn sie tendenziell zu steigen scheint ­ insgesamt gering ist.

Des Weiteren gibt der geltende Verfassungstext nicht auf alle Fragen, die sich zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht stellen, klare Antworten. Diese Feststellung, die von der dritten der oben genannten Tendenzen betont wird, bildet die Grundlage des vorliegenden Berichts.

Dieser soll die von den eingangs erwähnten Postulaten aufgeworfenen Probleme analysieren und danach ermitteln, ob Handlungsbedarf besteht, sowie Massnahmen zur Behebung der allenfalls festgestellten Mängel vorschlagen. Hierzu ist zunächst eine allgemeine Auslegeordnung vorzunehmen. Der Bericht untersucht deshalb einleitend die Völkerrechtsnormen im Allgemeinen, ihre Bedeutung für die Schweiz und ihre demokratische Legitimation (Kap. 2­6). Ein rechtsvergleichendes Kapitel zeigt sodann auf, wie andere Staaten das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht regeln (Kap. 7). Danach stellt der Bericht die geltende Regelung des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz dar (Kap. 8), wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den Konflikt zwischen Völkerrecht und Verfassungsoder Gesetzesrecht und auf das Problem der völkerrechtswidrigen Volksinitiativen gelegt wird. Der
Bericht zeigt die offenen Fragen auf und untersucht mögliche Handlungsoptionen (Kap. 9), um abschliessend die von den Postulaten aufgeworfenen Fragen zu beantworten (Kap. 10).

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Die Bedeutung des Völkerrechts

Das klassische Völkerrecht bezeichnet die Gesamtheit der zwischen Staaten geltenden rechtsverbindlichen Regeln. Es sorgt dafür, dass Staaten reibungslos nebeneinander bestehen, friedlich zusammenleben und in verlässlicher und vorhersehbarer Weise zusammenarbeiten können. Zu den zentralen Aufgaben des Völkerrechts gehört es, die Grundlagen für Frieden und Stabilität zu schaffen.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind neben den Staaten zunehmend auch internationale Organisationen als Völkerrechtssubjekte auf den Plan getreten. Internationale Organisationen werden von den Staaten für einen bestimmten Zweck geschaffen und mit entsprechenden Aufgaben und Kompetenzen ausgestattet. Einerseits sind internationale Organisationen somit Gegenstand völkerrechtlicher Regeln, anderseits sind sie aber auch Geburtsstätten des Völkerrechts. Heute werden multila2272

terale Rechtsinstrumente fast ausschliesslich im Rahmen von internationalen Organisationen entwickelt und verhandelt.

Andere als zwischenstaatliche Organisationen, wie zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen, transnationale Unternehmen oder akademische Institutionen, sind in der Regel keine Völkerrechtssubjekte. Dasselbe gilt für Einzelpersonen. Trotzdem stehen seit Mitte des 20. Jahrhunderts der Schutz und die Verantwortung des Einzelnen zunehmend im Blickfeld des Völkerrechts. Besonders deutlich zeigt dies die Entwicklung in den Bereichen Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht oder Völkerstrafrecht. Hier werden Individuen zu Trägern und Adressaten von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten, die gegebenenfalls vor internationalen Gerichten oder gerichtsähnlichen Überwachungsmechanismen geltend gemacht und durchgesetzt werden können.

Völkerrecht stabilisiert also nicht mehr einfach nur das Gefüge der Staatenwelt, sondern stellt immer mehr den Schutz und das Wohl der einzelnen Menschen in den Vordergrund. Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis staatlicher Souveränität.

Statt bloss als (negatives) Abwehrrecht gegenüber ausländischer Einmischung zu wirken, erhält Souveränität auch einen positiven Gehalt: Die Souveränität eines Staates umfasst dessen primäre Verantwortung, für die Sicherheit und das Wohl seiner Bevölkerung und jedes einzelnen Menschen besorgt zu sein.

Mit der zunehmenden Globalisierung werden völkerrechtliche Beziehungen bedeutsamer, aber auch komplexer. Völkerrecht umfasst ganz unterschiedliche Bereiche: ­

Gewaltverbot: Staaten müssen ihre Differenzen mit friedlichen Mitteln lösen (vgl. Art. 2 Ziff. 4 der UNO-Charta).

­

Menschenrechte: Jeder Mensch kann grundlegende Rechte einfordern (Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Meinungs- und Gewissensfreiheit usw.). Die schweizerische Rechtsordnung wird insbesondere von der EMRK (SR 0.101) beeinflusst.

­

Schutz der Menschen bei bewaffneten Konflikten: Das humanitäre Völkerrecht stellt Regeln für den Kriegsfall und insbesondere zum Schutz von Zivilpersonen, Verwundeten und Kriegsgefangenen auf. Aufgrund ihrer humanitären Tradition und als Depositarstaat der Genfer Konventionen hat die Schweiz einen besonderen Bezug zum humanitären Völkerrecht.

­

Kampf gegen Terror und andere schwere Verbrechen: Er kann nur durch internationale Zusammenarbeit wirksam geführt werden, beispielsweise im Rahmen des internationalen Übereinkommens vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (SR 0.353.22).

­

Umwelt: Regeln zum Schutz des Klimas und zur Schonung der natürlichen Ressourcen sind umso wirksamer, je universeller sie sind. Zwei namhafte Beispiele sind der Beitritt der Schweiz zum Kyoto-Protokoll und ihre Teilnahme an der Europäischen Umweltagentur im Rahmen der Bilateralen Abkommen II mit der EU.

­

Handel: Die Schweizer Wirtschaft verdient jeden zweiten Franken im Ausland. Voraussetzung dafür ist eine funktionierende und stabile internationale Rechtsordnung. Auf multilateraler Ebene wird diese Voraussetzung durch die Welthandelsorganisation WTO oder im kleineren Rahmen durch die EFTA wahrgenommen. Daneben bestehen eine Vielzahl bilateraler

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Abkommen mit Handelspartnern in den Bereichen Freihandel, Investitionsschutz und Doppelbesteuerung.

­

Transportwesen und Personenverkehr: Es braucht internationale Verträge, damit Reisende heil am Zielort ankommen, sich dort aufhalten und allenfalls einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Zum Beispiel sind für die Schweiz unter anderem das Luft- und Landverkehrsabkommen sowie das Abkommen über die Freizügigkeit im Rahmen der Bilateralen Abkommen I mit der EU in Kraft getreten.

Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass die internationalen Beziehungen vom Recht und nicht von der Machtpolitik geprägt werden. Sie beteiligt sich aktiv an der Ausgestaltung, Entwicklung und effektiven Anwendung des Völkerrechts. Es gehört zum Zweck der Schweizerischen Eidgenossenschaft, sich für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung einzusetzen (vgl. Art. 2 Abs. 4 BV). Dieses Staatsziel wird von den einzelnen aussenpolitischen Zielen ergänzt, welche die Bundesverfassung in Artikel 54 aufführt: Einsatz für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt, namentlich Beitrag zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Ziele und die Bedürfnisse unserer exportorientierten Wirtschaft lassen sich hauptsächlich mit Hilfe des Völkerrechts verwirklichen. Sie erfordern ein funktionierendes internationales Rechtsgefüge mit anderen Staaten und internationalen Organisationen.

Auch sollten die Chancen nicht vergessen werden, die das Völkerrecht birgt. Es befähigt Staaten immer wieder, über die Grenzen der nationalen Rechtsordnung hinauszuwirken, eigene Interessen auf internationaler Ebene zum Tragen zu bringen und eigene Ideale in die Welt hinauszutragen. Die Schweiz etwa konnte mit dem humanitären Völkerrecht einen nachhaltigen Beitrag für eine bessere Welt leisten.

Die Schweiz hat somit alles Interesse daran, ihre internationalen Verpflichtungen einzuhalten, um darauf zählen zu können, dass auch ihrer Partner ihre Verpflichtungen erfüllen. Dies hat eine gewisse Einschränkung der Souveränität zur Folge, weshalb es wichtig ist, dass die internationalen Verpflichtungen demokratisch legitimiert sind.

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Die innerstaatliche Legitimation des Völkerrechts

Die wechselseitigen Beziehungen der Staaten werden rechtlich gestützt durch das Völkerrecht. Die zunehmende Intensivierung dieser Beziehungen hat zu einer Zunahme der völkerrechtlichen Normen geführt; das Völkerrecht ist wichtiger geworden, auch für die Schweizer Rechtsordnung. Seine Wirkung ist oft gleich bedeutend wie die des Schweizer Landesrechts. Deshalb sind auch die Anforderungen an die demokratische Legitimation des Völkerrechts gestiegen.

Die Bundesverfassung vom 18. April 1999 hat die aussenpolitische Stellung des Parlaments gestärkt. Artikel 166 BV verankert die aussenpolitischen Kompetenzen der Bundesversammlung ausdrücklich auf Verfassungsstufe. Er hält fest, dass die Bundesversammlung sich an der Gestaltung der Aussenpolitik beteiligen soll (Abs. 1). Sie soll die internationale Entwicklung verfolgen und bei der Willensbildung über wichtige aussenpolitische Grundsatzfragen und Entscheide mitwirken 2274

(Art. 24 Abs. 1 ParlG; SR 171.10). Damit ist die gesteigerte Verantwortung des Parlaments für die Führung der Aussenpolitik verdeutlicht worden, die es infolge der zunehmenden Verlagerung innenpolitischer Entscheide auf die aussenpolitische Ebene wahrnehmen muss.

Die Hauptverantwortung für die Aussenpolitik liegt jedoch weiterhin beim Bundesrat (Art. 184 BV). In Bezug auf das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht von besonderer Bedeutung sind dabei die völkerrechtlichen Verträge. Die übrigen Rechtsquellen (Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze) sind hier von untergeordneter Bedeutung. Auf die völkerrechtlichen Verträge soll deshalb näher eingegangen werden.

Die Aushandlung, Unterzeichnung und Ratifikation völkerrechtlicher Verträge liegt in der Kompetenz des Bundesrates (Art. 184 BV). Der Bundesrat konsultiert jedoch die für die Aussenpolitik zuständigen Kommissionen zu den Richt- und Leitlinien der Mandate für bedeutende internationale Verhandlungen. Er informiert sie auch über den Fortgang der Verhandlungen (Art. 152 Abs. 3 ParlG) und die von ihm, den Departementen, den Ämtern und Gruppen abgeschlossenen Verträge (Art. 48a Abs. 2 RVOG; SR 172.010). Zudem hat die Bundesversammlung das letzte Wort: Sie genehmigt die völkerrechtlichen Verträge; ausgenommen sind Verträge, zu deren Abschluss der Bundesrat per Gesetz oder völkerrechtlichen Vertrag zuständig ist (Art. 166 Abs. 2 BV; Art. 7a RVOG). Die Bundesversammlung kann bei ihrem Entscheid lediglich «ja» oder «nein» zu einem Vertrag sagen; sie kann den Text nicht ändern, was allerdings durch den Konsultationsmechanismus von Artikel 152 ParlG zum Teil ausgeglichen wird. Ausserdem wurde 2005 mit der Einführung von Artikel 7b RVOG und Artikel 152 Absatz 3bis ParlG der Einbezug des Parlaments bei der vorläufigen Anwendung völkerrechtlicher Verträge erweitert. Unter anderem kann der Bundesrat eine vorläufige Anwendung nur noch dann selbstständig beschliessen, wenn sie durch die Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz und eine besondere Dringlichkeit geboten ist; zuvor genügte das Vorliegen einer dieser Gründe (Art. 7b Abs. 1 RVOG). Ausserdem muss der Bundesrat die zuständigen Kommissionen vorgängig konsultieren. So ist der Einfluss der Bundesversammlung auf die Aussenpolitik im Allgemeinen sowie auf die Ausarbeitung neuer völkerrechtlicher
Abkommen im Besonderen grundsätzlich sichergestellt.

Dies gilt auch für den Einbezug von Volk und Ständen. Während in landesrechtlichen Angelegenheiten der Bund nur über die ihm übertragenen Kompetenzen verfügt (Art. 3 u. 42 BV), sind die auswärtigen Angelegenheiten generell Sache des Bundes (Art. 54 Abs. 1 BV). Diese von fast allen Bundesstaaten getroffene umfassende Kompetenzzuweisung an die Zentralgewalt ergibt sich aus der Notwendigkeit, gegen aussen als Einheit aufzutreten. Wegen der zunehmenden Verflechtung von Innen- und Aussenpolitik muss sich der Bund jedoch Zurückhaltung auferlegen, wenn er die Kompetenzen der Kantone berührt.

Die Bundesverfassung von 1999 und das Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (BGMK; SR 138.1) haben diese Entwicklung kodifiziert: Der Bund soll Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone nehmen und ihre Interessen wahren (Art. 54 Abs. 3 BV)1. Die Kantone wirken an den aussenpolitischen Entscheiden mit, die ihre

1

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 231.

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Zuständigkeiten oder wesentlichen Interessen betreffen (Art. 55 Abs. 1 BV, Art. 1 BGMK).

Die dazu bestehenden Partizipationsstrukturen haben sich grundsätzlich bewährt2.

Der Einbezug der Kantone in die aussenpolitische Meinungsbildung und insbesondere in Vertragsverhandlungen ermöglicht es ihnen, ihre Interessen geltend zu machen, aber auch, ihr Wissen einzubringen und damit die Verhandlungsposition der Schweiz zu stärken. Die Mitwirkung soll ausserdem dazu beitragen, die Aussenpolitik des Bundes innenpolitisch abzustützen (Art. 2 Bst. c BGMK). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass sich der Vollzug von Völkerrecht grundsätzlich nach der ordentlichen innerstaatlichen Kompetenzordnung richtet3. Völkerrechtliche Verträge, die Materien des kantonalen Rechts regeln, sind also von den Kantonen umzusetzen.

Das wichtigste Mittel, die Aussenpolitik innenpolitisch zu verankern, bleibt indes die direkte Beteiligung des Volks. Sie erlaubt es, die Aussenpolitik direkt demokratisch zu legitimieren. Dies ist im Zuge der Globalisierung unumgänglich, da aussenpolitische Entscheide und völkerrechtliche Verträge eine zunehmende Bedeutung auch für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger haben. Mit der Reform der Volksrechte von 2003 ist daher eine weitgehende Parallelität des Gesetzesreferendums und des Referendums über völkerrechtliche Verträge angestrebt und erreicht worden (Art. 141 Abs. 1 Bst. d Ziff. 3 BV)4. Alle völkerrechtlichen Verträge, die vom Gehalt her einem Bundesgesetz entsprechen oder mit einem solchen umgesetzt werden müssen, unterstehen nun wie dieses dem fakultativen Referendum.

Bisweilen greift das Volk über eine Volksinitiative auch gestalterisch in die Aussenpolitik ein. So ist die Schweiz heute der erste und einzige Staat, dessen Mitgliedschaft bei der UNO von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern gefordert wurde und durch einen Volksentscheid legitimiert ist (Art. 197 Ziff. 1 BV).

Völkerrechtliche Verträge, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und letztlich auch die Entscheide ihrer Organe sind also demokratisch legitimiert und respektieren die Grundsätze des Föderalismus.

Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für einen noch weitergehenden Einbezug des Parlaments und der Kantone besteht jedoch im oft hohen Tempo, in dem auf internationaler Ebene
Entscheide fallen, zu deren Vorbereitung zudem sehr viele Informationen verarbeitet werden müssen. Der Bundesrat als Organ mit der grössten Handlungsfähigkeit wird deshalb auch inskünftig aussenpolitisch das grösste Gewicht haben und die operationelle Hauptverantwortung wahrnehmen.

2

3 4

Vgl. für die Beziehungen mit der EU den Bericht des Bundesrates vom 15. Juni 2007 zu den Auswirkungen verschiedener europapolitischer Instrumente auf den Föderalismus in der Schweiz, BBl 2007 5907.

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 229­230.

S. dazu die am 6. Oktober 2005 angenommene Motion 04.3203, Staatspolitische Kommission des Nationalrates, Fakultatives Staatsvertragsreferendum. Parallelismus von staatsvertraglicher und innerstaatlicher Rechtsetzung.

2276

4

Die völkerrechtlichen Normen

4.1

Übersicht

Völkerrecht entsteht, anders als innerstaatliche Normen, in erster Linie durch gemeinsame Übereinkunft (völkerrechtliche Verträge), aber auch durch die übereinstimmende Praxis der Staaten (Völkergewohnheitsrecht), oder es ergibt sich aus den wesentlichen Prinzipien nationaler Rechtsordnungen (allgemeine Rechtsgrundsätze).

Die wesentlichen Rechtsquellen des Völkerrechts sind in Artikel 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Juni 1945 (IGH-Statut; SR 0.193.501) festgehalten: «1. Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach Völkerrecht zu entscheiden, wendet an: a. die internationalen Übereinkünfte, allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Parteien ausdrücklich anerkannte Normen aufgestellt worden sind; b. das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung; c. die allgemeinen, von den Kulturstaaten anerkannten Rechtsgrundsätze; d. unter Vorbehalt der Bestimmung des Artikels 59, die gerichtlichen Entscheide und die Lehren der anerkanntesten Autoren der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen.

2. Durch diese Bestimmung wird die Befugnis des Gerichtshofs, mit Zustimmung der Parteien ex aequo et bono zu entscheiden, nicht beeinträchtigt.» Im Folgenden werden die einzelnen Rechtsquellen näher erläutert und auch die Rechtsquelle der einseitigen Erklärung behandelt, die in Artikel 38 IGH-Statut nicht ausdrücklich aufgeführt ist.

In neuerer Zeit hat sich neben den genannten primären Rechtsquellen auch sekundäres Völkerrecht entwickelt: Manchmal ermächtigen die Gründerverträge internationaler Organisationen ihre Organe zu Beschlüssen, die für die Mitgliedstaaten bindend sind. Ein bekanntes Beispiel sind die Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates aufgrund der Artikel 41 und 42 des 7. Kapitels der Charta der Vereinten Nationen.

Schliesslich besteht eine dritte Kategorie von Bestimmungen ­ insbesondere Resolutionen der UNO-Generalversammlung ­, die sich durch eine relative bzw. «weiche» Verbindlichkeit auszeichnet und von der Lehre als «soft law» bezeichnet wird. Das Soft Law gehört nicht zu den Quellen des Völkerrechts. Dennoch wird in der Rechtsprechung oft auf Soft Law Bezug genommen, weil es die Entstehung von neuem bindendem Völkerrecht prägen kann5.

5

Vgl. Anne Peters, Völkerrecht ­ Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Basel 2008, S. 130 ff.; Walter Kälin, Völkerrecht ­ eine Einführung, 2. Aufl., Bern 2006, S. 215 ff.; Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 250 f. Der internationale Gerichtshof ist implizit und ohne die Bezeichnung «soft law» zu gebrauchen der Auffassung, dass Resolutionen der UNO-Generalversammlung nicht rein politischer Natur sind, sondern eine rechtliche Bedeutung haben können (vgl. I.C.J. Reports 1971, S. 4 und I.C.J. Reports 1996, S. 245).

2277

4.2

Völkerrechtliche Verträge

Die wichtigste Quelle des Völkerrechts sind die völkerrechtlichen Verträge. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist eine dem Völkerrecht unterstehende Willenseinigung zwischen zwei oder mehreren Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten (v.a.

zwischenstaatlichen internationalen Organisationen), in dem sich diese zu einem bestimmten Verhalten (Leisten, Unterlassen, Dulden) verpflichten. Staaten sind voll vertragsfähig, während die Vertragsfähigkeit internationaler Organisationen sich auf ihren Aufgabenbereich beschränkt. Privatpersonen können gar keine völkerrechtlichen Verträge schliessen. Die Willenseinigung erfolgt grundsätzlich schriftlich; mündliche Verträge sind äusserst selten.

Das Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (WVK; SR 0.111) enthält die wichtigsten allgemeinen Regeln über den Abschluss, die Anwendung, die Auslegung sowie die Auflösung völkerrechtlicher Verträge. Die meisten dieser Regeln stellen gleichzeitig Völkergewohnheitsrecht dar (vgl. dazu unten Kap. 4.3). Diese allgemeinen Regeln kommen insbesondere dann zur Anwendung, wenn die Vertragsparteien miteinander keine entgegenstehenden besonderen Verpflichtungen vereinbart haben.

Die meisten bilateralen Verträge regeln die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, wie zum Beispiel Handel, Einreise und Aufenthalt oder Verkehr. Multilaterale Verträge behandeln dagegen tendenziell Themen und Probleme, die entweder regional oder global übergreifenden Charakter haben, wie Menschenrechte, Umweltschutz oder Abrüstung. Oft werden multilaterale Verträge im Rahmen einer internationalen Organisation verabschiedet. Die Schweiz hat rund dreitausend bilaterale Verträge abgeschlossen, davon eine Mehrzahl mit ihren Nachbarstaaten oder mit der Europäischen Union. Sie ist Vertragspartei von gegen tausend multilateralen Abkommen. Dabei sind die Begriffe «Vertrag», «Übereinkommen», «Abkommen», «Protokoll», «Erklärung», «Charta», «Pakt», «Notenaustausch» oder «Briefwechsel» die meistverwendeten Bezeichnungen für völkerrechtliche Verträge. Manchmal werden aber auch andere Bezeichnungen verwendet, wie zum Beispiel «Memorandum of Understanding». Wie ein Dokument bezeichnet wird, spielt für dessen Vertragscharakter keine Rolle; entscheidend ist vielmehr der sich aus dem Text ergebende Wille der Vertragsparteien, sich rechtlich zu binden.
Völkerrechtliche Verträge können nur zu Stande kommen, wenn die Vertragspartner sich auf einen Inhalt einigen können und diesen als für sie verpflichtend anerkennen.

Verträge können daher nur Verpflichtungen begründen, denen die teilnehmenden Staaten zugestimmt haben. Die Zustimmung wird oftmals durch Unterzeichnung des Vertrags ausgedrückt, welche entweder bereits Rechtswirkungen entfalten oder unter dem Vorbehalt der nachträglichen Ratifikation erfolgen kann; diesfalls behält sich der betreffende Staat vor, die endgültige Bestätigung, durch den Vertrag gebunden sein zu wollen, erst nach Abschluss der Genehmigungsverfahren durch die zuständige nationale Behörde abzugeben (vgl. Kap. 3). Im Zeitraum zwischen der Unterzeichnung und der Ratifikation (z.B. durch Austausch oder Hinterlegung von Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden) dürfen sich die Vertragsparteien jedoch nicht in Widerspruch zum Sinn und Zweck des noch zu ratifizierenden Vertrages verhalten. Bei multilateralen Abkommen kann die Zustimmung auch durch den Beitritt zu einem bereits bestehenden Vertrag ausgedrückt werden.

2278

Die rechtliche Maxime «pacta sunt servanda» ist wohl der Kern des Völkervertragsrechts. Sie wird in Artikel 26 WVK ausdrücklich erwähnt: «Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen»6.

Diese Verhaltensmaxime darf grundsätzlich nur durchbrochen werden, wenn die Vertragsparteien den Vertrag ändern, suspendieren oder kündigen oder wenn zulässige Rechtfertigungsgründe für eine Nichterfüllung wie beispielsweise eine Notstandssituation oder höhere Gewalt vorliegen. Neben den zulässigen Rechtfertigungen einer Abweichung von völkerrechtlichen Verhaltenspflichten werden von den Vertragsstaaten in der Praxis nicht selten umstrittene Rechtfertigungen, insbesondere landesrechtliche Strukturen wie etwa ein föderaler Staatsaufbau oder innerstaatliche Bestimmungen vorgeschoben, um eine Nichtumsetzung zu begründen. Gemäss Artikel 27 VRK kann sich eine Vertragspartei jedoch nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen7. Tut sie dies doch, so liegt eine Völkerrechtsverletzung vor, die ihre völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründet (vgl.

Kap. 6.2). Um im Vorfeld der Vertragsanwendung eine spätere Nichterfüllung zu vermeiden, haben die Vertragsparteien die Möglichkeit, Vorbehalte zu formulieren, soweit dies durch den Vertragstext ausdrücklich erlaubt wird oder dem Sinn und Zweck des Vertrages nicht widerspricht (vgl. Art. 19­23 VRK). Nach der Ratifikation eines Staatsvertrages oder nach dem Beitritt zu einer internationalen Organisation können keine Vorbehalte mehr formuliert werden. Die Schweiz verfolgt bei der Formulierung von Vorbehalten eine eher restriktive Praxis und versucht, den Vertragstext möglichst als Ganzes zu übernehmen.

Wie bei allen Verträgen ist auch beim völkerrechtlichen Vertrag dessen Auslegung ein entscheidendes Element. Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge weist gegenüber der Auslegung des Landesrechts Besonderheiten auf (vgl. auch Art. 31­33 WVK). Diese gehen im Wesentlichen darauf zurück, dass es sich bei völkerrechtlichen Verträgen um freiwillig eingegangene gegenseitige Verpflichtungen gleichberechtigter Vertragsparteien handelt8. Vor oder bei Vertragsschluss kann eine Vertragspartei zudem eine sogenannte «auslegende Erklärung» dazu abgeben, wie sie einen
Artikel des Vertrages versteht bzw. auslegt. Die Auslegungskriterien richten sich im Übrigen nach dem Völkerrecht und nicht nach dem jeweiligen Landesrecht.

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut des Vertragstextes, der für die Ermittlung des effektiven gemeinsamen Verpflichtungswillens der Vertragsparteien am wichtigsten ist. Weitere Hilfsmittel zur Auslegung des Vertrags sind der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. Kap. 3.3.), der Sinn und Zweck des Vertrages (sog. «effet utile»), seine Systematik sowie die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien. Von untergeordneter Bedeutung ist die sogenannte historische Auslegungsmethode, die sich auf die zugänglichen Vorbereitungsmaterialien im Hinblick auf den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages abstützt. Dabei sind wiederum die Vorbereitungsmaterialien zwischen den Völkerrechtssubjekten 6

7

8

Gleichzeitig und untrennbar gegenüber allen Vertragsparteien werden Verträge erfüllt, deren Verletzung in einem konkreten Fall notwendigerweise alle Vertragsparteien gleichzeitig trifft. Sie gelten erga omnes partes und verankern oft Unterlassungspflichten, z.B.

im Vertrag von 5. August 1963 über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser (SR 0.515.01).

Vgl. hierzu auch die Hinweise auf die internationale Rechtsprechung in der gemeinsamen Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53.54, Kap. 4.

Vgl. auch Botschaft des Bundesrates vom 23. Oktober 1974 über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, BBl 1974 II 1133, S. 1149.

2279

gemeint und nicht die landesrechtlichen Materialien wie zum Beispiel die Botschaft des Bundesrates zur Genehmigung eines Staatsvertrages. In aller Regel sind es die Vertragsparteien selbst, welche einen Vertrag auslegen. Nur im Streitfall erfolgt die Auslegung, sofern die Parteien dies vereinbaren, durch eine gerichtliche oder schiedsgerichtliche Instanz.

4.3

Völkergewohnheitsrecht

Neben den Völkerrechtsverträgen stellt auch das Gewohnheitsrecht eine wichtige Grundlage für die Rechte und Pflichten der Staaten dar. Man spricht von Völkergewohnheitsrecht, wenn Staaten gewisse Handlungsweisen annehmen in der Überzeugung, einer rechtlichen Verpflichtung nachzukommen. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht setzt zwei Elemente voraus, die der internationale Gerichtshof (IGH) in ständiger Rechtsprechung9 getrennt voneinander beurteilt: eine regelmässige Wiederholung bestimmter Handlungsweisen seitens der Staaten («allgemeine Übung» als objektives Element) sowie die Überzeugung dieser Staaten, einer Rechtspflicht nachzukommen (sog. opinio iuris als subjektives Element). Zur Illustration von Gewohnheitsrecht können die Immunitäten von Staatsoberhäuptern, die Verantwortlichkeit von Staaten (vgl. auch Kap. 6.2.), die Festlegung des Festlandsockels oder das Interventionsverbot dienen. Es bestehen auch völkergewohnheitsrechtliche Grundlagen im Bereich der Aussenwirtschaft, wie zum Beispiel in Bezug auf die Errichtung eines Handelsembargos, die Sicherung des Güteraustausches oder den Schutz von Investitionen vor staatlichen Enteignungen mittels bestimmter Mindeststandards10.

Eine allgemeine Übung lässt sich durch eine Untersuchung und Zusammenstellung derjenigen staatlichen Akte, die dafür geeignet sind, und durch anderweitige empirische Studien nachweisen, beispielsweise im Rahmen internationaler Organisationen. Was die opinio iuris betrifft, so gestaltet sich der Nachweis des subjektiven Elements häufig schwieriger. In der Praxis wird daher die allgemeine Übung oftmals selbst als Nachweis für die Rechtsüberzeugung herangezogen11. Dies bedeutet, dass gleichzeitig mit der Auswertung einer allgemeinen Staatenpraxis und ihrer Umstände (Dauer, Einheitlichkeit und Verbreitung) auch Rückschlüsse und eine Bewertung im Hinblick auf die Rechtsüberzeugung möglich sind. Die allgemeine Staatenpraxis muss einen objektiven Beobachter nach dem Vertrauensprinzip (vgl.

auch Kap. 4.4) in der Erwartung bestärken, dass dieser in Zukunft seitens der Staaten mit einem gleichen, übungskonformen Verhalten rechnen darf12. Das Verhalten der Staaten muss somit einer Gesetzmässigkeit gleichkommen. Weitere Indizien für eine Rechtsüberzeugung einer gewohnheitsrechtlichen Regel sind breit abgestützte Bekenntnisse der Staaten beispielsweise im Rahmen einer internationalen Konferenz 9

10 11

12

Vgl. insbesondere die folgenden Urteile des IGH: North Sea Continental Shelf Cases (Bundesrepublik Deutschland gegen Dänemark bzw. Bundesrepublik Deutschland gegen die Niederlande), ICJ Reports 1969, S. 3, para. 77; Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua gegen USA), ICJ Reports 1986, S. 14, para. 207.

Vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 685 f.

Vgl. Peter Haggenmacher, La doctrine des deux éléments du droit coutumier dans la pratique de la Cour internationale, Revue générale de droit international public 1986, Bd. 90, S. 105­108.

Vgl. Jörg Paul Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, Köln 1971, S. 84 f.

2280

oder durch die Verabschiedung einer Resolution der UNO-Generalversammlung zu einem gewohnheitsrechtlichen Sachverhalt.

Eine Norm des Völkergewohnheitsrechts entfaltet ihre rechtliche Bindungswirkung grundsätzlich gegenüber jedem durch ihren Regelungsgehalt betroffenen Völkerrechtssubjekt13. Einzig wenn ein Staat sich kontinuierlich der Entstehung einer gewohnheitsrechtlichen Norm widersetzt, indem er durch ständige Proteste zu erkennen gibt, dass er eine eventuelle Bindungswirkung dieser Norm nicht anzuerkennen bereit ist (sog. «persistent objector»), bindet ihn das dennoch entstandene Gewohnheitsrecht nicht. Ein sich widersetzender Staat oder vereinzelt sich widersetzende Staaten können damit die Entstehung von Gewohnheitsrecht nicht verhindern, sich diesem aber entziehen. Nachdem Gewohnheitsrecht entstanden ist, ist es für einen Staat hingegen praktisch unmöglich, sich als sogenannten «subsequent objector» von dessen Bindungswirkung nachträglich zu befreien.

4.4

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Die dritte in Artikel 38 Absatz 1 Buchstabe c IGH-Statut erwähnte Völkerrechtsquelle sind «die allgemeinen, von den Kulturstaaten anerkannten Rechtsgrundsätze.» Darunter sind Rechtsgrundsätze zu verstehen, die in den grossen Rechtssystemen der Welt bekannt sind und dadurch universelle Geltung haben. Ursprünglich entstammen diese Grundsätze oft den nationalen Rechtsordnungen. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze kommen in der Regel zum Tragen, wenn zur Beurteilung eines strittigen Sachverhalts weder das Vertragsrecht noch das Gewohnheitsrecht weiterhelfen14. Es handelt sich damit um eine subsidiäre Völkerrechtsquelle. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören namentlich das Gebot von Treu und Glauben, das Verbot von Rechtsmissbrauch, der Grundsatz der höheren Gewalt, das Verbot der ungerechtfertigten Bereicherung oder das Gebot der Verhältnismässigkeit.

Die Billigkeit (ex aequo et bono) stellt einen besonderen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, was bereits durch seine ausdrückliche Nennung im Artikel 38 Absatz 2 IGH-Statut ersichtlich ist. Im Gegensatz zu den vorstehend aufgezählten allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann der IGH bei einer Entscheidung nach billigem Ermessen frei von normativer Bindung an Völkerrechtsquellen entscheiden. Die Anwendung der Billigkeit ausserhalb des Rechtsrahmens setzt die Zustimmung der Parteien voraus. Das Prinzip der Billigkeit als Einzelfallgerechtigkeit entstammt wiederum den nationalen Rechtsordnungen rund um den Globus und dient sowohl im Völkerrecht wie auch in den jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnungen in Ausnahmesituationen als Ergänzung zu den anderen Rechtsquellen.

4.5

Einseitige Rechtsakte

Einseitige Rechtsakte sind Willenserklärungen eines Staates, durch welche Rechtsfolgen im Rahmen des Völkerrechts ausgelöst werden. Wenngleich die rechtsgestaltende Wirkung einseitiger staatlicher Akte im Völkerrecht unbestritten ist, so fehlen 13 14

Völkergewohnheitsrecht entfaltet nicht nur universelle Rechtswirkungen, sondern kann ebenfalls auf regionaler Ebene oder bilateral zwischen zwei Staaten entstehen.

Vgl. Anne Peters, Völkerrecht ­ Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Basel 2008, S. 121 f.

2281

sie doch in der Aufzählung der Rechtsquellen in Artikel 38 Absatz 1 IGH-Statut.

Auch in der Lehre wurde bisher keine umfassende Bestimmung für die Vielfalt der einseitigen Rechtsakte entwickelt.

Einseitige Rechtsakte sind nicht mitwirkungsbedürftig, haben meist rechtsgeschäftlichen Charakter (oft in Zusammenhang mit einem Leistungsaustausch) und keine Rechtswirkung generell-abstrakter Natur. Die Rechtsverbindlichkeit einseitiger Rechtsakte ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben15. Die typischen Beispiele einseitiger Rechtsakte, die eine eigene Rechtsquelleneigenschaft besitzen, sind die Anerkennung, der Protest, der Verzicht und das Versprechen (z.B. die Garantien bei Auslieferungen im Rahmen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen).

4.6

Rechtsprechung und Lehre als Hilfsmittel

Der IGH wendet gemäss Artikel 38 Absatz 1 Buchstabe d seines Statuts gerichtliche Entscheide und die Lehrmeinung der anerkanntesten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung der relevanten Rechtsnormen an.

Rechtsprechung und Lehre sind also keine eigentlichen Rechtsquellen im Völkerrecht. Sie können jedoch für den Nachweis völkerrechtlicher Normen herangezogen werden.

Bei den gerichtlichen Entscheiden geniessen insbesondere die Urteile des IGH eine hohe Autorität. Seine Entscheidungen tragen wesentlich zur Feststellung und Fortbildung des Völkerrechts bei. Hat der IGH einen Entscheid gefällt, so kann sich die Staatenpraxis in einem gleich gelagerten Fall nur schwer über diesen hinwegsetzen, obwohl der Entscheid grundsätzlich nur Rechtswirkungen für die an dem Rechtsstreit beteiligten Parteien (inter partes) hat. Die Staaten selber orientieren sich in ihren Rechtsbeziehungen untereinander an den Leitentscheiden sowie an den Rechtsgutachten des IGH oder spezifischer internationaler Organe (z.B. am Entscheid eines WTO-Panels). Zu den richterlichen Entscheidungen zählen ebenfalls die Urteile internationaler Schiedsgerichte wie etwa des Ständigen Schiedshofs in Den Haag.

Die Bedeutung der internationalen Rechtsprechung hat zugenommen. Die Bedeutung der Völkerrechtslehre als Hilfsmittel zur Feststellung des Völkerrechts ist hingegen seit dem 19. Jahrhundert immer kleiner geworden. Eine praktische Bedeutung hat sie jedoch nach wie vor, namentlich wenn es um den Nachweis einer allgemeinen, weltumspannenden Rechtsüberzeugung oder um die Weiterentwicklung des Völkerrechts geht.

4.7

Die Hierarchie der völkerrechtlichen Normen

Im Unterschied zum innerstaatlichen Recht mit seiner klaren Normenhierarchie, die von der Verfassung, den Gesetzen und den Verordnungen gebildet wird, gibt es im Völkerrecht keine eigentliche Normenhierarchie. Das Völkerrecht kennt jedoch gewisse Grundsätze, die einen allfälligen Konflikt zwischen völkerrechtlichen 15

Vgl. insbesondere das Urteil des IGH betreffend Nuclear Test Case (Australien gegen Frankreich), I.C.J. Reports 1974, S. 253.

2282

Normen klären16. Ein wesentlicher Grundsatz gilt für die Normen, die Teil des ius cogens ­ des zwingenden Völkerrechts ­ sind: Ist eine nicht-zwingende Norm des Völkerrechts mit einer Bestimmung des zwingenden Völkerrechts nicht vereinbar, so ist sie nichtig. Diese automatische Rechtsfolge wird in Artikel 53 WVK ausdrücklich festgehalten. Das ius cogens ist eine materielle Schranke des Völkervertragsrechts.

Nach Artikel 53 WVK ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann. Es handelt sich dabei um Bestimmungen, die für die Staatengemeinschaft so fundamental sind, dass ein Verstoss gegen sie nicht hingenommen werden kann. Als Beispiele für ius cogens allgemein anerkannt sind das Folterverbot, das Verbot von Völkermord, das Gewaltverbot, wie es in der UNO-Charta geregelt ist, die Gleichheit der Staaten sowie gewisse Grundregeln des humanitären Völkerrechts.

Treten andere Konflikte zwischen Normen des Völkerrechts auf, werden diese nach den folgenden Grundsätzen gelöst:

16

­

Konflikt zwischen Vertrags- und Gewohnheitsrecht: Es gilt der Grundsatz, dass von den Regeln des Gewohnheitsrechts, die nicht zum ius cogens gehören, mittels völkerrechtlichen Vertrags abgewichen werden darf. Somit hat das Vertragsrecht in der Regel Vorrang vor nicht zwingenden Bestimmungen des Gewohnheitsrechts. Dies kann zudem oft auch aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz gefolgert werden, dass spezielleres Recht (in casu Vertragsrecht) dem generelleren Recht (in casu Gewohnheitsrecht) vorgeht bzw. dieses derogiert (lex specialis derogat legi generali). Der grundsätzliche Vorrang des Vertragsrechts schliesst aber weder aus, dass beide Rechtsquellen parallel zueinander gelten können, wobei in solchen Fällen kein Konflikt vorliegen dürfte, noch, dass das Völkergewohnheitsrecht vertragliche Bestimmungen verdrängen kann (vgl. auch Art. 38 WVK).

­

Verhältnis von Vertrags- und Gewohnheitsrecht zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen: Hierbei gilt der Grundsatz, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze subsidiär bzw. ergänzend zur Anwendung kommen, wenn völkerrechtliche Verträge und Völkergewohnheitsrecht bei einer Streitigkeit zwischen den Parteien nicht ausreichend weiterhelfen (vgl. Kap. 4.4). Somit kommt ein Konflikt zwischen den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den zwei anderen Rechtsquellen sehr selten vor.

­

Konflikt innerhalb des Vertragsrechts: In solchen Fällen vereinbaren die Vertragsparteien vielfach Kollisionsklauseln, die das Verhältnis dieser Verträge zueinander regeln. Die wohl bedeutendste Kollisionsklausel ist diejenige von Artikel 103 UNO-Charta: «Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die

Vgl. Walter Kälin, Völkerrecht ­ eine Einführung, 2. Aufl., Bern 2006, S. 14; Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 251 ff.

2283

Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang»17. Fehlt eine solche Kollisionsklausel, so kommen die Kollisionsregeln des allgemeinen Völkerrechts zum Tragen (vgl. Art. 30 und 59 WVK). Neben dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali gilt auch der Grundsatz, dass späteres Recht das frühere bricht (lex posterior derogat legi priori).

­

Konflikt innerhalb des Völkergewohnheitsrechts: Aufgrund der Eigenart der Entstehung von Gewohnheitsrecht (vgl. Kap. 4.3) ist eine Kollision nicht denkbar. Entsteht in einem bestimmten völkerrechtlichen Gebiet eine neue oder abgeänderte Norm des Gewohnheitsrechts, die im Widerspruch zu einer älteren steht, so erlischt die ältere, und es gilt allein die neue Norm.

Diese eher technischen Grundsätze zur Lösung von Konflikten zwischen den Normen des Völkerrechts sagen mit Ausnahme des ius cogens wenig über die Tragweite der betroffenen völkerrechtlichen Bestimmungen aus. Diese können grundsätzlich von unterschiedlicher Bedeutung sein, was wiederum auf die materielle Gewichtung und letztlich auf den Vorrang innerhalb des Völkerrechts Einfluss haben kann. Es ist somit durchaus denkbar, dass beispielsweise eine gewohnheitsrechtliche Bestimmung oder ausnahmsweise ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im Vergleich zu einer entgegenstehenden, zwischen Vertragsparteien vereinbarten Norm vorgeht, weil erstere von grösserer Tragweite sind bzw. im konkreten Fall mehr Nachachtung finden18.

5

Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Allgemeinen

5.1

Einleitung

Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht wird in allen Staaten von drei Elementen bestimmt. Das erste Element ist die Geltung des Völkerrechts: Erlangt es innerstaatlich unmittelbare Rechtskraft, oder muss es vom betreffenden Staat zuvor mit einem landesrechtlichen Erlass übernommen werden? Das zweite Element ist die Anwendbarkeit des Völkerrechts: Kann es von den rechtsanwendenden Behörden und Gerichten direkt angewendet werden, oder muss es zuvor vom Gesetzgeber konkretisiert werden? Das dritte und letzte Element ist der Rang des Völkerrechts: Geht es im Konfliktfall dem Landesrecht vor, oder tritt es vor ihm zurück?

Diese drei das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht bestimmenden Elemente sollen nachstehend genauer erläutert werden.

Vorab festzuhalten ist dabei, dass das Völkerecht selbst keine allgemeinen Vorgaben dazu macht, wie es innerstaatlich umgesetzt werden soll. Jeder Staat ist frei in der Art und Weise, wie er seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt. Verletzt ein

17

18

Vgl. BGE 133 II 450, Nada, S. 457. Der grundsätzliche Vorrang der UNO-Charta wurde hingegen am 3. September 2008 in einem Urteil des EuGH relativiert, insbesondere was die Umsetzung einer Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta im Verhältnis zum Europarecht betrifft: Vgl. Rechtssache C-402/05 P, Kadi gegen Rat und Kommission, Rn 280ff.

Vgl. BGE 126 II 324, S. 427 f. Überordnung der Menschenrechtsverträge im Verhältnis zu inhaltlich spezielleren Verträgen, z.B. der Vorrang der EMRK vor einem menschenrechtswidrigen bilateralen Vertrag; vgl. auch ZBJV, Band 138, Oktober 2002, S. 691 f.

2284

Staat Völkerrecht, macht er sich aber in jedem Falle völkerrechtlich verantwortlich (s. Kap. 6.2).

5.2

Geltung

Ob das Völkerrecht in der nationalen Rechtsordnung unmittelbare Geltung beanspruchen kann oder ob es durch einen vermittelnden landesrechtlichen Rechtsakt in das Landesrecht übernommen werden muss, ist eine rechtspolitische Wahl, die jeder Staat selber zu treffen hat. Den rechtstheoretischen Hintergrund liefern ihm dabei die Lehren vom Monismus und vom Dualismus.

Der Monismus geht auf die naturrechtliche Lehre einer einzigen, widerspruchsfreien Rechtsordnung zurück19. Nach dem monistischen Verständnis von einer einheitlichen Rechtsordnung erlangt das Völkerrecht automatisch innerstaatliche Geltung (sog. Adoption).

Der Dualismus wurzelt im nationalstaatlich geprägten 19. Jahrhundert: Nach den nationalen Einigungen erschien der Nationalstaat als höchste Macht, die gegen aussen niemandem Rechenschaft schuldete. Gemäss der dualistischen Auffassung entspringen Völkerrecht und Landesrecht verschiedenen Quellen. Ersteres entsteht in einem zwischenstaatlichen Prozess; Letzteres wird von der gesetzgebenden Gewalt jedes einzelnen Staates gesetzt. Völkerrecht und Landesrecht bilden so zwei verschiedene Rechtskreise, die sich höchstens berühren, niemals aber überschneiden20.

Staaten, die sich am Dualismus orientieren, handhaben diesen heute in einer gemässigten Form. Danach muss Völkerrecht durch einen konstitutiven innerstaatlichen Erlass ins Landesrecht übernommen werden, um innerstaatliche Geltung zu erlangen. Für völkerrechtliche Verträge ist der notwendige Erlass in der Regel ein der parlamentarischen Zustimmung unterstehendes Gesetz, das einen bestimmten Vertrag für innerstaatlich gültig erklärt. Ein solches Gesetz kann einen blossen Vollzugsbefehl darstellen, sodass die völkerrechtliche Natur der so übernommenen Normen nicht berührt wird und deren Änderungen unmittelbar auch landesrechtlich Geltung erlangen. Es kann aber auch einen Transformationsakt darstellen (sog.

spezielle Transformation). In diesem Fall wird der Vertrag in Landesrecht ­ in der Regel ein Gesetz ­ umgewandelt. Auf völkerrechtlicher Ebene eintretende Änderungen erlangen somit nicht automatisch landesrechtliche Geltung. Die spezielle Transformation eignet sich deshalb nicht für das in konstanter Entwicklung begriffene internationale Gewohnheitsrecht. Dieses wird in dualistischen Staaten darum oft durch eine Verfassungsbestimmung,
die ihm insgesamt landesrechtliche Geltung zuerkennt, ins Landesrecht übernommen (sogenannte allgemeine Transformation).

Eine gemässigte Form des Dualismus wird von Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Schweden und Indien praktiziert (s. Kap. 7).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Monismus konzeptionell völkerrechtsfreundlicher ist, da das Völkerrecht unmittelbar auch landesrechtliche Geltung erlangt. Der Dualismus betont demgegenüber die Souveränität des Staates; das Völkerrecht hat nur Zugang, wenn der Staat es mit einem Rechtsakt einlässt.

19 20

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl.1960 (Nachdruck Wien 1992), S. 329.

Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, S. 111.

2285

Die praktische Relevanz der Unterscheidung zwischen Monismus und Dualismus ist jedoch beschränkt. Auch dualistische Staaten sind an das Völkerrecht gebunden und müssen dieses respektieren, andernfalls sie sich völkerrechtlich verantwortlich machen. Daneben hat selbst in dualistischen Staaten das internationale Gewohnheitsrecht im Ergebnis oftmals unmittelbare Geltung, während auch in monistischen Staaten völkerrechtliche Verträge für den Einzelnen keine Pflichten begründen, wenn sie nicht nach den landesrechtlichen Vorschriften publiziert worden sind.

Entscheidend für die landesrechtliche Stellung des Völkerrechts ist neben seiner Geltung des Weiteren, wie die Behörden es anwenden und welchen Rang es in der innerstaatlichen Normenhierarchie einnimmt. Ob sie ihm innerstaatlich die direkte Anwendbarkeit grosszügig oder nur mit Zurückhaltung zugestehen, hängt nicht davon ab, ob ein Staat dualistisch oder monistisch ist. Gleiches gilt für die Frage, ob die Behörden dem Völkerrecht in jedem Falle oder nur bedingt den Vorrang vor dem Landesrecht einräumen. Ein Systemwechsel vom Monismus zum Dualismus hat deshalb nur begrenzte Auswirkungen auf die innerstaatliche Stellung des Völkerrechts. Diese Relativierung der Bedeutung der Wahl zwischen Monismus und Dualismus gilt insbesondere im EU-Kontext.

5.3

Anwendbarkeit

Bei der Frage der Anwendbarkeit des Völkerrechts geht es darum, ob sich eine völkerrechtliche Norm nur an den Staat richtet oder ob sie direkt für natürliche und juristische Personen Rechte und Pflichten begründet.

Als direkt anwendbar (justiziabel, «self-executing») gelten Normen, die genügend konkret und bestimmt sind, dass natürliche oder juristische Personen daraus direkt Rechte und Pflichten ableiten und vor Verwaltungs- und Gerichtsbehörden geltend machen oder einklagen können. Umgekehrt bedeutet dies, dass die rechtsanwendenden Behörden und die Gerichte solche Völkerrechtsnormen direkt umsetzen können.

Als nicht direkt anwendbar (nicht justiziabel, «non-self-executing» oder «non-selfexecutory)» gelten dagegen Normen programmatischer Natur oder Bestimmungen, welche sich an den Staat als Ganzes richten. Sie müssen vom innerstaatlichen Gesetzgeber ­ in der Regel vom Parlament ­ noch konkretisiert werden, bevor sie für Private Rechte und Pflichten begründen.

Direkt anwendbare Normen richten sich somit grundsätzlich an die Exekutive und die Judikative, nicht direkt anwendbare Normen dagegen an die Legislative. Wird in einem Staat die direkte Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen nur mit Zurückhaltung akzeptiert, so kann das Völkerrecht deshalb in grösserem Masse vom Gesetzgeber gesteuert werden. Er kann dessen Anwendbarkeit präzisieren oder sogar verhindern, wenn er keinen Umsetzungserlass verabschiedet, wie insbesondere das Beispiel der USA deutlich zeigt (s. Kap. 7.5.2). Im Gegenzug steigt mit dem Ermessensspielraum des Gesetzgebers auch das Risiko von Völkerrechtsverletzungen. Wird die direkte Anwendbarkeit dagegen grosszügig gehandhabt, gelangt das Völkerrecht direkt durch die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zur Anwendung.

Dies stärkt tendenziell die Stellung der Exekutive und der Judikative.

2286

5.4

Rang

Für die Durchsetzung des Völkerrechts in der landesrechtlichen Rechtsordnung ist es entscheidend, welchen Rang es gegenüber dem Landesrecht einnimmt. Damit sich das Völkerrecht innerstaatlich gegenüber dem Landesrecht durchsetzen kann, ist es im Konfliktfall in der Regel darauf angewiesen, dass die Staatsorgane ihm einen Vorrang vor dem Landesrecht einräumen, denn es kommt nur selten vor, dass internationale Instanzen und Verfahren dafür sorgen, dass das Völkerrecht innerstaatlich durchgesetzt wird. Die Verfahren zur Durchsetzung der EMRK oder des Europarechts stellen Ausnahmen dar.

Der Rang des Völkerrechts wird von den Theorien des Monismus und des Dualismus verschieden beurteilt. Nach dem Monismus mit Primat des Landesrechts ist ein Staat nur durch diejenigen völkerrechtlichen Bestimmungen gebunden, die er als für sich verbindlich anerkennt. Demgegenüber bildet gemäss der Lehre vom Monismus mit Primat des Völkerrechts das Völkerrecht den Geltungsgrund der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. Daher ist ein Konflikt zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht ausgeschlossen; dem Völkerrecht entgegenstehendes Landesrecht ist schlicht nichtig. In der Staatenpraxis hat sich ­ wie in der Schweiz (vgl. unten, Kap. 8.6) ein gemässigter Monismus durchgesetzt. Er geht vom Vorrang des Völkerrechts aus, anerkennt aber die Möglichkeit von Konflikten zwischen internationalen und nationalen Normen. Ein Staat kann demnach völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, die innerstaatlich dem Völkerrecht vorgehen. Allerdings verletzt er damit Völkerrecht, was seine internationale Verantwortlichkeit begründet, und er ist verpflichtet, einen völkerrechtsgemässen Zustand wiederherzustellen.

In Staaten, die von der dualistischen Theorie geprägt sind, bestimmt der Transformationsakt den Rang des Völkerrechts. So hat in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, in Schweden und in Indien ein Vertrag, der durch ein Zustimmungsgesetz ins Landesrecht übernommen wird, Gesetzesrang.

In der Staatenpraxis wird der Rang des Völkerrechts bisweilen von der Verfassung festgelegt. So geniessen nach Artikel 25 des deutschen Grundgesetzes die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, nach Artikel 55 der französischen Verfassung die völkerrechtlichen Verträge Vorrang vor den innerstaatlichen Gesetzen. Die Verfassungen anderer Staaten lassen
die Frage des Ranges offen, sodass die Entscheidungskompetenz im Konfliktfall letztlich bei den Gerichten liegt. Näheres zur Praxis der Schweiz findet sich in Kapitel 8.4.

Zwar kann ein Staat, wenn dies nach seinem innerstaatlichen Recht zulässig ist, völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, die innerstaatlich Geltung und Anwendung beanspruchen und dem Völkerrecht vorgehen. Die Verletzung von Völkerrecht begründet aber in jedem Fall die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Staats.

Bestimmungen der Verfassung oder eines Gesetzes oder ein Urteil des obersten innerstaatlichen Gerichts vermögen Völkerrechtsverletzungen nie zu rechtfertigen (Art. 27 WVK). Wenn auf internationaler Ebene ein Streit über den Vorrang ausbricht, setzt sich also die völkerrechtliche Norm durch.

2287

6

Die Folgen der Verletzung von Völkerrecht

6.1

Überprüfung der Völkerrechtskonformität

Eine Vertrags- bzw. Rechtsverletzung wird im Völkerrecht gleich wie im Landesrecht definiert: Eine Partei hält sich nicht an eine ihr obliegende Pflicht. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch bei den Verfahren, die zur Feststellung einer Verletzung des anwendbaren Rechts und damit einer Verantwortlichkeit eines Staates sowie zur Festlegung allfälliger Folgen führen.

Staaten und internationale Organisationen stehen regelmässig in Kontakt zueinander, um die reibungslose Anwendung völkerrechtlicher Normen zu überprüfen und präventiv einer Verletzung von Völkerrecht entgegenzuwirken. Dies kann im Rahmen von multilateralen oder bilateralen Treffen oder innerhalb vorgesehener gemeinsamer Strukturen, wie beispielsweise den gemischten Ausschüssen im Rahmen der Vertragsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU, erfolgen. Gewisse, meist aus multilateralen Verträgen fliessende Pflichten werden auch in einem formellen Mechanismus regelmässig beurteilt und überprüft, so etwa im Rahmen von Berichterstattungen an internationale Gremien, namentlich in den Bereichen Menschenrechte (UNO) und wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). In der Regel führen solche Verfahren dazu, dass Völkerrechtsverletzungen gar nicht erst entstehen oder dass einvernehmliche Lösungen gefunden werden; in gewissen Fällen können sie jedoch auch in die Feststellung einer Völkerrechtswidrigkeit münden.

Bestehen in Bezug auf die richtige Anwendung völkerrechtlicher Normen unterschiedliche Ansichten, die trotz der vorgenannten Mechanismen bestehen bleiben, so haben sich in der internationalen Praxis verschiedene Mittel der Streitbeilegung herausgebildet. Dabei sind zunächst diplomatische Verfahren wie die Konsultation, die Verhandlung, die Untersuchung, die Vermittlung (einschliesslich «Guter Dienste») und der Vergleich zu nennen. Diplomatische Verfahren der Streitbeilegung sind einigungsförderlich, wobei ihr Ergebnis nicht voraussehbar ist. Ihre Eigenart besteht darin, dass die Streitparteien die Kontrolle über den Konflikt behalten und deshalb vorgeschlagene Lösungen akzeptieren oder verwerfen können.

Demgegenüber verlangen die streitabschliessenden rechtlichen Entscheidungsverfahren, die in einen Schiedsspruch oder ein Urteil eines internationalen Gerichts münden, dass die Parteien bereit sind, das Ergebnis der streitentscheidenden
Instanz von vorneherein als bindend zu akzeptieren. Einen Numerus clausus der Streitbeilegungsmittel gibt es nicht. Die Parteien können auch andere als die eben erwähnten Mittel einsetzen bzw. diese kombinieren oder modifizieren. Einen rechtlichen Vorrang eines bestimmten Mittels kennt das Völkerrecht nicht.

6.2

Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit und ihre konkreten Folgen

Verletzt ein Staat oder ein anderes Völkerrechtssubjekt wie zum Beispiel eine zwischenstaatliche internationale Organisationen das Völkerrecht, so begründet dies

2288

seine Verantwortlichkeit21. Dies ist in der Staatenpraxis, in der internationalen Rechtsprechung und in der Lehre unbestritten.

Ein umfassender völkerrechtlicher Vertrag, der diese Verantwortlichkeit regelt, wurde bis anhin noch nicht verabschiedet. Allerdings bestehen völkergewohnheitsrechtliche Regeln, die in den Entwurf eines Abkommens über die Staatenverantwortlichkeit für unzulässige Handlungen eingeflossen sind, die sogenannten «Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts» der UNO-Völkerrechtskommission (International Law Commission; ILC). Dieser Entwurf wurde im Juli 2001 zuhanden der UNO-Generalversammlung verabschiedet (Resolution 56/83).

Neben der Kodifikation gewohnheitsrechtlicher Bestimmungen versuchte die ILC gleichzeitig, bis dahin offen gebliebene Fragen im Bereich der Staatenverantwortlichkeit zu klären und zu lösen22. Auch wenn diese Artikel in der Praxis von Staaten und Gerichten bereits grosse Bedeutung erlangt haben, warten sie weiterhin auf ihre Verabschiedung im Rahmen eines rechtsverbindlichen völkerrechtlichen Abkommens durch die Mitgliedstaaten der UNO.

Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit setzt zwei Elemente voraus: Erstens ein dem Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt zurechenbares Verhalten, das zweitens eine Völkerrechtsverletzung darstellt.

Liegen diese zwei Elemente vor und besteht damit eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit, so ergeben sich völkerrechtlich die folgenden Verpflichtungen: ­

Primär hat der verantwortliche Staat den völkerrechtskonformen Zustand wiederherzustellen respektive sein völkerrechtswidriges Verhalten einzustellen. Diese Pflicht ergibt sich bereits aus der verletzten Völkerrechtsnorm, die in der Regel weiter besteht. Es ist jedoch auch denkbar, dass eine völkerrechtswidrig handelnde Vertragspartei (z.B. aus Gründen der internen Gesetzgebung oder anderweitiger völkerrechtlicher Verpflichtungen) den Staatsvertrag suspendiert oder kündigt, um ihre völkerrechtliche Obliegenheit nicht länger einhalten zu müssen. Sie kann sich dadurch jedoch nicht ihrer Verantwortlichkeit für die während der Gültigkeit des Vertrages erfolgte Verletzung entziehen.

­

Ist eine Wiederherstellung des völkerrechtskonformen Zustandes nicht oder nicht vollumfänglich möglich, so ist Schadenersatz zu leisten.

­

Bei wertmässig nicht erfassbaren Völkerrechtsverletzungen tritt die Genugtuung an die Stelle des Schadenersatzes. Eine Genugtuung kann auch zusätzlich zu einem Schadenersatz fällig werden.

Falls der verantwortliche Staat diesen Pflichten nicht nachkommt, stehen dem verletzten Staat eine Reihe von Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung: ­

21

22

Die diplomatische Intervention auf bilateraler oder multilateraler Ebene, um den Druck auf den verantwortlichen Staat zu erhöhen, damit dieser seinen Wiedergutmachungspflichten nachkommt.

Die Verletzung von ius cogens kennt grundsätzlich keine spezifischen Folgen, ausser im Rahmen der bereits in Kap. 3.6. behandelten Nichtigkeit im Falle eines Normenkonflikts.

Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit und die daraus resultierenden Folgen gestalten sich analog zu denjenigen des Völkergewohnheitsrechts.

Vgl. hierzu den offiziellen Kommentar im Yearbook of the International Law Commission, 2001, Bd. II, S. 20 ff.

2289

­

Die Suspendierung des Staatsvertrags, falls dies im Vertrag vorgesehen ist oder mit Zustimmung aller Parteien erfolgt (vgl. Art. 57 und 58 WVK). Ein völkerrechtlicher Vertrag kann auch einseitig ganz oder teilweise suspendiert werden, wenn ein erheblicher Vertragsbruch vorliegt (vgl. Art. 60 WVK).

­

Die einvernehmliche Beendigung beziehungsweise einseitige Kündigung des Staatsvertrags (vgl. Art. 54, 56 WVK) oder gar die einseitige Beendigung ohne Einhaltung der Kündigungsfrist, was allerdings nur als Reaktion auf einen wesentlichen Vertragsbruch möglich ist (vgl. Art. 60 WVK).

Führen diese Reaktionen nicht zur Wiederherstellung des völkerrechtskonformen Zustands, so bleiben lediglich Zwangsmassnahmen übrig, um die völkerrechtswidrig handelnde Partei zu zwingen, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.

Möglich sind zum einen Retorsionen, das heisst «unfreundliche» Selbsthilfemassnahmen, die einen betroffenen Staat schädigen können, ihn jedoch nicht unmittelbar in seinen Rechten verletzten. Typische Beispiele sind der Abbruch diplomatischer Beziehungen, die Nichtgewährung einer erbetenen Entwicklungshilfe oder eines gewünschten Kredits sowie Handels- und Investitionsbeschränkungen im Rahmen des anwendbaren internationalen Aussenwirtschaftsrechts. Zum anderen sind Repressalien denkbar, das heisst Gegenmassnahmen, die an sich Völkerrecht verletzen, aber ausnahmsweise als Reaktion auf eine vorgängige Völkerrechtsverletzung zulässig sind. Solche Gegenmassnahmen dürfen sich ausschliesslich gegen den ursprünglich nicht völkerrechtskonform handelnden Staat richten, müssen verhältnismässig sein und das Gewaltverbot der UNO-Charta sowie das zwingende Völkerrecht respektieren. Erlaubt sind in diesem Rahmen insbesondere politische und wirtschaftliche Sanktionen.

Die Ergreifung solcher Zwangsmassnahmen kommt im Vergleich zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sehr restriktiv und nur bei erheblichen Verstössen gegen völkerrechtliche Pflichten zum Zuge.

Eine besondere Regelung sieht die EMRK vor: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann in seinen Urteilen eine Verletzung der EMRK im Einzelfall feststellen. Die Vertragsstaaten der EMRK sind verpflichtet, die Urteile des Gerichtshofs zu befolgen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Der Vollzug der Urteile ­ im konkreten Fall wie auch hinsichtlich allfälliger zu treffender Massnahmen genereller Natur ­ wird vom Ministerkomitee des Europarats überwacht (Art. 46 Abs. 2 EMRK).

7

Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in ausgewählten Staaten

7.1

Einführung

Die Frage des Ineinandergreifens der staatsrechtlichen und der völkerrechtlichen Rechtsordnung hat in allen Staaten einen zentralen Stellenwert erlangt. Nachfolgend finden sich in geraffter Form die Ergebnisse eines rechtsvergleichenden Gutachtens, das das Bundesamt für Justiz bei Prof. Daniel Thürer (Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich) hierzu in Auftrag gegeben hat.

2290

Untersucht wurde die Praxis von föderalistisch und von zentralistisch ausgerichteten Staaten, die je vom Monismus bzw. Dualismus geprägt sind. Berücksichtigt wurden Nachbarstaaten der Schweiz (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich), solche des angelsächsischen Rechtskreises (Vereinigtes Königreich, USA, Indien) sowie ein skandinavisches Land (Schweden).

Wohl die wenigsten Staaten lassen sich klar einem reinen Monismus oder einem reinen Dualismus zuordnen. Es sind auch Zwischenformen etwa in der Gestalt möglich, dass dem Parlament in einem an sich monistischen Staat die Befugnis gegeben wird, gewisse Verträge oder Teile von Verträgen des Völkerrechts als nicht direkt anwendbar («non-self-executing») zu erklären.

7.2

Deutschland

Die Verfassungsordnung Deutschlands kann als «völkerrechtsoffen» bezeichnet werden. Damit sind die aussenpolitische Grundorientierung sowie die Integrationsorientierung angesprochen, die in verschiedenen Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) zum Ausdruck kommen23.

7.2.1

Geltung

Völkerrechtliche Verträge bedürfen der Zustimmung oder Mitwirkung der Legislative, sofern sie die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen (Art. 59 Abs. 2 GG). Im Gegensatz dazu sind der Abschluss und die Durchführung von Verwaltungsabkommen alleinige Sache der Exekutive. Die Zustimmung und innerstaatliche Umsetzung erfolgen über den Erlass eines Vertragsgesetzes nach den Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 ff. GG). Dieser Akt wird teils transformatorisch, sprich rechtsumwandelnd, teils als bloss vollziehender «Rechtsanwendungsbefehl» (Bundesverfassungsgericht) verstanden. Auch die EMRK und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erhielten durch ein entsprechendes Vertragsgesetz innerstaatliche Geltung.

Für allgemeine Rechtsgrundsätze und Völkergewohnheitsrecht, das von der überwiegenden Mehrheit der Staaten als solches anerkannt wird («allgemeine Regeln des Völkerrechts»), statuiert Artikel 25 GG deren direkte innerstaatliche Geltung als Teil des Bundesrechts.

7.2.2

Anwendbarkeit

Die Frage der direkten Anwendbarkeit von völkerrechtlichen Verträgen lässt sich grundsätzlich nur durch Auslegung der Vertragsbestimmung aus Sicht des mit der Rechtsanwendung jeweils befassten Staatsorgans entscheiden. Hierbei ist zu beurtei23

Insb. Art. 25 GG (innerstaatliche Geltung des allgemeinen Völkerrechts) u. Art. 24 Abs. 2 GG (Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit). Vgl. auch Art. 26 Abs. 1, 1 Abs. 2, 9 Abs. 2 (internationaler Frieden, Menschenrechte und Völkerverständigung) sowie Art. 23 und 24 Abs. 1 GG (Mitgliedschaft in der EU).

2291

len, ob diese «nach Inhalt, Zweck und Fassung» der Konkretisierung mittels weiterer völker- und staatsrechtlicher Akte bedarf oder ob sie bereits hinreichend bestimmt ist. Dasselbe gilt für Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze.

7.2.3

Rang

Der Rang eines innerstaatlich umgesetzten völkerrechtlichen Vertrages richtet sich nach dem Transformations- bzw. Vollzugsakt, sprich dem entsprechenden Vertragsgesetz als einfachem Bundesgesetz. Für die Klärung des Verhältnisses zu anderen gleichrangigen Erlassen gelten die allgemeinen Auslegungsregeln sowie insbesondere der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung. So hat auch die EMRK grundsätzlich keinen Vorrang gegenüber den Bundesgesetzen. Jedoch ist das Bundesverfassungsgericht auch hier bestrebt, grösstmögliche Konkordanz zwischen diesen verschiedenen Normbereichen herzustellen.

Das Europarecht geniesst nach wohl einhelliger Meinung Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichen Rechtsetzungsakten. Eine Einschränkung dieses Grundsatzes hat das Bundesverfassungsgericht lediglich für den Fall vorgesehen, dass eine europarechtliche Vorschrift «die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde»24.

Artikel 25 GG bestimmt explizit, dass den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ­ das heisst den allgemeine Rechtsgrundsätzen und dem Völkergewohnheitsrecht ­ eine Vorrangstellung gegenüber dem deutschen Gesetzesrecht zukommt. Rechtsprechung und Lehre interpretieren diese Vorschrift überwiegend dahingehend, dass die allgemeinen Regeln rangmässig zwischen Gesetzes- und Verfassungsrecht einzuordnen sind. Selbst für das ius cogens wird dies zum Teil angenommen.

7.2.4

Gerichtliche Überprüfung

Völkerrecht, das innerstaatliche Geltung erlangt hat und direkt anwendbar ist, muss von allen deutschen Gerichten angewendet werden. In Bezug auf das Völkervertragsrecht kennt Deutschland ein diffuses System, wonach alle Fachgerichte zur selbstständigen Klärung seines Inhalts berechtigt sind. Für die allgemeinen Regeln des Völkerrechts besteht hingegen eine Vorlagepflicht von Fachgerichten gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, wenn Zweifel an deren Geltung oder Anwendbarkeit bestehen (Art. 100 Abs. 2 GG). Die innerstaatliche Beachtung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts wird ferner durch die Verfassungsbeschwerde sichergestellt (Art. 93 Abs. 1 GG). Sie steht jedem offen, der sich durch eine Norm, die gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts verstösst, in seinen Grundrechten verletzt sieht.

7.3

Frankreich

Die Staatsrechtslehre Frankreichs geht weitgehend von einem sogenannten Monismus mit Primat des Völkerrechts aus. Die Interpretation derjenigen Normen der 24

BVerfGE 37, 271, 277, «Solange I»; 73, 375, «Solange II».

2292

französischen Verfassung, welche das Völkerrecht betreffen, ist jedoch nicht unumstritten.

7.3.1

Geltung

Gemäss der monistischen Adoptionstheorie erlangen die völkerrechtlichen Verträge direkte innerstaatliche Geltung. Dies lässt sich klar Artikel 55 der französischen Verfassung entnehmen.

Was die innerstaatliche Geltung des Völkergewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze angeht, wird gemeinhin angenommen, dass diese Regeln ebenfalls direkte innerstaatliche Geltung erlangen.

7.3.2

Anwendbarkeit

Eine Person kann sich vor Gericht und in verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten nur dann unmittelbar auf völkerrechtliche Verträge berufen, wenn diese Rechte oder Pflichten gegenüber Einzelnen begründen und wenn sie eine genügende Bestimmtheit aufweisen, also keiner weiteren Präzisierung durch innerstaatliche Erlasse bedürfen. Aus Gründen der Rechtssicherheit müssen derartige die Rechte und Pflichten des Einzelnen berührende Verträge wie innerstaatliche Akte publiziert werden. Bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen ist eine Norm des Völkervertragsrechts direkt anwendbar.

Für das internationale Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze ergibt sich aus Artikel 14 der Präambel der Verfassung von 1946, dass diese direkt anwendbar sind, wenn die entsprechenden Bestimmungen genügend bestimmt sind.

7.3.3

Rang

Die Verfassung enthält keine Bestimmung über ihr Verhältnis zum Völkervertragsrecht und über den Rang, welchen dieses einnimmt. Während der Conseil constitutionnel und der Conseil d'Etat die Auffassung vertreten, dass der Verfassung der Vorrang gegenüber den völkerrechtlichen Abkommen gebührt, ist sich die Lehre uneinig. Ausser dem Conseil constitutionnel dürfen die übrigen Gerichte die Verfassungsmässigkeit der Verträge nicht überprüfen, was in der Praxis einem Vorrang der Verträge vor der Verfassung gleichkommt. Artikel 55 der Verfassung räumt den Verträgen einen eindeutigen Vorrang vor den nationalen Gesetzen ein. Die Verwirklichung dieses Vorranges fällt vollumfänglich in die Zuständigkeit der Zivil-, Strafund Verwaltungsgerichte.

Der Rang von Völkergewohnheitsrecht und Rechtsgrundsätzen innerhalb der französischen Rechtsordnung ist umstritten. Die neuere Lehre ist sich nur darin überwiegend einig, dass ihnen Vorrang vor Gesetzen zukommt, nicht aber vor der Verfassung. Auffallend ist das breite Spektrum der Ansichten, die in der Lehre vertreten werden. Aus der Gerichtspraxis ergibt sich ebenfalls kein eindeutiges Bild über den landesinternen Rang von Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen.

2293

7.3.4

Gerichtliche Überprüfung

Die Verfassungsmässigkeit der Verträge kann wie erwähnt vom Conseil constitutionnel präventiv überprüft werden, während die Verwirklichung des in Artikel 55 BV festgehaltenen Vorrangs der völkerrechtlichen Verträge vor den Gesetzen vollumfänglich in die Zuständigkeit der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte fällt.

In Bezug auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts vertritt die Lehre die Ansicht, der Conseil constitutionnel könne ein Gesetz, welches gegen diese Regeln verstösst, für verfassungswidrig erklären; ein derartiger Fall hat sich bisher jedoch noch nie ereignet. Den anderen Gerichten steht diese Möglichkeit nicht zu: Sie müssen ein Gesetz in diesem Fall anwenden, können dessen Auslegung jedoch nach geltendem Völkergewohnheitsrecht und nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen richten.

7.4

Vereinigtes Königreich

Das Vereinigte Königreich kennt keine geschriebene Verfassung. Eine Reihe historischer Dokumente, Verträge und Parlamentsgesetze konstituieren materiell die Verfassung. Diese Summe von Regeln manifestiert sich aber nicht in einer niedergelegten Verfassungsurkunde. Die wichtigsten Quellen des englischen Verfassungsrechts bilden die Gesetzgebung («statutes»; insb. Parlamentsgesetze) und die höchstrichterlichen Präjudizien («case law»). «Case Law» kann beruhen auf «Common Law» (von den Gerichten seit jeher anerkannte Gesetze und Gebräuche) oder der Auslegung von «Statute Law», das heisst Interpretation der Gesetzgebung. Die Regeln des «Common Law» können vom Parlament modifiziert werden. Das beherrschende verfassungsrechtliche Prinzip ist die Doktrin der Souveränität des Parlamentes. Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht wird in allen Aspekten von diesem Schlüsselprinzip beeinflusst. Eingeschränkt wird dieses Prinzip nur im Rahmen der Mitgliedschaft bei der Europäischen Union.

7.4.1

Geltung

Zur Erlangung landesrechtlicher Geltung bedürfen die völkerrechtlichen Verträge im Vereinigten Königreich in der Regel einer Transformation durch einen innerstaatlichen Akt. Diese Praxis will verhindern, dass die Exekutive (die Krone) sich Kompetenzen der Legislative aneignet. Die britische Praxis ist eine direkte Folge der Doktrin der Souveränität des Parlaments.

Völkergewohnheitsrecht, welches universelle Geltung beansprucht oder der innerstaatlichen Rechtsüberzeugung entspricht, erlangt als «Law of the Land» bzw. Teil des «Common Law» automatisch landesrechtliche Geltung. Gleiches gilt für die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Die diesbezügliche Praxis der Gerichte wird heute als Ausdruck eines Bekenntnisses zugunsten der monistischen Adoptionstheorie verstanden.

2294

7.4.2

Anwendbarkeit

Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge durch die Gerichte setzt einen Transformationsakt voraus. Ausnahme ist das Europarecht: Es wurde durch einen Parlamentsakt als unmittelbar geltend und damit auch als direkt anwendbar erklärt, das heisst Gerichte können das Europarecht direkt anwenden und auslegen. Einen indirekten Einfluss kann man nicht transformierten völkerrechtlichen Verträgen, wie insbesondere der EMRK bis zum Erlass des Human Rights Acts im Jahre 1998, jedoch nicht absprechen: Als Auslegungsinstrument können sie einen immensen Einfluss auf die Rechtsprechung ausüben. Der grosse Einfluss der EMRK auf die britische Rechtspraxis zeigt, dass im Ergebnis die Wahl eines monistischen oder eines dualistischen Systems keine grossen Auswirkungen auf die Durchsetzungskraft des Völkerrechts hat.

In Bezug auf das Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze unterscheidet das Vereinigte Königreich nicht zwischen der Geltung und der Anwendbarkeit. Entsprechen gewohnheitsrechtliche Normen der englischen Rechtsüberzeugung, so geniessen sie landesrechtliche Geltung und werden als «law of the land» angewendet, also wie Landesrecht.

7.4.3

Rang

Völkerrechtliche Verträge müssen wie erwähnt durch einen parlamentarischen Akt transformiert werden, um landesrechtliche Geltung zu erlangen. Wird das Völkerrecht durch «Statute Law» transformiert, teilt es den Rang des sonstigen «Statute Law». Ausnahme bildet hierbei wiederum das Europarecht: Das unmittelbar geltende Europarecht hat «Statute»-Vorrang gegenüber bestehender wie zukünftiger Gesetzgebung, falls sich dieses als gemeinschaftswidrig erweist. Völkergewohnheitsrecht, welches universelle Geltung beansprucht oder der innerstaatlichen Rechtsüberzeugung entspricht, ist automatisch als «Law of the Land» Teil des «Common Law» und geht als solches dem «Statute Law» nach. Gleiches gilt für die allgemeinen Rechtsgrundsätze.

7.4.4

Gerichtliche Überprüfung

Die Gerichte ­ gleich welcher Stufe ­ können im Vereinigten Königreich «Statutes» nicht auf Übereinstimmung mit Völkerrecht überprüfen. Eine Ausnahme bildet das Europarecht: Die Gerichte können den Vorrang des unmittelbar geltenden Europarechts vor dem Landesrecht durchsetzen. Auch wenden sie das internationale Gewohnheitsrecht an, und sie legen «Statutes» völkerrechtskonform aus, womit sie zur Durchsetzung und Weiterentwicklung des Völkerrechts beitragen.

7.5

Vereinigte Staaten von Amerika

Während sie bei der Gründung noch sehr völkerrechtsfreundlich gesinnt waren, haben sich die Vereinigten Staaten im Laufe ihrer Geschichte zur dezidierten Völkerrechtsskeptikerin gewandelt. So sind die Gerichte und die Exekutivbehörden der 2295

Gliedstaaten und des Bundes keineswegs um die möglichst effektive Umsetzung des Völkerrechts bemüht; ihm wurde wiederholt unter Hinweis auf nationales oder gar gliedstaatliches Recht die Anwendung verweigert. Der Supreme Court hielt auch fest, dass ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs keine unmittelbare Rechtswirkung entfalte und somit die richterlichen Behörden nicht binde.

7.5.1

Geltung

Auf den ersten Blick folgen die USA dem traditionellerweise als Monismus bezeichneten System. Internationales Vertragsrecht ist somit grundsätzlich ­ und ohne zusätzlichen Transformationsschritt ­ auch Landesrecht (Art. VI(2) Constitution).

Das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt. Der englischen Tradition folgend, hat der Supreme Court Völkergewohnheitsrecht als «Law of the Land» bezeichnet; es wird ohne zusätzlichen Schritt inkorporiert, auch wenn die USA an die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht oft sehr hohe Anforderungen stellen.

7.5.2

Anwendbarkeit

Die Umsetzung von Völkerrechtsverträgen wird in den USA entscheidend durch das Kriterium der direkten Anwendbarkeit eingeschränkt. Es sind nicht in erster Linie rechtliche und inhaltliche Massgaben ­ wie insbesondere die hinreichende Bestimmtheit ­ welche den Entscheid über die direkte Anwendbarkeit leiten. Vielmehr wird hier vor allem nach politischen Gesichtspunkten entschieden, und im Falle von Menschenrechtsverträgen erklären die USA bei der Ratifikation seit Längerem, dass sämtliche materiellen Bestimmungen als nicht direkt anwendbar betrachtet würden und somit zuerst ins nationale Recht umgesetzt werden müssten.

Mit diesem Umsetzungserfordernis wird ein zusätzlicher Schritt eingebaut, der das Eindringen von Völkerrecht ins nationale Recht erheblich verzögern kann. Im Ergebnis führt das dazu, dass faktisch eine Transformation notwendig ist, bevor Völkervertragsrecht von amerikanischen Gerichten angewandt werden kann, obwohl die USA nominell dem Adoptions- und nicht dem Transformationsmodell folgen.

Völkergewohnheitsrecht wird direkt angewandt, wenn es «self executing», das heisst genügend bestimmt ist, um von den Gerichten umgesetzt zu werden. Da eine Norm nur dann als Gewohnheitsrecht anerkannt wird, wenn eine Übung besteht, und eine Übung ein präzise fassbares Verhalten bedingt, dürfte der Self-executing-Charakter stets gegeben sein.

7.5.3

Rang

Die Selbstbezogenheit der amerikanischen Rechtsordnung führt dazu, dass die Verfassung als oberstes Normensystem in keiner Weise durch internationales Recht ergänzt, verändert oder eingeschränkt werden kann. In Bezug auf das Verhältnis von Bundesgesetzen und völkerrechtlichen Verträgen ist keine Rangordnung festge2296

schrieben. Gemäss ständiger Rechtsprechung geniesst die spätere Norm indes grundsätzlich Vorrang; ein völkerrechtswidriges Gesetz kann also gültig verabschiedet und angewendet werden. Hingegen gehen völkerrechtliche Verträge dem «Common Law» und dem Recht der Gliedstaaten vor.

Das Völkergewohnheitsrecht hat den selben Rang wie «Common Law». Es steht damit unter der Bundesverfassung und den Bundesgesetzen, geht aber dem Recht der Gliedstaaten vor.

7.5.4

Gerichtliche Überprüfung

Für die Beurteilung von völkerrechtlichen Fragen sind grundsätzlich die Bundesgerichte zuständig, mit dem Supreme Court als oberster Instanz. Bei der Anrufung des Supreme Court besteht in der Regel kein Anspruch darauf, dass er sich mit der Sache befasst. Der Supreme Court ist auch letzte Instanz für Rechtsstreitigkeiten mit völkerrechtlicher Komponente, die vor den Gerichten eines Gliedstaates rechtshängig gemacht wurden.

7.6

Schweden

Generell kann die schwedische Rechtsordnung aufgrund des Transformationssystems nicht als völkerrechtsfreundlich bezeichnet werden. Zudem besteht aus Gründen der Parlamentssouveränität als fundamentalem Prinzip eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Völkerrecht. Heutzutage kann jedoch eine schleichende Abkehr von einem strikten Transformationssystem festgestellt werden, indem die schwedischen Gerichte Völkerrecht teilweise auch als selbstständige Rechtsquelle berücksichtigen.

7.6.1

Geltung

Schweden folgt dem dualistischen System. Völkerrecht muss somit grundsätzlich zuerst in nationales Recht transformiert werden, um innerstaatlich Geltung zu erlangen. Die Transformation kann auf verschiedene Weise geschehen. In Frage kommen ein Vollzugsbefehl, ein Transformationsgesetz oder ein Verweis. Teilweise werden die Methoden auch kombiniert. Die Wahl der Methode erfolgt aufgrund praktischer Gesichtspunkte. Die Notwendigkeit der Transformation gilt für alle völkerrechtlichen Verträge und somit auch für die EMRK.

Beim Europarecht muss unterschieden werden. Während für primäres Europarecht eine Transformation nötig ist, erlangt sekundäres Europarecht direkt, ohne vorangehenden Transformationsakt, innerstaatlich Geltung.

Die Handhabung von Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ist umstritten. Die Literatur vertritt teilweise die Auffassung, dass sie zuerst transformiert werden müssen. Andere Meinungen stellen sich auf den Standpunkt, dass zumindest die grundlegendsten Regeln des Menschenrechtsschutzes auch ohne vorangehende Transformation Geltung hätten.

2297

7.6.2

Anwendbarkeit

Grundsätzlich muss Völkerrecht immer ­ ob «self-executing» oder nicht ­ zuerst transformiert werden, es kann somit nur mittelbar angewendet werden. Die schwedischen Gerichte wenden einen Transformationsakt aber möglichst völkerrechtskonform an. Somit sind auch völkerrechtliche Verträge zumindest indirekt eine Rechtsquelle, auch wenn sie nicht direkt angewendet werden.

Es bestehen allerdings Ausnahmen von der Regel, dass Völkerecht nicht direkt anwendbar ist und transformiert werden muss, so etwa für das sekundäre Europarecht. Eine Ausnahme besteht auch für allgemeine Rechtsgrundsätze und Völkergewohnheitsrecht; Gerichte wenden diese in der Praxis direkt an, obwohl kein Gesetz ihnen dazu die Erlaubnis gibt.

7.6.3

Rang

Die Verfassung bestimmt, welche Regelungen in Form eines formellen Gesetzes und welche beispielsweise auf dem Wege der Verordnung zu erlassen sind. Der Transformationsakt hat grundsätzlich die hierarchische Stufe, die ihm die Verfassung zuweist. Im Fall eines Konflikts gehen gewöhnliche völkerrechtliche Verträge, das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze schwedischem Recht nach. Die EMRK geht im Gegensatz zur Schweiz nur bei offensichtlichem Widerspruch Gesetzen und Regierungsverordnungen vor. Das Verhältnis zwischen Europarecht und schwedischer Verfassung ist umstritten. Die Regierung vertritt die Auffassung, dass die Verfassung in jedem Falle vorgehe.

7.6.4

Gerichtliche Überprüfung

Schweden kennt ­ ähnlich wie die Schweiz ­ ein System ohne eigentliches Verfassungsgericht. Jedes Gericht und jede rechtsanwendende Behörde ist befugt, einer Norm aufgrund eines offensichtlichen Konfliktes mit übergeordnetem Recht die Anwendung zu versagen. Formell aufgehoben wird nur der Anwendungsakt, nicht der Erlass selber. Es existiert keine abstrakte, sondern nur eine konkrete Normenkontrolle. Unklar ist, ob eine Überprüfung von Amtes wegen oder nur auf Antrag zu erfolgen hat. In der Praxis wenden nur die höheren Gerichte positives Recht nicht an, die andern werden sich dem Willen des Gesetzgebers nicht widersetzen. Seit 1909 gibt es ausserdem einen Rechtsrat, der aus Richterinnen und Richtern des Obersten Gerichtshofs und des Obersten Verwaltungsgerichts zusammengesetzt ist.

Der Rechtsrat gibt im Gesetzgebungsprozess präventiv Meinungen zu potenziellen Normenkonflikten ab, doch sind seine Empfehlungen in keiner Weise bindend.

7.7

Indien

Indien war bis am 15. August 1947 eine britische Kolonie. Die indischen Gerichte haben die britische und die «Commonwealth»-Praxis nach der Entkolonialisierung und auf der Grundlage der indischen Verfassung vom 26. Januar 1950 grösstenteils

2298

übernommen. Die indische Praxis und Lehre lehnen sich deshalb sehr stark an die britische und die «Commonwealth»-Praxis an.

7.7.1

Geltung

Die indische Lehre folgt in Bezug auf die landesrechtliche Geltung des Völkerrechts der Transformationslehre. Damit völkerrechtliche Verträge landesrechtliche Geltung erlangen, müssen sie grundsätzlich durch einen innerstaatlichen Akt transformiert werden. In der Vergangenheit hat Indien indes eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge abgeschlossen, wobei die erforderliche Transformation durch den Gesetzgeber in der Regel nicht erfolgte. Die indischen Gesetze werden von den Gerichten aber im Lichte der in diesen Verträgen verkörperten Grundsätze ausgelegt, um Lücken in der Umsetzung der völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen zu verhindern.

Was das Völkergewohnheitsrecht betrifft, ist es in Indien umstritten, ob ein Transformationsakt notwendig ist. Der oberste Gerichtshof Indiens («Supreme Court») hat zwar in einem obiter dictum die Geltung der Adoptionstheorie (Monismus) für das Völkergewohnheitsrecht bestätigt. Die indische Lehre verneint aber diese Aussage.

Sie vertritt ­ mit Verweis auf Bestimmungen der indischen Verfassung ­ die Auffassung, dass für das gesamte Völkerrecht die Transformationstheorie gelte. Auf das Verhältnis zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen wird in der indischen Rechtsordnung nicht spezifisch reagiert. Für sie gilt regelhaft Gleiches wie für das Völkergewohnheitsrecht.

7.7.2

Anwendbarkeit

Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge durch die Gerichte setzt einen Transformationsakt voraus. Einen indirekten Einfluss kann man einigen Bestimmungen von Verträgen, die mangels Transformation nicht direkt angewendet werden können, aber nicht absprechen: So nehmen die indischen Gerichte bei der Auslegung nationaler Gesetze Bezug auf sie, beispielsweise auf die beiden UNO-Menschenrechtspakte.

In Bezug auf das Völkergewohnheitsrecht unterscheidet Indien nicht zwischen der Geltung und der Anwendbarkeit. Entsprechen gewohnheitsrechtliche Normen der indischen Rechtsüberzeugung, so können sie durch die Gerichte angewendet werden. Durch die Anwendung erlangt das Gewohnheitsrecht auch Geltung, das heisst, eine gewohnheitsrechtliche Norm hat nur dann Geltung, wenn sie auch angewendet wird.

7.7.3

Rang

Die Verträge haben den Rang des Aktes, der die innerstaatliche Geltung herbeiführt.

Gewohnheitsrecht, das im Widerspruch zu Akten des Parlamentes steht, erlangt keine landesrechtliche Geltung. Folglich geht «Statute Law» dem Völkergewohnheitsrecht als Teil des «Common Law» vor, sei es jünger oder älter. Die Rechtsprechung versucht aber, das Prinzip des Vorrangs des «Statute Law» mit der Vermutung von dessen Völkerrechtkonformität zu mildern.

2299

7.7.4

Gerichtliche Überprüfung

Die Gerichte spielen eine tragende Rolle für die landesrechtliche Geltung von Völkerrecht. Nicht transformierten völkerrechtlichen Verträgen verschaffen sie mittelbar Geltung, indem die Gerichte sie als Auslegungsinstrumente benutzen. Gewohnheitsrecht wird durch seine Anerkennung und Anwendung ins indische «Common Law» transformiert.

7.8

Zusammenfassung

Gesamthaft lassen sich folgende Feststellungen treffen: ­

Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze werden auch in dualistischen Staaten nicht mit einem landesrechtlichen Erlass umgesetzt, sondern geniessen unmittelbare innerstaatliche Geltung. Nur bei völkerrechtlichen Verträgen ist ein eigentliches Transformationsmodell verwirklicht.

­

Obwohl der Monismus eine rasche und effektive Verwirklichung durch die Staaten zu begünstigen scheint, zeigt ein Blick auf die Praxis, dass auch mit dem Dualismus durchaus völkerrechtsfreundliche Resultate erzielt werden können. Durch völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts kann oft ein Zusammenprallen der Systeme vermieden und auf harmonisierende Lösungen hingewirkt werden. Viel hängt auch vom «Geist» ­ der «Völkerrechtsdisziplin» ­ der jeweiligen nationalen Behörden ab.

­

In dem Masse, als auf der internationalen Ebene Rechtsdurchsetzungsmechanismen wie Gerichte, gerichtsähnliche Instanzen, Kontroll- und Überwachungssysteme entstehen und ausgebaut werden, scheint praktisch das Bedürfnis zu wachsen, eine direkte Geltung und Anwendung des Völkerrechts in den Staaten zu ermöglichen und (verfassungs-)gerichtliche Kontrollen zur Sicherung der korrekten Auslegung und Anwendung des Völkerrechts in den Staaten selbst sowie Instanzen und Verfahren zur Verhinderung von Kollisionen beider Rechtssysteme zu schaffen.

­

Was die Vorrangsfrage betrifft, bekennt sich keine der untersuchten Staatsrechtsordnungen zu einem gleichsam mechanisch anzuwendenden Primat des Völkerrechts; immer spielen in der einen oder anderen Form Abwägungsprozesse eine zentrale Rolle, wobei die Gerichte jeweils den Problemlagen angepasste, pragmatische Lösungen suchen. Dabei sind auch die zentralen Werte und Grundsätze nationaler Verfassungsordnungen, etwa im Grundrechtsbereich, in die Abwägung einzubeziehen.

­

In keinem der untersuchten Länder (und wohl auch in keinem anderen Land) ist bisher formell eine Systemänderung vorgenommen worden. Eine solche Umstellung wäre praktisch auch äusserst komplex und mit einem grossen bürokratischen Aufwand verbunden.

­

In keinem der untersuchten Länder wird das zwingende Völkerrecht (im Sinne eines Verweises auf das geltende Völkerrecht oder eines autonomen Verfassungsbegriffs) besonders erwähnt.

­

Begrüssenswert scheinen Mechanismen, welche Konflikte von Landesrecht mit Völkerrecht präventiv auszuschliessen suchen. Als interessantes Beispiel

2300

kann hier der Rechtsrat in Schweden angeführt werden, welcher im Gesetzgebungsprozess nicht bindende Meinungen zu potenziellen Normenkonflikten abgeben kann und dadurch eine Art präventive Verfassungskontrolle ausübt.

8

Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz

8.1

Einleitung

Das vorliegende Kapitel befasst sich damit, wie das nationale Recht sein Verhältnis zum Völkerrecht regelt. In diesem Zusammenhang stellen sich die meisten der eingangs erwähnten strittigen Fragen, etwa, wie zu verfahren ist, wenn eine Volksinitiative gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstösst, oder allgemeiner, wie ein Konflikt zwischen dem Landesrecht und dem Völkerrecht zu lösen ist. Eine weitere Frage, die sich in diesem Kontext stellt, sind die landesrechtlichen Folgen der Dynamik, mit der gewisse internationale Organe, namentlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Konventionen auslegen, deren Einhaltung sie sicherstellen. Dieses Kapitel untersucht auch, ob das geltende schweizerische Recht diese Fragen in befriedigender Weise zu beantworten vermag oder ob Lücken bestehen.

Wie das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Allgemeinen, bestimmt sich auch das Verhältnis von Völkerrecht und Schweizer Recht nach den drei klassischen Kriterien Geltung, Anwendbarkeit und Rang. Was die Geltung des Völkerrechts in der Schweiz betrifft, so folgt diese traditionell dem monistischen System.

Danach wird das Völkerrecht mit seinem Inkrafttreten Teil des Landesrechts (Kap. 8.2). Was die Anwendbarkeit betrifft, so ist das Völkerrecht direkt anwendbar, wenn es genügend bestimmt ist, um die Grundlage einer Entscheidung zu bilden.

Dieses Kriterium verursacht kaum Probleme und wird deshalb nur kurz in Kapitel 8.3 behandelt. Das dritte Kriterium, der Rang, wirft dagegen mehr Fragen auf, die in unserer Rechtsordnung nicht alle klar beantwortet werden. Dies gilt beispielsweise für den Fall eines Konflikts zwischen einer Verfassungs- oder Gesetzesbestimmung einerseits und dem Völkerrecht andererseits.

Der Rang des Völkerrechts muss sowohl abstrakt als auch im Hinblick auf seine praktischen Folgen untersucht werden. Abstrakt betrachtet geht es beim Rang darum, welchen Platz das Völkerrecht in der Hierarchie des Landesrechts einnimmt.

Von den praktischen Folgen her betrachtet geht es darum, ob im Konfliktfall das Völkerrecht oder das Landesrecht vorgehen. Die Antwort auf diese Frage hat für die Praxis die grösste Bedeutung. Die Frage des Rangs ist daher aufs engste mit der Thematik des Normenkonflikts verbunden. Daher folgt auf das dem Rang gewidmete Kapitel (Kap. 8.4) ein weiteres Kapitel
zum Normenkonflikt: zum Konflikt zwischen dem Völkerrecht und der Bundesverfassung einerseits sowie zwischen dem Völkerrecht und den Bundesgesetzen andererseits (Kap. 8.6). Ein Konflikt besteht aber nur, wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist (Kap. 8.5). Ein separates Kapitel (Kap. 8.7) befasst sich mit der besonders heiklen Problematik des Verhältnisses von Völkerrecht und Volksinitiativen. Das letzte Kapitel (Kap. 8.8) hat die gerichtliche Überprüfung von Fragen des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht zum Gegenstand.

2301

8.2

Geltung

Die schweizerische Rechtsordnung ist monistisch25; dies ging implizit bereits aus der Bundesverfassung von 1874 (aBV) hervor. Sie sieht kein Verfahren vor, um Völkerrecht in Landesrecht zu transformieren, wie dies für einen dualistischen Staat typisch wäre. Insbesondere stellt die Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge durch die Bundesversammlung (Art. 85 Ziff. 5 aBV; Art. 166 Abs. 2 BV) keinen Transformationsakt dar. Dies ergibt sich daraus, dass die Genehmigung nicht dem Gesetzgebungsverfahren folgt und nicht dem Gesetzesreferendum untersteht. Ausserdem tritt das Bundesgericht auf Beschwerden von Privaten wegen Verletzung des Völkerrechts ein (Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 aBV; Art. 189 Abs. 1 Bst. b BV). Die Verfassung erlaubt es damit dem Einzelnen, sich direkt auf völkerrechtliche Normen zu berufen, was klar dem Monismus entspricht. Nach Artikel 2 der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung von 1874 schliesslich traten mit ihrer Annahme nur widersprechende Bestimmungen des Landesrechts, nicht aber des Völkerrechts ausser Kraft; die Weitergeltung des Völkerrechts stand ausser Frage, was ebenfalls einer monistischen Ordnung entspricht. Die Bundesverfassung von 1999 bestimmt zudem ausdrücklich, dass Bund und Kantone das Völkerrecht zu beachten haben (Art. 5 Abs. 4), dass dieses für alle rechtsanwendenden Behörden massgeblich ist (Art. 190 BV) und dass die Bundesverfassung nicht in Verletzung von zwingenden Regeln des Völkerrechts revidiert werden darf (Art. 193 Abs. 4, 194 Abs. 2 BV).

Der monistische Charakter der Schweizer Rechtsordnung ist damit zwar auch in der neuen Bundesverfassung nicht explizit festgehalten, er kommt in ihr aber noch stärker zum Ausdruck.

Weil die schweizerische Rechtsordnung monistisch ist, ist die Umsetzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen unkompliziert. Es ist kein besonderes Verfahren nötig, damit Völkerrecht landesrechtliche Geltung erlangt. Die schweizerische Praxis ist die eines gemässigten Monismus (vgl. Kap. 5.4).

Das Bundesgericht hat schon in seinen frühesten Entscheiden den Grundsatz der unmittelbaren Geltung des Völkerrechts anerkannt26. Einzig in zwei Entscheiden von 1923 und 1933 vertrat es die Ansicht, die Genehmigung eines Staatsvertrags durch die Bundesversammlung habe die Wirkung, den Vertragsinhalt mit Gesetzeskraft auszustatten und ihn für
die Behörden und Bürger verbindlich zu erklären27.

Die Entscheide betrafen einzig die Geltung völkerrechtlicher Verträge; die unmittelbare Geltung des Völkergewohnheitsrechts oder der allgemeinen Rechtsgrundsätze hat das Bundesgericht nie in Frage gestellt. Beide Entscheide sind zudem isoliert

25

26 27

S. zuletzt BGE 127 II 177, S. 181; für die Lehre s. die Übersicht bei Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich 2002, Nr. 342; Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 134; vgl. auch Botschaft vom 15. November 2006 zum Bucheffektengesetz sowie zum Haager Wertpapierübereinkommen, BBl 2006 9315, S. 9399; Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53.54, S. 403; Gutachten der Direktion für Völkerrecht vom 18. März 1999, VPB 64.21, S. 276.

BGE 3 270, S. 285­286; BGE 7 774, S. 781­782; BGE 27 I 192, S. 194; BGE 35 I 411, S. 415 E. 3; BGE 44 I 49, S. 53­54.

BGE 49 I 188, S. 195­196; BGE 59 II 331, S. 337­338; vgl. dazu Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich 2002, Nr. 386.

2302

geblieben. Das Bundesgericht hat seither wiederholt den Grundsatz der unmittelbaren Geltung des Völkerrechts bestätigt28.

In der Lehre stösst der Monismus mehrheitlich auf Zustimmung. Nur wenige Autoren haben einen Wechsel zum Dualismus in Betracht gezogen29. Der Dualismus entspricht der von einer praktischen Auffassung geprägten undogmatischen schweizerischen Rechtstradition nicht30.

8.3

Anwendbarkeit

Nach Artikel 5 Absatz 4 BV haben Bund und Kantone ­ das heisst alle Staatsorgane ­ das Völkerrecht zu beachten. «Beachten» heisst nicht nur, es nicht zu verletzen, sondern auch, es innerstaatlich zur Anwendung zu bringen. Diesem Anliegen dient eine der direkten Anwendbarkeit freundliche Praxis. Sie trägt dazu bei, die konkrete Bedeutung des Völkerrechts im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger stärker zu verankern und dadurch im Ergebnis dessen Verwirklichung zu fördern. Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt zudem ein wirksames Mittel dar, um die volle Wirkung des Völkerrechts zu gewährleisten31.

Die Normen des Völkerrechts sind in der Schweiz deshalb grundsätzlich direkt anwendbar. Dies ergibt sich auch aus Artikel 189 Absatz 1 Buchstabe b BV, wonach das Bundesgericht Streitigkeiten wegen Verletzung von Völkerrecht beurteilt, sowie aus Artikel 190 BV, wonach Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend ist.

Damit Private aus völkerrechtlichen Bestimmungen Rechte ableiten können, müssen diese nach übereinstimmender Auffassung von Bundesgericht und Bundesrat im Gesamtzusammenhang sowie im Lichte von Gegenstand und Zweck des Vertrags betrachtet unbedingt und eindeutig genug formuliert sein, um eine direkte Wirkung erzeugen und in einem konkreten Fall angewendet werden beziehungsweise die Grundlage für eine Entscheidung darstellen zu können32. Ob diese Voraussetzung als erfüllt zu betrachten ist, ist mithin eine Frage der Auslegung im Einzelfall. Damit Privaten Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen oder Beschlüssen erwachsen, sind diese ausserdem in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts zu publizieren (Art. 8 Abs. 1 i. Vbdg. m. Art. 3 Abs. 1 PublG). Für die übrigen Normen des Völ28 29

30

31 32

S. zuletzt BGE 127 II 177, S. 181.

So kommt Thomas Fleiner-Gerster (Völkerrecht ­ Landesrecht. Rechtsvergleichende Überlegungen zum Verhältnis des Landesrechts zum internationalen Recht, in: Walter Haller et al. (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Schindler, Basel/Frankfurt a. M. 1989, S. 697­699) zur Schlussfolgerung: «Der Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht widerspricht zwar idealistischen Vorstellungen, dennoch ist er vielleicht realistischer und würde gerade deshalb eine verbesserte internationale Integration ermöglichen.» Wie Yvo Hangartner (Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. Auslegeordnung eines Kernproblems von Verfassungspraxis und Verfassungsreform, SJZ 1998, S. 206) schrieb: «Unsere Vorfahren hätten den Kopf geschüttelt, wenn man ihnen gesagt hätte, ein Vertrag zum Beispiel zwischen Schwyz und Uri müsse, um in Uri zu gelten, zunächst in urnerisches Recht werden.» Vgl. den Bericht des Bundesrates vom 24. August 1988 über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess, BBl 1988 III 347.

BGE 129 II 249, S. 257 E. 3.3; BGE 124 III 90, S. 91 E. 3a; Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53.54, S. 403; Gutachten der Direktion für Völkerrecht vom 4. März 1998, VPB 64.20, S. 273 f.

2303

kerrechts gilt dieses Erfordernis nicht; sie begründen Pflichten auch ohne Publikation. Wenn eine völkerrechtliche Bestimmung nicht direkt anwendbar ist, weil sie zu wenig bestimmt ist oder weil sie oder der Vertrag, in den sie eingebettet ist, die direkte Anwendbarkeit ausschliesst, ist eine Konkretisierung durch die zuständigen Behörden nötig33. Bei direkt anwendbaren völkerrechtlichen Bestimmungen bleibt eine weitere Konkretisierung ebenfalls möglich und zulässig.

Die Bundesversammlung hat aufgrund von Artikel 141a BV die Möglichkeit, einen völkerrechtlichen Vertrag zusammen mit Verfassungs- oder Gesetzesänderungen zu seiner Umsetzung als Paket in den Genehmigungsbeschluss aufzunehmen. Dies erlaubt es, widersprüchliche Volksentscheide zu vermeiden, die negative Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Schweiz als verlässliche Vertragspartnerin hätten. Ausserdem macht dieses Vorgehen die Tragweite des Vertrags fassbarer; es dient so der Transparenz gegenüber der Bundesversammlung und dem Volk.

Schliesslich ist dieses Vorgehen auch im Interesse der Verfahrensökonomie.

Die Abgrenzung zwischen direkt und nicht direkt anwendbaren völkerrechtlichen Bestimmungen ist in der Praxis nicht immer einfach. Das Bundesgericht hat lange ohne Weiteres völkerrechtliche Bestimmungen angewendet, ohne deren Justiziabilität weiter nachzugehen; die direkte Anwendbarkeit wurde sozusagen vermutet. Erst 1962 hielt sich das Bundesgericht erstmals bei dieser Frage auf34. Es hat in der Folge eine reichhaltige Rechtsprechung zur Bestimmung der direkten Anwendbarkeit entwickelt. Die dabei verwendeten Kriterien decken sich weitgehend mit denjenigen, die es im Zusammenhang mit dem Legalitätsprinzip verwendet: Ein hohes Individualschutzinteresse spricht eher für die direkte Anwendbarkeit. Eher dagegen sprechen grosse Auswirkungen für den gesamten Staat, das Vorliegen komplexer Verhältnisse, die im Rahmen der fallbezogenen richterlichen Beurteilung nur schwer erfassbar sind, sowie grössere finanzielle Auswirkungen. Auch wenn die direkte Anwendbarkeit politische Wertungen oder die Klärung von Grundsatzfragen bedingt, übt das Bundesgericht Zurückhaltung35.

Das Bundesgericht vermeidet somit die Konkretisierung von völkerrechtlichen Bestimmungen, wo diese aufgrund des Legalitätsprinzips Aufgabe der Bundesversammlung sein muss. Die
Bundesversammlung (oder bei Verträgen in seiner Kompetenz der Bundesrat) hat es zudem in der Hand, bei einem völkerrechtlichen Vertrag, der an sich genügend eindeutig formuliert ist, einen Vorbehalt anzubringen, wenn er nicht direkt anwendbar sein soll.

8.4

Rang

Dieses Kapitel behandelt den Rang des Völkerrechts in abstrakter Weise. Es will mit anderen Worten klären, welchen Rang das Völkerrecht in der Normenhierarchie des Landesrechts einnimmt.

33 34 35

Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53.54, S. 403.

BGE 88 I 86; s. Olivier Jacot-Guillarmod, L'application directe des traités internationaux en Suisse: histoire d'un détour inutile, SJIR 1989, S. 135 ff.

Daniel Wüger, Anwendbarkeit und Justiziabilität völkerrechtlicher Normen im schweizerischen Recht: Grundlagen, Methoden und Kriterien, Bern 2005, S. 14.

2304

Das Landesrecht kann frei bestimmen, welchen Rang es dem Völkerrecht innerhalb der nationalen Rechtsordnung zuweist. Diese Frage wird vom Völkerrecht nicht geregelt; es beschränkt sich auf die Forderung, das Völkervertragsrecht und die anderen völkerrechtlichen Normen seien einzuhalten (pacta sunt servanda). Es äussert sich auch nicht zur Art und Weise, wie die Staaten dieses Ergebnis sicherzustellen haben.

In der Hierarchie der innerstaatlichen schweizerischen Erlasse steht die Verfassung zuoberst. Darunter stehen die Bundesgesetze und unter diesen schliesslich die Verordnungen. Das kantonale Recht ist dem gesamten Bundesrecht untergeordnet. Das Recht niederer Stufe hat sich nach dem höherrangigen Recht zu richten und kann grundsätzlich von diesem weder abweichen noch es verändern36.

Welcher Platz kommt nun dem Völkerrecht in der Schweizer Rechtsordnung zu?

Anders als dies für das Verhältnis von Bundesrecht und kantonalem Recht in Artikel 49 BV gemacht wird, ist der Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht in der Bundesverfassung nicht explizit festgehalten. Artikel 5 Absatz 4 BV hält jedoch fest, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten müssen. Diese Formulierung ist nicht zufällig, sondern das Ergebnis vertiefter Überlegungen anlässlich der Verfassungsrevision37. Sie stellt einen Kompromiss dar zwischen einer expliziten Verankerung des Vorrangs des Völkerrechts, wie sie der Bundesrat zunächst im Rahmen des Vorentwurfs von 1995 für eine neue Bundesverfassung vorgeschlagen hatte, und unverbindlicheren Formulierungen wie «trägt Rechnung» oder «nimmt Rücksicht», die man andernorts in der Verfassung findet (s. z.B. Art. 46 Abs. 3 u. 88 Abs. 3 BV). Artikel 5 Absatz 4 BV «verankert die Pflicht von Bund und Kantonen, das Völkerrecht zu beachten. Dieses Gebot richtet sich an alle staatlichen Organe und ist Ausfluss des Grundsatzes, dass völkerrechtliche Normen entgegenstehenden landesrechtlichen Normen prinzipiell vorgehen»38. Aus dieser Bestimmung kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die Verfassung den Vorrang des Völkerrechts vorbehaltlos anerkennt, wie dies für den Vorrang des Bundesrechts gegenüber dem kantonalen Recht der Fall ist (vgl. Art. 49 Abs. 1 BV). Auch lässt sich daraus keine allgemeingültige Regel zur Lösung von Konflikten zwischen dem Landesrecht und dem Völkerrecht
ableiten.

Gleiches gilt auch für Artikel 190 BV. Diese Bestimmung regelt weder den Rang des Völkerrechts, noch stellt sie eine allgemeine Konfliktregel dar. Sie betrifft die Rechtsanwendung durch die Gerichte und die anderen rechtsanwendenden Behörden und hat zum Ziel, diese daran zu hindern, Bundesrecht oder Völkerrecht auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen (s. dazu unten, Kap. 8.6). Die Artikel 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV wiederum betreffen nur die Verfassungsrevision und verpflichten den Verfassungsgeber, die zwingenden Normen des Völkerrechts einzuhalten. Artikel 139 Absatz 2 BV verpflichtet deshalb die Bundesversammlung, Volksinitiativen, die zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzen, für ungültig zu erklären. Daraus lässt sich allenfalls ableiten, dass die zwingenden 36 37

38

S. insb. Pierre Moor, Droit administratif, Bd. 1: Les fondements généraux, 2. Aufl., Bern 1994, S. 80 ff.

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 134 f., sowie u.a. Verfassungskommission des Nationalrats, Sitzung vom 26. Mai 1997, Trakt. 2, und Verfassungskommission des Ständerates, Subkommission 3, Sitzung vom 17. Februar 1997, Trakt. 3.

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 134

2305

Normen des Völkerrechts in der Normenhierarchie zuoberst stehen. Für das nicht zwingende Völkerrecht, das die weitaus überwiegende Mehrheit der völkerrechtlichen Normen ausmacht, lässt sich daraus hingegen nichts ableiten.

Das Bundesgericht geht grundsätzlich vom Vorrang des Völkerrechts aus, anerkennt aber gewisse Ausnahmen. Was die Lehre betrifft, so anerkennt die Mehrheit den grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts, akzeptiert aber, wie das Bundesgericht, auch die Möglichkeit von Ausnahmen zugunsten des Landesrechts. Abschliessende Antworten werden oft vermieden.

Derzeit gibt es somit keine umfassende und in allen Teilen klare Antwort zur Frage, welchen Rang das Völkerrecht in der Normenhierarchie der Schweizer Rechtsordnung einnimmt. Einzelne Elemente einer Antwort können aber dennoch hervorgehoben werden: Grundsätzlich wird der Vorrang des Völkerrechts anerkannt.

Unbestritten ist, dass das zwingende Völkerrecht dem gesamten Landesrecht vorgeht. Unbestritten ist auch, dass das Völkerrecht dem kantonalen Recht vorgeht.

Und unbestritten ist schliesslich, dass Völkerrecht dem Verordnungsrecht des Bundes vorgeht.

Das Fehlen einer umfassenden und in allen Teilen klaren Antwort von Praxis und Lehre zur Stellung des Völkerrechts in der schweizerischen Rechtsordnung erklärt sich wohl auch daraus, dass die Beantwortung dieser Frage nur insoweit von praktischer Bedeutung ist, als sie für die Lösung von Normenkonflikten relevant ist. Im Falle eines Konflikts zwischen zwei verschiedenrangigen Normen erlaubt es die Existenz einer Hierarchie nämlich, die höherrangige Norm vorgehen zu lassen.

Konflikte zwischen gleichrangigen Normen werden demgegenüber grundsätzlich nach den traditionellen Konfliktlösungsregeln behandelt, das heisst nach den Maximen lex specialis derogat legi generali («Spezialgesetz bricht allgemeines Gesetz») und lex posterior derogat legi priori («Späteres Gesetz bricht früheres Gesetz»). Im Übrigen werden auch die Konflikte zwischen landesrechtlichen Normen verschiedenen Ranges nicht immer mit Hilfe der Hierarchie gelöst; bisweilen kommen Spezialregeln zur Anwendung. So dürfen beispielsweise Bundesgesetze nicht gegen die höherrangige Verfassung verstossen. Erlässt aber die Bundesversammlung ein Gesetz, das gegen die Verfassung verstösst, so hat das Bundesgericht trotzdem nicht die
Kompetenz, diesem Gesetz die Anwendung zu versagen, selbst wenn es verfassungswidrig ist (Art. 190 BV).

Die nachfolgenden Kapitel befassen sich mit den Normenkonflikten. Zuvor ist indes noch einzugehen auf die völkerrechtskonforme Auslegung als Mittel, Völkerrecht und Landesrecht miteinander in Einklang zu bringen.

8.5

Völkerrechtskonforme Auslegung

Die völkerrechtskonforme Auslegung ist eine Verpflichtung mit dem Ziel, Völkerrecht und Landesrecht miteinander in Einklang zu bringen. Analog zur verfassungskonformen Auslegung des Landesrechts hat sie die Funktion, die völkerrechtlichen und die landesrechtlichen Normen zu harmonisieren39. Es handelt sich also nicht um eine Regel, die eigentliche Konflikte zwischen völker- und landesrechtlichen Nor39

Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich, Basel, Genf, 2008, Rz.163, S. 48; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern, 2007, , Rz. 36, S. 174; BGE 117 Ib 367, S. 373.

2306

men löst, sondern es geht vielmehr darum, solche Konflikte möglichst zu verhindern; denn solange eine landesrechtliche Norm völkerrechtskonform ausgelegt werden kann, besteht kein Konflikt. Die Pflicht, das Landesrecht völkerrechtskonform auszulegen, kann aus Artikel 5 Absätze 3 und 4 BV abgeleitet werden40. Es handelt sich dabei um das landesrechtliche Gegenstück zu den in den Artikeln 26 und 27 WVK verankerten völkerrechtlichen Pflichten, wonach die Vertragsparteien einen Vertrag nach Treu und Glauben zu erfüllen haben und sich nicht auf innerstaatliches Recht berufen dürfen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen41. Konkret bedeutet dies, dass die Behörden verpflichtet sind, bereits im Gesetzgebungsverfahren auf mögliche Unvereinbarkeiten zwischen dem Landesrecht und dem Völkerrecht zu achten, und Ausführungsbestimmungen erlassen sollen, die auf der zwischenstaatlichen Ebene wenn immer möglich keine Probleme verursachen.

Der materielle Anwendungsbereich der Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung umfasst nicht nur das Bundesrecht, sondern auch das kantonale Recht und das Gemeinderecht. Unter Bundesrecht sind dabei nicht nur die Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen zu verstehen, sondern auch das Verfassungsrecht42. Was den persönlichen Anwendungsbereich der Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung betrifft, so umfasst er nicht nur den Gesetzgeber auf Bundes-, Kantons- und Gemeindestufe, sondern sämtliche Behörden43. Diese sind im Rahmen ihrer Zuständigkeit verpflichtet, darauf zu achten, dass sich die Eidgenossenschaft nicht wegen der Verletzung internationaler Verpflichtungen völkerrechtlich verantwortlich macht. Von den praktischen Folgen her bedeutet die Einhaltung unserer völkerrechtlichen Verpflichtungen, «dass auf nationaler Ebene die zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden, damit die eingegangenen Verpflichtungen ihre bestmöglichen Wirkungen entfalten können»44.

Auch wenn die völkerrechtskonforme Auslegung oft die Vermeidung von Konflikten zwischen dem Landesrecht und dem Völkerrecht erlaubt, so stellt sie doch kein Allheilmittel dar. Wo ein Widerspruch nicht auf dem Wege der Auslegung aufgelöst werden kann, stösst sie an ihre Grenzen45.

8.6

Normenkonflikte

Die Problematik des Normenkonflikts zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht, insbesondere Bundesgesetzen und der Bundesverfassung, wirft einige heikle Fragen auf. Diese sind grundsätzlich zweierlei Art. Erstens stellt sich die Frage, inwieweit der Gesetz- und der Verfassungsgeber von heute durch die völkerrechtlichen Verträge von gestern gebunden sind. Zweitens fragt es sich, wer das letzte Wort über die Tragweite der internationalen Verpflichtungen der Schweiz haben soll: nationale oder internationale Gerichte, der Gesetzgeber, der Verfassungsgeber?

Diese Frage stellt sich insbesondere für Verträge mit eigenen Kontrollorganen, die 40 41 42 43 44 45

Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern, 2007. Rz. 38, S. 175.

Vgl. für einen Kommentar zu diesen Bestimmungen Kap. 4.2.

S. VPB 59.25 (1995) S. 226­227.

Vgl. BGE 125 II 417, PKK, S. 425.

Vgl. Gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völkerrecht, VPB 53.54 (1989) S. 420; BBl 1984 I 791.

S. für einen solchen Fall BGE 125 II 417, PKK, S. 424­425.

2307

für die Vertragsstaaten verbindliche Entscheidungen treffen können, denn die Rechtsprechung dieser Organe kann im Laufe der Zeit die Tragweite einer internationalen Verpflichtung in einer Art und Weise präzisieren und teilweise weiterentwickeln, die zum Zeitpunkt der Genehmigung des Vertrags nicht absehbar war, wie dies beispielsweise bei gewissen Entscheiden des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Fall ist.

Im Folgenden werden die beiden Konstellationen behandelt, bei denen sich die oben aufgeworfenen Fragen kristallisieren, nämlich die Konflikte zwischen dem Völkerrecht und der Bundesverfassung einerseits und die Konflikte zwischen dem Völkerrecht und Bundesgesetzen andererseits.

8.6.1

Konflikt zwischen Völkerrecht und Bundesverfassung

Die Bundesverfassung enthält keine ausdrückliche Vorschrift für den Fall, dass eine Verfassungsbestimmung in Konflikt zu einer völkerrechtlichen Bestimmung gerät.

Insbesondere enthält sie keine absolute Regel der Art, dass in einem solchen Fall das Völkerrecht stets vorgehen soll, oder dass umgekehrt eine Verfassungsbestimmung stets Vorrang geniesse. Die Verfassung ist indes nicht völlig stumm in diesem Punkt. Nach Artikel 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV dürfen Verfassungsänderungen die «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» nicht verletzen, gleichgültig, ob es sich um eine Total- oder um eine Teilrevision der Verfassung handelt und ob der Anstoss von den Behörden oder vom Volk mittels einer Volksinitiative kam. Eine Volksinitiative, die gegen zwingendes Völkerrecht verstösst, ist ganz oder teilweise ungültig und darf Volk und Ständen nicht zur Abstimmung unterbreitet werden (Art. 139 Abs. 2 BV). In Bezug auf Revisionen, die von der Bundesversammlung ausgehen, nennt die Verfassung dagegen keine Sanktion. Da die Bundesversammlung an die Verfassung gebunden ist (Art. 5 Abs. 1 BV), darf sie von vorneherein keine Revisionen vorschlagen, die gegen zwingendes Völkerrecht verstossen.

Zur Lösung eines Konflikts mit dem nicht zwingenden Völkerrecht macht die Bundesverfassung keine klare und umfassende Aussage. Wie schon in Bezug auf den Rang des Völkerrechts unterstrichen wurde (s. oben, Kap. 8.4), stellt Artikel 5 Absatz 4 BV keine eigentliche Konfliktregel dar. Diese Bestimmung beauftragt die Behörden, das Völkerrecht zu beachten. Daraus kann nicht abgeleitet werden, dass das Völkerrecht stets Vorrang geniesse46.

Auch Artikel 190 BV trägt nicht viel zur Klärung bei. Diese Bestimmung verpflichtet die rechtsanwendenen Behörden und speziell das Bundesgericht, die Bundesgesetze und das Völkerrecht selbst dann anzuwenden, wenn diese verfassungswidrig sind. Der Hauptzweck dieser Bestimmung war von Anfang an, die Gerichte daran zu hindern, eine Verfassungsgerichtsbarkeit über Bestimmungen auszuüben, die der Gesetzgeber erlassen oder (zumindest indirekt) genehmigt hat. In Bezug auf Bundesgesetze ist die von Artikel 190 BV vorgesehene Immunisierung indes nicht vollständig; Praxis und Lehre anerkennen Ausnahmen. Insbesondere haben die Gerichte die Verfassungsbestimmung anzuwenden, wenn ein Bundesgesetz gegen 46

S. Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 134.

2308

eine spätere Verfassungsbestimmung verstösst47. Zweck von Artikel 190 BV ist es nämlich, die Gerichte daran zu hindern, ihre eigene Interessenabwägung an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers zu setzen, und nicht, den Entscheid des Gesetzgebers vor dem Verfassungsgeber selbst zu schützen.

Die Tragweite von Artikel 190 BV in Bezug auf die Lösung von Konflikten zwischen dem Völkerrecht und jüngerem Verfassungsrecht ist in der Lehre noch wenig diskutiert worden48. Weil Verfassungsbestimmungen meistens durch eine Ausführungsgesetzgebung konkretisiert werden, ist ein solcher Konflikt in der Praxis noch nicht vorgekommen, so dass es auch keine Rechtsprechung dazu gibt. Einige Autoren sehen in Artikel 190 BV ­ in Verbindung mit Artikel 5 Absatz 4 BV ­ einen Hinweis auf den Vorrang des Völkerrechts vor der Bundesverfassung; sie leiten daraus ab, dass die Gerichte stets das Völkerrecht anzuwenden hätten. Andere sind der Ansicht, dass sich die Tragweite von Artikel 190 BV auf die Anwendung beschränke; man könne daraus nicht ableiten, dass das Völkerrecht stets Vorrang geniesse, vielmehr gehe das Verfassungsrecht unter gewissen Umständen vor. Die von der Lehre am häufigsten genannten Ausnahmen von der in Artikel 190 BV statuierten Pflicht zur Anwendung des Völkerrechts überschneiden sich teilweise. Es sind die folgenden:

47 48

49

50

­

Anwendung der Verfassungsbestimmung, wenn diese jünger als die völkerrechtliche Norm und Artikel 190 BV ist (Anwendung des Lex-posteriorbzw. der Lex-specialis-Prinzips, analog zur Ausnahme für Konflikte zwischen Bundesgesetz und jüngerem Verfassungsrecht)49.

­

Anwendung der Verfassungsbestimmung, wenn die betroffene völkerrechtliche Norm den Wesenskern eines Grundrechts oder andere zentrale Grundwerte berührt50.

­

Anwendung der Verfassungsbestimmung, wenn diese jünger als die betroffene völkerrechtliche Norm ist und der Verfassungsgeber bewusst gegen das

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 429.

Für einen Vorrang des jüngeren, direkt anwendbaren Verfassungsrechts Yvo Hangartner, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, Art. 190 Rz. 33; Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich 2002, n° 362 u. 403 ff., m. w.

Hinw.; nuanciert Häfelin/Haller/Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2008, Rz. 1921 ff., die sich für eine fallweise Lösung aussprechen; nach Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2007, Art. 190 Nr. 4, handelt die Regel von Art. 190 BV von der Durchsetzung der Normenhierarchie, nicht jedoch von der Hierarchie der Normen; die Auslegung, wonach Art. 190 BV die rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich verpflichtet, dem Völkerrecht den Vorrang über das widersprechende Landesrecht einzuräumen, wurde indes vom Bundesgericht kürzlich bestätigt (BGE 133 II 450, Nada, S. 460): «Innerstaatlich ist der Konflikt zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht, einschliesslich den Grundrechten, in Art. 190 BV ausdrücklich geregelt: Danach sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.» S. die Hinw. bei Jörg Künzli, Demokratische Partizipationsrechte bei neuen Formen der Begründung und bei der Auflösung völkerrechtlicher Verpflichtungen, ZSR 2009 I, S. 70 Anm. 109.

Daniel Thürer, Verfassungsrecht und Völkerrecht, in: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.),Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S. 190­1991, u. Thomas Cottier/Maya Hertig, Das Völkerrecht in der neuen Bundesverfassung, in: BTJP 1999, Bern 2000, S. 23.

2309

Völkerrecht verstossen hat (analoge Anwendung der «Schubert-Praxis»; vgl.

Kap. 8.6.2) 51.

Zu diesen von einem Teil der Lehre genannten Ausnahmen gibt es noch keine gefestigte Behördenpraxis. Immerhin ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich der Bundesrat in der EWR-Botschaft da für eine Ausnahme vom Vorrang des Völkerrechts ausgesprochen hat, «wo Grundprinzipien oder Kerngehalte der Grundrechte tangiert sind»52. Zudem vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen umzusetzen sind53. Die Haltung der Bundesbehörden deckt sich mit den Ergebnissen der rechtsvergleichenden Studie (s. Kap. 7), die zeigen, dass die untersuchten Staaten im Allgemeinen zögern, dem Völkerrecht einen absoluten Vorrang über ihre Verfassung einzuräumen.

8.6.2

Konflikt zwischen Völkerrecht und Bundesgesetzen

Aus Artikel 190 BV ergibt sich keine Lösung für den Konflikt zwischen einem Bundesgesetz und einer völkerrechtlichen Norm, da er nicht vorschreibt, ob Ersteres oder Letztere anzuwenden ist, wenn zwischen den beiden ein Widerspruch besteht.

Dies erklärt sich daraus, dass mit Artikel 190 die Erlasse der Bundesversammlung vor einer Verfassungsgerichtsbarkeit der Gerichte geschützt und nicht Konflikte zwischen Bundesgesetzen und dem Völkerrecht gelöst werden sollten. Es bleibt daher letztlich dem Ermessen der rechtsanwendenden Behörden überlassen, ob sie dem Völkerrecht Vorrang einräumen oder in bestimmten Fällen das Gesetz vorgehen lassen wollen.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu dieser Problematik ist zum heutigen Zeitpunkt noch nicht mit letzter Klarheit gefestigt, weshalb es schwierig ist, daraus eindeutige Lehren zu ziehen. Immerhin kann die hauptsächliche Argumentationslinie des Bundesgerichts wie folgt zusammengefasst werden: Grundsätzlich geht das Völkerrecht vor, doch hat es in den Hintergrund zu treten, wenn der Gesetzgeber sich bewusst darüber hinweggesetzt hat (sog. «Schubert-Praxis»)54. Diese 1973 begründete Rechtsprechung ist später mehrfach angerufen und bestätigt worden, ohne dass sie indes in den betreffenden Fällen entscheidend gewesen wäre; das Bundesgericht hat diese Rechtsprechung oder die Argumentation mit der lex poste51

52 53

54

S. die Hinw. bei Jörg Künzli, Demokratische Partizipationsrechte bei neuen Formen der Begründung und bei der Auflösung völkerrechtlicher Verpflichtungen, ZSR 2009 I, S. 70 Anm. 108.

Botschaft des Bundesrates vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 92.

S. die Botschaft des Bundesrates vom 6. Juli 2004 über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz», BBl 2004 3307: «Der Gesetzeber ist gehalten, die Verfassungsbestimmungen getreulich und vollständig umzusetzen.». S. a. die Botschaft vom 22. Juni 1994 zur Volksinitiative «Für eine vernünftige Asylpolitik», BBl 1994 III 1495, die Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 446, Fn. 17, sowie die Botschaft vom 27. August 2008 zur MinarettInitiative, BBl 2008 7650 f., wo festgehalten wird, eine Annahme der Initiative zwinge die Schweiz zur Verletzung fundamental wichtiger völkerrechtlicher Verträge.

BGE 99 Ib 39, Schubert, S. 43 E. 3: «Esso riconosce, in linea di massima ed ove sussista un autentico conflitto, la prevalenza del diritto internazionale, sia esso anteriore o posteriore alla norma del diritto interno. La possibilità d'una eventuale e consapevole deroga da parte del legislatore, fonte suprema del diritto interno, consente di mitigare certi rigori e di salvaguardare in pratica determinati imperiosi interessi».

2310

rior manchmal nicht erwähnt und dem Völkerrecht sogar vor späteren Bundesgesetzen Vorrang eingeräumt (allerdings ohne zu überprüfen, ob der Gesetzgeber bewusst vom völkerrechtlichen Vertrag abgewichen war)55.

Aus völkerrechtlicher Sicht führt eine Anwendung der Schubert-Praxis ohne flankierende Massnahmen zur Neuaushandlung oder Aufkündigung des betreffenden Vertrags zu einer Verletzung der spezifischen völkerrechtlichen Verpflichtung, der Pflicht der Staaten, völkerrechtliche Verträge in gutem Glauben zu erfüllen (pacta sunt servanda) sowie des Verbots, sich auf innerstaatliche Bestimmungen zu berufen, um die Verletzung internationaler Verpflichtungen zu rechtfertigen56. Wenn die Schubert-Praxis in einem konkreten Fall angewendet wird, begründet dies somit die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Schweiz, es sei denn, der Erlass eines bewusst gegen einen völkerrechtlichen Vertrag verstossenden Gesetzes durch die Bundesversammlung werde als Auftrag aufgefasst, den betreffenden Vertrag neu auszuhandeln oder ihn zu kündigen, oder die Bundesversammlung beauftrage gleichzeitig den Bundesrat mit der Neuaushandlung oder der Kündigung des Vertrags.

Die Schubert-Praxis stimmt im Ergebnis mehr oder weniger mit der Praxis der USA überein, einem anderen Staat, der der monistischen Tradition folgt; sie stimmt im Ergebnis auch mit der Praxis der dualistischen Staaten zu den völkerrechtlichen Verträgen überein, weil der Transformationsakt in der Regel den Rang eines Gesetzes hat, gegen das ein späteres Gesetz verstossen kann (vgl. dazu Kap. 7).

Seit einigen Jahren hat das Bundesgericht in einer anderen Reihe von Entscheiden eine Ausnahme zur Schubert-Praxis entwickelt: Im Falle eines Konflikts zwischen einer Norm des Landesrechts und einer Bestimmung des Völkerrechts, die dem Schutz der Menschenrechte dient, geht letztere demnach prinzipiell vor, und zwar unabhängig davon, ob die landesrechtliche Bestimmung vor oder nach dem völkerrechtlichen Vertrag erlassen worden ist (sog. «PKK-Rechtsprechung»)57. Diese Rechtsprechung führte aber nur selten zu einer Anwendung des völkerrechtlichen Vertrags zu Lasten eines widersprechenden Bundesgesetzes58. Das Bundesgericht hat nicht ausgeschlossen, dass die Schubert-Praxis für Konflikte mit Völkerrecht, das nicht den Schutz der Menschenrechte zum Gegenstand hat,
weiterhin anwendbar ist.

Wenn also ein Bundesgesetz beispielsweise mit der EMRK kollidiert, wird das Bundesgericht deshalb in jedem Fall die EMRK anwenden, selbst wenn der Gesetz55

56 57

58

Vgl. beispielsweise BGE 122 II 485, S. 487. Die Aussage in diesem Entscheid, das Völkerrecht stehe hierarchisch über jeder landesrechtlichen Regelung und gehe deshalb stets vor, ist indessen als obiter dictum zu betrachten.

Art. 26 und 27 WVK.

BGE 125 II 417, PKK, S. 424 E. 4d: «Daraus ergibt sich, dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell vorgeht. Dies hat zur Folge, dass eine völkerrechtswidrige Norm des Landesrechts im Einzelfall nicht angewendet werden kann. Diese Konfliktregelung drängt sich umso mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz des Menschenrechts dient. Ob in anderen Fällen davon abweichende Konfliktlösungen in Betracht zu ziehen sind, ist vorliegend nicht zu prüfen».

Diese Argumentation wurde bestätigt namentlich in BGE 131 II 352, S. 355 E. 1.3.1 und in BGE 133 V 367, S. 388 E. 11.2: «Ciò porta ad assimilare l'art. 9 cpv. 2 allegato I ALC alle norme di diritto internazionale che hanno per scopo la tutela dei diritti dell'uomo, e induce di conseguenza ad esprimersi in favore di una sua prevalenza sulle disposizioni di legge federali».

S. etwa BGE 133 II 450, Nada, S. 455 E. 2.2, 133 V 367, S. 389, oder 2A.784/2006, E. 1.1.

2311

geber bei der Annahme des Gesetzes das Risiko eingegangen wäre, gegen sie zu verstossen. Hinter dieser Ausnahme zugunsten der Menschenrechte steht insbesondere der folgende Gedanken: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann prüfen, ob ein Bundesgesetz mit der EMRK vereinbar ist, und gegebenenfalls die Nichtvereinbarkeit feststellen. Die Schweiz ist diesfalls verpflichtet, einen solchen Entscheid umzusetzen. Ein gerügtes Bundesgesetz ist folglich grundsätzlich nicht auf die Beschwerdeführerin oder den Beschwerdeführer anzuwenden, ebenso wenig auf Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. In diesem Rahmen kommt also dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Schweiz die Rolle eines Verfassungsgerichts zu; er kann in Bezug auf Bundesgesetze die Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben ­ eine Rolle, die dem Bundesgericht aufgrund von Artikel 190 BV verwehrt ist. Es handelt sich hierbei natürlich nicht um eine abstrakte Kontrolle der Bundesgesetze, sondern um eine konkrete Normenkontrolle, die im Einzelfall die Nichtanwendung des betreffenden Gesetzes zur Folge haben kann.

Das von der EMRK geschaffene Kontrollsystem folgt dem Subsidiaritätsprinzip, wonach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur dann ein Urteil fällt, wenn alle landesinternen Rechtswege ausgeschöpft sind. Zur effektiven Umsetzung dieses Subsidiaritätsprinzips nimmt das Bundesgericht selbst eine «KonventionsKonformitätsprüfung» der Bundesgesetze vor. Diese Prüfung dient auch der Verfahrensökonomie und trägt im Rahmen des Möglichen dazu bei, das Einschreiten des internationalen Gerichts zu verhindern. Das Bundesgericht kann somit entscheiden, gegebenenfalls ein EMRK-widriges Bundesgesetz nicht anzuwenden, ohne dafür ein Urteil aus Strassburg abwarten zu müssen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das Bundesgericht in solchen Fällen grosse Zurückhaltung übt.

Namentlich bei der EMRK, aber auch bei anderen Verträgen, bei denen ein administratives oder gerichtliches Organ die Einhaltung überwacht, stellt sich die Frage, wie deren Entscheide zu berücksichtigen sind. Diese Entscheide können nämlich die ursprüngliche Tragweite des Vertrags in einer Art und Weise präzisieren und teilweise weiterentwickeln, die bei der Genehmigung des Vertrages nicht absehbar war.

So hat der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in seiner dynamischen Rechtsprechung, die sich auf eine geltungszeitliche und nicht auf die historische Auslegung der EMRK stützt, den Anwendungsbereich einzelner Garantien der EMRK weit ausgelegt59. Daher wäre es denkbar, dass die Bundesversammlung bei der Verabschiedung eines Gesetzes davon ausging, es sei EMRK-konform oder verletze diese zumindest nicht, dieses Gesetz aber einige Jahre später bei seiner Anwendung in einem konkreten Einzelfall mit der EMRK nicht mehr vereinbar ist, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterdessen seine Rechtsprechung weiterentwickelt hat. Nach der Praxis des Bundesgerichts darf das Bundesgesetz dann in analogen Konstellationen nicht mehr angewendet werden. Weil die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, anders als die Entscheide des Bundesgerichts, von Richterinnen und Richtern getroffen werden, die nicht von der Bundesversammlung gewählt sind, wird diese Situation bisweilen als besonders unbefriedigend empfunden. Schwierigkeiten können sich auch im Rahmen der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ergeben, die auf Kapitel VII der UNO-Charta gründen. Die Schweiz ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gehalten, diese Resolutionen auch dann umzu59

Vgl. Urteile des EGMR vom 30. April 2009, Glor c. Suisse, §§ 52 ff., u. vom 13. Dezember 2007, Emonet c. Suisse, § 83.

2312

setzen, wenn dadurch verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte verletzt werden60.

Bei Konflikten zwischen dem Völkerrecht und Bundesgesetzen stellt sich die Situation somit zusammengefasst wie folgt dar: ­

Nach Artikel 5 Absatz 4 BV ist Völkerrecht grundsätzlich zu beachten; aus Artikel 5 Absätze 3 und 4 BV fliesst zudem die Pflicht zur völkerrechtskonformen Auslegung (s. Kap. 8.5). Nur wenn diese scheitert, ist von einem Konflikt auszugehen. Ob im Konfliktfall Völkerrecht oder Bundesgesetze anzuwenden sind, beantwortet die Bundesverfassung nicht umfassend und klar.

­

Nach der geltenden bundesgerichtlichen Praxis geht Völkerrecht vor, es sei denn, der Gesetzgeber habe bewusst das Risiko einer Abweichung in Kauf genommen.

­

Völkerrechtliche Menschenrechtsgarantien und namentlich Bestimmungen der EMRK gehen vor; sie sind mit anderen Worten stets anwendbar, das heisst auch, wenn der Gesetzgeber von ihnen abweichen wollte.

8.7

Das Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen

Die Bundesverfassung war lange stumm zur Frage, wie eine völkerrechtswidrige Volksinitiative zu behandeln sei. Die Bundesversammlung hat am 14. März 1996 die Volksinitiative «für eine vernünftige Asylpolitik» für ungültig erklärt; dies namentlich mit der Begründung, sie verletze das Non-refoulement-Gebot, welches Teil des zwingenden Völkerrechts sei61. Diese Praxis wurde bei der Nachführung der Bundesverfassung kodifiziert. Artikel 139 Absatz 2 BV sieht nun ausdrücklich vor, dass die Bundesversammlung Volksinitiativen, die gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstossen, für ganz oder teilweise ungültig zu erklären hat. E contrario sind Volksinitiativen, die gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstossen, gültig.

Diese Lösung wirft verschiedene Fragen auf, beispielsweise zur Definition des zwingenden Völkerrechts oder zu den Folgen, die sich aus der Annahme einer gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstossenden Initiative ergeben.

Die Problematik völkerrechtswidriger Volksinitiativen ist vom Bundesrat wie von der Bundesverwaltung wiederholt untersucht worden, insbesondere anlässlich der Nachführung der Bundesverfassung und im Rahmen der Reform der Volksrechte62.

Die Frage wurde schliesslich in dem im Auftrag der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats verfassten Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 20. Dezember 2006 im Detail wieder aufgenommen63. Nach der Annahme der Minarett-Initiative hat diese Frage noch an Bedeutung und Aktualität gewonnen.

60 61 62 63

Vgl. BGE 133 II 450, Nada, betreffend internationale Sanktionen, welche die Rechtsweggarantie oder die Eigentumsgarantie verletzen.

BBl 1996 I 1355. Es handelt sich um den bislang einzigen Fall einer Ungültigerklärung wegen Verletzung von zwingendem Völkerrecht.

Siehe auch die gemeinsame Publikation des Bundesamts für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989 (VPB 53.54).

Unveröffentlichter Bericht über die Voraussetzungen für die Gültigkeit von Volksinitiativen und die materiellen Schranken der Verfassungsrevision.

2313

8.7.1

Gegen zwingendes Völkerrecht verstossende Volksinitiativen

8.7.1.1

Zwingendes Völkerrecht

Nach geltendem Verfassungsrecht können nur Volksinitiativen, die gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstossen, für ungültig erklärt werden (Art. 139 Abs. 2 BV). Der Auslegung des Begriffs «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» ist folglich von entscheidender Bedeutung.

Nach der Praxis der Bundesbehörden umfasst der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» insbesondere den völkerrechtlichen Begriff des ius cogens, wie er in Artikel 53 WVK definiert ist (vgl. Kap. 4.7).

Der Bundesrat hat sich in seiner Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung dazu geäussert, welche Normen seiner Ansicht nach zum zwingenden Völkerecht gehören. Er ist der Meinung, dass insbesondere das Gewaltverbot, die Verbote von Folter, Völkermord und Sklaverei, die Grundzüge des humanitären Völkerrechts (insb. das Verbot von Angriffen auf Leib und Leben, der Gefangennahme von Geiseln, der Beeinträchtigung der persönlichen Würde sowie von Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes; s. Art. 3 der Genfer Abkommen von 1949 zum Schutz der Kriegsopfer; SR 0.518.12, 0.518.23, 0.518.42 u. 0.518.51) sowie die notstandsfesten Garantien der EMRK Teil des zwingenden Völkerrechts sind64. Die notstandsfesten Garantien der EMRK umfassen nach Artikel 15 EMRK das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 Abs. 1), der Folter (Art. 3), der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit (Art. 4 Abs. 1) sowie den Grundsatz «nulla poena sine lege» (keine Strafe ohne Gesetz, Art. 7). Der Bundesrat hat diese Überzeugung in der Folge wiederholt bestätigt und präzisiert, dass die notstandsfesten Garantien des UNO-Pakts II ebenfalls Teil des zwingenden Völkerrechts sind65.

So wie Artikel 15 EMRK enthält auch Artikel 4 Absatz 2 des UNO-Pakts II eine Aufzählung notstandsfester Rechte, welche jedoch nicht deckungsgleich sind mit den notstandsfesten Garantien der EMRK. Der Bundesrat hat sich verschiedentlich zur Frage geäussert, ob den notstandesfesten Rechten von Artikel 4 UNO-Pakt II generell zwingender Charakter zukommt. Dies ist nicht der Fall. Beispielsweise wird die Religionsfreiheit in Artikel 4 UNO-Pakt II erwähnt. Die Bestimmung des UNOPakts II zur Religionsfreiheit (Art. 18) relativiert jedoch diese Aufzählung, weil nach Artikel 18 Absatz 3 UNO-Pakt II
die Bekundung eines Glaubensbekenntnisses, die sogenannte externe Religionsfreiheit, eingeschränkt werden kann. Dies kann auch bei anderen Grundrechtsgarantien des UNO-Pakts II der Fall sein. Es muss deshalb für jede Garantie in Auslegung des Pakts besonders geprüft werden, ob sie als notstandsfest betrachtet werden kann66.

64 65

66

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 362, 433, 446.

S. die Botschaften zur Verwahrungsinitiative, BBl 2001 3438-3439, zur Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen», BBl 2006 8961-8962, und zur Minarett-Initiative (BBl 2008 7609 ff.) sowie die Antwort des Bundesrates auf das Postulat 09.3118 (Heim).

Die Aussage in der Botschaft zur Verwahrungsinitiative, wonach die notstandsfesten Garantien des UNO-Pakts II zum zwingenden Völkerrecht gehören (BBl 2001 3439), ist also zu absolut und im oben dargelegten Sinn zu verstehen.

2314

Nach der Praxis der Bundesbehörden umfasst der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» gegenwärtig das Gewaltverbot, das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK; Art. 7 UNO-Pakt II), des Völkermords, der Sklaverei, der Leibeigenschaft und der Zwangsarbeit (Art. 4 Abs. 1 EMRK; Art. 8 Abs. 1 u. 2 UNO-Pakt II), das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 Abs. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 1 UNO-Pakt II), die Grundsätze «nulla poena sine lege» und «ne bis in idem» (Art. 7 EMRK, Art. 15 UNO-Pakt II), die interne Religionsfreiheit (d. h. das Recht, in Freiheit eine eigene religiöse Anschauung zu entwickeln und sich auch wieder davon zu lösen; Schutz des sog. «forum internum», Art. 18 Abs. 3 UNO-Pakt II e contrario) und die Grundzüge des humanitären Völkerrechts (Art. 3 der Genfer Abkommen von 1949). Der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» ist somit offensichtlich weiter als der in der Wiener Vertragsrechtskonvention verankerte Begriff «ius cogens», da er insbesondere auch die notstandsfesten Garantien der EMRK umfasst67.

Da der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts», wie er in den Artikeln 139 Absatz 2, 193 Absatz 4 und 194 Absatz 2 BV verwendet wird, ein landesrechtlicher Begriff ist, wäre aber auch eine noch weitere Auslegung denkbar. Der Bundesrat hat bereits in der Botschaft über eine neue Bundesverfassung ausgeführt, dass es Aufgabe der Praxis ist, unter Einbezug der Lehre letzte Klarheit über die Tragweite des Begriffes zu schaffen68.

Nach der Argumentation der Bundesbehörden haben auch Volksinitiativen das zwingende Völkerrecht zu beachten, da es sich dabei um Normen handelt, deren Geltungskraft sich kein Rechtsstaat entziehen kann. Ihr zwingender Charakter ist so stark, dass Volk und Stände keine echte Wahlfreiheit hätten; folglich wäre es Scheindemokratie, liesse man über eine Volksinitiative abstimmen, die zwingendes Völkerrecht verletzt69.

8.7.1.2

Völkerrechtskonforme Auslegung von Volksinitiativen

Bevor die Bundesversammlung eine Volksinitiative wegen der Verletzung von zwingendem Völkerrecht für ungültig erklärt, bemüht sie sich in Anlehnung an die vom Bundesgericht zu den kantonalen Volksinitiativen entwickelte Praxis, einen Konflikt so weit wie möglich durch eine völkerrechtskonforme Auslegung zu vermeiden (s. zu diesem Grundsatz auch Kap. 8.5)70. Sie lässt sich dabei insbesondere vom Grundsatz der Auslegung in Übereinstimmung mit dem höherrangigen Recht und dem Grundsatz in dubio pro populo leiten. Nach dem Grundsatz der Auslegung in Übereinstimmung mit dem höherrangigen Recht ist ein Erlass, der konform zum höherrangigen Recht ­ vorliegend zum Völkerrecht ­ ausgelegt werden kann, für 67

68 69 70

Vgl. Luzius Mader, Religionsfreiheit, Völkerrecht und Volksinitiativen: aktuelle Problemfelder, in: Astrid Epiney/René Pahud de Mortanges/Khalil Bedoun (Hrsg.), Religionen und Migration im Europarecht und Implikationen für die Schweiz, Zürich/Basel/Genf 2009, S. 101.

Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 446­447 Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 433 f.

Zur völkerrechtskonformen Auslegung der Volksinitiativen s. Roger Nobs, Volksinitiative und Völkerrecht, Zürich/St. Gallen 2006, S. 279 ff., sowie S. 298 f. u. 311. S. a.

BGE 124 I 107, S. 118 E. 5b, und BGE 129 I 392, S. 394 E. 2.2

2315

gültig zu erklären und, wenn es sich um eine Initiative handelt, der Abstimmung zu unterbreiten. Der Grundsatz in dubio pro populo bedeutet, dass Volksinitiativen nach Möglichkeit so auszulegen sind, dass eine Ungültigerklärung vermieden werden kann.

Zur Bestimmung des Sinns und zur Beurteilung der Gültigkeit einer Initiative sind im Übrigen die üblichen Methoden anzuwenden, nämlich die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung. Diese Methoden stützen sich in erster Linie auf den Text der Initiative; der Wille der Initiantinnen und Initianten spielt nur eine sekundäre Rolle, muss aber dennoch mit berücksichtigt werden, beispielsweise im Rahmen der historischen Auslegung. Wenn bei der Anwendung dieser üblichen Auslegungsmethoden mehrere Auslegungen möglich sind, ist nach dem Grundsatz der Auslegung in Übereinstimmung mit dem höherrangigen Recht und dem Grundsatz in dubio pro populo die Auslegung zu wählen, die eine Gültigerklärung der Initiative erlaubt, anders gesagt die Auslegung, die völkerrechtskonform ist und gleichzeitig den Sinn und Zweck der Initiative berücksichtigt71.

8.7.1.3

Teilungültigerklärung und Ausarbeitung eines Gegenentwurfs

Seit der Nachführung der Bundesverfassung von 1999 ist auch die Teilungültigerklärung einer Volksinitiative möglich (Art. 139 Abs. 2 BV). Auf Bundesebene wurde bislang keine Volksinitiative für teilungültig erklärt. In den Kantonen hingegen kam dies schon verschiedentlich vor. Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit den kantonalen Volksinitiativen eine Reihe von Kriterien entwickelt, die bei einer Teilungültigerklärung zu berücksichtigen sind. Demnach darf der für ungültig erklärte Teil nicht einen zentralen Aspekt der Initiative darstellen; der Rest der Initiative muss die Gültigkeitserfordernisse erfüllen, er muss noch einen Sinn ergeben und weiterhin dem Willen der Initiantinnen und Unterzeichner entsprechen72. Je nach Formulierung der Initiative können mit einer Teilungültigerklärung sowohl das zwingende Völkerrecht berücksichtigt als auch die Volksrechte so weit wie möglich gewahrt werden.

Zudem kann die Bundesversammlung einen Gegenentwurf ausarbeiten, um den Text der Initiative in einem gewissen Masse zu «korrigieren» und den Bürgerinnen und Bürgern als Alternative eine völkerrechtskonforme Variante zu unterbreiten (Art.

139 Abs. 3 BV).

8.7.2

Gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstossende Volksinitiativen

Wenn eine Volksinitiative nur gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstösst, ist sie für gültig zu erklären und Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten. Bis71 72

S. insb. die Botschaft zur Verwahrungsinitiative, BBl 2001 3437, sowie die Botschaft zur Volksinitiative «Für eine Regelung der Zuwanderung», BBl 1997 IV 528.

Zur Anwendung dieser Kriterien auf die Teilungültigerklärung von eidgenössischen Volksinitiativen s. Yvo Hangartner, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, Art. 139 Abs. 2, Ziff. 40.

2316

lang sind zwölf Volksinitiativen der Abstimmung unterbreitet worden, die unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten problematisch waren, ohne indes gegen zwingendes Völkerrecht zu verstossen73. Nur drei dieser Initiativen ­ die Alpeninitiative, die Verwahrungsinitiative und die Minarett-Initiative ­ sind von Volk und Ständen angenommen worden. Im Falle der Alpeninitiative und der Verwahrungsinitiative haben sich die Bundesbehörden bemüht, die neuen Verfassungsbestimmungen in völkerrechtskonformer Weise umzusetzen, auch wenn damit die Absichten der Initiantinnen und Initianten nicht vollumfänglich berücksichtigt wurden. Dies dürfte bei der direkt anwendbaren Minarett-Initiative kaum möglich sein.

Im Falle der Annahme einer völkerrechtswidrigen Initiative durch Volk und Stände ergeben sich die Probleme somit bei der Umsetzung der Initiative durch den Gesetzgeber. Wenn eine völkerrechtskonforme Umsetzung nicht möglich ist, ist als Ultima Ratio die Kündigung des völkerrechtlichen Abkommens zu erwägen74. Ist es das offensichtliche Ziel einer Initiative, gegen nicht zwingendes Völkerrecht zu verstossen, oder kann die neue Verfassungsbestimmung nicht völkerrechtskonform umgesetzt werden, so vertritt der Bundesrat die Auffassung, dass die Annahme der Initiative durch Volk und Stände als Auftrag zur Kündigung der entgegenstehenden internationalen Verpflichtungen zu verstehen ist75. Nicht jeder Vertrag kann indes gekündigt werden, sei es, dass er keine Kündigungsklausel enthält76, sei es, dass eine Kündigung aus politischen Gründen nur schwer denkbar ist77. Wie in diesem Fall vorzugehen ist, wird in Kapitel 9 zu untersuchen sein.

8.8

Gerichtliche Überprüfung

Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts, der unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen oder letzter kantonaler Instanzen 73

74

75 76

77

Minarett-Initiative (2009 angenommen), Initiative «Für demokratische Einbürgerungen» (2006 verworfen), Verwahrungsinitiative (2004 angenommen), Sonntags-Initiative (2003 verworfen), Armeeabschaffungs-Initiativen (2001 bzw. 1989 verworfen), Verkehrshalbierungsinitiative (2000 verworfen), Alpeninitiative (1994 angenommen), Staatsvertragsinitiative (1977 verworfen), Überfremdungsinitiativen (1977 bzw. 1974 abgelehnt), Rheinau-Initiative (1954 verworfen); s. zu diesen Initiativen Robert Baumann, Völkerrechtliche Schranken der Verfassungsrevision, ZBl 4/2007, S. 191 ff.; Luzius Mader, Religionsfreiheit, Völkerrecht und Volksinitiativen: aktuelle Problemfelder, in: Astrid Epiney/René Pahud de Mortanges/Khalil Bedoun (Hrsg.), Religionen und Migration im Europarecht und Implikationen für die Schweiz, Zürich/Basel/Genf 2009, S. 96 ff. ­ Noch nicht abgestimmt wurde zum Zeitpunkt der Verabschiedung des vorliegenden Berichts über die 2008 eingereichte Ausschaffungsinitiative.

S. insb. die Botschaft vom 22. Juni 1994 zur Volksinitiative «Für eine vernünftige Asylpolitik», BBl 1994 III 1495, die Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 446, Fn. 17, die Botschaft des Bundesrates vom 6. Juli 2004 über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz», BBl 2004 3307, sowie die Botschaft vom 27. August 2008 zur Minarett-Initiative, BBl 2008 7610; vgl. Kap. 8.6.1, letzter Absatz.

S. insb. die Botschaft zur Volksinitiative «Für eine vernünftige Asylpolitik», BBl 1994 III 1495, und die Botschaft zur Minarett-Initiative, BBl 2008 7610.

S. z.B. BBl 1991 I 1208; ob es dieses juristische Hindernis gebe, ist in der Lehre jedoch umstritten; vgl. dazu Robert Baumann, Völkerrechtliche Schranken der Verfassungsrevision, ZBl 4/2007, S. 209, u. Helen Keller/Markus Lanter/Andreas Fischer, Volksinitiativen und Völkerrecht: die Zeit ist reif für eine Verfassungsänderung, ZBl 3/2008, S. 147.

In der Botschaft zur Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz» hat der Bundesrat klar die Haltung vertreten, dass eine Kündigung des WTO-Abkommens, der EMRK oder des UNO-Pakts II keine realistischen Optionen wären; s. BBl 2004 3290 ff.

2317

(in der Regel obere kantonale Gerichte) unterliegen grundsätzlich der Einheitsbeschwerde an das Bundesgericht78. Mit der Einheitsbeschwerde kann neben der Verletzung von Bundesrecht auch die Verletzung von Völkerrecht gerügt werden79.

Damit ist auch die Rüge möglich, die Vorinstanz habe das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht verkannt. Angerufen werden können allerdings nur direkt anwendbare Völkerrechtsnormen (vgl. oben, Kap. 8.3). Soweit Auslegungsspielraum besteht, kann allenfalls auch gerügt werden, die Vorinstanz habe zu Unrecht Landesrecht nicht völkerrechtskonform oder Völkerrecht nicht verfassungskonform ausgelegt.

Der Zugang zum Bundesgericht ist unabhängig von der vorgebrachten Rüge dort ausgeschlossen, wo eine Streitigkeit, die keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betrifft, die gesetzlich vorgesehene Streitwertgrenze nicht erreicht oder wo das Bundesgerichtsgesetz ein bestimmtes Sachgebiet von der höchstrichterlichen Überprüfung ausnimmt80. Vorbehalten bleibt in diesen Fällen indes die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen81.

Nach geltendem Recht können namentlich folgende Entscheide unterer Instanzen über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht nicht mit der Einheitsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden:

78 79 80 81 82



Entscheide von Bundesverwaltungsstellen oder letzter kantonaler Instanzen auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit des Landes, der Neutralität, des diplomatischen Schutzes und der übrigen auswärtigen Angelegenheiten, soweit das Völkerrecht nicht einen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung einräumt. Hier ist der Bundesrat Beschwerdeinstanz, soweit er nicht selber entscheidet 82.

­

Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, die in den Ausnahmekatalog des Artikel 83 BGG fallen (z.B. Asylbereich, internationale Amtshilfe, gewisse Entscheide im Ausländerrecht oder im öffentlichen Beschaffungsrecht); bestimmte vermögensrechtliche Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, soweit die massgebenden Streitwertgrenzen nicht erreicht werden und sich auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (z.B. im Bereich der Staatshaftung oder des Personalrechts).



Entscheide des Bundesstrafgerichts auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, die nicht als besonders bedeutende Fälle qualifiziert werden (Art. 84 BGG), sowie Entscheide der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, mit Ausnahme jener über Zwangsmassnahmen (Art. 79 BGG).



Entscheide letzter kantonaler Instanzen, die unter den Ausnahmekatalog des Artikels 83 BGG fallen, und bestimmte vermögensrechtliche Entscheide der gleichen Instanzen, soweit die massgebenden Streitwertgrenzen nicht erreicht werden und sich auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt.

Vgl. Art. 72, 75, 78, 80, 82 und 86 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110).

Vgl. Art. 189 Abs. 1 Bst. b BV; Art. 95 Bst. a und b BGG.

Vgl. Art. 191 BV.

Vgl. Art. 113 ff. BGG.

Vgl. Art. 72 Bst. a VwVG.

2318

Ist die Einheitsbeschwerde gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen ausgeschlossen, so steht wie erwähnt die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zur Verfügung. Mit dieser kann allerdings nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden. Zu diesen zählen auch Garantien der EMRK, des Uno-Pakts II oder allenfalls anderer Menschenrechtsverträge83, nicht jedoch das gesamte Völkerrecht.

Mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde anfechtbar sein dürften also in erster Linie Entscheide, die sich mit dem Verhältnis zwischen Landesrecht und der EMRK oder allenfalls mit anderen Menschenrechtsverträgen befassen. Gegen Entscheide des Bundesverwaltungs- oder des Bundesstrafgerichts, die nicht der Einheitsbeschwerde unterliegen, ist die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht zulässig.

Der Vollständigkeit halber sei noch auf Artikel 189 Absatz 4 BV hingewiesen, wonach unter Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmen Akte der Bundesversammlung (wie z.B. die Gültig- oder Ungültigerklärung einer Volksinitiative) und des Bundesrates nicht beim Bundesgericht angefochten werden können. Entsprechend werden die Bundesversammlung und der Bundesrat im Bundesgerichtsgesetz nicht als zulässige Vorinstanzen aufgeführt.

9

Offene Fragen und Handlungsoptionen

9.1

Einleitung

Der Bericht zeigt auf, dass das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der geltenden Rechtsordnung gewisse Fragen offen lässt, zu deren Beantwortung verschiedene Optionen offen stehen. Nicht in allen Teilen geklärt ist das Verhältnis des Völkerrechts zur Bundesverfassung. Von seiten der Lehre werden dazu verschiedene Ansichten vertreten, wie oben dargestellt worden ist (Kap. 8.6.1). Man kann sich auch fragen, ob neue Rangregeln eingeführt werden sollten, die beispielsweise an der materiellen Wichtigkeit oder der demokratischen Legitimation anknüpfen. Das Postulat der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates 07.3764 hat die Frage aufgeworfen, ob die Schubert-Praxis gesetzlich verankert werden solle. Zu prüfen wäre auch, ob die Bundesverfassung dahingehend zu ergänzen sei, dass Ausnahmen vom Anwendungsgebot für Völkerrecht, wie es Artikel 190 BV vorsieht, eingeführt werden sollten. Weiter will die Kommission wissen, ob zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht eine einheitliche Rechtsprechung sichergestellt werden und deshalb für alle diesbezüglichen Entscheide die Zuständigkeit des Bundesgerichts gegeben sein sollte.

Von besonderer Bedeutung ist sodann der Umgang mit völkerrechtswidrigen Volksinitiativen, der deshalb besonders eingehend dargestellt wird. Vorab ist ­ entsprechend dem Auftrag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates ­ zu klären, wie sich ein Wechsel vom Monismus zum Dualismus auswirken würde.

83

Vgl. Giovanni Biaggini, Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz (2008), Rz. 17 ff. zu Art. 116.

2319

9.2

Wechsel vom Monismus zum Dualismus

Die Schweiz ist seit jeher Teil der monistischen Tradition (vgl. Kap. 8.2). Mehrere parlamentarische Vorstösse, insbesondere das Postulat der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates, das diesen Bericht ausgelöst hat, haben in jüngerer Zeit die Frage aufgeworfen, ob weiterhin das monistische System gelten solle, und den Bundesrat ersucht, die Vorteile eines Wechsels zum Dualismus zu prüfen84.

Die monistische Praxis der Schweiz ist immer wieder hinterfragt worden. Das Postulat der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates greift also keine neue Frage auf, wenn es den Bundesrat einlädt, sich zur Frage zu äussern, ob das monistische System durch das dualistische abgelöst werden solle und welches die Vor- und Nachteile eines solchen Wechsels wären. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich der Bundesrat dazu äussert.

Seit 1996 wurden im Parlament verschiedene Vorstösse zur Einführung des Dualismus oder zumindest dualistischer Elemente eingebracht. Sie waren im Wesentlichen in der Sorge begründet, die Kompetenzen der Bundesversammlung würden im Zuge der Globalisierung ausgehöhlt85.

Der Bundesrat stand einer Einführung des Dualismus immer ablehnend gegenüber.

In seinen Antworten auf die oben erwähnten Vorstösse legte er dar, dass unsere Rechtsordnung seit den Anfängen des schweizerischen Bundesstaates monistisch sei. Der Monismus sei ein Teil des materiellen Verfassungsrechts. Ein Wechsel zum Dualismus würde bedeuten, dass rechtsetzende Staatsverträge auf dem Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens transformiert werden müssten. Das Gesetzgebungsverfahren würde damit erheblich belastet. Zudem bestünde stets das Risiko, dass zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag und dem Transformationsgesetz Widersprüche geschaffen würden. Dies könnte die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Schweiz auslösen. Ein Wechsel vom Monismus auf den Dualismus könnte zudem den Eindruck erwecken, die Schweiz behalte sich künftig vor, innerstaatlich die eingegangenen Verpflichtungen nicht zu erfüllen, umso mehr, als generell eher eine Tendenz vom Dualismus zum Monismus festzustellen sei.

Der Bericht zeigt auf, dass ein Wechsel vom Monismus zum Dualismus nur begrenzte Auswirkungen auf die innerstaatliche Stellung des Völkerrechts hat, da diese von der Anwendbarkeit und vom Rang entscheidend mitgeprägt wird (Kap. 5.2).
Der Dualismus wäre mit der gewachsenen Schweizer Rechtsordnung nur schwer vereinbar. Für einen Systemwechsel müsste wohl die Verfassung um Bestimmungen über die Übernahme des Völkerrechts ergänzt werden (vgl. die Ausführungen zu Deutschland, Kap. 7.2). Zudem müssten Tausende von Seiten geltendes Völkerrecht in Gesetzeserlasse gefasst werden. Da eine dualistische Tradition fehlt, müssten Behörden und Gerichte eine Praxis zum Dualismus erst entwickeln, was Rechtsunsicherheit schaffen würde und somit Nachteile für die Rechtsunterworfenen hätte.

84 85

S. auch das Postulat 09.3676 der SVP-Fraktion vom 12. Juni 2009.

Vgl. parlamentarische Initiative 96.444 Inderkum Hansheiri «Verhältnis Völkerrecht/Landesrecht», vom 4. Oktober 1996 (zurückgezogen am 7. Oktober 1999); Motion 96.3482 Baumann Alexander J. «Systemwechsel für die Einführung von Völkerrecht», vom 3. Oktober 1996 (am 9. Oktober 1998 abgeschrieben); Interpellation 96.3479 Schmid Samuel «Wechsel zum Dualismus», vom 3. Oktober 1996 (am 9. Oktober 1998 abgeschrieben); Petition 2007 Emil Rahm, Auslegung von Art. 5 Abs. 4 der neuen Bundesverfassung (keine Folge gegeben). Vgl. auch verschiedene Interventionen von Ständerat Carlo Schmid, AB 1996 S 63; vgl. auch S. 346 und AB 2004 S 629.

2320

Bewährtes sollte nur abgeschafft werden, wenn eine Neuerung klare Vorteile bringt.

Solche vermag der Bundesrat bei einem Wechsel zum Dualismus nicht zu erkennen.

Er geht im Gegenteil davon aus, dass wir uns Nachteile einhandeln würden. Gerade als Kleinstaat hat die Schweiz ein Interesse daran, keine Zweifel an ihrer Verlässlichkeit als Vertragspartnerin aufkommen zu lassen. Der Dualismus würde wie oben bereits ausgeführt das Gesetzgebungsverfahren belasten und könnte zu unerwünschten Widersprüchen zwischen Transformationsgesetz und völkerrechtlichem Vertrag führen. Damit würde die Rechtssicherheit beeinträchtigt. Dies könnte zwar vermieden werden, wenn Verträge wie in Deutschland mit einem blossen Rechtsanwendungsbefehl übernommen würden (vgl. Kap. 7.2); allerdings würde dies im Ergebnis faktisch dem heute geltenden monistischen System gleichkommen.

Die mit der wachsenden internationalen Verflechtung einhergehende Zunahme an völkerrechtlichen Normen führt denn auch, wie der Bundesrat schon in seinen Antworten auf die oben erwähnten Vorstösse ausgeführt hat, selbst in traditionell dualistischen Ländern wie dem Vereinigten Königreich (Kap. 7.4) oder Schweden (Kap. 7.6) vermehrt zu einer Abkehr von der starren Transformationspflicht. Im Rahmen der EU haben insbesondere auch traditionell dualistische Staaten das Europarecht ohne Transformation anzuwenden. In diesem Sinne gilt innerhalb der EU der Monismus.

Das heutige monistische System ist einfach, effizient und flexibel. Es gewährleistet Rechtssicherheit ohne zusätzlichen Rechtsetzungsaufwand. Der Monismus trägt damit auch dazu bei, die Bundesversammlung, den Bundesrat und die Bundesverwaltung zu entlasten. Er konnte im Zuge der wachsenden Bedeutung internationaler Verpflichtungen laufend an die neuen Bedürfnisse angepasst werden, namentlich mit einer sukzessiven Erweiterung der Kompetenzen von Volk, Ständen und Parlament (vgl. Kap. 3). Heute herrscht ein weitgehender Parallelismus zwischen dem Staatsvertrags- und dem Gesetzesreferendum. Die Einführung des Dualismus ist deshalb nicht angezeigt.

9.3

Regelung des Vorrangs in der Bundesverfassung

Die Bundesverfassung beinhaltet heute keine umfassende, in allen Teilen klare Regelung des Rangverhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht: Es fehlen klare Regeln für die Lösung von Konflikten zwischen dem Völkerrecht und der Bundesverfassung (s. Kap. 8.4). Es fragt sich, ob eine entsprechende Bestimmung in der Bundesverfassung anzustreben ist. Eine analoge Regelung, wie sie die Bundesverfassung für das Verhältnis von Bundesrecht und kantonalem Recht trifft (Art. 49 BV), wäre kaum denkbar. Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht ist differenzierter anzugehen.

9.3.1

Nach der materiellen Bedeutung

Es gibt Ansätze zur Herausbildung einer Hierarchie innerhalb des Völkerrechts (Kap. 4.7, letzter Absatz). Es wäre denkbar, den Rang des Völkerrechts gegenüber dem Landesrecht differenziert anzugehen und bedeutenden Normen des Völkerrechts, etwa solchen des Menschenrechtsschutzes, Vorrang gegenüber dem Landesrecht einzuräumen, eher technischen Abkommen hingegen einen Rang unter der 2321

Bundesverfassung und den Bundesgesetzen zuzuweisen86. Der Bundesrat ist jedoch der Ansicht, dass eine solche landesrechtliche Hierarchisierung des Völkerrechts eine noch wenig gefestigte Tendenz ist, deren Entwicklung den rechtsprechenden Behörden überlassen werden sollte. Zudem ist eine solche landesrechtliche Hierarchisierung nur schwer vorstellbar, solange das Völkerrecht selbst keine eigentliche Normenhierarchie vorsieht (vgl. Kap. 4.7). Die Bedeutung einer Norm ist im Weiteren primär politischer Art, so dass dieses Kriterium kaum die notwendige Voraussehbarkeit gewährleisten würde. Es wäre somit der Rechtssicherheit abträglich.

Wenn in einem Konfliktfall zwischen Völkerrecht und Landesrecht verfassungsrechtliche Grundprinzipien oder Kerngehalte der Grundrechte der Bundesverfassung tangiert sind, so gehen diese nach Auffassung des Bundesrates stets vor (Kap. 8.6.1)87.

9.3.2

Nach der demokratischen Legitimation

Grundsätzlich denkbar wäre es auch, derjenigen ­ landesrechtlichen oder völkerrechtlichen ­ Norm den Vorrang einzuräumen, die die stärkere demokratische Legitimation hat. Auch eine solche Lösung entbindet die Schweiz indes nicht davor, ihre internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Problematisch ist überdies, dass viele ältere Abkommen, wie beispielsweise die EMRK, seinerzeit nicht dem Referendum unterstanden. Dass gerade solche wichtigen Verträge keinen Vorrang vor Bundesgesetzen hätten, wäre inkohärent und würde die Schweiz auf der internationalen Bühne in Schwierigkeiten bringen. Bei neueren Verträgen würde das Kriterium hingegen kaum von Bedeutung sein, weil die Volksrechte in Bezug auf das Völkerrecht und das Landesrecht weitgehend parallel ausgestaltet sind (s. Kap. 3)88. Ein auf der demokratischen Legitimation beruhendes Vorrangkriterium würde auch dazu führen, dass die Bundesverfassung meistens Vorrang vor völkerrechtlichen Verträgen geniessen würde, da diese nur selten dem obligatorischen Referendum unterstehen89.

Zudem sind Staatsverträge, die vom Bundesrat selbstständig abgeschlossen werden, nicht weniger demokratisch legitimiert, da die Bundesratskompetenz stets auf einer Delegationsnorm eines Bundesgesetzes beruht. Schliesslich deckt das Kriterium der demokratischen Legitimation nicht das gesamte Völkerrecht ab. Das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze entziehen sich einer formellen Genehmigung durch die Bundesbehörden. Im Übrigen sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass bei Konflikten zwischen dem Bundesrecht und kantonalem Recht dem Bundesrecht der Vorrang zukommt, ungeachtet der demokratischen Legitimation der einzelnen Erlasse. So gehen beispielsweise auch Verordnungen des Bundes den kantonalen Gesetzen vor.

86 87 88 89

Vgl. Anne Benoît, Vers une hiérarchie des normes internationales en droit interne suisse?, ZSR 2009 I, S. 453 ff.

Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 92.

Illustrativ hier BGE 133 V 367, S. 389 E. 11.4.

S. die Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)», BBl 2009 6057.

2322

9.3.3

Vorrang jüngeren Verfassungsrechts

Nach Ansicht des Bundesrates sind die rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich gehalten, völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen anzuwenden, wenn diese jünger als die völkerrechtliche Bestimmung und Artikel 190 BV sowie direkt anwendbar sind. Der neue Artikel 72 Absatz 3 BV (Minarett-Verbot) ist ein besonders aktuelles Beispiel dafür. Ist der betreffende Verfassungsartikel nicht direkt anwendbar, hat ihn die Bundesversammlung durch den Erlass der notwendigen Gesetzesbestimmungen zu konkretisieren90. Es können diesbezüglich namentlich die gleichen Gründe geltend gemacht werden, wie sie oben zum Vorrang der jüngeren Verfassungsbestimmung vor dem älteren Bundesgesetz genannt worden sind (Kap. 8.6.1). Mit Artikel 190 BV sollen die Gerichte gehindert werden, ihre eigene Interessenabwägung an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers zu setzen. Die Entscheide des Gesetzgebers sind für die Gerichte verbindlich. Dies muss umso mehr auch für die späteren Entscheide des Verfassungsgebers gelten. Wird der Verfassungsbestimmung der Vorrang eingeräumt, so kann die völkerrechtliche Verantwortung der Schweiz ausgelöst werden. Die Schweiz kann dies nur durch eine Neuaushandlung oder Kündigung der betroffenen Abkommen vermeiden, was rechtlich oder politisch nicht immer möglich bzw. wünschbar ist. Für diesen Lösungsansatz ist keine Verfassungsänderung nötig.

9.3.4

Verankerung der Schubert-Praxis

Buchstabe c des Postulats der Rechtskommission des Ständerates verlangt vom Bundesrat, er solle sich über die Weiterführung und allfällige gesetzliche Verankerung der Schubert-Praxis aussprechen.

Bislang ist die Schubert-Praxis das Ergebnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Es liegt somit im Ermessen des Bundesgerichts, diese mittels einer Änderung der Rechtsprechung fallen zu lassen oder sie weiterzuführen. Die Bundesversammlung kann die Schubert-Praxis nur beeinflussen, indem sie sie in einem Erlass verankert oder ausschliesst.

Vor einer Verankerung der Schubert-Praxis wäre der Inhalt der künftigen Norm festzulegen: Sollen die rechtsanwendenden Behörden im Sinne einer KannVorschrift bloss die Möglichkeit haben, späteren Bundesgesetzen den Vorrang gegenüber entgegenstehendem Völkerrecht einzuräumen, wenn der Gesetzgeber bewusst gegen dieses verstossen hat? Diesfalls würde die gegenwärtige Rechtslage praktisch nicht geändert. Oder ginge es vielmehr um eine Verpflichtung der Behörden, späteren Gesetzen bei einem bewussten Verstoss der Bundesversammlung den Vorrang einzuräumen? Diesfalls wäre des Weiteren zu entscheiden, ob die SchubertPraxis mit der vom Bundesgericht entwickelten Ausnahme zugunsten völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz-Bestimmungen verankert werden soll oder nicht. Eine Verankerung mit dieser Ausnahme würde dem Bundesgericht unter Umständen die Entwicklung weiterer Ausnahmen zur Schubert-Praxis verunmöglichen, selbst wenn solche angezeigt wären. Bei einer Verankerung müsste zudem entschieden werden, ob der Vorrang der Bundesgesetze nur gegenüber völkerrechtlichen Verträgen gelten 90

Botschaft des Bundesrates vom 6. Juli 2004 über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz», BBl 2004 3307; Yvo Hangartner, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, Art. 139, Rz. 42.

2323

sollte oder auch gegenüber dem Völkergewohnheitsrecht und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen; wohlverstanden wäre ein Vorrang gegenüber dem zwingenden Völkerrecht ausgeschlossen.

Der Bundesrat hat erst kürzlich zur Frage der Verankerung der Schubert-Praxis in der Verfassung Stellung genommen. In seiner Antwort vom 27. August 2008 auf die Motion 08.3249 (Lukas Reimann, Verfassungsgrundlage für die Schubert-Praxis) hat er dargelegt, dass sich der Verfassungsgeber von 1999 bei der Verabschiedung der Artikel 5 Absatz 4 und 190 BV für eine pragmatische Lösung entschieden hat, indem er es den rechtsanwendenden Behörden und insbesondere dem Bundesgericht überlassen wollte, im konkreten Anwendungsfall eine Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen vorzunehmen und eine angemessene Konfliktlösung zu finden.

Diese pragmatische Lösung habe sich bewährt. Der Bundesrat kam deshalb zum Schluss, dass sofortige Massnahmen, wie insbesondere eine Verankerung der Schubert-Praxis in der Bundesverfassung, nicht nötig seien. Diese Schlussfolgerung kann hier bestätigt werden. Zu den vom Bundesrat schon genannten Argumenten kommen noch folgende Gründe hinzu: Die geltende Verfassung trägt der Schubert-Rechtsprechung schon genügend Rechnung, da Artikel 5 Absatz 4 BV so formuliert ist, dass diese beibehalten werden kann. Zudem sind direkte Konflikte zwischen einem späteren Bundesgesetz und dem Völkerrecht wie schon betont selten, sodass der Erlass zusätzlicher Bestimmungen nicht gerechtfertigt wäre, umso mehr, als die Bundesversammlung im Allgemeinen in den Abschluss der völkerrechtlichen Verträge einbezogen wird. Die rechtsvergleichende Studie (s. oben, Kap. 7) hat im Übrigen gezeigt, dass in diesem Bereich ein flexibles Vorgehen einer zu schematischen oder mechanischen Lösung vorzuziehen ist. Des Weiteren ist zu unterstreichen, dass die Wirkung einer Kodifikation der Schubert-Praxis unter Umständen begrenzt wäre im Falle völkerrechtlicher Verträge mit einem Kontrollmechanismus, der zu für die Schweiz bindenden Entscheiden führt, da internationale Organe in jedem Falle der völkerrechtlichen Bestimmung den Vorrang einräumen. Bei einem offensichtlichen Konflikt, anders gesagt, wenn die Bundesversammlung die klare Absicht hat, gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz zu verstossen, wäre die kohärenteste
Lösung deshalb die, Schritte zur Neuaushandlung oder, wenn dies nicht möglich wäre, zur Auflösung des betroffenen Vertrags zu unternehmen. Dies bedeutet, dass der Erlass einer bewusst gegen Völkerrecht verstossenden gesetzlichen Bestimmung als Auftrag an den Bundesrat aufzufassen ist, den betreffenden Vertrag neu auszuhandeln oder zu kündigen, oder dass der Erlass des betreffenden Gesetzes mit einer Motion der Bundesversammlung zu verbinden ist, die den Bundesrat mit der Neuaushandlung oder Kündigung des Vertrags beauftragt. Damit die Schweiz sich nicht völkerrechtlich verantwortlich macht, sollte die neue Gesetzesbestimmung erst dann in Kraft treten, wenn die Kündigung wirksam geworden oder der neu ausgehandelte Vertrag in Kraft getreten ist. Diese Lösung hat den Vorteil, dass sie vollumfänglich den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz Rechnung trägt und dem Gesetzgeber klar die Folgen aufzeigt, die der Erlass von Bestimmung hat, die gegen früher abgeschlossene völkerrechtliche Verpflichtungen verstossen.

Der Bundesrat spricht sich somit gegen die verfassungsrechtliche oder gesetzliche Verankerung der Schubert-Praxis aus. Aus den oben dargelegten Gründen wäre dies weder nützlich noch opportun.

2324

9.4

Ergänzung von Artikel 190 BV

Eine weiterer Lösungsansatz könnte darin bestehen, Artikel 190 BV um einen zweiten Absatz zu ergänzen, wonach das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden nicht an die Bestimmungen der Bundesverfassung oder von Bundesgesetzen gebunden wären, wenn dadurch (a.) zwingendes Völkerrecht oder (b.)

von Volk und Ständen angenommenes Völkerrecht verletzt würde oder wenn (c.) die Verletzung des Völkerrechts durch ein internationales Gericht festgestellt worden wäre. So könnte auf den ersten Blick sichergestellt werden, dass Verfassungsrecht und Bundesgesetze umgesetzt werden, ausser (a.) grundlegendes Völkerrecht oder (b.) Völkerrecht mit der gleichen oder einer stärkeren demokratischen Legitimation stehe dem entgegen oder (c.) eine Völkerrechtsverletzung sei klar auf internationaler Ebene von einer zuständigen Instanz festgestellt worden. Es bräuchte also beispielsweise ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, damit eine Initiative wegen EMRK-widrigkeit nicht umgesetzt würde; die Einschätzung einer Schweizer Behörde würde nicht genügen.

Diese Lösung wäre indes nicht zielführend, denn alle Bestimmungen der Bundesverfassung sind gleichrangig. Ein Konflikt zwischen den BV-Bestimmungen wird deshalb nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen lex specialis derogat legi generali («Spezialgesetz bricht allgemeines Gesetz») und lex posterior derogat legi priori («Späteres Gesetz bricht früheres Gesetz») gelöst. Ergäbe die Auslegung, dass eine Verfassungsbestimmung gegen Völkerrecht im Sinne eines Artikels 190 Absatz 2 verstösst, so ginge sie als speziellere wie auch spätere Bestimmung dennoch vor; es kann dem Verfassungsgeber ja wohl kaum unterstellt werden, er habe in einer aufwendigen Abstimmung eine unwirksame Bestimmung schaffen wollen. Um ganz sicher zu gehen, könnte ein Initiativkomitee zudem im Initiativtext vorsehen, dass die von ihm vorgeschlagene Verfassungsbestimmung unbeschadet von Artikel 190 Absatz 2 massgebend sei. Absatz 2 käme somit nur zum Tragen, wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung des Verfassungsrechts möglich wäre, mithin also gar kein Konflikt zwischen dem Verfassungsrecht und dem Völkerrecht bestünde.

Wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung möglich ist, besteht aber auch kein Bedarf an einer über den heutigen Artikel 190 BV hinausgehenden Regelung.
Abgesehen von diesem grundlegenden Einwand zeigt es sich auch, dass es sehr schwierig wäre, zu definieren, welche völkerrechtlichen Normen dem Landesrecht vorgehen sollen. Das Kriterium des zwingenden Völkerrechts (a.) gilt schon für die Gültigkeit einer Initiative; die nochmalige Erwähnung macht keinen Sinn. Es wäre kaum vorstellbar, dass eine rechtsanwendende Behörde eine Volksinitiative, die vom Parlament für gültig befunden worden und von Volk und Ständen angenommen worden ist, in Abweichung von der Beurteilung des Parlaments als nicht vereinbar mit dem zwingenden Völkerrecht betrachten und nicht anwenden könnte.

Das Kriterium, dass nur von Volk und Ständen angenommenes Völkerrecht für die Behörden massgebend sein soll (b.), würde viele wichtigen Verträge, insbesondere die EMRK und den UNO-Pakt II, die im Zusammenhang mit Volksinitiativen in jüngerer Zeit besonders oft betroffen waren, ausschliessen; im Übrigen sei auf die oben erwähnten Argumente verwiesen (s. Kap. 9.3.2). Ausserdem hätte die Schweiz auf zwischenstaatlicher Ebene die Konsequenzen zu gewärtigen, die sich aus der Verletzung ihrer völkerrechtlichen Pflichten ergeben (vgl. Kap. 6).

Man könnte auch vorsehen, dass nur wichtiges Völkerrecht vorgeht oder nur solches, das von vitalem Interesse für die Schweiz ist. Aber allgemeine Kriterien 2325

verursachen grosse Schwierigkeiten. Und sieht man vor, dass Verfassungsrecht und Bundesgesetze vorgehen, ausser ein internationales Gericht habe die Verletzung des Völkerrechts festgestellt (c.), wäre eine antizipierte Nichtanwendung von Bundesrecht durch das Bundesgericht beispielsweise im Bereiche der EMRK zwar anders als heute nicht mehr möglich (vgl. Kap. 8.6.2); der Bundesversammlung hingegen bliebe es weiterhin unbenommen, eine Volksinitiative auf Gesetzesebene völkerrechtskonform umzusetzen.

Der Bundesrat kommt aus diesen Gründen zum Schluss, dass eine Ergänzung von Artikel 190 um einen Absatz 2 wirkungslos wäre. Eine solche Ergänzung würde ausserdem den Einsatz der Schweiz auf internationaler Ebene für die Menschenrechte und den Vorrang des Völkerrechts unglaubwürdig machen91. Sie läge zudem quer zu den Bestrebungen zur Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Änderung von Art. 190 BV) und zur Tendenz in der internationalen Rechtsgemeinschaft, den Vorrang des Völkerrechts anzuerkennen. Schliesslich brächte dieser Lösungsansatz keine Änderung bei völkerrechtswidrigen Volksinitiativen.

9.5

Zuständigkeit des Bundesgerichts bei Fragen zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht

Im Postulat 07.3764 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats wird unter Buchstabe d die Frage gestellt, ob Entscheide unterer Instanzen über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht in jedem Fall an das Bundesgericht sollen weitergezogen werden können, sodass eine einheitliche Rechtsprechung gewährleistet wäre.

Bei der Beantwortung dieser Frage wird davon ausgegangen, dass es sich bei «unteren Instanzen» im Sinne des Postulats um gerichtliche Vorinstanzen des Bundesgerichts und nicht um oberste Organe des Bundes Bundesversammlung und Bundesrat handelt. Die Frage der Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird deshalb nicht behandelt. Dieses Thema bildet Gegenstand zweier parlamentarischer Initiativen: pa. Iv. 05.445 Studer Heiner zur Verfassungsgerichtsbarkeit und pa. Iv.

07.476 Müller-Hemmi zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für rechtsanwendende Behörden.

Das Bundesgericht ist die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes (Art. 188 BV). Was das Bundesgericht zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht entscheidet, gilt für alle rechtsanwendenen Behörden unseres Landes. Diese müssen die Rechtsprechung des Bundesgerichts spontan befolgen. Sollten sie dies unterlassen, so steht in den meisten Fällen der Rechtsweg ans Bundesgericht offen, das somit für eine einheitliche Rechtsanwendung sorgen kann. Es gibt aber Ausnahmen, wo das Bundesgericht nicht zuständig ist (vgl. Kap. 8.8).

Sollten alle Entscheide unterer Instanzen über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht an das Bundesgericht weitergezogen werden können, so müsste punktuell für diese Rüge der Zugang zum Bundesgericht auch dort geöffnet werden, wo bisher das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesstrafgericht oder wo nicht verfassungsmässige Rechte betroffen sind letzte kantonale Instanzen abschliessend 91

Im Europarat hat sich die Schweiz dafür eingesetzt, dass neue Mitgliedstaaten den Vorrang des Völkerrechts in ihrer Verfassung verankern müssen, um aufgenommen zu werden.

2326

entschieden haben. Ausgeschlossen sein dürfte von vorneherein, die Zugangsschranken zum Bundesgericht, wie sie in der Form von Streitwertgrenzen und Ausnahmekatalogen bestehen, generell aufzuheben. Dies würde dem Ziel der Totalrevision der Bundesrechtspflege, das Bundesgericht zu entlasten, diametral entgegenlauentgegenlaufen. In Betracht käme damit noch die Einführung eines zusätzlichen Rechtsmittels, wenn das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht betroffen ist.

Der Bundesrat steht einem zusätzlichen Rechtsmittelweg ans Bundesgericht für eine einzelne Rüge indes skeptisch gegenüber. Gegen eine Öffnung des Zugangs zum Bundesgericht sprechen folgende Gründe:

92



Eine Erweiterung der Rechtsmittelmöglichkeiten könnte namentlich im Bereich des Asylrechts zu einer Mehrbelastung des Bundesgerichts führen.

Beschwerdeführende in diesem Bereich könnten allenfalls auch in hinsichtlich dieser Rüge aussichtslosen Fällen versucht sein, als letzte Möglichkeit noch das Bundesgericht wegen der Klärung des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht anzurufen, nicht zuletzt, um Zeit zu gewinnen.

Im Jahr 2008 registrierte das Bundesgericht insgesamt 7147 eingehende Geschäfte. Die Abteilungen IV und V des Bundesverwaltungsgerichts, welche sich ausschliesslich mit Fällen im Bereich des Asylrechts befassen, verzeichneten im gleichen Jahr 4247 Eingänge92. Auch wenn nur ein Bruchteil der Asylurteile des Bundesverwaltungsgerichts beim Bundesgericht angefochten würde, müsste das Bundesgericht möglicherweise vergrössert und reorganisiert werden, um die zusätzliche Geschäftslast bewältigen zu können. Zudem ist die Leitfunktion des Bundesgerichts im Asylbereich indirekt gewährleistet, weil es in anderen Rechtsbereichen (Auslieferung, Ausweisung) ebenfalls die Geltung und Tragweite des Refoulementverbots zu beurteilen hat.



Für die Rechtsuchenden wäre es schwer nachvollziehbar, wieso im Bereich der Zugangsschranken des BGG nur Beschwerden zur Klärung des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht möglich wären, nicht jedoch wegen anderer Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, beispielsweise der Frage der Verletzung verfassungsmässiger Rechte durch das Bundesverwaltungs- oder das Bundesstrafgericht.



Wieweit eine Frage zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht vorliegt sowie streitentscheidend und nicht bloss theoretischer Natur ist, wird oft erst nach einer genauen Prüfung des gesamten Falles eruiert werden können.

­

Ferner fragt sich, ob die Öffnung des Zugangs zum Bundesgericht überhaupt ein taugliches Mittel ist, um die Einheitlichkeit der Praxis zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht sicherzustellen. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, die Beschwerdeführende zur Einlegung eines Rechtsmittels bewegen oder sie davon absehen lassen.



Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht wird nicht nur durch vorinstanzliche Gerichte und das Bundesgericht in konkreten Beschwerdefällen, sondern auch durch die Praxis von Bundesversammlung und Bundesrat bestimmt. Um eine durchgehend einheitliche Praxis zu gewährleisten, Geschäftsbericht 2008 des Bundesgerichts, S. 25; Geschäftsbericht 2008 des Bundesverwaltungsgerichts, S. 73.

2327

müssten letztlich alle individuell-konkreten und generell-abstrakten Rechtsakte der Bundesversammlung und des Bundesrates, welche das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht betreffen, vor Bundesgericht anfechtbar sein.

Zwar ist nicht zu verkennen, dass dem Bundesgericht bei der Klärung des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht schon seit Langem eine zentrale Rolle zukommt, da dieses Verhältnis in der Verfassung nur zum Teil ausdrücklich geregelt ist93. Die obgenannten Gründe sprechen aber klar gegen die Einführung eines zusätzlichen Rechtsmittelwegs an das Bundesgericht. In der Praxis bestehen keine Probleme; es ist also kein Zufall, dass das erst gerade 2007 in Kraft getretene Bundesgerichtsgesetz kein solches Rechtsmittel vorsieht.

Sollte die Bundesversammlung den gesetzgeberischen Handlungsbedarf anders einschätzen, so könnte gesetzestechnisch in Analogie zur «Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung» (Art. 74 Abs. 2 Bst. a und Art. 85 Abs. 2 BGG ) oder zum «besonders bedeutenden Fall» im Bereich der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (Art. 84 BGG) die Einheitsbeschwerde immer als zulässig bezeichnet werden, wenn sich eine «grundlegende Frage zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht» stellt. Eine Alternative wäre, dass das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesstrafgericht sowie obere kantonale Gerichte in jenen Fällen, in denen sie (unter Vorbehalt der subsidiären Verfassungsbeschwerde) endgültig entscheiden und in denen sich grundlegende Fragen zum Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht stellen, das Verfahren sistieren und den Entscheid des Bundesgerichts dazu einholen müssten (sog. Vorlageverfahren).

9.6

Klärung des Verhältnisses von Völkerrecht und Volksinitiativen

Die drängendsten Fragen stellen sich beim Verhältnis von Volksinitiative und Völkerrecht; sie werden deshalb nachfolgend besonders eingehend behandelt. Nach geltendem Verfassungsrecht tritt eine Volksinitiative mit ihrer Annahme durch Volk und Stände in Kraft (Art. 195 BV). Sie wird mit ihrer Annahme also zu gültigem Verfassungsrecht, das von den Behörden nach seinem wahren Sinn umzusetzen ist.

Einzig Initiativen, die gegen das zwingende Völkerrecht verstossen, sind ungültig und nicht der Volksabstimmung zu unterbreiten. Volksinitiativen, die gegen das übrige Völkerrecht verstossen, sind hingegen gültig und müssen von den Behörden umgesetzt werden, wenn sie von Volk und Ständen angenommen worden sind (Art. 139 Abs. 2, 193 Abs. 4 u. 194 Abs. 2 BV; vgl. oben, Kap. 8.6.1 u. 8.7.2).

Andererseits sollte völkerrechtswidriges Verfassungsrecht eine zeitlich begrenzte Ausnahme darstellen; dies gebieten die Verfassung (Art. 5 Abs. 4 BV), die aussenpolitischen Interessen der Schweiz und die Bedeutung des Völkerrechts für ein friedliches Zusammenleben der Staaten (vgl. oben, Kap. 2). Das bedeutet, dass im Falle der Annahme einer völkerrechtswidrigen Volksinitiative widersprechende völkerrechtliche Verpflichtungen wenn immer möglich neu auszuhandeln oder allenfalls zu kündigen sind. Probleme ergeben sich bei unkündbaren Verträgen oder Verpflichtungen, die die Schweiz aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen 93

Vgl. Kerstin Odendahl, Bundesverfassung und Völkerrecht in Wechselbeziehung, in: St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc., 2008, Rz. 43.

2328

nicht auflösen will. In diesen Fällen könnte es zu einer Verletzung des Völkerrechts kommen. Die Schweiz hätte dann die oben dargelegten Folgen zu gewärtigen (s. Kap. 6.2). Wenn der betreffende Vertrag einen Kontrollmechanismus vorsieht, setzt sich die Schweiz der Gefahr aus, durch ein internationales Organ verurteilt zu werden. Im Falle der EMRK muss ein Urteil der Gerichtshofs, das eine Verletzung der EMRK feststellt, umgesetzt werden; die Umsetzung wird durch das Ministerkomitee des Europarats überwacht. Nach der ständigen Praxis des Ministerkomitees hat sich die Umsetzung nicht auf die Lösung des Einzelfalls zu beschränken. Der Staat muss auch allgemeine Massnahmen ergreifen, um eine gleichartige Verletzung der EMRK zu vermeiden.

Die heutige Rechtslage weist einige Schwachpunkte auf. Zunächst können nur Volksinitiativen, die gegen zwingendes Völkerrecht im Sinne des völkerrechtlichen Begriffs des ius cogens verstossen, für ungültig erklärt werden. Um das Initiativrecht so weit wie möglich zu schonen, ist der Filter also absichtlich sehr grob94. Die Kehrseite der Medaille ist das fortwährende Risiko, dass Volk und Stände einer völkerrechtswidrigen Verfassungsbestimmung zustimmen. Je enger der Begriff des zwingenden Völkerrechts ausgelegt wird ­ was günstig für die Volksrechte ist ­, desto höher ist dieses Risiko.

Des Weiteren wenden die Bundesbehörden bei der Prüfung der Gültigkeit den Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung an. Da das Ziel der völkerrechtskonformen Auslegung die weitestgehende Vermeidung einer Ungültigerklärung ist, hat die Praxis von Bundesrat und Bundesversammlung zur Folge, dass nur offensichtlich gegen das zwingende Völkerrecht verstossende Initiativen für ungültig erklärt werden können. Diese sehr volksrechtsfreundliche Lösung hat den Nachteil, dass sich im Falle einer Annahme der Initiative die Schwierigkeiten auf die Phase der Umsetzung verschieben. Zudem besteht das Risiko, dass eine völkerrechtskonforme Auslegung nur zum Preise einer weiten Auslegung des Initiativtextes möglich ist, die nicht vollumfänglich dessen wahren Sinn wiedergibt.

Wird eine gegen nicht zwingendes Völkerecht verstossende Initiative angenommen, werden sich die Behörden bemühen, diese völkerrechtskonform umzusetzen. Dabei ist der Entscheid nicht immer leicht, wann eine völkerrechtskonforme
Umsetzung nicht mehr gerechtfertigt ist, sodass eine Neuaushandlung oder Kündigung des Vertrags oder eine Verletzung der internationalen Verpflichtungen der Schweiz in Betracht zu ziehen ist. Wenn sich die Behörden für eine völkerrechtskonforme Umsetzung entscheiden, können sie vielleicht nicht alle von der Initiative verfolgten Ziele konkretisieren, und sie riskieren, die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zu enttäuschen, die der Initiative zugestimmt haben.

Verschiedene Autoren vertreten die Meinung, dass das Problem der völkerrechtswidrigen Volksinitiativen mit der Einführung einer voll ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene gelöst werden könnte, also damit, dass dem Bundesgericht die Kompetenz eingeräumt würde, die Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetze im Anwendungsfall sowie die Konformität der Volksinitiativen mit dem zwingenden Völkerrecht zu beurteilen95. Diese Option wird hier nicht weiter verfolgt. Sie wird im Rahmen der Behandlung der parlamentarischen Initiative 94 95

S. insb. die Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, Reformbereich Volksrechte, BBl 1997 I 446.

Insb. Andreas Auer, Statt Abbau der Volksrechte ­ Ausbau des Rechtsstaates, NZZ vom 10. September 2008, S. 15.

2329

05.445 (Studer Heiner) zur Verfassungsgerichtsbarkeit und der parlamentarischen Initiative 07.476 (Müller-Hemmi) zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für rechtsanwendende Behörden untersucht werden. Nachfolgend beschränken wir uns deshalb darauf, Lösungen zu untersuchen, die bei den Ungültigkeitsgründen und beim Verfahren der Vorprüfung der Volksinitiative ansetzen.

9.6.1

Erweiterung der Ungültigkeitsgründe

9.6.1.1

Einleitung

Die Probleme, die bei der Umsetzung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen entstehen, könnten dadurch vermieden werden, dass der Kreis der nach der bisherigen Praxis zum zwingenden Völkerrecht gezählten Bestimmungen erweitert wird. In der Lehre plädieren mehrere Autoren für eine weitere Auslegung des Begriffs «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts». Sie vertreten die Auffassung, dass er nicht vom völkerrechtlichen Begriff des ius cogens abhänge, sondern eine eigene verfassungsrechtliche Tragweite habe, sodass er auf dem Weg der Auslegung auf weitere internationale Verpflichtungen ausgedehnt werden könne, wie beispielsweise auf faktisch zwingendes Völkerrecht, das heisst auf Normen eines aus rechtlichen oder faktischen Gründen unkündbaren Vertrags (z.B. das WTO-Übereinkommens oder die UNO-Pakte) oder auf Normen eines regionalen ius cogens (z.B. die EMRK)96. Die Mehrheit der Lehre spricht sich indessen gegen jede Ausweitung des Begriffs der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» auf dem Wege der Auslegung aus. Sie macht hauptsächlich geltend, dass eine Einschränkung der Volksrechte nicht durch eine blosse Praxisänderung erfolgen dürfe, zu der sich die Bürgerinnen und Bürger nicht äussern können97.

Auch die Bundesbehörden lehnten es wiederholt ab, den Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» weiter auszulegen, weil das Initiativrecht nur in absolut zwingenden Fällen eingeschränkt werden dürfe98. Das Bundesamt für Justiz hielt in seinem Bericht aus dem Jahr 2006 ebenfalls fest, dass die Tragweite dieses Begriffs nicht auf dem Weg der Auslegung erweitert werden könne99. Diese Haltung wurde jüngst implizit in der Botschaft zur Minarett-Initiative bestätigt, in der der 96

97

98

99

S. insb. Yvo Hangartner, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, zu Art. 139 Abs. 2, Rz. 29 und 30; ebenso Luzius Wildhaber, Neues zur Gültigkeit von Initiativen, in: Festschrift Aubert, 1996, S. 299; René Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2., erweiterte Aufl., Basel 2009, Rz. 3602 ff; Giusep Nay, Sollen Volksinitiativen ungültig sein, wenn sie nur gegen nichtzwingendes Völkerrecht verstossen?, Plädoyer 3/2007, S. 29, sowie Giovanni Biaggini, Das Verhältnis der Schweiz zur internationalen Gemeinschaft, AJP 6/99, S. 728.

S. insb. die Voten der Prof. Andreas Kley und Andreas Auer anlässlich ihrer Anhörung in der SPK-N vom 21. August 2008, sowie Helen Keller/Markus Lanter/Andreas Fischer, Volksinitiativen und Völkerrecht: die Zeit ist reif für eine Verfassungsänderung, ZBl 3/2008, S. 138; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Bern 2007, Rz. 25, S. 543-544; Bernhard Ehrenzeller/Roger Nobs, Vorbemerkungen zu Art. 136­142, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, Rz. 34; Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich 2002, Rz. 364.

S. insb. die Botschaft über die Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz», BBl 2004 3292 f., in der der Bundesrat den Vorschlag der Lehre, den Begriff des zwingenden Völkerrechts auszudehnen auf «faktisch zwingendes Völkerrecht» ablehnt, sowie die Botschaft zur Volksinitiative «für demokratische Einbürgerungen», BBl 2006 8962.

Unveröffentlichter Bericht vom 20. Dezember 2006 über die Voraussetzungen für die Gültigkeit von Volksinitiativen und die materiellen Schranken der Verfassungsrevision.

2330

Bundesrat die von der EMRK und dem UNO-Pakt II garantierte externe Religionsfreiheit nicht zu den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts gezählt hat. Der Bundesrat bekräftigt diese Haltung.

Wenn der Konflikt zwischen der neuen Verfassungsbestimmung und dem Völkerrecht nicht verhindert werden kann, wie dies beim Minarettverbot (Art. 72 Abs. 3 BV) der Fall ist, geht nach Ansicht des Bundesrates die jüngere Verfassungsbestimmung vor; im Falle einer Annahme einer völkerrechtswidrigen Initiative müssten unter Umständen die betroffenen völkerrechtlichen Verträge neu ausgehandelt oder, wenn dies nicht möglich ist, gekündigt werden, um die völkerrechtliche Verantwortlichkeit für eine Vertragsverletzung zu vermeiden (vgl. Kap. 9.3.3).

Anders als es das Postulat 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats suggeriert, muss also eine Volksinitiative, die gegen verfassungsmässige Grundrechte oder gegen Völkerrecht verstösst, umgesetzt werden. Die Frage, ob eine Initiative umgesetzt werden soll oder nicht, ist nicht dem Ermessen der Behörden überlassen. Es wäre missbräuchlich und für den politischen Prozess belastend, eine Initiative zwar zur Abstimmung zu bringen, sie aber im Falle der Annahme nicht oder nur teilweise umzusetzen100.

Ein Teil der Lehre hält es deshalb in solchen Fällen für wichtig, so klar wie möglich schon in der Botschaft darauf hinzuweisen, dass die Initiative bei einer Annahme nicht vollständig umgesetzt werden könne und so ausgelegt werden müsse, dass die internationalen Verpflichtungen der Schweiz nicht verletzt würden101.

Der Bundesrat vertritt demgegenüber die Haltung, dass es im Auge zu behalten gilt, dass die völkerrechtskonforme Auslegung nur eines der Elemente darstellt, die bei der Auslegung von Verfassungsrecht zu berücksichtigen sind102. Eine Volksinitiative ist nach ihrem wahren Sinn umzusetzen, selbst wenn dies einen Verstoss gegen völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz zur Folge haben könnte. Deshalb ist in den Abstimmungserläuterungen darauf hinzuweisen. Es bleibt aber dem Ermessen von Volk und Ständen überlassen, ob sie eine solche Initiative annehmen wollen oder nicht. Im Falle einer Annahme sind die Behörden wie erwähnt verpflichtet, eine solche Initiative sinngetreu umzusetzen. Wenn die Behörden zum Schluss kommen, dass eine völkerrechtkonforme
Umsetzung nicht möglich ist und dass die Kündigung des Vertrags ­ aus welchen Gründen auch immer ­ nicht in Betracht kommen kann, sehen sie sich einem direkten Konflikt zwischen einer verfassungsrechtlichen Bestimmung und einer völkerrechtlichen Regelung gegenüber. Ein solcher Konflikt muss aus den oben dargelegten Gründen vermieden werden. Dazu müssten die Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen ausgeweitet werden. Mögliche Lösungen sollen nachfolgend untersucht werden.

100

Vgl. Yvo Hangartner, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2008, Art. 139 (neu) Rz. 35.

101 Andreas Auer/Bénédicte Tornay, Aux limites de la souveraineté du constituant: l'initiative «Pour des naturalisations démocratiques», AJP 6/2007, S. 746.

102 Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, Rz. 90 ff.; nach diese Autoren ist die völkerrechtskonforme Auslegung ein Spezialfall der systematischen Auslegung.

2331

9.6.1.2

Verletzung von Bestimmungen des Völkerrechts, die für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind

Eine Lösung bestünde darin, zusätzlich oder anstelle des zwingenden Völkerrechts in allgemeiner Form weitere völkerrechtliche Normen zu definieren, die eine materielle Schranke für Volksinitiativen darstellen würden. Der neueste Vorschlag dieser Art stammt von Prof. Helen Keller. Diese Autorin schlägt anstelle der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» «Bestimmungen des Völkerrechts, die für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind», als Schranke vor103. Diese Lösung hätte den Vorteil, die Existenz völkerrechtlicher Regeln zu berücksichtigen, die juristisch gesehen kündbar oder unkündbar sind, denen sich die Schweiz aber aus politischen Gründen nicht entziehen kann. Sie würde es insbesondere erlauben, der von einem Teil der Lehre anerkannten Existenz von regionalem ius cogens oder de facto zwingendem Völkerrecht Rechnung zu tragen (s. Kap. 8.7.1.1). Eine solche Verfassungsbestimmung könnte somit verhindern, dass Volk und Stände eine Initiative annehmen, die dann aber nicht, oder nur sehr fragmentarisch, oder dann nur um den Preis einer Kündigung von Verträgen umgesetzt werden könnte. Doch, wie die Autorin selber einräumt, ist das Konzept der «vitalen Bedeutung» ein offenes Konzept, das der anwendenden Behörde einen sehr grossen Auslegungsspielraum lässt. Deshalb kommt für Helen Keller die Einführung dieser neuen materiellen Schranke nur in Betracht, wenn die Zuständigkeit für die Beurteilung der Gültigkeit von Volksinitiativen von der Bundesversammlung auf ein Justizorgan wie das Bundesgericht oder eine noch zu schaffende spezialisierte Expertenkommission übertragen würde. Doch auch mit einer solchen Übertragung der Zuständigkeit wäre dieses Gültigkeitskriterium nach Ansicht des Bundesrates weitgehend unpraktikabel, weil es grundsätzlich kaum justiziabel wäre. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, auf welche juristischen Kriterien sich ein Gericht stützen könnte, um zu beurteilen, welche Bestimmungen des Völkerrechts für die Schweiz von vitaler Bedeutung sind. Diese Lösung hat zudem den Nachteil, dass sie eine zusätzliche Einschränkung der Volksrechte bringen und gegenüber diesen schlussendlich das Völkerrecht privilegieren würde.

9.6.1.3

Verletzung internationaler Menschenrechtsgarantien (pa. Iv. 07.477)

Denkbar wäre des Weiteren, zusätzlich oder anstelle der Beachtung des zwingenden Völkerrechts die Einhaltung der internationalen Menschenrechtsgarantien als Gültigkeitserfordernis vorzusehen. In diese Richtung geht die gegenwärtig in den Räten hängige parlamentarische Initiative Vischer 07.477 ­ Gültigkeit von Volksinitiativen. Diese verlangt, die Bundesverfassung sei dergestalt zu ändern, dass eine Volksinitiative dann ungültig ist, wenn sie materiell gegen den Grundrechtsschutz und gegen Verfahrensgarantien des Völkerrechtes verstösst.

Soweit es um internationale Menschenrechtsgarantien geht, hätten Lösungen dieser Art den Vorteil, einen gewissen Parallelismus zwischen den Schranken herzustellen, die für den Verfassungsgeber und den Gesetzgeber gelten. Das Bundesgericht geht nämlich trotz der Immunisierungsklausel für Bundesgesetze davon aus, dass es ein Bundesgesetz überprüfen und gegebenenfalls nicht anwenden darf, wenn es gegen 103

Helen Keller/Markus Lanter/Andreas Fischer, Volksinitiativen und Völkerrecht: die Zeit ist reif für eine Verfassungsänderung, ZBl 3/2008, S. 149.

2332

internationale Menschenrechtsgarantien, insbesondere die EMRK, verstösst. Wenn der völkerrechtliche Grundrechtsschutz oder die EMRK selbst in Artikel 139 Absatz 2 BV erwähnt würden, könnte deren Nichtbeachtung durch eine Volksinitiative ebenfalls sanktioniert werden. So könnte insbesondere die Annahme einer Verfassungsbestimmung verhindert werden, die gegen solche Normen verstösst.

Eine solche Lösung wirft jedoch verschiedene Fragen auf. Zunächst wäre eine genügend präzise und keine grösseren Auslegungsprobleme schaffende Definition der anvisierten völkerrechtlichen Normen erforderlich. Würden etwa internationale Menschenrechtsgarantien auch wirtschaftlich-soziale Grundrechte umfassen, wie das Recht auf Wohnung oder auf Bildung? Im Übrigen bliebe bei einer Beschränkung auf die internationalen Menschenrechtsgarantien das Problem bestehen, dass gewisse Wirtschaftsverträge wie das WTO-Abkommen jedenfalls politisch gesehen nur schwer kündbar sind. Des Weiteren verfügen verschiedene Menschenrechtsverträge über eigene Organe, die die vertraglich garantierten Rechte weiterentwickeln.

Die Einführung internationaler Grundrechtsschutz-Bestimmungen als Schranke der Gültigkeit von Volksinitiativen würde somit bedeuten, dass auf den von internationalen Organen bestimmten Gehalt dieser Rechte verwiesen würde, was die Bestimmung ihres Schutzbereichs im konkreten Fall nicht vereinfachen würde.

9.6.1.4

Auflistung der (bedeutenden) völkerrechtlichen Bestimmungen oder Verträge (Postulat 08.3765)

Eine Variante der oben aufgezeigten Lösung bestünde darin, neben dem zwingenden Völkerrecht weitere internationale Bestimmungen aufzuführen, die für Volksinitiativen oder Verfassungsänderungen generell eine Schranke darstellen sollen. Dies könnte in Form einer Auflistung der völkerrechtlichen Verträge geschehen, die so immunisiert würden (z.B. EMRK, UNO-Pakt II oder das WTO-Abkommen), oder durch eine explizite Aufzählung der betreffenden völkerrechtlichen Bestimmungen.

Eine solche Lösung schlägt das Postulat 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vor. Es beauftragt den Bundesrat, aufzuzeigen, wie sich die Ausweitung des verfassungsrechtlichen Begriffes des «zwingenden Völkerrechts» auf «bedeutende Bestimmungen der EMRK» auf die Gültigkeit von Volksinitiativen auswirken würde. Diese Lösung hätte den Vorteil, dass Volksinitiativen für ungültig erklärt werden könnten, deren Umsetzung grössere Schwierigkeiten bereiten würde.

Aber auch sie liesse sich aus folgenden Gründen nicht ohne weiteres umsetzen: Erstens wäre es schwierig, eine Liste der betroffenen völkerrechtlichen Verträge oder Bestimmungen zu erstellen. Die dabei zu treffende Wahl wäre politisch heikel und würde unweigerlich zu Kontroversen führen. Kämen etwa nur Konventionen in Betracht, die die Grundrechte schützen, oder auch Wirtschaftsaverträge wie beispielsweise das WTO-Abkommen? Wollte man neben der Auflistung der Verträge noch ein inhaltliches Kriterium einführen, wie es das Postulat 08.3765 vorschlägt, wäre die Definition eines praktikablen Kriteriums schwierig.

Das vom Postulat vorgeschlagene Kriterium «bedeutende Bestimmungen der EMRK» etwa würde Auslegungsprobleme verursachen: Wann ist eine Bestimmung «bedeutend»? Eine Behörde, die dies zu entscheiden hätte, müsste über objektive, einfach anzuwendende Kriterien verfügen, um die Gefahr von Willkür und reinpolitischen Entscheiden abzuwenden. Eine weiterer Konsequenz dieser Lösung bestünde darin, dass sie einen Vorrang der EMRK über andere multilaterale Grundrechts2333

schutzverträge wie beispielsweise die UNO-Pakte, das Rassendiskriminierungsabkommen oder das Übereinkommen gegen die Folter einführen würde, obwohl alle Abkommen völkerrechtlich auf derselben Stufe stehen. Dagegen liesse sich anführen, dass die EMRK mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein in sich geschlossenes System einer europäischen Grundrechtsordnung errichtet hat, das sich konzeptionell von den universellen Menschenrechtsverträgen unterscheidet.

Doch gerade die Existenz des Gerichtshofs wirft neue Fragen auf: Müssten die von der Rechtsprechung in Strassburg entwickelten Rechte mitberücksichtigt werden?

Und wenn ja, inwieweit? Diese kurze Darstellung zeigt auf, dass ein blosser Verweis auf diese Konvention den Umfang der Verpflichtungen der Schweiz nicht ausreichend zu präzisieren vermag.

9.6.1.5

Rechtliche oder politische Undurchführbarkeit

Die behördliche Praxis in Sachen Undurchführbarkeit ist konstant und klar104.

Initiativen sind nur dann undurchführbar, wenn sie faktisch undurchführbar sind, das heisst, wenn sie sich materiell nicht umsetzen lassen. Bereits diese Praxis stösst in der Lehre teilweise auf gut begründete Skepsis105. Was nun eine rechtliche Undurchführbarkeit betrifft, so gehen auch die Behörden davon aus, dass eine solche keinen Grund darstellt, eine Initiative für ungültig zu erklären106. Diese Meinung wird gegenwärtig von der überwiegenden Mehrheit der Lehre vertreten107. Auch eine politische Undurchführbarkeit stellt nach dem heutigen Verfassungsrecht keinen Ungültigkeitsgrund dar. Wollte man aus rechtlichen oder politischen Gründen eine Volksinitiative für ungültig erklären, so müsste die Bundesverfassung geändert werden.

Die Aufnahme derart unbestimmter Ungültigkeitsgründe in die Verfassung wäre aus Sicht des Bundesrates indes unhaltbar. Was wäre unter einer «rechtlichen Undurchführbarkeit» zu verstehen? Nach heutiger Praxis wäre dieser Tatbestand nur erfüllt, wenn eine Volksinitiative gegen zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verstiesse. Wären darunter auch unkündbare Verträge zu verstehen? Dann wäre dies explizit so zu erwähnen; indes ist es umstritten, ob Verträge, die eine Generation geschlossen hat, für die nachfolgenden Generationen bindend sein können. Die entsprechende Praxis ist zu wenig gefestigt, um daraus ein Kriterium für die Ungültigerklärung von Volksinitiativen zu machen. Sind damit besonders wichtige Verträge, wie etwa WTO-Abkommen, die EMRK, die bilateralen Abkommen mit der EU gemeint? Hier sind wir bereits im Bereich des politischen Ermessens. Klar in den Bereich des Kriteriums «politisch undurchführbar» gehörte eine Initiative, die zum Beispiel untragbare finanzielle Lasten verursachen würde. Es handelt sich hier 104

Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 20. Dezember 2006 zuhanden der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates über die Gültigkeitsvoraussetzungen der Volksinitiativen und die materiellen Schranken der Verfassungsrevision, S. 18.

105 Jean-François Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Basel/Frankfurt a.M. 1991, Rz. 339 ff.

106 Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 20. Dezember 2006 zuhanden der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates über die Gültigkeitsvoraussetzungen der Volksinitiativen und die materiellen Schranken der Verfassungsrevision, S. 18.

107 S. etwa Yvo Hangartner, St. Galler Kommentar, 2. Aufl., Zürich etc. 2008, Art. 139 (neu) Rz. 34; vgl. a. die Hinw. bei Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, Zürich 2002, n° 373.

2334

indes immer um politische, nicht rechtliche Gründe; um Gründe, die für eine Ablehnung der Initiative sprechen, nicht für deren Ungültigkeit108. Politische Entscheide dem Volk und den Ständen vorzuenthalten widerspricht unseren demokratischen Traditionen. Ob eine Volksinitiative politisch klug ist, sollte auch weiterhin vom Volk und den Ständen und nicht von der Bundesversammlung entschieden werden.

9.6.2

Vorprüfung der Gültigkeit von Volksinitiativen

Ein anderer Lösungsansatz bestünde darin, nicht die materiellen Gültigkeitserfordernisse, sondern das Verfahren zur Prüfung der Gültigkeit der Volksinitiativen zu ändern109.

9.6.2.1

Konsultative Kontrolle vor der Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative (Postulat 09.3118)

Unter diesem Gesichtspunkt bestünde eine erste Möglichkeit darin, im Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1) eine Vorabkontrolle der Völkerrechtskonformität zum Zeitpunkt der Vorprüfung110 vorzusehen, das heisst also noch vor der Unterschriftensammlung. Eine solche materielle Prüfung könnte gleichzeitig mit der formellen Prüfung stattfinden, die die Bundeskanzlei bereits jetzt vornimmt. Diese würde im Rahmen der formellen Prüfung der Volksinitiative ein Gutachten über deren Völkerrechtskonformität verlangen.

Das Gutachten wäre vom Bundesamt für Justiz in Zusammenarbeit mit der Direktion für Völkerrecht auszuarbeiten und von der Bundeskanzlei den Initiantinnen und Initianten zuzustellen111. Diese wären durch das Gutachten nicht gebunden; es stünde ihnen frei, bei der Feststellung von Konfliktmöglichkeiten den Initiativtext anzupassen oder im Gegenteil auf Anpassungen zu verzichten. In diesem Falle wäre jedoch auf den Unterschriftenlisten ein Hinweis auf das Ergebnis der rechtlichen Vorprüfung aufzunehmen.

Mit dieser Massnahme sollen folgende drei Reformziele verwirklicht werden: 1.

Die Initiantinnen und Initianten und die Stimmberechtigten sollen kompetent und glaubwürdig informiert sein, wenn eine Volksinitiative völkerrechtswidrig ist; damit soll die Wahrscheinlichkeit der Einreichung, des Zustandekommens und der Annahme völkerrechtswidriger Volksinitiativen vermindert werden.

108

Vgl. Jean-François Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Basel/Frankfurt a.M. 1991, Rz. 341.

109 Erwähnt sei, dass beispielsweise das Fürstentum Liechtenstein seit 1992 eine Vorprüfung der Volksinitiativen auf ihre Völkerrechtskonformität hin kennt.

110 Art. 69 BPR.

111 Im Rahmen der Nachführung der Bundesverfassung hatte der Bundesrat die Einführung einer Vorabkontrolle durch das Bundesgericht in Erwägung gezogen, diese Lösung aber aus Gründen der Überlastung des Bundesgerichts und der Praktikabilität verworfen; vgl.

BBl 1997 I 482 ff.

2335

2.

Es soll Frustrationen vorgebeugt werden, die sich ergeben, wenn in guten Treuen Unterschriften gesammelt und bei den Unterzeichnenden Erwartungen geweckt wurden, und die Räte die Initiative danach ungültig erklären.

3.

Durch eine damit verbundene Erhöhung der Eigenverantwortung der Initiantinnen und Initianten können Hemmungen in den Eidgenössischen Räten gegenüber notwendigen Ungültigerklärungen abgebaut werden.

Der Bundesrat und das Parlament wären an das Ergebnis der rechtlichen Vorprüfung nicht gebunden. Wohl müssten sich ihre Argumente an denen, die sich in der Vorprüfung durchsetzten, messen lassen. Die politische Debatte während der Unterschriftensammlung kann indessen Erkenntnisgewinne bringen. Vor allem wenn die Initiantinnen und Initianten sich mit dem Vorprüfungsbericht auseinandersetzen und mit beachtenswerten Argumenten die Möglichkeit einer völkerrechtskonformen Anwendung darlegen, kann dies von Bundesrat und Parlament berücksichtigt werden. Geben die Initiantinnen und Initianten zu erkennen, dass ihnen die Verletzung zwingenden Völkerrechts gleichgültig oder gar willkommen ist, wird die Begründung eines Ungültigkeitsantrags einfacher. Der Fall, dass der Bundesrat und das Parlament eine in der Vorprüfung als völkerrechtskonform erkannte Initiative nachträglich als völkerrechtswidrig beurteilen, dürfte selten sein, ist aber nicht ganz auszuschliessen, z.B. wenn seit der Prüfung wichtige Veränderungen oder Erkenntnisse im Regelungsbereich der Initiative aufgetreten sind.

Zur Konkretisierung dieser Lösung wäre das BPR wie folgt zu ändern: Artikel 68 Absatz 1 BPR, der die Angaben aufzählt, die die Unterschriftenliste zu enthalten hat, wäre um einen Buchstaben f zu ergänzen mit dem Wortlaut: «Das Ergebnis der rechtlichen Vorprüfung nach Artikel 69 Absatz 3bis.» Des Weiteren wäre in Artikel 69 BPR, der die Vorprüfung regelt, ein solcher Absatz 3bis einzufügen: «Sie (die Bundeskanzlei) unterbreitet den Initiativtext dem Bundesamt für Justiz zur rechtlichen Vorprüfung der Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht. Das Bundesamt für Justiz nimmt die rechtliche Vorprüfung in Zusammenarbeit mit der Direktion für Völkerrecht vor. Das Ergebnis der rechtlichen Vorprüfung wird auf der Unterschriftenliste vermerkt.» Diese Lösung hätte indessen nur eine beschränkte Auswirkung, weil das Ergebnis der Vorprüfung für die Initianten nicht verbindlich wäre. Sie könnte ausserdem nicht verhindern, dass willentlich gegen das Völkerrecht verstossende Volkinitiativen eingereicht werden.

9.6.2.2

Konsultative Kontrolle nach dem Zustandekommen einer Volksinitiative

Eine zweite verfahrensrechtliche Lösung könnte darin bestehen, dass die Bundesversammlung im Rahmen der Prüfung der Gültigkeit der Initiative das Bundesgericht konsultieren könnte. Damit würde eine Vorabkontrolle vor der Volksabstimmung geschaffen. Die Möglichkeit einer nachträglichen Kontrolle wird im Rahmen der parlamentarischen Initiativen 05.445 (Studer Heiner) zur Verfassungsgerichtsbarkeit und 07.476 (Müller-Hemmi) zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für die rechtsanwendenden Behörden untersucht. Eine mögliche Variante bestünde darin, die Bundesversammlung vor einer Ungültigerklärung zum Beizug des Bundesgerichts zu verpflichten.

2336

Die Auskunft des Bundesgerichts könnte für die Bundesversammlung verbindlich oder unverbindlich sein. Geht man von der gegenwärtigen Gewaltenteilung aus, müsste die Auskunft unverbindlich sein. Es läge somit weiterhin in der alleinigen Zuständigkeit der Bundesversammlung, endgültig über die Gültigkeit einer Initiative zu entscheiden, wobei sie aber dennoch die Möglichkeit oder Pflicht hätte, bei einer gerichtlichen Instanz ein fundiertes und objektives juristisches Gutachten zu den sich stellenden Fragen einzuholen, etwa zum Inhalt des zwingenden Völkerrechts, zur Vereinbarkeit einer Initiative mit dem Völkerecht und zur Möglichkeit einer völkerrechtskonformen Auslegung. Das Bundesgericht entscheidet zudem schon heute über die Gültigkeit kantonaler Volksinitiativen, insbesondere über ihre Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht. Das hat sich bewährt.

Der Beizug des Bundesgerichts ist keine völlig neue Idee. Bereits im Rahmen der Reform der Volksrechte hatte der Bundesrat vorgeschlagen, die Bundesversammlung solle bei Zweifeln über die Gültigkeit einer Volksinitiative an das Bundesgericht gelangen, wobei der Entscheid des Bundesgerichts bindend gewesen wäre112.

Diesen Vorschlag lehnte die Staatspolitische Kommission des Ständerats jedoch ab, vor allem deshalb, weil der Entscheid über die Gültigkeit einer Volksinitiative, auch wenn er sich auf juristische Kriterien stützen muss, immer auch eine politische Komponente enthält, weshalb die Bundesversammlung das geeignetste Organ hierzu sei113. Dieses Argument hat seine Gültigkeit bewahrt. Man könnte dem noch hinzufügen, dass es einer teilweisen Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gleichkäme, wenn das Bundesgericht über die Gültigkeit von Volksinitiativen entscheiden könnte, während für Bundesgesetze eine solche Verfassungsgerichtsbarkeit ja nicht existiert. Es wäre schwer begründbar, wieso die Volks- und Parlamentssouveränität nur in einem Fall geschützt wären und nicht auch im anderen. So gesehen müsste die Kompetenz des Bundesgerichts auf ein konsultatives Gutachten beschränkt werden.

Ein Vorschlag in diese Richtung ist bereits in der Staatspolitischen Kommission des Ständerats vor einigen Jahren diskutiert und aus Gründen der Gewaltenteilung abgelehnt worden114.

9.6.2.3

Obligatorischer Gegenentwurf zu ungültigen oder das Völkerrecht verletzenden Volksinitiativen

Bereits nach geltendem Recht kann die Bundesversammlung einer Volksinitiative einen Gegenentwurf gegenüberstellen, um den Text der Initiative in einem gewissen Masse zu «korrigieren» und den Bürgerinnen und Bürgern als Alternative eine völkerrechtskonforme Variante zu unterbreiten (Art. 139 Abs. 3 BV; vgl.

Kap. 8.7.1.3). Man könnte nun vorsehen, dass ein Gegenentwurf immer dann obligatorisch ist, wenn eine Volksinitiative völkerrechtswidrig ist. Diese Verpflichtung könnte auf Volksinitiativen, die nicht zwingendes Völkerrecht verletzen, beschränkt werden, da Volksinitiativen, die zwingendes Völkerrecht verletzen, für ungültig erklärt und nicht der Abstimmung unterbreitet werden.

Ein obligatorischer Gegenentwurf hätte den Vorteil, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stets auch über eine völkerrechtskonforme Variante abstimmen könn112 113

BBl 1997 I 482 f.

S. Verfassungskommission des Nationalrats, Sitzung vom 2. Februar 1998, und Verfassungskommission des Ständerates, Sitzung vom 9. November 1998 (2).

114 BBl 2001 4830.

2337

ten, die den Intentionen der Initiative nah kommt. Genau besehen hätte eine solche Verpflichtung aber bedeutende Nachteile. Bereits heute kann die Bundesversammlung einen Gegenentwurf vorlegen, wenn sie dies für politisch angezeigt hält; wäre der Gegenentwurf obligatorisch, wäre sie dazu auch gehalten, wenn sie die Stossrichtung einer Initiative für gänzlich verfehlt hielte. Sie müsste dann einen Entwurf erarbeiten, der unter Umständen eine Mehrheit finden würde. Im Übrigen wäre ein völkerrechtskonformer Gegenentwurf zu einer Volksinitiative unter Umständen kaum möglich. Ein obligatorischer Gegenentwurf würde ausserdem eine völkerrechtswidrige Volksinitiative nicht der Abstimmung entziehen. Diese Lösung wäre also auch kein Garant dafür, dass völkerrechtswidriges Verfassungsrecht verhindert wird.

9.6.3

Zusammenfassung

Zusammengefasst lässt die heutige Regelung der völkerrechtswidrigen Volksinitiativen weitgehend offen, wie sich die Rangverhältnisse von Bundesverfassung und Völkerrecht darstellen. Insbesondere finden sich keine Lösungen für die Schwierigkeiten, die bei der Annahme von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen entstehen.

Lösungsansätze, die diesen Schwierigkeiten durch eine Änderung der materiellen Gültigkeitsvoraussetzungen beikommen wollen, das heisst durch eine Änderung oder Erhöhung der Schranke des zwingenden Völkerrechts, mögen auf den ersten Blick verlockend erscheinen. Bei genauer Betrachtung werfen sie indessen zahlreiche rechtliche und politische Fragestellungen auf. Als einfache, kurzfristig realisierbare Rezepte sind sie ungeeignet. Trotzdem will der Bundesrat sich dieser Diskussion nicht verschliessen. Doch bevor er sich zur Ausweitung materieller Schranken äussert, hält er es für angezeigt, die Konsequenzen einer solchen Massnahme vertiefter zu analysieren und die Realisierbarkeit von Lösungsansätzen zu evaluieren. Er wird daher dem Bundesamt für Justiz, der Direktion für Völkerrecht und der Bundeskanzlei einen entsprechenden Abklärungsauftrag erteilen.

10

Fazit

«Der kleine Staat hat seine grösste Stärke in seinem guten Recht»115 ­ dieser Satz des Bundesrates von 1919 hat auch 90 Jahre später noch seine volle Berechtigung.

Die Schweiz hat nach wie vor grösstes Interesse an einer funktionierenden Völkerrechtsordnung, in der das Recht der Macht vorgeht. Dass das Völkerrecht im Zuge der Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat, kann nicht bestritten werden; ebenso ist es unstreitig, dass der Bundesrat in den auswärtigen Angelegenheiten eine Führungsrolle behaupten muss, wenn die Schweiz international handlungsfähig bleiben soll. Damit verbundene Ängste vor einer Aushöhlung der Volksrechte, der Rechte der Bundesversammlung oder der kantonalen Kompetenzen haben sich als unbegründet erwiesen. Bundesrat und Parlament haben die Herausforderung rechtzeitig erkannt. Sie haben mit der Ausweitung des Einbezugs von Volk, Ständen und Parlament in die aussenpolitischen Prozesse einen nach heutigem Stand optimalen 115

Bericht des Bundesrates vom 11. Dezember 1919 an die Bundesversammlung betreffend internationale Schiedsverträge, BBl 1919 V 929.

2338

Ausgleich gefunden zwischen der Notwendigkeit, nach Aussen mit einer Stimme zu sprechen, und der Notwendigkeit, die Aussenpolitik innenpolitisch zu legitimieren.

Beantwortung des Postulats der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates 07.3764 vom 16. Oktober 2007 Zu Frage a Daraus ergibt sich die Antwort auf die erste Frage des Postulats, die nach dem Stellenwert des Völkerrechts für die Schweiz und innerhalb unserer Rechtsordnung fragt. Die Praxis der Bundesbehörden räumt dem Völkerrecht einen sehr hohen Stellenwert ein. Es ist für die Schweiz wirtschaftlich und politisch wichtig, dass Völkerrecht respektiert wird (Kap. 2). Auch in der Schweizer Rechtsordnung nimmt das Völkerrecht deshalb einen wichtigen Platz ein.

Zu Frage b Ein Wechsel zum Dualismus erscheint aus mehreren Gründen weder opportun noch notwendig (Kap. 9.2).

­

Die Schweiz ist seit ihren Anfängen monistisch. Sie ist damit gut gefahren.

Ein Wechsel zum Dualismus würde das Gesetzgebungsverfahren zusätzlich belasten, weil alle völkerrechtlichen Verträge im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in Landesrecht transformiert werden müssten.

­

Bei der Transformation bestünde unter Umständen das Risiko von Widersprüchen zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag und dem Transformationsgesetz und damit das Risiko, dass die Schweiz Völkerrecht verletzt, was ihre völkerrechtliche Verantwortlichkeit auslösen könnte. Durch die Widersprüche würde ausserdem die Rechtssicherheit beeinträchtigt. Aus diesen Gründen hat sich der Bundesrat stets gegen die Einführung des Dualismus ausgesprochen.

­

Ein Wechsel zum Dualismus könnte den Eindruck erwecken, die Schweiz behalte sich vor, die völkerrechtlichen Verpflichtungen inskünftig innerstaatlich nicht mehr zu erfüllen.

­

Wie wir eingangs und im rechtsvergleichenden Teil aufgezeigt haben, müssen auch dualistische Staaten das Völkerrecht beachten. Auch dualistische Staaten können nicht verhindern, dass Spannungen zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht entstehen. Die Beispiele von Deutschland und den USA zeigen, dass ein dualistischer Staat völkerrechtsfreundlich und ein monistischer Staat völkerrechtskritisch sein kann (Kap. 7.2 und 7.5). Ein Wechsel vom Monismus zum Dualismus wäre nur von geringer praktischer Bedeutung, denn letztlich beantworten Monismus und Dualismus nur die Frage nach der innerstaatlichen Geltung des Völkerrechts.

­

Zudem beanspruchen auch in dualistischen Staaten weite Teile des Völkerrechts, insbesondere das Gewohnheitsrecht und ­ in EU-Mitgliedsstaaten ­ das Europarecht, unmittelbare Geltung.

­

Der Bundesrat ist der Meinung, dass der Dualismus, der ein Transformationsgesetz oder einen Vollzugsbefehl erfordert, gekünstelt ist und nicht der praktischen Schweizer Rechtsauffassung entspricht. Er steht im Gegensatz zur in den Staaten feststellbaren Tendenz, angesichts der gestiegenen Bedeu-

2339

tung des Völkerrechts diesem möglichst unkompliziert innerstaatliche Geltung zu verschaffen und Divergenzen zu vermeiden.

Zu Frage c Für das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht ist neben der Geltung des Völkerrechts entscheidend, ob es innerstaatlich von den Behörden direkt angewendet werden kann oder ob es zuvor durch ein Gesetz präzisiert werden muss (Kap. 5.2). In der Schweiz ist Völkerrecht direkt anwendbar, wenn es genügend bestimmt ist. Die Bundesversammlung bzw. bei Verträgen in seiner Kompetenz der Bundesrat kann bereits heute den Vorbehalt anbringen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag oder eine Bestimmung daraus nicht direkt anwendbar sein soll. Ein Wechsel zum Dualismus ist hierfür nicht notwendig. Ausserdem übt das Bundesgericht Zurückhaltung bei der Anwendung von Völkerrecht: Es beurteilt die direkte Anwendbarkeit nach den Grundsätzen des Legalitätsprinzips, wodurch die Berücksichtigung der Kompetenzen des Parlaments und des Volks sichergestellt ist (Kap. 8.3).

Völkerrecht geht dem Landesrecht grundsätzlich vor. Ausnahmen bestehen für späteres, direkt anwendbares Verfassungsrecht, verfassungsrechtliche Grundprinzipien und Kerngehalte der Grundrechte sowie Bundesgesetze, mit denen die Bundesversammlung bewusst Völkerrecht derogieren wollte (vgl. Kap. 8.6). Letztere Ausnahme ist als «Schubert-Praxis» bekannt; sie war schon Gegenstand zahlreicher Abhandlungen. In jüngerer Zeit hat das Bundesgericht die Schubert-Praxis weiterentwickelt, insbesondere in Bezug auf internationale Menschenrechtsgarantien.

Diese gehen nach der neueren Rechtsprechung grundsätzlich immer dem Landesrecht vor.

Die Praxis der Schweiz entspricht derjenigen der anderen in Kapitel 7 untersuchten Staaten: In keinem Staat wird der Vorrang des Völkerrechts gleichsam mechanisch angewendet. Immer spielen ­ zu Recht ­ Abwägungsprozesse im Einzelfall eine zentrale Rolle. Der jeweiligen Problemlage angepasste, pragmatische Lösungen zu suchen, dazu sind die Gerichte am besten in der Lage, und daher wird dies in allen untersuchten Staaten auch den Gerichten überlassen ­ auch in der Schweiz. Der Bundesrat spricht sich deshalb gegen eine Verankerung der Schubert-Praxis aus, sei es auf Gesetzes- oder auf Verfassungsstufe (Kap. 9.3.4). Eine solche Verankerung wäre zudem ein untaugliches Mittel, um die Anwendung von
völkerrechtlichen Verträgen zu verhindern, denn auf völkerrechtlicher Ebene ist die Schweiz an ihre internationalen Verpflichtungen gebunden, ob sie nun der Schubert-Praxis folgt oder nicht. Das einzige Mittel, um internationalen Verpflichtungen zu entgehen, ist die Neuaushandlung oder Kündigung der missliebigen völkerrechtlichen Bestimmungen.

Zu Frage d Sollen Entscheide unterer Instanzen über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in jedem Fall an das Bundesgericht weitergezogen werden können, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten? Nach geltender Rechtslage ist ein Weiterzug eines Entscheids unterer Instanzen an das Bundesgericht in gewissen Bereichen nicht möglich, namentlich bei Entscheiden im Asylbereich. Diese Ausnahmen ergeben sich aus dem kürzlich revidierten Bundesgerichtsgesetz (Kap. 8.8).

Diese Revision diente namentlich der Entlastung des Bundesgerichts; eine Öffnung des Zugangs könnte diese Reformbemühungen wieder zunichte machen. Aus Sicht 2340

des Bundesrates sind jedoch keine Gründe für eine solche Öffnung ersichtlich. Für die Rechtsuchenden wäre es schwer nachvollziehbar, wieso Beschwerden zur Klärung des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht zulässig wären, nicht aber Beschwerden bei der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten durch das Bundesverwaltungs- oder das Bundesstrafgericht in Bereichen, wo diese abschliessend entscheiden (Kap. 9.5). Eine mögliche Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird nicht angesprochen im vorliegenden Bericht; diese Frage wird im Rahmen der Behandlung der parlamentarischen Initiative 05.445 (Studer Heiner) zur Verfassungsgerichtsbarkeit und der parlamentarischen Initiative 07.476 (Müller-Hemmi) zur Massgeblichkeit der Bundesverfassung für rechtsanwendende Behörden zu untersuchen sein.

Beantwortung des Postulats 08.3765 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 20. November 2008 Was das Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen betrifft, so ist zunächst festzuhalten, dass die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts dem Landesrecht ausnahmslos vorgehen, und zwar auch dem Verfassungsrecht, gleichgültig, ob dieses älter oder jünger ist. Auch wenn die rechtsvergleichende Studie (Kap. 7) gezeigt hat, dass die Schweiz als einziges Land dem zwingenden Völkerrecht explizit eine solche Stellung einräumt, ist der Bundesrat der Ansicht, dass dessen fundamentale Bedeutung diesen absoluten Schutz rechtfertigt. Deshalb dürfen auch Volksinitiativen nicht gegen die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts verstossen. Dies kommt in Artikel 139 Absatz 2 BV zum Ausdruck, wonach Volksinitiativen «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» nicht verletzen dürfen.

In vielen Fällen, in denen Volksinitiativen gegen nicht zwingendes Völkerrecht verstossen, kann ein Konflikt auf dem Wege der völkerrechtskonformen Auslegung vermieden werden. Ist dies nicht möglich, muss der Verfassungsgeber dennoch die Möglichkeit haben, eine Verfassungsbestimmung anzunehmen, die gegen das nicht zwingende Völkerrecht verstösst. Anders, als dies das Postulat annimmt, muss eine solche Verfassungsbestimmung von den Behörden auch umgesetzt werden. Allenfalls müsste der betroffene Vertrag neu ausgehandelt oder gekündigt werden; als letzter Ausweg, oder wenn sich solche Massnahmen als zu schwierig erwiesen, hätte die
Schweiz die Konsequenzen zu tragen, die sich aus einer Verletzung ihrer internationalen Verpflichtungen ergeben könnten.

Jeder Versuch, die Gültigkeit der Volksinitiativen weiteren Schranken zu unterwerfen, würde überdies juristische und politische Probleme aufwerfen. Dies gilt auch für den im Postulat der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats gemachten Vorschlag, «bedeutende Bestimmungen der EMRK» als Gültigkeitsvoraussetzung einzuführen. Dennoch will der Bundesrat eine allfällige Erweiterung der materiellen Schranken der Verfassungsrevision nicht einfach ausschliessen. Er wird deshalb das EJPD (BJ), das EDA (DV) und die Bundeskanzlei beauftragen, zu untersuchen, welche Möglichkeiten bestehen, die Widersprüche zwischen den Volksinitiativen und den internationalen Verpflichtungen der Schweiz zu vermeiden.

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