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Bundesratsbeschluss über # S T #

den Rekurs von J. Wolff und Genossen gegen das Dekret des Grossen Rates des Kantons Neuenburg vom 27. November 1906 betreffend die Volksabstimmung über das Initiativbegehren der Trennung von Staat und Kirche.

(Vom 11. Januar 1907.)

Der schweizerische Bundesrat hat

über den Rekurs von J. W o l f f und Genossen gegen das Dekret des Grossen Rates des Kantons Neuenburg vom 27. November 1906 betreffend die Volksabstimmung über das Initiativbegehren der Trennung der Kirche vorn Staat; auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden

Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: 1. Anfang November 1906 setzten einige Bürger von La Chaux-de-Fonds im Kanton Neuenburg ein Initiativbegehren fol-

112 genden Wortlautes in Umlauf: ,,Les citoyens soussignés faisant usage du droit d'initiative populaire prévu au nouvel article 84 de la constitution cantonale, ont l'honneur de proposer au Grand Conseil la revision de l'article 71 de la constitution dans le sens de la séparation des Eglises et de l'Etat et de la suppression du budget des cultes, sous réserve de mesures transitoires."

Die Befürworter dieses Initiativbegehrens reichten am 6. November 4115 Unterschriften bei der Kantonskanzlei ein und während der folgenden Tage bis zum 16. November noch weitere 1931, im ganzen 6046.

Während für dieses Begehren Unterschriften gesammelt wurden,, wurde ein anderes Initiativbegehren in Bewegung gesetzt mit folgendem Wortlaut : ,,Demande d'initiative en faveur d'une consultation populaire sur la séparation des Eglises et de l'Etat: Les soussignés considérant qu'en présence du mouvement d'opinion qui s'est produit à plusieurs reprises et en particulier dans le courant de cette année, il convient de consulter le peuple sur le principe de la séparation des Eglises et de l'Etat; considérant que le seul moyen d'obtenir cette consultation populaire est de demander au Grand Conseil, par la voie d'une initiative appuyée de 3000 signatures une revision partielle de la constitution, proposent au Grand Conseil une revision partielle de la constitution dans le sens de la séparation des Eglises et de l'Etat.a Dièse Initiative war im Gegensatz zu den weissen Unterschriften bogen der ersten auf graue geschrieben worden und erhielt 7727 Unterschriften; die ersten Unterschriften langten bei der Eantonskanzlei aus verschiedenen Gemeinden am 3. November ein, andere folgten .nach bis zum 10. November. Die Zahl von 3000 Unterschriften wurde, nach Aussage der Kantonskanzlei, wahrscheinlich zwischen dem 7. und dem 9. November erreicht.

Der Regierungsrat legte mit Bericht vom 16. November 1906 dem Grossen Rate für den Fall, dass er dem Begehren nicht zustimmen sollte, gemäss Art. 84 der Kantonsverfassung den Entwurf folgenden Dekretes vor: Le Grand Conseil de la république et canton de Neuchâtel, Vu une demande d'initiative, appuyée par 7727 signatures, en faveur d'une consultation populaire sur la Séparation des Églises et de l'État;

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Vu une demande de revision, appuyée par 6046 signatures, de l'article 71 de la Constitution, décrète : Article premier. -- La question suivante sera soumise au peuple : ,,Voulez-vous la revision partielle de la Constitution cantonale ,,du 22 novembre 1858, dans le sens de la Séparation des Églises ,,et de l'Etat?"

Art. 2. -- Le Conseil d'État est chargé de l'exécution du présent décret.

Der Grosse Rat nahm diesen Entwurf am 27. November 1906 unverändert an.

Der mit der Vollziehung beauftragte Regierungsrat setzte die Abstimmung auf den 19. und 20. Januar 1907 an.

2. Jacques Wolff uüd 29 Mitunterzeichnete, die alle der ,,weissena Initiative ihre Unterschrift gegeben hatten, rekurrieren mit Schreiben vom 20. Dezember 1906 an den Bundesrat mit dem Begehren, es sei das Dekret vom 27. November 1906 aufzuheben, eventuell, wenn der Rekurs nicht vor dem 19. Januar 1907 entschieden werden könne, sei die Abstimmung auf später zu verschieben.

Zur Begründung bringen sie vor: Wie es der Regierungsrat in seinem Bericht an den Grossen Rat selbst anerkennt, ist die weisse Initiative aus ändern Beweggründen hervorgegangen und stellt ein anderes Begehren als die graue. Die Unterzeichner der grauen Listen beabsichtigten nur, das Volk darüber zu befragen, ob es die Trennung von Staat und Kirche wolle, und schon deshalb konnte ihr Begehren nicht als wirkliches Initialivhegehren betrachtet werden; die Unterzeichner der weissen dagegen wollten die Trennung selbst durchsetzen. Beiden Begehren gemeinsam ist die Aufhebung der öffentlichen Kultusverwaltung ; die weisse Initiative schreibt aber ausdrücklich vor, dass unter Vorbehalt der durch die Billigkeit geforderten Übergangsbestimmungen der Staat für die auf privatrechtficher Basis konstituierten Kultusgenossenschaften keine finanziellen Opfer mehr zu bringen habe, während die graue Initiative die Aufhebung dieses Budgetpostens nicht notwendigerweise in sich schliesst. Da die beiden Initiativbegehren verschieden sind, musste das Volk über jedes besonders befragt werden, und zwar in der Reihenfolge ihrer Einreiehung, zuerst über die weisse und dann über die graue, wie es auch das Bundesgesetz vom 27. Januar 1892

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über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Revision der Bundesverfassung vorsieht. Der Grosse Rat begeht den Unterzeichnern der weissen Initiative gegenüber eine Rechtsverweigerung, indem er das von ihnen gestellte Begehren dem Volke nicht vorlegt.

Wenn das Begehren, wie es im Dekret vom 27. November 1906 gestellt wird, vom Volke angenommen wird, kann der Grosse Rat unmöglich wissen, ob dies im Sinne des Begehrens der Weissen «der der Grauen geschehen ist, und er wird die Verfassungsrevision nicht gernäss dem Volksentscheide vornehmen können, wie es Art. 14 der Kantonsverfassung vorschreibt.

Das Begehren der grauen Initiative hätte dem Volke gar nicht vorgelegt- werden sollen, weil es weder die Annahme eines neuen, noch die Aufhebung oder Abänderung eines bestehenden Verfassungsartikels vorschlägt, wie es Art. 14 der Kantonsverfassung verlangt. Deshalb ist auch das Dekret seihst verfassungswidrig.

3. Der Regieruugsrat des Kantons Neuenburg antwortet mit Schreiben vom 28. Dezember 190ri auf den Rekurs wie folgt: Die Kompetenz des Bundesrates ist nach Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes gegeben, wie das sowohl vom Bundesgericht als vorn Bundesrat in ähnlichen Fällen erkanot worden ist (Bger. E. XXVII, I, 488; XXX, I, 305; Bundesbl. 1901, I, 881).

Die Hinausschiebung der Abstimmung vom 19. und 20. Januar 1907, für den Fall, dass der Rekurs nicht vorher entschieden wtlrde, wäre nicht gerechtfertigt; die Abstimmung, falle sie so oder anders aus, wird keine rechtlichen Interessen verletzen {Art. 185 des Organisationsgesetzes), da sie nur unter Vorbehalt des Rekurseutsuheides gelten wird.

In der Sache selbst tritt der Regierungsrat den Gründen der Rekurreuten entgegen. Er bestreitet, dass die beiden Initiativbegehren inhaltlich verschieden seien. Es ist ganz klar und mit dem Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat ohne weiteres gegeben, dass der Staat nach Annahme des Initiativbegehrens, wie es der Grosse Rat formuliert hat, nicht mehr verpflichtet ist, in seinem Budget für die Pflege des Kultus ein besonderes Kapitel zu eröffnen; die Trennung will jedes organische Band zwischen Staat und Kirche zerschneiden, und auf die Organisation der Religionsgenossenschaften das gemeine Recht anwenden. Im übrigen aber wird auch der Vorbehalt von Übergangsbestimmungen überflüssig,
weil die Annahme des Grundsatzes der Trennung, die teilweise Berücksichtigung bestehender Interessen während der Übergangsperiode selbstverständlich nicht ausschliesst; er ist zudem so unbestimmt und so mannigfacher Auslegung fähig, dass

115 das Volk dadurch nur vor Zweifel gestellt worden wäre. Die Antwort des Volkes auf die ihm gestellte Frage wird dem Grossen Rate in der Hauptsache deutlich den Weg zur Ausarbeitung des Gesetzes weisen. Durch den Grundsatz der Trennung wird nicht ausgeschlossen, dass sich der Staat für die nunmehr privaten Religionsgenossenschaften besonders interessiere, sei es, dass er sie einer strengern Aufsicht unterstelle, sei es, dass er ihnen ihre Aufgabe durch unentgeltliche Überlassung staatlicher Gebäude oder auch durch Subventionen erleichtere. Diese Frage, sogut wie die Be.rUcksichtiKung des Pariservevtrages vom 26. Mai 1857, werden der Ausführung vorbehalten bleiben müssen Die dem Volk durch den Grossen Hat vorgelegte Frage war also durchaus klar und wäre durch den Beisatz der Rekurrenten weder verändert noch verdeutlicht worden.

Die Rekurrenten können sich nicht über Rechtsverweigerung beklagen, weil der Wortlaut ihres Begehrens nicht dem Volke vorgelegt werden soll; das angefochtene Dekret nimmt übrigens auch auf die weisse Initiative bezug. Der Grosse Rat hat nach der Kantonsverfassung das Recht, den Grundsatz, über den die allgemein gehaltene Initiative die Abstimmung verlangt, endgültig zu formulieren, im Gegensatz zum Initiativbegehren in Form eines ausgearbeiteten Entwurfes. Wenn die Rekurrenten den unveränderten Wortlaut ihres Begehrens dem Volk hätten vorlegen wollen, so hätten sie die Form des ausgearbeiteten Entwurfes wählen müssen.

Dass die graue Initiative verfassungswidrig sei, weil sie nicht die Aufhebung oder Abänderung. bestimmter Verfassunasarlikel begehre, entspricht nicht dem Sinne des Art. 84 der Kantonsverfassung. Die Verfassung wollte die Initianten nicht verpflichten, die oft schwierige Frage zu lösen, welche ihrer Bestimmungen durch einen neuen Grundsatz abgeändert werden müssen; die weissen Initianten haben dies selbst nicht vermocht, denn durch den Grundsatz der Trennung werden noch verschiedene andere Verfassungsartikel als Art. 71 berührt. Auch der Grosse Rat war nicht verpflichtet, alle diese Artikel anzuführen, wie die Rekurrenten meinen.

Es mag sein, dass es den Unterzeichnern der grauen Bogen nicht sowohl darauf ankam, die Verfassung zu revidieren, als daa Volk über die einmal aufgeworfene Frage entscheiden zu lassen; allein den Beweggründen der Initianten kann
nicht nachgeforscht werden, erheblich ist allein ihr Begehren, und das lautet auf Verfassungsrevision.

Die übrigens unsichere Priorität des weissen Initiativbegehrens kommt hier nicht in Betracht, weil beide Begehren im wesent-

116 liehen den gleichen Inhalt haben ; wenn dies aber auch nicht der Fall wäre, müsste angenommen werden, dass der Grosse Rat die Befugnis hat, das Verfahren festzusetzen, da es in der neueuburgischen Gesetzgebung an einer dem Art. 15 des Bundesgesetzes vom 27. Januar 1892 analogen Vorschrift fehlt.

Wenn man endlich annehmen wollte, das Dekret gebe dem Begehren der weissen Initiative nicht genügenden Ausdruck, so müsste es jedenfalls aufrecht erhalten werden, insofern es die andere Initiative dem Volke vorlest.

O

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Nach Art. 189, Absatz 4, des Organisationsgesetzes vom 22. März 1893 ist der Bundesrat kompetent zu beurteilen: Begehren betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen. Indem die Rekurrenten verlangen, dass das Volk über die in ihrem Initiativbegehren gestellte Frage, so wie sie dort formuliert ist, angefragt werde, machen sie ohne Zweifel ein Recht gellend, das als politisches Stimmrecht im Sinne der angeführten Gesetzesbestimmung bezeichnet werden muss. Das Initiativ begehren ist wie das Referendumsbegehren eine Äusserung des politischen Stimmrechts; die Nichtachtung eines in gehöriger Form gestellten luitiativbegehrens ist eine Verletzung der aus dem politischen Slimmrechte des Bürgers hervorgehenden verfassimgsmässigen Befugnisse (Bundesratsbeschluss vom 3. Mai 1901 i. S. Mettler; Baumgartner, Bundesblalt 1901, III, 305; Salis 111, Nr. 1130).

Anderseits aber kann ein solches Rekursbegehren auch als die Geltendmachung des Grundsatzes der Gewaltentrennung aufgefasst werden, in welchem Falle das Bundesgericht zur Entscheidung kompetent wäre. Indem der Grosse Rat ein regelrecht gestelltes Initiativ begehren dem Volke entgegen der Vorschrift der Verfassung nicht unterbreitet, begeht er einen Übergriff in die Eechte des Volkes.

Der Bundesrat hat sich in Übereinstimmung mit dem Bundesgericht mehrmals entschieden, dass er kompetent sei zu beurteilen, ob ein Initiativ- oder Referendumsbegehren die vorgeschriebene Zahl von gültigen Unterschriften erhalten habe und zustande gekommen sei (Bundesratsbeschlussi. S. Mettler a.a.O. und i.S. Duaime vom 11. Oktober 1904, Bundesbl. 1904, V, 22; Salis III, Nr. 1130,

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bundesgerichtliche Entscheide vom 11. Dezember 1901 i. S. Zurflüh u. Kons, gegen Uri, XXV1I, I, 487 ; 5. Mai 1904 i. S. Duaime u. Kons, gegen Genf, XXX, I, 302.)

Das Bundesgericht dagegen hat sich mehrmals kompetenterklärt zu entscheiden, ob ein Erlass der gesetzgebenden Behörde kraft des obligatorischen Referendums dem Volke vorgelegt werden müsse. (Bundesgerichtliche Entscheide i. S. Archinard u. Kous.

gegen Genf, vom 26. April 1899, XXV, I, 229; i. S. Dürrenmatt u. Kons, gegen Bern, vom 9. November 1899, XXV, I, 459; i. 8.

Giuseppe Motta, vorn 18. Oktober 1905.)

Im vorliegenden Fall ist aber nicht zu entscheiden, ob die gesetzgebende Behörde der Volksabstimmung einen Erlass entzogen habe, der ihr nach Verfassung hätte von Amteswegen unterstellt werden sollen, sondern vielmehr, ob sie einem formgerecht zustande gekommenen Initiativ begehren diejenige Folge gegeben habe, die ihr von Verfassungswegen zukommt. Das Bundesgericht hat allerdings im analogen Falle Kündig u. Gen.

durch Urteil vom 2 März 1899 (A. S. XXV, I, 64) die Kompetenz in Anspruch genommen, zu beurteilen, ob das vom Volke gutgeheissene Initiativ begehren durch- das Gesetz des Grossen Rates richtig ausgeführt worden sei. Allein abgesehen davon, dass die hier zu entscheidende Frage eine etwas andere ist, nämlich die, wie die durch allgemeine Anregung aufgeworfene grundsätzliche Frage dem Volke zu stellen sei, scheint sich d*s Buudesgericht seither einer ändern Auslegung zugeneigt zu haben, die dem Bundesrate alle mit der Ausübung politischer Hechte zusammenhängenden Beschwerden zuweist, auch wenn daneben Grundsätze zur Anwendung kommen, die an sich vom Bundesgericht zu beurteilen wären. (Bundesgerichtliche Entscheide vom 11. Dezember 1901 i. S. Zurflüh u. Gen. gegen Uri, XXVII, I, 48/; 25. April 1902 i. S. Brüstlein u. Gen. gegen Bern, XXVIII, I, 154; vgl.

auch 10. Juni 1896 i. S. Conseil d'Etat du canton de Fribourg, XXII, 366.) Diese Auslegung entspricht auch der Absicht des Gesetzgebers, der in Art. 1»9, Abs. 4, dem Bundesrate alle diejenigen Beschwerden zuweisen wollte, mit denen ein politisches Recht der Bürger geltend gemacht wird.

Der Bundesrat ist daher zur Beurteilung der Beschwerde kompetent.

II.

Der Hauptbeschwerdegrund der Rekurrenten besteht darin, dass der Grosse Rat dem Volk eine andere Frage vorlege, als die von ihnen mit der weissen Initiative angeregte.

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Diese Frage ist vor allem zu untersuchen.

Art. 84 der Kantonsverfassung von Neuenburg bestimmt im drittletzten Absatz: ^Lorsque la demande est conçue en termes généraux, le Grand Conseil, s'il l'approuve, procédera à la révision partielle dans le sens indiqué et en soumettra le projet à l'adoption ou au rejet du peuple. Si, au contraire, il ne l'approuve pas, la question de la révision partielle sera soumise au peuple; si la majorité se prononce pour l'aftimative le Grand Conseil procédera à Ja révision en se conformant à la décision populaire. a Trotz der Unbestimmtheit des Ausdruckes ist anzunehmen, dass die Neuenburger-, sowenig wie die Bundesverfassung, an die sich ihre Redaktion anlehnt, dem Volke bloss die. Fmge vorlegen wolle, ob die Verfassung überhaupt teilweise zu revidieren sei, sondern, wie sich aus den Schlussworten des Absatzes ergibt, die Frage, ob sie nach dem von den Initianten angeregten Grundsatze zu revidieren sei. Darüber aber, ob sich der Grosse Rat bei der Formulierung der Frage an den Wortlaut des Initiativ begeh rens zu halten habe oder nicht, ist der Verfassung nichts zu entnehmen.

Der Regierungsrat des Kantons Neuenburg behauptet, der Grosse Rat habe nicht nur das Recht, rein redaktionelle, sondern auch sachliche Verbesserungen vorzunehmen, die zur Verdeutlichung des Hauptgedankens und zur Vereinfachung der Fragestellung dienen. Diese Auslegung ist an sich weder mit dem Wortlaut noch mit dem Geiste der Kantonsverfassung im Widerspruch; sie ist z. B. im Kanton Waadt für die Gesetzesinitiative durch ausdrückliche Vorschrift gestattet (Waadtländisches Gesetz vom 8. September 1093, Art. 67; vgl. auch W. B u r c k h a r d t , Kommentar, Seite 883ff.). Die eidgenössische Rekursbehörde hat daher keinen Grund, die Auffassung der kantonalen Behörden, die in erster Linie berufen sind, ihre Verfassung auszulegen, als irrig hinzustellen. Fraglich bleibt somit bloss, ob der Grosse Rat des Kantons Neuenburg von seinem Rechte, die Volksanfrage endgültig zu formulieren, einen Gebrauch geraucht habe, der den Gedanken der Initiauten entstellt oder wesentlich verändert.

Der Untersfhied der beiden Fassungen besteht darin, dass die weisse Initiative ausser der Trennung der Kirchen vom Staate auch die Aufhebung des Kultusbudgels unter Vorbehalt der Übergangsbestimmungen begehrte, während
der Grosse Rat bloss über die Frage abstimmen lassen will, ob die Verfassung im Sinne der Trennung der Kirchen vorn Staate zu revMieren sei. Der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche bedeutet,

119 dass der Staat die Kirche nicht als staatliche Einrichtung anerkennt, sondern dass er die Unterhaltung des Kultus der Privatinitiaiive Uberlässt und die Genossenschaften, die sich zu diesem Zweck bilden, als Private, nach gemeinem Rechte zu organisierende Vereinigungen behandelt. Mit diesem Grundsatz ist die Aufhebung des Kultusbudgets, so wie es heute verstanden wird, ohne weitere» gegeben; denn ein eigenes Budget, d. h. einen notwendigen Anteil an den Aussahen des Staates haben nur staatlich anerkannte Einrichtungen. Jede finanzielle Beteiligung des Staates an den privaten Relio'ionsgenossenschaften wird allerdings durch den Wortlaut der dem Volke vorzulegenden Frage nicht ausgeschlossen, z. B. die Überlassung von kirchlichen Gebäuden zu unentgeltlichem Gebrauch,, die Gewährung von Subventionen, wie sie ändern Privatanstalten gewährt werden. Allein auch die Aufhebung des Kultusbudgets schliesst dies nicht aus, nach dem Sinne, der diesem Ausdruck allgemein beigelegt wird. Der Zusatz der weissen Initiative war deshalb überflüssig. Er hätte sogar zur irrtümlichen Annahme führen können, als ob mit der Streichung des Kultusbudgets die Vermögensauseinandersetzuns: zwischen Staat und Kirche beendigt sei, während diese Auseinandersetzung einer eingehenden Regelung bedarf. Aus dem gleichen Grunde brauchte der Erlass von Übergangsbestimmungen nicht erwähnt zu werden.

Der Haupteiuwand der Rekurrenten ist also unbegründet.

Mit ihm fällt auch die Behauptung, der Grosse Rat habe den Rekurrenten gegenüber eine ,,Rechtsverweigerung 1 * begangen und der Grosse Rat werde, wenn die Initiative angenommen werden sollte, nicht wissen, nach welchen Grundsätzen er das Ausführungsgesetz zu verfassen habe.

Die Rekurrenten haben weiter vorgebracht, das Dekret desGrossen Rates sei verfassungswidrig, soweit es das graue Initiativbegehren zur Abstimmung bringe, welches nicht als gültigesInitiativbegehren angesehen werden könne. Allein, wenn auch die Gründe für diese Behauptung zutreffend wären, so könnten doch die Rekurrenten deshalb das Dekret nicht anfechten, da es ja ihr Begehren in korrekter Weise wiedergibt und sich schon dadurch genügend rechtfertigt.

Die Forderung, dass über die beiden Initiativbegehren gesondert abgestimmt werde, und zwar zuerst über dasjenige, welches die vorgeschriebene Unterschriftenzahl zuerst erreicht hat, ist ebenfalls unbegründet, wenn der Gegenstand der beiden Begehreu derselbe ist. Das neuenburgische Recht kennt keine Bestimmung.,

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welche vorschriebe, dass mehrere Initiativbegehren gleichen Inhalts in der Reihenfolge ihrer Einreichung erledigt werden sollen.

Demgemäss wird erkannt: Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 11. Januar 1907.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Müller.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Bingier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs von J. Wolff und Genossen gegen das Dekret des Grossen Rates des Kantons Neuenburg vom 27. November 1906 betreffend die Volksabstimmung über das Initiativbegehren der Trennung von Staat und Kirche. (Vom 11. Januar ...

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