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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Gewährleistung der revidierten Verfassung des Kantons Wallis.

(Vom 1. November 1907.)

Tit.

I. Mit Schreiben vom 3. Juni 1907 hat der Regierungsrat des Kantons Wallis dem Bundesrat mitgeteilt, dass die am 8. März 1907 vom Grossen Rat angenommene revidierte Verfassung des Kantons Wallis in der Abstimmung vom 12. Mai 1907 mit 8144 gegen 2621 Stimmen auch vom Volk angenommen und durch Dekret des Regierungsrats vom 23. Mai 1907 zum Grundgesetz des Staates erklärt worden sei. Der Regierungsrat hat zugleich das Begehren gestellt, die Bundesversammlung wolle der revidierten Kantonsverfassung die eidgenössische Gewährleistung erteilen.

II. Die neue Verfassung des Kantons Wallis ist aus einer Totalrevision der Verfassung vom 26. November 1875 hervorgegangen. Die Revision ist vom Grossen Rate vorgenommen worden.

Die neue Verfassung unterscheidet sich von der alten hauptsächlich in zwei Punkten : Sie enthält unter den allgemeinen Grundsätzen im I. Titel, Art. 14 bis 20, eine ins einzelne gehende Aufzählung der Aufgaben, die vom Staate selbst oder mit seiner Unterstützung durchzuführen sind, und sie bringt eine ganz wesent-

612 liehe Erweiterung der Volksrechte, was die Einfügung eines neuen IV. Titels mit der Aufschrift ,,Ausübung der Volksrechte a nötig gemacht hat.

1. Als volkswirtschaftliche Aufgaben des Staates nennt die Verfassung in Art. 14 den Arbeiterschutz; und die Sicherung der Arbeiterfreiheit; in Art. 15 die Förderung und Unterstützung der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels und im allgemeinen aller den Kanton interessierenden Zweige der Staatswirtschaft; in Art. 16 die Organisation und Unterstützung der Viehversicherung, sowie anderer Versicherungen und insbesondere der obligatorischen Mobiliar- und Immobiliar Feuerversicherung; in Art. 17 die Entwicklung des Strassennetzes und der übrigen Verkehrsmittel, sowie die Verbauung der Gewässer; in Art. 18 und 19 die Gründung oder Unterstützung von Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder, sowie von ändern Wohltätigkeitsanstalten, von Bezirks- oder Kreisspitälern, Kliniken und Krankenhäusern, eventuell die Errichtung einer kantonalen Krankenanstalt. Gemäss Art. 20 soll die finanzielle Beteiligung des Staats in den Fällen der Art. 15, 16, 17, 18 und 19 durch Spezialgesetze bestimmt werden.

Diese Bestimmungen enthalten nichts Bundesrechtswidriges; einzig zu Art. 14 ist zu bemerken, dass, wie. übrigens schon in den Revisionsverhandlungen des Grossen Rats des Kantons Wallis betont worden ist, die Vorschriften betreffend Arbeitersehute und Freiheit der Arbeit nichts enthalten dürfen, was mit der eidgenössischen Fabrikgesetzgebung unvereinbar wäre.

Zu erwähnen ist ausserdem, dass Art. 13, der Schulartikel der Verfassung, nunmehr eine dem Bundesrecht entsprechende Fassung erhalten hat.

2. Von den Volksrechten (vgl. Art. 15, 19, 87 und 89 der alten und Art. 30, 31, 32, 33, 101, 102, 105 der neuen Verfassung) sind aus der alten Verfassung unverändert übernommen worden das obligatorische Finanzreferendum und das Recht des Volkes, über die Erhöhung der Steuer auf das Vermögen und das kapitalisierte Einkommen zu entscheiden. Neu ist dagegen das obligatorische Gesetzesreferendum (Art. 30), und die Gesotzesinitiative (Art. 31--34). Der Volksabstimmung unterliegen nunmehr die Konkordate, Abkommen und Verträge, soweit sie in der Zuständigkeit der Kantone liegen, ferner die vom Grossen Rat ausgearbeiteten Gesetze und Dekrete, ausgenommen die zur Vollziehung der Bundesgesetze notwendigen

613 gesetzgeberischen Erlasse und die Dekrete, welche dringlicher Natur oder von nicht allgemeiner und bleibender Tragweite sind.

Diese letztere Ausnahme soll in jedem einzelnen Fall Gegenstand eines speziellen motivierten Beschlusses bilden.

Auf dem Weg der Initiative kann das Volk den Erlass eines neuen, die Abänderung oder Aufhebung eines seit wenigstens vier Jahren in Kraft bestehenden Gesetzes begehren oder einen ausgearbeiteten Gesetzesentwurf vorlegen. In beiden Fällen muss das Begehren durch die Unterschrift von 4000 stimmberechtigten Bürgern unterstützt werden. Wenn das Begehren in Form einer allgemeinen Anregung gestellt wird und der Grosse Rat mit demselben einverstanden ist, so hat er einen Gesetzesentwurf im Sinne der Initianten auszuarbeiten und der Volksabstimmung zu unterbreiten. Stimmt der Grosse Rat der allgemeinen Anregung nicht zu, so hat das Volk darüber abzustimmen. Erhält das Hegehren der Initianten die Mehrheit der Stimmen, so hat der Grosse Rat ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten und der Volksabstimmung zu unterbreiten. Wird das Begehren in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs gestellt und stimmt ihm der Grosse Rat zu, so ist der Entwurf dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. Stimmt der Grosse Rat dem ausgearbeiteten Entwurf der Initianten nicht zu, so kann er einen Gogenentwurf ausarbeiten oder einfach Verwerfung der Vorlage beantragen.

Das Volk hat gleichzeitig über den Entwurf der Initianten und den Gegenentwurf oder den Verwerfungsantrag des Grossen Rats abzustimmen. Wenn das Initiativbegehren ordentliche Staatseinnahmen unterdrückt oder die Ausgaben derart vermehrt, dass zu ihrer Bestreitung die gewöhnlichen Einnahmen nicht ausreichen, so hat der Grosse Rat dem Volk neue Einnahmequellen vorzuschlagen.

III. Die Verfassungsrevision kann wie bisher sowohl vom Grossen Rat ausgehen als vom Volke begehrt werden. Das Volksbegehren kann entweder eine Total- oder eine Partialrevision verlangen, es muss von mindestens sechstausend Aktivbürgern unterstützt sein und an den Grossen Rat gerichtet werden. Im Gegensatz zur alten sieht die neue Verfassung ausdrücklich die Verfassungsinitiative auch in der Form des ausgearbeiteten p]ntwurfs vor. Liegt nur eine allgemeine Anregung vor, so hat das Volk darüber abzustimmen und sich dabei zugleich zu entscheiden, ob eine Total-
oder Partialrevision stattfinden und ob sie vom Grossen Rat oder von einem Verfassungsrat ausgearbeitet werden soll. Liegt ein ausgearbeiteter Entwurf vor, so hat der Grosse Rat ihn in zwei ordentlichen Sessionen zu beraten. Im

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übrigen ist das Verfahren gleich wie bei der Gesetzesinitiative geregelt. Jede Verfassungsrevision muss in zwei Lesungen beraten werden. In jedem Fall wird die revidierte Verfassung der Volksabstimmung unterstellt, bei welcher das absolute Mehr der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmberechtigten entscheidet.

Der geschilderten Erweiterung der Volksrechte musste in der Abfassung der Art. l und 37 der neuen Verfassung (l und 27 der alten) Rechnung getragen werden. Sie lauten nun : Art. l, Abs. 2 : ,,Die Souveränität beruht im Volk und wird unmittelbar durch die Aktivbürger und mittelbar von den durch die Verfassung eingesetzten Behörden ausgeübt." Art. 37 : ,,Unter Vorbehalt der dem Volk eingeräumten Rechte, wird die gesetzgebende Gewalt vom Grossen Rat ausgeübt."

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IV. Von den übrigen Neuerungen mögen erwähnt werden, die Entschädigungspflicht des Staates gegenüber ungesetzlich Verhafteten oder Verurteilten (Art. 4, Alinea 3) ; die subsidiäre Haftpflicht des Staates für die Amtsverrichtungen seiner Beamten (Art. 21, Alinea 2); die Verlängerung der Wahlperiode der Ständeräte von zwei auf drei Jahre (Art. 44, Ziff. 9) ; die Übertragung des Rechts zur Ernennung der Offiziere mit höherem als Hauptmannsrang vom Grossen Rat auf den Staatsrat (Ar. 53, Ziffer 6) ; die ausdrückliche Ermächtigung des Grossen Rats zur Ausübung der den Kantonen durch Art. 86, 89 und 93 der Bundesverfassung eingeräumten Rechte (Begehren der ausserordentlichen Einberufung der eidgenössischen Räte, Referendumsbegehren, Initiativrecht durch Korrespondenz) in Art. 44, Ziff. 15; die eingehendere Regelung der Verantwortlichkeit der Mitglieder des Grossen Rats (Art. 48) ; die Verminderung der Zahl der Kreisgerichte von 7 auf 4 (Art. 63); die in Art. 64 vorgesehene Einführung eines Handelsgerichtes und eines oder mehrerer gewerblicher Schiedsgerichte ; im Gebiete der Gemeindeorganisation die fakultative Einführung von Generalräten und des Proportionalwahlverfahrens für die Einwohner- und Burgergemeinderatswahlen, worüber das in Art. 108, Alinea 2, vorgesehene neue Wahlgesetz näheres zu bestimmen hat (Art. 73, 77, 87).

Bei der Umschreibung der Befugnisse des Grossen Rats durch Art. 44 (früher Art. 34) sind in Ziff. 7 : ,,Er ernennt zu denjenigen geistlichen Würden und Pfründen, deren Bestellung dem Staate zukommt" die Worte ,,und Pfründen" weggefallen.

Der Grosse Rat hat damit auf die Bestellung der Pfründen von Port-Valais, Vionnaz et Collombej^ verzichtet; ihm steht somit

615 nur noch die Ernennung des Bischofs zu. Von jenem Verzicht ist gemäss Beschluss vom 28. Februar 1907 im Grossratsprotokoll ausdrücklich Vormerkung genommen worden.

Alle im vorstehenden erwähnten Neuerungen enthalten nichts Bundesrechtswidriges.

V. a. In Art. 8, welcher die Freiheit der Meinungsäusserung in Wort und Schrift, sowie die Freiheit der Presse gewährleistet, lautet der Schlusssatz: ,,Das Gesetz bestraft den Missbrauch derselben. " Diesem Satz gegenüber ist daran zu erinnern, dass gemäss Art. 64bi8 der Bundesverfassung dem Bund die Gesetzgebungskompetenz im Gebiete des Strafrechts zusteht, und dass gemäss Alinea 4 des gleichen Artikels die Strafbestimmungen der Kantone für den Missbrauch der Pressfreiheit mit dem Inkrafttreten des eidgenössischen Strafgesetzbuches dahinfallen.

b. Der 2. Absatz des Artikels 11, dessen erster Absatz das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht aufstellt, besagt, die Anwendung dieses Grundsatzes sei durch die Bundes- und Kantonalgesetzgebung geregelt ; da nun der Bund allein zur Regelung der Wehrpflicht zuständig ist und von dieser Kompetenz auch Gebrauch gemacht hat, so kann der zweite Satz von Art. 11 nur den Sinn haben, dass innert den Schranken des Art. 20 der Bundesverfassung kantonale Bestimmungen über die Ausführung der eidgenössischen Vorschriften aufgestellt werden können.

Eines ausdrücklichen Vorbehaltes bedarf es deshalb gegenüber dieser Bestimmung in der Gewährleistung nicht.

c. Art. 2 der neuen Verfassung lautet: ,,Die römisch-apostoliseh-katholische Religion ist die Staatsreligion."

,,Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich. "· ,,Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung a ö ewährleistet.

Der erste Absatz dieses Artikels stimmt im Wortlaut genau überein mit Satz l des Artikels 2 der alten Verfassung vom Jahre 1876.

Die Absätze 2 und 3 entsprechen inhaltlich dem zweiten Absatz der frühern Fassung.

Im Jahr 1876 hat die Bundesversammlung dieser Vorschrift die Gewährleistung unter Vorbehalt der Art. 49, 50 und 53 der Bundesverfassungi~ erteilt. Wir beantragen Ihnen.i Tit.,i den Ogleichen o Vorbehalt auch jetzt wieder zu machen.

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Wir empfehlen Ihnen, Tit., der revidierten Verfassung des Kantons Wallis durch Annahme des hier beigefügten Beschlussesentwurfs die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen.

Genehmigen Sie, Tit., den Ausdruck unserer vollkommensten Hochachtung.

B e r n , den 1. November 1907.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Müller.

Der I. Vizekanzler : Schatzmann.

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(Entwurf.)

Bundesbechluss betreffend

die Gewährleistung der revidierten Verfassung des Kantons Wallis.

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft und des Antrags des Bundesrates vom 1. November 1907 betreffend die revidierte Verfassung des Kantons Wallis vom 8. März 1907 ; in Erwägung: dass Art. 2, Alinea l, nur im Sinne der Art. 49, 50 und 53 der Bundesverfassung ausgelegt und angewendet werden darf; dass diese Verfassung im übrigen nichts enthält, was den Vorschriften der Bundesverfassung widerspräche; in Anwendung von Artikel 6 der Bundesverfassung, beschliesst: 1. Der Verfassung des Kantons Wallis vom 8. März 1907 wird im Sinne der Erwägungen die eidgenössische Gewährleistung erteilt.

2. Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung zum Begnadigungsgesuch des wegen Gefährdung des Eisenbahnverkehres bestraften Xaver Meier, Stationsgehülfe in Effingen, Kantons Aargau.

(Vom 1. November 1907.)

Tit.

Am 24. Oktober 1906 stiess auf der Station Effingen der von Schinznach-Dorf herkommende Schnellzug Nr. 132 der S.B. B.

auf den Schluss des Gilterzuges Nr. 4030, der vor ihm in gleicher Richtung in die Station eingefahren war. Der Güterzug war stark verspätet, was den Stationsgehülfen Xaver Meier veranlasste, die normalerweise in Stein-Säckingen stattfindende Überholung auf seine Station zu verlegen. Er Hess zu diesem Zwecke den Güterzug auf das Ausweichgeleise überführen, was mit einer Rückwärtsbewegung desselben in der Richtung Schinznach-Dorf verbunden war, wobei die hintersten Wagen über das Einfahrtssignal hinaus und zum Teil in den Tunnel zwischen den beiden Stationen gelangten.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Gewährleistung der revidierten Verfassung des Kantons Wallis. (Vom 1. November 1907.)

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06.11.1907

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