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Botschaft des.

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Genehmigung des am 23. Juni 1924 zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien abgeschlossenen Vertrages zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten.

(Vom 28. Oktober 1924.)

I.

Die Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien steht seit ihren Anfängen an der Spitze der Länder, die in der Ent-wicklung der Mittel zum friedlichen Austrage von internationalen Streitigkeiten eine der besten Garantien zur Erhaltung des Friedens sehen.

Von 1909 bis 1911, in einem Zeiträume von zwei Jahren, hat sie nicht weniger als elf allgemeine Schiedsverträge abgeschlossen *). Kürzlich noch hat sie als erste das aus den Beratungen der panamerikanischen Konferenz von Santiago hervorgegangene Gondra-Abkommen ratifiziert, das zur Verhütung von Streitigkeiten zwischen Staaten des amerikanischen Kontinents das Vergleichsverfahren vorsieht. Der Gedanke der schiedlichen Erledigung von internationalen Streitig« keiten ist in Brasilien so verbreitet, dass er gewissermassen in die allgemeinen Sitten übergegangen ist, «Brasilien ist das einzige Land der Welt, dessen Verfassung die obligatorische Anrufung eines Schiedsgerichtes erheischt, bevor zu den Waffen gegriffen werden darf,» konnte in der Sitzung des Völkerbundsrates vom 18, März dieses Jahres der Vertreter Brasiliens ausrufen.

Als das Genfer Protokoll betreffend die freiwillige Bestimmung des ständigen internationalen Gerichtshofes zur Unterzeichnung durch die Völkerbnndsmitglieder eröffnet wurde, hielt sich Brasilien, seiner Überlieferung auf dem Gtebiete der Schiedspolitik getreu, nicht abseits. Durch ein Dekret vom 25. August 1921 gab der Präsi*) Vgl. Die Sammlung der ,,Traités généraux d'arbitrage communiqué» au Bureau international de la Cour permanente d'arbitrage", 1. und 2. Reihe.

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dent der Republik, im Einverständnis mit dem Nationalkongress, bekannt, dass Brasilien für eine Dauer von fünf Jahren and unter dem Vorbehalte der Gegenseitigkeit die obligatorische Gerichtsbarkeit des internationalen Gerichtshofes anerkenne. Aber aus Gründen, die wir hier nicht zu untersuchen haben, machte das erwähnte Dekret die Anerkennung von einer Bedingung abhängig, die, so bedeutungslos sie im ersten Augenblick erscheinen mochte, bis heute die Unterschrift Brasiliens unwirksam gestaltet hat. Diese Bedingung lautete nämlich dahin, dass die Vereinigten Staaten von Brasilien die obligatorische Gerichtsbarkeit des internationalen Gerichtshofes unter den oben angegebenen Bedingungen von dem Augenblick anerkennen, «da diese Gerichtsbarkeit auch von mindestens zwei Mächten anerkannt wird, die einen ständigen Sitz im Völkerbundsrate haben». Der Beitritt Brasiliens zu dem im Artikel 86 des Statuts- des internationalen Gerichtshofes niedergelegten Grundsatze schien so verurteilt, wenigstens für einige Zeit, eine rein platonische Kundgebung zu bleiben.

Der Bundesrat hielt es daher für angezeigt, in Befolgung der im Bericht an die eidgenössischen Bäte vom 11. Dezember 1919 entwickelten Richtlinien *), an die brasilianische Regierung mit Eröffnungen heranzutreten, wie sie entsprechend auch andern Regierungen unterbreitet worden waren. Er erkundigte sich bei den Vereinigten Staaten von Brasilien, ob sie geneigt wären, mit der Schweiz einen allgemeinen Schiedsvertrag, beruhend auf dem Grundsatze des Artikels 86 des Statuts des Gerichtshofes, abzuschliessen, um nicht einer Bewegung, der sie von Anbeginn an die grösste Aufmerksamkeit geschenkt hatten, vollständig fremd zu bleiben.

Dieser Schritt wurde günstig aufgenommen, und der Bundesrat legte dar, welches, nach seiner Ansicht, die Punkte seien, worüber verhandelt werden sollte. Die brasilianische Regierung arbeitete darauf einen ersten Vorentwurf aus, der auf dem Grundsatze der allgemeinen obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, gemildert durch den Vorbehalt zugunsten der Verfassungsnormen, beruhte. Dieser Vorentwurf war Gegenstand eines Meinungsaustausches, der rasch zu einer Einigung führte, so dass am 28. Juni dieses Jahres unser Gesandter in Rio de Janeiro den Vertrag unterzeichnen konnte, dessen Wortlaut sich im Anhang zur vorliegenden Botschaft
findet . II.

Der Vertrag ist von grosser Einfachheit und gleichzeitig von ganz neuer Art. Er sieht nicht, wie unsere Verträge mit Deutschland und Ungarn, neben dem Schiedsverfahren ein Vergleichsver*) Vgl, Bundesblatt 1919, Bd. 5, S. 925.

652 fahren vor; vielmehr wird darin ein einziges Verfahren eingeführt, das allerdings von dem Grundsatze der obligatorischen gerichtlichen Erledigung beherrscht wird und sich vor dem ständigen internationalen Gerichtshof abspielt. Die vertragliche Begelung entspricht indessen nicht ganz dem System, das für das Gerichtsverfahren nach Artikel 86 des Statuts des Gerichtshofes kennzeichnend ist. Der Unterschied besteht darin, dass der Vorbehalt bezüglich der Geltung der obligatorischen Schiedsgeriohtsbarkeit nicht in beiden Fällen von derselben Art und von der nämlichen Tragweite ist.

Während Artikel 36 des Statuts des Gerichtshofes implicite die Streitigkeiten nicht rechtlicher Natur von der gerichtlichen Erledigung ausschliesst, entzieht der Vertrag mit Brasilien nur diejenigen Streitfragen der richterlichen Behandlung, die, nach der Meinung einer der Parteien, die Grundsätze ihrer Verfassung berühren. Ein Unterschied zwischen Streitigkeiten rechtlicher Natur und andern wird also nicht gemacht. Sollte ein rein politischer Konflikt zwischen Brasilien und der Schweiz entstehen, so könnte er vor den Haager Gerichtshof gebracht werden unter der Voraussetzung, dass keine Partei behauptet, er berühre ihre Verfassungsnormen.

Dagegen würde eine Streitsache rein rechtlicher Natur ohne weiteres jeder gerichtlichen Erledigung entgehen, sobald eine Partei eine Einrede wegen ihres verfassungsrechtlichen Charakters vorbringen würde. Der Vorbehalt zugunsten der Streitfälle nicht rechtlicher Natur deckt sich demnach nicht mit dem Vorbehalte zugunsten der Verfassungsnonnen. Die beiden Vorbehalte wirken sich sozusagen auf verschiedenen Ebenen aus.

Bis dabin hat der Verfassungsvorbehalt Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geboten. Der Bundesrat selbst hat dieser Klausel nicht immer denselben Wert beigemessen, und seine Ansichten haben im Laufe der letzten zwanzig Jahre in dieser Beziehung gewechselt.

In der Botschaft an die eidgenössischen Räte vom 19. Dezember 1904 *) bemerkt er hinsichtlich des von der Schweiz im Jahre 1883 den Vereinigten Staaten von Amerika unterbreiteten Entwurfes eines Schiedsvertrages, «dass es nicht vorsichtig sei, einen Schiedsvertrag von so allgemeiner Tragweite einzugehen, dass ihm zufolge die Schiedsgerichtsbarkeit auch zur Entscheidung von Fragen konstitutioneller Natur angerufen werden
könnte». Die seither auf dem Gebiete der Schiedsgerichtsbarkeit gemachten Erfahrungen veranlassten den Bundesrat, seme ursprüngliche Ansicht einer Nachprüfung zu unterziehen, so dass er in seinem Bericht an die Bundesversammlung von 1919 entschieden Stellung nahm gegen den Verfassungs*) Bundeablatt 1904, Bd. 6, S. 694.

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vorbehält, wobei er sich darauf stützte, dass die Unterscheidung von Verfassung und gewöhnlichem Gesetze kein eigentliches Kriterium des internationalen Eechts sei.

Obwohl der Bundesrat auch heute noch nicht Anhänger einer Ausnahme in diesem Sinne und in dieser Form ist, wollte er den Erfolg der Verhandlungen nicht dadurch in Präge gestellt sehen, dass er aus mehr theoretischen als praktischen Erwägungen den brasilianischen Vorschlag ablehnte. Der Vorbehalt zugunsten der Verfassungsnonnen wäre zweifellos unberechtigt in einem Vertrage, der bereits dem klassischen Vorbehalte zugunsten der Ehre, der Unabhängigkeit und der Lebensinteressen Aufnahme gewährt; denn die hierauf gegründete Einrede würde einem Staate bereits gestatten, nach Belieben jegliche einen Verfassungsgrundsatz berührende Streitfrage der Behandlung durch den Schiedsrichter oder den Richter zu entziehen. In einem Vertrag aber wie dem vorliegenden, der auf dem Grundsatze der allgemeinen obligatorischen Gerichtsbarkeit beruht, werden die Bedenken, zu denen ein solcher Vorbehalt Anlass gibt, einigermassen entkräftet durch die Peststellung, dass das Völkerrecht ein noch sehr unvollkommenes Eecht ist, dessen Lückenhaftigkeit und Mängel einen Staat veranlassen können, die seine wichtigsten Verfassungsgrundsätze berührenden Fragen nicht ohne weiteres einer schiedlichen oder richterlichen Entscheidung zu überlassen.

Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, kann der Verfassungsvorbehalt als Schutz gegen einen Ausbau der obligatorischen Sehiedsgerichtsbarkeit gelten, der einerseits missbräuchlich und andererseits unvereinbar sein könnte mit jenem Mindestmaas von Handlungsfreiheit, auf das ein Staat, nach Ansicht gewisser Völkerreohtslehrer, nicht verzichten darf, ohne eines der grundlegenden Eechte seiner Hoheit preiszugeben. Diese Meinung ist nipht ganz unbegründet und kann verteidigt werden, obwohl man sich schliesslich fragen muss, ob die Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten des internationalen Eechts nicht gerade mit der Entwicklung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit im Sinne einer Steigerung der von den Staaten zu übernehmenden Verpflichtungen stufenweise zum Verschwinden gebracht werden sollten. In der Tat ist die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit nicht eine Waffe, die sich a priori gegen einen Staat zugunsten eines andern
richtet. Vom Standpunkt der strengen internationalen Gerechtigkeit aus wäre es unzulässig, einen Gerichts- oder Schiedsspruch mit dem Gedanken an Gewinn oder Verlust zu verbinden; als Kundgebung der zwischenstaatlichen Rechtspflege kann er, wie sein Name sagt, nichts Ungerechtes wollen, Bundesblatt. 76. Jahrg.

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und da er nur von Erwägungen des Bechts oder des billigen Ermessens eingegeben ist, ist kaum einzusehen, -wie er die Souveränität oder die Existenz eines Staates aufs Spiel setzen könnte, ohne dieGrundsätze des Völkerrechts, die er zu achten hat, zu verletzen.

In dio&em Zusammenhange betrachtet, wäre der Verfassungsvorbehalt mehr politischer als rechtlicher Natur. Als Vorsichtsmassregel würde er sich weniger gegen den Grundsatz der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit an sich wenden als vielmehr gegen die Unsicherheit, die sich aus der Anwendung eines lückenhaften Beeilte» durch Schiedsrichter oder ßichter ergibt, deren Urteil wegen des Fehlens einer Grundlage von durchaus bestimmten Beehtssätzen offenbar gegen Irrtümer nicht gefeit ist. Das Problem lässt sich &o auf eine Vertrauensfrage zurückführen. Es ist indessen, wie bereits bemerkt, nicht gesagt, dass der Versuch einer Lösung dieses Problems.

zum Wohle der Staatengemeinschaft nicht damit einzusetzen hätte, dass die Einrichtung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit gefördert werden sollte mit dem Ziele der Schaffung einer festen und genau umschriebenen Rechtsprechung, die dem Völkerrechte neue Möglichkeiten zur Weiterbildung weisen würde und so den Staaten die ihnen unumgänglich scheinenden Sicherheiten gewährleisten könnte.

Aus einem andern Grunde noch durfte der Bundesrat nicht zögern, auf den Standpunkt der brasilianischen Regierung einzutreten.

Der Verfassungsvorbehalt findet sich bereits in den neuesten von Brasilien abgeschlossenen Verträgen. Wenn die brasilianische Eegierung verlangte, ihn in den Vertrag mit der Schweiz aufgenommen zu sehen, so blieb sie damit bloss einem Grundsatz ihrer bisherigen Schiedsgerichtspolitik treu. Die in Frage stehende Einrede ist übrigeng nicht eine rein brasilianische Erfindung. Man trifft sie in einer Anzahl von Verträgen, die von andern sudamerikanischen Staaten, wie der Argentinischen Eepublik und Chile, abgeschlossen worden sind, und man kann deshalb sagen, sie habe die Bedeutung eines amerikanischen Eechtsgrundsatzes.

Nachdem das Prinzip des Verfassungsvorbehaltes einmal angenommen war, musste man sich fragen, ob es nicht angezeigt sei* um dem Vertrag ein möglichst weites Anwendungsgebiet zu sichern dem Gerichtshofe selbst die Befugnis einzuräumen, im Falle einer Streitigkeit zuvörderst
über die Begründetheit dieser Inkompetenzeinrede zu entscheiden. Von einer Lösung in diesem Sinne musste abgesehen werden, da das brasilianische Öffentliche Eecht die Einmischung einer fremden Behörde in die Eegelung der die Anwendung -oder Auslegung von Verfassungsgrundsätzen berührenden Fragen

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nicht zulässt. Daraus folgt, dasa es, nach dem Vertrage, einzig dem Ermessen jeder Partei überlassen ist, darüber zu befinden, ob irgendeine streitige Frage die Verfassung berühre oder nicht. Es liegt indessen kein Grund vor, anzunehmen, die beiden Parteien werden sich blindlings auf diese Klausel berufen, um nur ja ihre vertraglichen Verpflichtungen zu umgehen. Sie werden einen so wichtigen Vorbehalt nicht unter dem Gesichtspunkte ihres eigenen Vorteils, sondern nach dem Grundsätze von Treu und Glauben auslegen; lässt sich eine Eegierung bei der Erfüllung ihrer zwischenstaatlichen Verpflichtungen von diesem Grundsatze leiten, so liegt darin immer noch die beste Gewähr für die rückhaltlose Anwendung eines Vertrages.

III.

Die Bestimmungen des Vertrages selbst bedürfen keiner langen Erläuterungen. Artikel l stellt den Grundsatz der obligatorischen gerichtlichen Erledigung für alle Streitigkeiten auf mit Ausnahme derjenigen, die nach der Ansicht einer der Parteien Fragen der Anwendung oder Auslegung von Verfassungsbestimmungen betreffen.

Er überträgt dem ständigen internationalen Gerichtshof volle Befugnis, über alle Streitfragen zu entscheiden, die im Sinne des Vertrages einer gerichtlichen Erledigung fähig sind. Diese zwei Hauptbestimmungen geben der Übereinkunft ihr eigentliches GeprägeSie entsprechen unserer Auffassung insofern, als sie sowohl hinsieht, lieh der Tragweite der von den Parteien übernommenen Verpflichtungen wie auch hinsichtlich der von ihnen gewählten Gerichtsbarkeit einen unbestreitbaren Fortschritt gegenüber der Vergangenheit bedeuten.

Hat der Vertrag diesen Grundsätzen ein überwiegendes Gewicht beigelegt, so ist es sein weiteres Verdienst, die Zuständigkeit des internationalen Gerichtshofes zur Erledigung der Streitigkeiten anerkannt zu haben. Die Errichtung eines -wirklichen internationalen Gerichtshofes im Haag, so bedeutsam sie an sich ist, würde doch von ihrer Wichtigkeit einbüssen, wenn die Völkerbundsmitglieder dem neuen Tribunal nicht durch die Tat ihr Vertrauen bezeugten, indem sie ihm so weit immer möglich alle Streitigkeiten unterbreiten, die auf gütlichem Wege nicht haben beigelegt werden können und einer gerichtlichen Erledigung fähig sind. In dieser Hineicht kann der Vertrag mit Brasilien durchaus als Beispiel gelten, da er, mit, einziger Ausnahme der Verfassungsnormen berührenden Anstände, für alle Streitigkeiten irgendwelcher Art die obligatorische Anrufung des Gerichtshofes vorsieht. In diesem Betracht zieht der Vertrag

656 der Zuständigkeit des Gerichtshofes in gewissem Sinne sogar noch weitere Grenzen als der Artikel 36 seines Statuts *).

Abgesehen vom Verfassungsvorbehalte besteht noch eine andere Art von Streitigkeiten, die von den Parteien als einer gerichtlichen Erledigung nicht fähig betrachtet werden. Aber das Entstehen solcher Streitigkeiten ist so zweifelhaft, dass dieser zweite Vorbehalt des Vertrages nicht den ihm anscheinend innewohnenden einschränkenden Charakter hat, wenigstens soweit es sich um die Beziehungen zwischen Brasilien und der Schweiz handelt. Artikel 2 des Vertrages bestimmt, dass «Fragen, die bereits Gegenstand einer endgültigen Vereinbarung zwischen den Parteien gebildet haben, nicht Anlass zur Anrufung des ständigen internationalen Gerichtshofes geben können, es sei denn, die Streitigkeit betreffe die Auslegung oder Durchführung eben dieser Vereinbarung». Es ist nicht leicht auszudenken, unter welchen Umständen eines der beiden Länder in gutem Glauben versuchen sollte, gegen den Willen des andern die Bechtmässigkeit einer endgültigen Vereinbarung in Frage zu stellen. Ein solcher Vorbehalt könnte beispielsweise in dem Falle von praktischem Werte sein, wo von zwei kriegführenden Staaten der besiegte versuchen würde, die Revision des ihm vom Sieger auferlegten Friedensvertrages zu erlangen **).

Es liegt im wohlverstandenen Interesse der vertragschliessenden Staaten, sich im voraus genau über die Prägen zu verständigen, die dem Gerichtshof zum Entscheide vorgelegt werden sollen, Artikel 8 sieht denn auch vor, dass die Parteien den Gerichtshof im Wege eines Kompromisses, d. h. einer Schiedsordnung, anrufen, «worin der Streitgegenstand, die etwaigen besondern Befugnisse des Gerichtes sowie alle sonstigen zwischen den Parteien vereinbarten Einzelheiten genau bestimmt werden ». Falls aber die Parteien nicht zu einer Verständi*) Bekanntlich sieht dieser Artikel die obligatorische Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes für die nachfolgenden vier Arten von Streitigkeiten rechtlicher Natur vor:

a. die Auslegung eines Staatsvertrages ; l. irgendwelche Fragen des internationalen Rechts; c. die Existenz einer Tatsache, die, wenn sie bewiesen wäre, der Verletzung einer internationalen Verpflichtung gleichkommen würde; d. die Art oder der Umfang einer wegen Verletzung einer internationalen Verpflichtung geschuldeten Wiedergutmachung.

**) Dieser Vorbehalt ist übrigens amerikanischen Ursprungs und findet sich bereits im Artikel 4 des im Jahre 1890 von der internationalen amerikanischen Konferenz in Washington angenommenen Entwurfes zu einem Schiedsvertrage (vgl. Revue de droit international et de législation comparée, 1890, Bd. XXII, 8. 545).

657 gung über die in die · Schiedsordnung aufzunehmenden Bestimmungen gelangen, müsste deswegen darauf verzichtet werden, den Streitfall vor den Gerichtshof zu bringen? Die Parteien waren nicht dieser Ansicht und haben deshalb eine Bestimmung angenommen, die sich entsprechend bereits im Vergleichs- und Schiedsvertrag zwischen der Schweiz und Ungarn vom 18. Juni 1924 *) findet. Gemäss Artikel 8, letzter Absatz, des Vertrages mit Brasilien kann jeder der vertragschliessenden Teile im Wege eines einfachen Begehrens den internationalen Gerichtshof, gemäss Artikel 40 seines Statuts, anrufen, wenn sie binnen sechs Monaten, nachdem der eine dem andern den Entwurf zu einer Schiedsordnung notifiziert hat, nicht zu einer Verständigung über dio zu treffenden Massnahmen gelangen. Es ist überflüssig, die Vorteile einer Bestimmung besonders zu unterstreichen, die erlaubt, im Falle andauernder Uneinigkeit zwischen den Parteien vom Wego der Schiedsordnung auf den Weg des einfachen Ansuchens überzugehen. Die Schiedsordnung kann nicht mehr, wie in fast allen vor dem Kriege abgeschlossenen Schiedsverträgen, ein Hindernis für die Durchführung des Vertrages bilden.

Sobald nicht in limine litis der Verfassungsvorbehalt erhohen wird, hat jede Partei die Gewissheit, dass nichts den Gang des Gerichtsverfahrens hindern kann ; steht es doch jeder Partei zu, im Falle eine Schiedsordnung nicht zustande kommt, die Gegenpartei im Wege einer einseitigen Ladung zu veranlassen, vor dem Gerichtshofe zu erscheinen.

Die Schiedsordnung wird durch einfachen Notenaustausch zwischen den beiden Regierungen festgesetzt (Artikel S, Absatz 2).

Dieses Vorgehen entspricht den Erwägungen, die der Bundesrat in seinem Berichte von 1919 mit folgenden Worten geäussert hat: «Durch die Gleichstellung der Kompromisse mit den andern Staatsverträgen wird der praktische Wert eines Schiedsvertrages sehr vermindert ; denn, "wenn auch ein gesetzgebender Körper nicht weniger als eine Eegierung verpflichtet und gewillt ist, einen abgeschlossenen Vertrag zu erfüllen, so ist doch gewiss, dass die Einmischung des Parlaments in ein solches Ausführungsabkommen dieses in erhöhtem Masse politischen Wechselfällen aussetzt und unvermeidlich eine starke Verzögerung zu Folge hat.» Es lag kein Anlass vor, besondere Bestimmungen über das Verfahren aufzunehmen, da der
Haager Gerichtshof die einzige vom Vertrag vorgesehene Instanz zur Erledigung anfälliger Streitigkeiten *) Vgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 28. Oktober 1924.

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ist. Es kann sich daher nur um das im Statut des Gerichtshofes festgesetzte Verfahren handeln *).

Die übrigen Vereinbarungen des Vertrages (Artikel 4 bis 7) geben kaum zu besondern Bemerkungen Anlass. Immerhin mag noch die im zweiten Absatz des Artikels 5 enthaltene Bestimmung erwähnt werden. Die Erfüllung des vom Gerichtshofe gefällten Spruches kann zu gewissen Schwierigkeiten, ja selbst zu Meinungsverschiedenheiten zwischen don Parteien fuhren. Können sich diese nicht einigen, so befindet man sich einem neuen Streitfälle gegenüber, der normalerweiss im Wege einer Schiedsordnung vor den Gerichtshof gebracht werden müsste. Um mit dem Abscblusse der Schiedsordnung keine Zeit zu verlieren, schien es vorteilhafter, in diesem Falle vom Grundsatze des Artikels 8 des Vertrages abzuweichen und den Gerichtshof durch einfaches Begehren mit der Streitigkeit zu befassen. Der Vorteil einer Schiedsordnung wäre in diesem Falle ziemlich illusorisch. Da der Streit sich nur auf die Erfüllung oder Auslegung des vom Gerichtshöfe gefällten Spruches bezieht, ist nicht zu vermuten, dass der Gerichtshof in seinem neuen Spruche auch Fragen berühren würde, welche die Parteien ihm nicht haben unterbreiten wollen. Die Urteilsbefugnisse der Richter würden in der Tat begrenzt sein durch den Spruch selbst, der zu Meinungsverschiedenheiten Anlass gegeben hat.

Der Vertrag gilt für die Dauer von zehn Jahren und kann, wenn er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt wird, um je zehn Jahre verlängert werden. Er fällt deshalb nicht unter Artikel 89, Absatz 8, der Bundesverfassung betreffend das Referendum für Staatsverträge.

Es mag noch beigefügt werden, dass der Vertrag in französischer und portugiesischer Sprache abgefasst ist und beide Texte einander gleichgestellt sind.

IV.

Der Vertrag mit den Vereinigten Staaten von Brasilien ist ein Ergebnis der Schiedsgerichtspolitik, die der Bundesrat nach Abschluss des Weltkrieges mit Zustimmung der Bäte einzuschlagen beschlossen hat. Ist auch diese Politik, trotz der blutigen Lehre des Krieges, da und dort auf Widerstande oder Gleichgültigkeit gestossen, so ist es doch erfreulich zu sehen, dass unsere Anstrengungen nicht *) S. hierüber die Botschaft des Bundesrates betreffend den ständigen internationalen Gerichtshof vom l Mare 1921(Bundesblattt 1921, Bd. l, S. 299). -- Brasilien hat, wie die Schweiz, das Genfer Protokoll betreffend das Statut des Gerichtshofes unterzeichnet und ratifiziert.

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unfruchtbar geblieben sind, dass vielmehr in mehr als einem Staate unser Wunsch, an der Erhaltung des Friedens mit den in den Grenzen unserer Neutralität zulässigen Mitteln zu arbeiten, dem Willen begegnet ist, der internationalen Schiedsgericht&barkeit einen grössern Spielraum zu schaffen.

Zeitlich auf unsern Vergleichs- und Schiedsvertrag mit Deutschland und mit Ungarn folgend, erscheint die in Eio de Janeiro unterzeichnete Übereinkunft als neuer Beitrag zum Ausbau des bedeutsamen Grundsatzes der friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle. Sie ist, ohne dadurch etwas von ihiem Eigenwert einzubüssen, von einem andern Typus als die beiden erwähnten Vertrüge. Sie erbringt damit den Beweis, dass auf einem Gebiete wie dem des internationalen Schiedswesons ein und dasselbe Ziel auf verschiedenen Wegen erreicht und immer eine befriedigende Lösung gefunden werden kann, sobald zwei Staaten gewillt sind, ihre gegenseitigen ' Beziehungen auf die Grundlage des Hechts und der Gerechtigkeit zu stellen.

Der Abschluss "des Vertrages mit Brasilien ist einerseits eine äusserst erfreuliche Bekräftigung der Freundschaft, die die Beziehungen zwischen der Schweiz und der grosscn sudainerikanischen Republik kennzeichnet, und gleichzeitig kann er als das beste Zeugnis für den Wert des Geistes gelten, in dein diese Beziehungen sich entwickelt haben und sich weiterbilden werden. Der Bundesrat zweifelt denn auch nicht daran, dass Sie den nachstehenden Entwurf zu einem Bundesbeschluss betreffend die Genelnnigung des zwischen der Schweiz und Brasilien abgeschlossenen Vertrages zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten gutheissen werden.

Bern, den 28. Oktober 1924.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident : Chuard.

Der Bundeskanzler: Steiger.

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(Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Genehmigung des am 23, Juni 1924- zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Brasilien abgeschlossenen Vertrages zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft des Bundesrates vom 28. Oktober 1924, beschliesst : 1. Der am 23. Juni 1924 zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Brasilien abgeschlossenen Vertrag zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten wird genehmigt.

2. Der Bundesrat wird mit dem Vollzuge dieses Beschlusses beauftragt.

661 (Übersetzung aus dem französischen Originalwortlante.)

Vertrag zur gerichtlichen Erledigung der Streitigkeiten, die zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien entstehen sollten.

Der schweizerische Bundesrat und der Präsident der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien, von dem Wunsche geleitet, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern noch mehr zu festigen und die Streitigkeiten, die zwischen der schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Brasilien entstehen sollten, soweit als möglich auf gerichtlichem Wege beizulegen, sind übereingekommen, zu. diesem Zwecke einen Vertrag abzuschliessen und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt Der schweizerische Bundesrat: Herrn Albert Ger t seh, ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister der schweizerischen Eidgenossenschaft in den Vereinigten Staaten von Brasilien, Der Präsident der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien: Herrn Jose Felix Alves Pacheco, Staatsminister der auswärtigen Beziehungen, die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, folgende Bestimmungen vereinbart haben: Artikel 1.

Die Hohen vertragschh'essenden Teile verpflichten sich, die Streitigkeiten, die zwischen ihnen entstehen und nicht auf diplomatischem Wege oder durch irgend ein anderes Vergleichsverfahren

66-2 haben geschlichtet werden können, dem Ständigen Internationalen Gerichtshöfe zu unterbreiten, unter der Bedingung jedoch, dass diese Streitigkeiten die Verfassungsgrundsätze des einen oder andern Staates nicht berühren.

Artikel 2.

Fragen, die bereits Gegenstand einer endgültigen Vereinbarung .zwischen den Parteien gebildet haben, können nicht Anlass zur Anrufung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes geben, es sei denn, dio Streitigkeit betreffe die Auslegung oder Durchführung eben dieser Vereinbarung.

Artikel 3.

Die Hohen vertragschliessenden Teile haben in jedem Einzelfall eine besondere Schiedsordnung abzuschliessen, worin der Streitgegenstand, die etwaigen besondern Befugnisse des Gerichtes sowie alle sonstigen zwischen den Parteien vereinbarten Einzelheiten genau bestimmt werden.

Die Schiedsordnung wird durch Notenaustausch zwischen den Regierungen der Hohen vertragschliessenden Teile festgesetzt.

Zu deren Auslegung ist in allen Stücken der Ständige Internationale Gerichtshof zuständig.

Gelangen die Hohen vertragschliessenden Teile binnen sechs Monaten, nachdem der eine dem andern den Entwurf za einer Schiedsordnung notifiziert hat, nicht EU einer Verständigung über die zu treffenden Massnahmen, so kann jeder von ihnen im Wege eines einfachen Begehrens den Internationalen Gerichtshof, gemäss Artikel 40 seines Statutes, anrufen.

Artikel 4.

Die Hohen vertragschliessenden Teile verpflichten sich, den vom Ständigen Internationalen Gerichtshöfe gefällten Sprach nach Treu und Glauben zu beobachten und zu erfüllen.

Während der Dauer des Gerichtsverfahrens enthalten sie sich jeglicher Massnahme, die auf die Erfüllung des vom Gerichtshofe zu lallenden Spruches nachteilig zurückwirken kann.

Artikel 5.

Über Schwierigkeiten, zu denen die Erfüllung des Spruches Anlass geben kann, entscheidet der Ständige Internationale Gerichtshof.

In diesem Falle kann jede Partei auf dem Wege eines einfachen Begehrens an den Gerichtshof gelangen.

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Artikel 6.

Jede Partei kommt für die ihr aus dem Verfahren erwachsenden Kosten auf.

Artikel 7.

Der vorliegende Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Rio de Janeiro ausgetauscht werden.

Der Vertrag gilt für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Austausche der Ratifikationsurkunden an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so bleibt er für einen weitern Zeitraum von zehn Jahren in Kraft, und so fort für je zehn Jahre.

Zu Urkund dessen haben die oben genannten Bevollmächtigten don gegenwartigen Vertrag in zwei Ausfertigungen, je in französischer und portugiesischer Sprache, unterzeichnet und ihm ihre Siegel beigedrückt.

So geschehen in doppelter Urschrift zu. Rio de Janeiro ani dreiundzwanzigsten Juni eintausndneunhundertvierundzwanzig.

(Big.) Albert Gertseh.

(sig) José Felix Aires Pacheco.

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05.11.1924

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