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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung der Abänderung von Art. 22 der Verfassung des Kantons Waadt.

(Vom 10. Juni 1924.)

1. Mit Schreiben vom 5. April 1924 sucht der Staatsrat des Kantons Waadt um die eidgenössische Gewährleistung der in der Volksabstimmung vom 17. Februar 1924 beschlossenen Abänderung von Art. 22 der Kantonsverfassung vom 1. März 1885 nach.

Der Artikel lautet wie folgt: Bisherige Fassung.

Neue Fassung.

Art. 22.

La souveraineté est exercée par les citoyens actifs réunis: a) en assemblée de commune ; b) en assemblée de cercle, I Wi , . , 1 élection des députés au Grand Conseil; et, en leur nom, par les autorités constitutionnelles.

} La loi facilitera l'accès du La loi facilitera l'accès du scrutin.

scrutin. Elle pourra prévoir l'élection tacite, en fixer les cas et en déterminer les modalités.

Der Zusatz will die Einführung der ,,élection tacite, der von Kaufmann und Rudolf*) ,,Wahl ohne Wahlgang" genannten Wahl ermöglichen.

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bisher .

*) Vgl. Hans K a u f m a n n : Das Proportionalwahlrecht des Kantons Solothurn (erweiterter Separatabdruck aus dem Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, Jahrgang 1903/04), Zürich, 1903, S. 180 f. ; Dr. Alfred R u d o l f : Das eidg. Proportionalwahlrecht, Bern, 1922. S. 151 f.

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Eine ,,élection tacite" liegt dann vor, wenn die auf den offiziellen Listen bezeichneten Kandidaten von einer Behörde (z. B. Kantonsregierung) ohne Wahlverhandlung als gewählt erklärt werden. Diese Vereinfachung des Wahlgeschäfts hat zur Voraussetzung, dass innert einer bestimmten Frist der Behörde Kandidatenlisten eingereicht werden, dass nur die auf diesen Listen aufgeführten Personen wählbar sind und dass die Zahl dieser Kandidaten die Zahl der Sitze nicht übersteigt.

2. Die ,,élection tacite* ist in Art. 22 des Bundesgesetzes über die Wahl des Nationalrates vom 14. Februar 1919 vorgesehen. Ferner besteht sie in den Kantonen Neuenburg (seit 1916), Thurgau (1920), Bern und Solothurn (1921) und Tessin (1922) für die Wahl des Grossen Rates und im Kanton BaselStadt für die Wahl der gewerblichen Schiedsgerichte. In diesen Kantonen wurde das Institut ohne Verfassungsänderung eingeführt, überall in Verbindung mit dem P r o p o r t i o n a l wahlverfahren.

Die neuenburgische Gesetzgebung sieht die ,,élection tacite11 auch für Wahlen vor, für die das M aj ori tat s wahlverfahren maasgebend ist, und Waadt möchte nunmehr diesem Beispiel folgen.

3. Dem Proportionalwahlverfahren ist eigentümlich, daas die Parteien ihre Kandidatenlisten einer Behörde einzureichen haben und dass nur die auf diesen Listen stehenden Kandidaten wählbar sind. Wenn nun bloss eine Liste eingereicht wird, die nicht mehr Kandidaten enthält als Wahlen zu treffen sind, so steht das Ergebnis des Wahlganges von vornherein fest ; ebenso, wenn zwar mehrere Listen eingegeben werden, die Gesamtzahl der Kandidaten jedoch die Zahl der zu besetzenden Sitze nicht übersteigt : es können nur die auf den Listen genannten Personen gewählt werden. Ein Wahlgang wird dann zur leeren Formalität und ist deshalb entbehrlich. Unter diesen Voraussetzungen ist eine ,,Wahl ohne Wahlgang" am Platze.

Anders ist die Rechtslage beim Mehrheitswahlverfahren.

Zwischen dem Proportional- und dem Mehrheitswahlverfahren besteht allerdings insofern kein Unterschied, als unter der Herrschaft des einen und andern Wahlsystems die ,,élection tacite" voraussetzt, dass nur die auf offiziellen lasten stehenden Personen ·wählbar sind. Dieser Erkenntnis hat sich der Kanton Neuenburg nicht verschlossen : für die nach Mehrheitsprinzip stattfindenden Staatsratswahlen bestimmt
Art. 86, Abs. 4, seiner loi sur l'exercice des droits politiques vom 23. November 191fi : ^Sont defilarla nuls les suffrages donnés à des candidats dont les noms ne sont

566 pas déposés11. Der Kanton Waadt wird, wenn er unter der Herrschaft des Mehrheitswahlverfahrens die ,,élection tacite" einführen will, auch darin dem Beispiel des Kantons Neuenburg folgen müssen, dass er die Stimmen, die auf andere als die auf den eingereichten Listen figurierenden Personen fallen, als ungültig erklärt.

Während aber beim proportionalen Wahlverfahren die Beschränkung der Wahlfreiheit des Bürgers eine notwendige Folge dieses Wahlsystems ist, ist dies beim Mehrheitswahlverfahren nicht der Fall: hier ergibt sich die Limitierung des Wahlrechts nicht nur nicht notwendig aus dem Wahlsystem, sie ist ihm sogar grundsätzlich fremd, 4. Der Bund kann nur unter don in Art. 6 BV vorgesehenen Voraussetzungen einer kantonalen Verfassungsvorschrift die Gewährleistung erteilen. Wir sind der Meinung, dass die neue Bestimmung des Grundgesetzes des Kantons Waadt diesen Voraussetzungen entspricht. Namentlich scheint uns bei der an Stelle der Volkswahl tretenden ,,élection tacite" die Ausübung der politischen Rechte nach demokratischen Formen gesichert zu sein. Dies trifft aber in Wirklichkeit nur dann zu, wenn der Kanton Waadt in seinem Ausfuhrungsgesetz in der in Frage stehenden neuen Verfassungsvorschrift den Stimmberechtigten das Recht zur Einreichung von Wahllisten garantiert. Machen die Wähler von diesem Rechte in dem Ausmasse Gebrauch, dass mehr Kandidaten aufgestellt werden als Sitze zu besetzen sind, so muss ein Wahlgang stattfinden. Andernfalls tritt ,,élection tacite^ ein. Darüber, ob die einzelne Wahl sich nach der einen oder andern Wahlart vollziehe, entscheidet mithin letzten Endes das Volk des Kantons Waadt.

Wir beantragen Ihnen daher, die nachgesuchte Gewährleistung auszusprechen.

B e r n , den 10. Juni 1924.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Chuard.

Der Bundeskanzler:

Steiger.

,

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(Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Gewährleistung der Abänderung von Art. 22 der Verfassung des Kantons Waadt.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Kenntnisnahme einer Botschaft des Bundesrates vom 10. Juni 1924 betreffend die Gewährleistung der Abänderung von Art. 22 der Verfassung des Kantons Waadt vom 1. März 1885, in Erwägung, dass die neue Verfassungsbestimmung, durch welche die Einführung der sogenannten ,,élection tacite" (,,stillschweigende Wahl" oder ,,Wahl ohne Wahlgang") ermöglicht wird, mit dem Bundesrecht nicht in Widerspruch steht, in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschliesst: 1. Der in der Volksabstimmung vom 17. Februar 1924 angenommenen Abänderung von Art. 22 der Verfassung des Kantons Waadt wird die eidgenössische Gewährleistung erteilt.

2. Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung der Abänderung von Art. 22 der Verfassung des Kantons Waadt. (Vom 10. Juni 1924.)

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18.06.1924

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