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Kreisschreiben des

Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend den öffentlichen Arbeitsnachweis, (Vom 11. November 1924.}

Getreue, liebe Eidgenossen!

I.

Das von der Internationalen Arbeitskonferenz von Washington im Jahr 1919 angenommene und von der Schweiz am 9. Oktober 1922 ratifizierte Übereinkommen betreffend Arbeitslosigkeit bestimmt in Artikel 2 folgendes: ,,Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat ein System öffentlicher Arbeitsnachweisstellen einzurichten, die unter der Aufsicht einer Zentralbehörde stehen und unentgeltlich arbeiten. Zur Begutachtung aller die Tätigkeit dieser Stellen betreffenden Angelegenheiten sind Ausschüsse zu bilden, in denen Arbeitgeber und Arbeiter vertreten sein müssen.

Wenn unentgeltliche öffentliche und private Arbeitsnachweise nebeneinander bestehen, sind Massnahmen für ein Zusammenarbeiten nach einem das ganze Land umfassenden Plan zu treffen.

Das Internationale Arbeitsamt hat im Einverständnis mit den beteiligten Ländern auf ein planmäßiges Zusammenarbeiten der Arbeitsnachweise der einzelnen Länder hinzuwirken, ** Im Momente der Ratifikation entsprach der rechtliche und tatsächliche Zustand der erwähnten Anforderung des Übereinkommens, weil der Bundesratsbeschluss betreffend Arbeitslosenunterstützung vom 29. Oktober 1919 und die dazugehörigen Ausführungsvorschriften die Führung einer Arbeitsnachweisstelle in jeder Gemeinde und einer kantonalen Zentralstelle in jedem Kanton : vorschrieben. Mit der Einstellung der Arbeitslosenfürsorge, insbesondere mit der Aufhebung-... des genannten Bundesratebeschlusses, ist aber die wichtigste bundesrechtliche Grundlage

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für die Organisation des öffentlichen Arbeitsnachweises dahingefallen. Man hatte ursprünglich darauf gerechnet, dass jene Kotverordnung durch ein Bundesgesetz über den Arbeitsnachweis abgelöst würde. Allein mannigfache Schwierigkeiten haben dessen Ausarbeitung verzögert.

An Bundesvorschriften über den Arbeitsnachweis sind heute noch in Kraft: der ,,Bundesbeschluss betreffend die Förderung des Arbeitsnachweises durch den Bund" vom 29. Oktober 1909, der ,,Bundesbeschluss über die Errichtung des eidgenössischen Arbeitsamtes* vom 8, Oktober 1920 und der ,,Bundesratsbeschluss über die einstweilige Organisation des eidgenössischen Arbeitsamtesa vom 7. Februar 1921. Der ersterwähnte Beschluss ist ein Subventionsbeschluss und setzt die Bedingungen fest, die die öffentlichen Arbeitsnachweisstellen der Kantone und Gemeinden zu erfüllen haben, um eines Bundesbeitrages teilhaftig zu werden.

Die beiden letztgenannten Beschlüsse Übertragen dem eidgenössischen Arbeitsamt die Vorbereitung und Durchführung von Massnahmen über Arbeitsnachweis und bestimmen insbesondere, dass es die im Bundesbeschluss vom 29. Oktober 1909 vorgesehene Zentralstelle der. schweizerischen Arbeitsämter (Eidgenössische Zentralstelle für Arbeitsnachweis) zu führen hat. Keiner dieser drei Erlasse enthält Zwangsvorschriften, wonach die Kantone zur Errichtung und Beibehaltung von Arbeitsnachweisstellen verpflichtet wären.

Die Kantone haben sich zwar nach den beim eidgenössischen Arbeitsamt eingelangten Berichten in ihrer überwiegenden Mehrheit von selbst entschlossen, den öffentlichen Arbeitsnachweis in einer ihren Bedürfnissen und Verhältnissen angepassten Form fortzuführen. Immerhin begegnet der Versuch, ihm dauernde Gestalt zu verleihen, in einzelnen Kantonen Widerständen, womit sein Weiterbestand ernstlich gefährdet ist.

Eine rückläufige Bewegung wäre ausserordentlich zu bedauern ; denn ein gut organisierter Arbeitsnachweis ist nicht nur das beste Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, sondern auch eine Abwehrmassnahme gegen die Überfremdung unseres Landes, da er die weitgehendste Auswertung der vorhandenen einheimischen Arbeitskräfte gewährleistet und eine übermassige Einwanderung verhindert. Er orientiert ferner über die Lage und Aufnahmefähigkeit der einzelnen Berufe und Berufszweige und ist daher ebenfalls ein unentbehrliches
Orientierungsmittel für die Berufswahl, das berufliche ßildungswesen und die Berufsberatung.

Ohne Arbeitsnachweis ist aber auch die Durchführung einer Arbeitslosenversicherung unmöglich ; das von den eidgenössischen Bundesblatt. 76. Jahrg. Bd. III.

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Räten angenommene Bundesgesetz über die Beitragsleistvmg an die Arbeitslosenversicherung sieht denn auch in weitgehendem Masse die Mitwirkung des öffentlichen Arbeitsnachweises vor.

Die Erhaltung des öffentlichen Arbeitsnachweises ist aber nicht nur aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen wünschenswert, sondern sie ist eine rechtliche Notwendigkeit, weil die Schweiz mit ihrem Beitritt zu dem eingangs erwähnten internationalen Übereinkommen die Verpflichtung hiezu übernommen hat.

Diese Sachlage hat den Nationalrat in der verflossenen Herbsttagung veranlasst, folgendes Postulat anzunehmen: ,,Der Bundesrat wird ersucht, zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten, ob nicht infolge Wegfalls der bisherigen ausserordentlichen Vorschriften über den Arbeitsnachweis Massnahmen getroffen werden sollen, die die Erhaltung eines das ganze Land umfassenden Arbeitsnachweises gewährleisten."

II.

Das internationale Übereinkommen betreffend die Arbeitslosigkeit legt unserem Lande in bezug auf den Arbeitsnachweis folgende Pflichten auf: 1. Errichtung eines Systems öffentlicher Arbeitsnachweisstellen, die unter der Aufsicht einer Zentralbehörde stehen und unentgeltlich arbeiten.

2. Bildung von Ausschüssen, in denen Arbeitgeber und Arbeiter vertreten sein müssen, zur Begutachtung aller die Tätigkeit der Arbeitsnachweisstellen betreffenden Angelegenheiten.

3. Ergreifen von Massnahmen für ein Zusammenarbeiten des öffentlichen und privaten unentgeltlichen Arbeitsnachweises nach einem das ganze Land umfassenden Plan.

Die Durchführung dieser Verpflichtungen war unter der Herrschaft des Bundesratsbeschlusses vom 29. Oktober 1919 gewährleistet. Mit seiner Aufhebung hat sich aber die Rechtslage geändert, und es fragt sich nunmehr, wie die Durchführung des internationalen Übereinkommens gesichert werden kann.

Durch die Ratifizierung des Übereinkommens hat sich die Schweiz völkerrechtlich zu seiner Durchführung verpflichtet. Mit seiner Veröffentlichung in der eidgenössischen Gesetzessammlung ist das Übereinkommen nach schweizerischem Staatsrecht auch landesrechtlieh verbindlich geworden; es verpflichtet den Bund und die Kantone, die zur Durchführung des Abkommens nötigen Massnahmen zu treffen. In Ermangelung einer zwingenden bun-

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desgesetzlichen Ordnung des Arbeitsnachweises liegt die Pflicht zu seiner Kegelang in einer dem internationalen Übereinkommen entsprechenden Weise den Kantonen ob. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Übereinkommen selbst. Der Bundesrat, der nach Art. 102, Ziffer 8, der Bundesverfassung die völkerrechtlichen Beziehungen zu wahren hat, kann die Kantone zum Erlass der in ihren.Kompetenzkreis fallenden, von einem Staatsvertrag geforderten Ausführungsbestimmungen anhalten.

Gestutzt auf diese Erwägungen und in Ausführung des Postulates des Nationalrates haben wir unter heutigem Datum eine V e r o r d n u n g ü b e r den A r b e i t s n a c h w e i s erlassen, die wir Ihnen hiermit zur Kenntnis bringen.

Sie hat den Zweck, die dem Bund und den Kantonen aus dem internationalen Übereinkommen erwachsenen Verpflichtungen zusammenhängend zum Ausdruck zu bringen.

IU.

In bezug auf die einzelnen Bestimmungen der Verordnung beehren wir uns, folgende Erläuterungen beizufügen: Zu Art. 1. Die Verpflichtung der Kantone zur Durchführung des öffentlichen Arbeitsnachweises ergibt sich aus dem internationalen Übereinkommen selbst. Artikel l begnügt sich, diese Pflicht festzustellen, lässt aber den Kantonen grosse Freiheit in der Durchführung. Immerhin sollte Vorsorge getroffen werden, dass der öffentliche Arbeitsnachweis das ganze Kantonsgebiet orfasst. Damit ist nicht gesagt, dass in jeder Gemeinde eine Arbeitsnachweisstelle vorhanden sein muss; für kleinere Gemeinden Oder Bezirke wird die Bestellung von Vertrauensmännern genügen. Auf diese Weise kann ein kleiner, industriearmer Kanton möglicherweise mit einer einzigen Arbeitsnaohweisstelle auskommen, während ein grosser, industriereicher Kanton mehrerer solcher bedarf.

In jedem Kanton ist eine Zentralstelle zu bezeichnen. In einem kleinen Kanton, wo nur eine einzige Arbeitsnaohweisetelle besteht, kann diese zugleich Zentralstelle sein; in den Kantonen mit mehreren Arbeitsnachwoisstellen muss eine besondere Zentralstelle geschaffen oder eine der Arbeitsnachweisstellen als solche bezeichnet werden.

Es steht den Kantonen frei, die Errichtung von Arbeitsnachweisstellen entweder selber vorzunehmen oder den Gemeinden zu überlassen. Sie haben einzig darauf Rücksicht zu nehmen,

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dass eine gewisse Neben- und Unterordnung Platz greift und die Tätigkeit der Arbeitsnachweisstellen und Vertrauensmänner nach den Grundsätzen des seit dem 1. Juli 1923 in Kraft befindlichen Réglementes betreffend die einheitliche Durchführung der Vermittlungstätigkeit der Arbeitsnachweisämter abgegrenzt wird ; denn nur auf diesem Wege kann ein systematischer Aufbau des Arbeitsnachweises erreicht werden.

Zu Art. 2. Schon bisher kam es vor, dass sich ein kleiner Kanton an das Arbeitsnachweissystem eines andern Kantons ansohloss (z. B. Appenzell A.-ßh. au St. Gallen). Die Möglichkeit hiezu soll auch in Zukunft ausnahmsweise bestehen; immerhin bedarf es hiezu der Genehmigung des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements.

Zu Art. 3. Wie im einzelnen die Arbeitsnachweisstellen organisiert und verwaltet werden sollen, ist Sache der Kantone oder der Gemeinden, denen diese Befugnis von ihrem Kanton überlassen oder übertragen worden ist. Die fachliche Tätigkeit aber hat sich nach den Vorschriften zu richten, welche das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement gemäss Art. 6 der Verordnung herausgibt, und nach den Weisungen des eidgenössischen Arbeitsamtes, dem die fachliche Oberleitung übertragen ist.

Zu Art. 4. Die Grundsätze in lit. a bis c ergeben sich ohne weiteres aus dem internationalen Übereinkommen. Der Grundsatz in lit. d ist aus dem Bundesbeschluss vom 29. Oktober 1909 herübergenommen und vollständigkeitshalber hier erwähnt, damit die für den öffentlichen Arbeitsnachweis geltenden Leitsätze zusammenhängend wiedergegeben sind.

Zu Art. 5. Die Errichtung einer Zentralstelle für das ganze Land entspricht ebenfalls dem internationalen Übereinkommen, und ihre Übertragung an das eidgenössische Arbeitsamt ist bereits im Bundesratsbeschluss Über dessen einstweilige Organisation vom 7. Februar 1921 enthalten.

Zu Art. 6. Die Aufstellung von Vorschriften über die Tätigkeit und Berichterstattung der öffentlichen Arbeitsnachweisstellon, ihren gegenseitigen Verkehr und über die Obliegenheiten des Zentraldienstes war nach dem Bundesbeschluss vom 29. Oktober 1909 dem Verband schweizerischer Arbeitsämter übertragen, vorbehaltlich der Genehmigung des zuständigen eidgenössischen Departements. Nach der Neuordnung ergibt es sich von selbst, dass diese Befugnis nunmehr dem eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement zusteht.

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Nach dem internationalen Übereinkommen sind Massnahmen zu treffen, um ein Zusammenarbeiten des öffentlichen und privaten unentgeltlichen Arbeitsnachweises herbeizuführen. Wie das im einzelnen zu geschehen hat, bedarf noch der Abklärung. Die Frage ist in der Verordnung nicht gelöst, wohl aber ist das Volkswirtschaftsdepartement ermächtigt, die nötigen Massnahmen zu ihrer Lösung zu treffen, In einzelnen Berufen wird die Arbeitsvermittlung vornehmlich durch einen paritätischen Facharbeitsnachweis durchgeführt. Diese Möglichkeit soll auch in Zukunft bestehen bleiben. Dabei ist vor allem an intellektuelle Berufe zu denken, für deren Zwecke der Arbeitsnachweis besondern Anforderungen entsprechen muss.

Aus diesem Grunde ist vorgesehen, dass das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement die Aufgabe des öffentlichen Arbeitsnachweises für gewisse Berufe einem paritätischen Fachärbeitsnachweis übertragen kann.

Soweit die Vorschriften des Bundesbeschlusses vom 29. Oktober 1909 durch das internationale Übereinkommen und unsere Verordnung nicht abgeändert worden sind, bleiben, sie unverändert in Kraft.

Die Verordnung wird den meisten Kantonen nichts Neues bringen, sondern sie lediglich veranlassen, das bisher Erreichte festzuhalten und auszubauen.

Wir ersuchen Sie, dem eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement Kenntnis zu geben von den Massnahnien, die Sie entsprechend der Verordnung bereits getroffen haben oder in Zukunft treffen werden, und benutzen den Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 11. November 1924.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Chuard.

Der Vizekanzler: Kaeslin.

--3S~

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend den öffentlichen Arbeitsnachweis. (Vom 11. November 1924.)

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