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1890

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Genehmigung des am 20. September 1924 zwischen der Schweiz und Italien abgeschlossenen Vertrages zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren.

(Vom 28. Oktober 1924.)

I.

Die Schweiz und Italien hatten am 28. November 1904 einen ersten Schiedsvertrag unterzeichnet, -wonach «streitige Bechtsfragen und Streitfragen, die sich auf die Auslegung der zwischen den beiden vertragschliessenden Teilen bestehenden Verträge beziehen, dem ständigen Schiedsgerichtshof im Haag überwiesen werden, unter der Voraussetzung jedoch, dass solche Streitigkeiten weder die vitalen Interessen, noch die Unabhängigkeit oder die Ehre der beiden vertragschliessenden Staaten und ebenso wenig die Interessen dritter Mächte berühren». Dieses Abkommen, für fünf Jahre abgeschlossen, ist im Jahre 1909 für einen Zeitraum von gleicher Dauer verlängert worden und sodann am 16. November 1914 abgelaufen.

Bereits vor diesem Zeitpunkte waren zwischen den beiden Ländern Besprechungen behufs Abschlusses eines neuen Schiedsvertrages an die Hand genommen worden. Die Verhandlungen führten am 4. Mars; 1915 zur Unterzeichnung eines neuen Vertrages, der vom ersten nur darin abwich, dass er im Wege stillschweigender Verlängerung von fünf zu fünf Jahren erneuert werden konnte *).

Dieser Vertrag, der nur beschränkte Wirksamkeit haben sollte, in dieser Hinsicht jedoch mit den damaligen herrschenden Anschauungen auf dem Gebiete des Schiedsgerichtswesens übereinstimmte, wurde indessen von keinem der beiden Teile ratifiziert. Schweizerischerseits hielt man dafür, es sei vorzuziehen, das Ende des Krieges abzuwarten und sich von den Lehren leiten zu lassen, die sich aus ihm ergeben könnten, um zwischen beiden Ländern allenfalls eine Übereinkunft mit ausgedehnterer Wirksamkeit zu. treffen. Tatsäch*') Siehe Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 10. April 1915, Bundesblatt 1915, Band l, Seite 961.

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lieh trat der Bundesrat im Jahre 1921 in diesem Sinne mit Eröffnungen an die italienische gleich wie an andere Regierungen heran, entsprechend seinem Bericht an die eidgenössischen Bäte über die von der Schweiz zu verfolgende Schiedßgerichtspolitik vom 11. Dezember 1919.

Die Frage blieb in Eom einige Zeit in der Schwebe. Auf neue Schritte unsererseits nahm die italienische Regierung deren Prüfung wieder auf und liess uns wissen, dass sie in Anbetracht der zwischen den beiden Ländern bestehenden besonders freundschaftlichen Beziehungen dem Gedanken gunstig sei, mit der Schweiz einen Schiedsvertrag mit ausgedehnter Wirksamkeit abzuschliessen. So konnte nach rasch zu Ende geführten Verhandlungen am 20. September 1924 der Vertrag zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichsund Gerichtsverfahren unterzeichnet werden, den wir Ihnen mit der vorliegenden Botschaft zur Genehmigung unterbreiten.

II.

Unsere Anschauungen auf dem Gebiete des Vergleichsverfahrens und des schiedlichen oder gerichtlichen Austrags von Streitigkeiten sind bekannt. Wir haben sie einlässlich sowohl in unserm Berichte von 1919 als auch in den Ihnen soeben unterbreiteten Botschaften betreffend die Genehmigung der Vergleichsverträge mit Schweden und Dänemark, des Vergleichs- und Schiedsvertrages mit Ungarn, sowie des Vertrages zur gerichtlichen Erledigung von Streitigkeiten mit den Vereinigten Staaten von Brasilien auseinandergesetzt. Wir brauchen daher nicht auf die grundsätzlichen Erwägungen zurückzukommen, die auseinanderzusetzen wir bereits Gelegenheit hatten und die für dem Vertrag mit Italien ebenso ihre Gültigkeit haben wie für die vorher abgeschlossenen Abkommen.

Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass der am 20. September letzthin abgeschlossene Vertrag um der Tatsache ·willen von ganz besonderer Bedeutung ist, dass er zwar den Grandsatz der obligatorischen und unbedingten gerichtlichen Erledigung festlegt, ihr aber ein Vergleichsverfahren vorausgehen läset. Artikel l, der, wie die Einleitung, ausdrücklich die vertrauensvolle Herzlichkeit der zwischen den beiden Ländern bestehenden Beziehungen betont, sieht vor, dass alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die.zwischen den vertragschliessenden Staaten entstehen und auf dem Wege unmittelbarer Verhandlungen nicht haben geschlichtet werden können, auf Verlangen einer der streitenden Parteien einem Vergleichsverfahren und, im Falle des Scheiterns dieses Verfahrens, einem Gerichtsverfahren, d. h. dem ständigen internationalen Gerichtshofe, zu

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unterwerfen seien. Die gerichtliche Erledigung der Streitigkeiten ist somit auf einer noch breitern Grundlage organisiert als in dem durch Artikel 86 des Statuts des Gerichtshofes eingeführten System. Es wird keine Unterscheidung mehr getroffen zwischen Streitigkeiten rechtlicher Natur und andern Streitfällen; die Anrufung des Richters ist keiner aus der Natur der Streitigkeit hergeleiteten Bedingung mehr untergeordnet. Gerichtsfähig ist somit jede Streitigkeit, die nicht im Laufe von diplomatischen Verhandlungen oder auf dem Wege eines Vergleichsverfahrens hat beigelegt werden können. Dies ist der Grundgedanke dieses Vertrages.

Das Vergleichsverfahren ist einer ständigen Kommission von fünf Mitgliedern übertragen, die unter den gleichen Bedingungen und auf die nämliche Weise zu bilden ist wie der durch den schweizerisch-deutschen Schieds- und Vergleichsvertrag errichtete ständige Vergleichsrat. Jede Partei ernennt demnach für sich ein Mitglied, und die drei übrigen Mitglieder, die weder schweizerische noch italienische Staatsangehörige sein dürfen, werden im gemeinsamen Einverständnis berufen. Das Verfahren selbst ist durch Bestimmungen geregelt worden, die sich in der Mehrzahl entsprechend bereits in unsern Vergleichsverträgen mit Schweden und Dänemark finden.

Wir beschränken uns mithin darauf, auf die einschlägigen Ausführungen der Botschaft über diese beiden Verträge zu verweisen.

Wenn wir von dem, übrigens wichtigen, Unterschied absehen, dass das Vergleichs- und das Gerichtsverfahren sich vor Körperschaften abspielen, die zum voraus gebildet worden sind, und dass die gerichtliche Erledigung von keinerlei Vorbehalt hinsichtlich der Natur des Streitfalls abhängig gemacht ist, so beruht der Vertrag mit Italien auf den gleichen Typus wie unser Vergleichs- und Schiedsvertrag mit Ungarn. Auch hinsichtlich der Fristen und der Bedingungen, unter denen gegebenenfalls der Übergang vom Vergleichsverfahren zum schiedlichen oder gerichtlichen Austrag erfolgt, genügt daher ein Hinweis auf die Ausführungen in unserer Botschaft betreffend den Vertrag mit Ungarn.

Da der internationale Gerichtshof zur Hauptaufgabe hat, Becht zu sprechen, sind die Streitigkeiten, über die er normalerweise zu befinden hat, rechtlicher Natur. Haben sie keine rechtliehe Seite, oder ist ihr rechtlicher Charakter untergeordneter
Art, so kann der Gerichtshof trotzdem entscheiden, und zwar, indem er seinen Spruch auf Erwägungen der Billigkeit gründet. In diesem Falle hätte er gemäss Artikel 88, letzter Absatz, seines Statuts die Parteien zu befragen, ob sie damit einverstanden seien, dass die Entscheidung nach

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billigem Ermessen (ex aequo et bono) getroffen werde. Da die vertragschliessenden Teile übereingekommen sind, dem Gerichtshof alle Streitigkeiten irgendwelcher Art zu unterbreiten, die nicht auf gütlichem Wege haben beigelegt werden können, so war es nur folgerichtig, dass sie ihm auch zum vornherein die Aufgabe übertrugen, aus billigem Ermessen zu entscheiden in den Fällen, wo eine rechtliche Würdigung des Streitfalles in seinem ganzen Umfange nicht möglich wäre. Dies ist in Artikel 15, Absatz 2, vereinbart.

Das Anwendungsgebiet des Vertrages ist unbeschränkt; ein Vorbehalt findet sich darin einzig hinsichtlich der «Streitigkeiten, für deren Schlichtung die vertragschliessenden Teile durch andere zwischen ihnen bestehende Abmachungen an ein besonderes Verfahren gebunden sind» (Artikel l, Absatz 8). Streitigkeiten, die sich aus der Auslegung oder Durchführung des schweizerisch-italienischen Handelsvertrages vom 27. Januar 1923 oder aus der Übereinkunft zur Eegelung der Schiffahrt auf dem Langensee und dem Luganersee vom 22. Oktober gleichen Jahres ergeben sollten, wären daher ohne weiteres dem in jedem der genannten Verträge vorgesehenen besondern Schiedsgerichte zu unterbreiten, Es sei endlich noch daran erinnert, dass die Bestimmungen der Artikel 2 (Zuständigkeit der Landesgerichte), 17 -(Verletzung des Völkerrechts), 19 (Haltung der Parteien während der Dauer des Vergleichs- oder Gerichtsverfahrens) und 21, letzter Absatz (im Zeitpunkte des Vertragsablaufes schwebendes Verfahren), dem schweizerisch-deutschen Vertrage von 1921 entnommen sind und teilweise bereits in unsern Verträgen mit Ungarn und Brasilien stehen. Sie bedürfen daher keiner weitern Erläuterungen.

Der Vertrag mit Italien zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren gilt für die Dauer von zehn Jahren und kann im Wege stillschweigender Verlängerung von fünf zu fünf Jahren erneuert werden, es sei denn, dass er sechs Monate vor Ablauf einer Verlängerungsfrist gekündigt werde. Unter diesen Um» ständen fällt er nicht unter die Bestimmungen des Artikels 89, Absatz 8, der Bundesverfassung betreffend das fakultative Eeferendum für Staatsverträge.

III.

Der Vertrag, den wir Ihnen hier zur Genehmigung unterbreiten,, bildet eine neue Nutzanwendung der Grundsätze, die wir in unserm Berichte von 1919 an die eidgenössischen Bäte vertreten habenEr bringt auf dem Gebiete des internationalen Schiedsgerichtswesens, eine tiefgreifende Neuerung. Zum ersten Male ist unseres Wissens.

668 der Grundsatz der obligatorischen, allgemeinen und unbedingten gerichtlichen Erledigung vertraglich festgelegt worden. Wir haben bereits betont, welchen Fortschritt gegenüber den Schiedsverträgen der Vorkriegszeit der am 18. Juni 1924 zwischen der Schweiz und Ungarn abgeschlossene Vergleichs- und Schiedsvertrag verwirklicht. Dieser Portschritt wird vom schweizerisch-italienischen Vertrag noch übertreffen; sichert er doch dem Grundsatze der obligatorischen gerichtlichen Erledigung das denkbar weiteste Anwendungsfeld.

Der schiedliche oder gerichtliche Austrag zwischenstaatlicher Anstände mag vielleicht noch neue Gestalten annehmen; im besondern kann er sich zu einer festen Einrichtung auswachsen, deren Wirken bis in die Einzelheiten hinein durch einen Kollektivvertrag, dem alle Staaten beizutreten berechtigt sind, sichergestellt wird.

Aber selbst im letzten Stadium seiner Entwicklung angelangt, kann er doch nicht über das hinausgehen, was unser Vertrag mit Italien bereits verwirklicht.

Der Vertrag mit Italien bedeutet in dieser Hinsicht eine wertvolle Lehre. Er ermangelt der behutsamen und oft wohl auch ungerechtfertigten Vorbehalte völlig, die man bisher, in Übereinstimmung mit der fast einhelligen Bechtswissenschaft, den Schiedsverträgen einzuverleiben pflegte; damit tut er stillschweigend dar, dass die restlose Anwendung der Grundsätze des Eechts und der Billigkeit auf die zwischenstaatlichen Beziehungen die nationale Staatshoheit in keiner Hinsicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil deren beste Gewähr bedeutet. Ein Staat gibt nichts von seinen Hoheitsrechten preis, wenn er aus freien Stücken und vorsätzlich zum voraus die schiedliche oder gerichtliche Beilegung aller Streitigkeiten sicherstellt, die im Wege unmittelbarer Verhandlungen nicht haben geschlichtet werden können. Geleitet vom Geiste der Gerechtigkeit und des Friedenswillens, verzichtet er lediglich darauf, zur Behauptung seines angeblichen guten Bechtes Machtmittel zu entfalten, die mit dem Eechtsgedanken selbst in unversöhnlichem Widerspruche stehen könnten.

Dieser Geist der Gerechtigkeit und des Friedenswillens hat die beiden Länder bestimmt, sich durch einen Vertrag von so ausgedehnter Tragweite zu binden. Nicht dass ihre Beziehungen bisher nicht von Gefühlen aufrichtigster Freundschaft getragen gewesen wären; aber gerade
wegen der Herzlichkeit ihrer gegenseitigen Beziehungen hielten sie darauf, sie dadurch noch mcnr zu festigen, dass sie selbst die Möglichkeit eines Streitfalls ausschlössen, -der nicht auf ganz natürliche Weise seine Schlichtung vor einer un-

669 parteiischen Instanz finden wurde. Und eine Abmachung von diesem Ausmasse ist umso bezeichnender, als sie zwischen zwei benachbarten Staaten zustandegekommen ist, die gerade wegen ihrer geographischen Lage und ihrer engen nachbarlichen Beziehungen sich zuweilen heikein und schwer zu lösenden Fragen gegenübergestellt sehen mögen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein Vertrag, durch den die Schweiz und Italien sich ein so greifbares Pfand ihrer herkömmlichen Freundschaft geben, in der öffentlichen Meinung hier wie dort besonders herzliche Aufnahme und über die Grenzen der beiden Länder hinaus wohlwollendste Aufmerksamkeit gefunden hat.

Der schweizerisch-italienische Vertrag bedeutet einen Akt gegenseitigen Vertrauens und' ist gleichzeitig die schönste Huldigung, die dem segensreichen Grundsätze der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbarkeit dargebracht werden kann. Er ist ehrenvoll für die Staaten, die ihn abgeschlossen haben, vorab für Italien, das durch eine derartige Tat in beredter Weise die Gefühle echter Freundschaft kundgegeben hat, die es der benachbarten Schweiz gegenüber hegt.

Mit uns überzeugt von dem hohen praktischen und sittüchen Werte der aus dem Vertrage vom 20. September 1924 sich ergebenden Rechtsordnung für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien wie für den Gedanken der Schiedsgerichtsbarkeit im allgemeinen, werden Sie nicht anstehen, der vorliegenden Übereinkunft Ihre Genehmigung zu erteilen und zu diesem Zwecke den umstehenden Entwurf eines Bundesbeschlusses gutzuheissen.

Bern, den 28. Oktober 1924.

Namens des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Chuard.

Der Bundeskanzler: Steiger.

Bundesblatt.

76. Jahrg. Bd. III.

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670 (Entwurf.)

Bundesbeschliiss betreffend

die Genehmigung des am 20. September 1924- zwischen der Schweiz und Italien abgeschlossenen Vertrages zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren.

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Botschaft des Bundesrates vom 28. Oktober

1924,

beschliesst : 1. Der am 20. September 1924 zwischen der Schweiz und Italien abgeschlossene Vertrag zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren wird genehmigt.

2. Der Bundesrat wird mit dem Vollzuge dieses Beschlusses beauftragt.

671 (Übersetzung ans dem französischen Originalwortlaute.)

Vertrag zwischen

der Schweiz und Italien zur Erledigung von Streitigkeiten im Vergleichs- und Gerichtsverfahren.

Der Schweizerische Bundesrat und Seine Majestät der König von Italien, von dem "Wunsche geleitet, die zwischen der Schweiz und Italien bestehenden freundschaftlichen und gutnachbarlichen Bande immer mehr zu festigen, durchdrungen von dem Geiste herzlichen Vertrauens, der ihre gegenseitigen Beziehungen kennzeichnet, sind übereingekommen, einen Vertrag zur gütlichen Erledigung der allenfalls zwischen den beiden Ländern entstehenden Streitigkeiten abzuschliessen, und haben zu diesem Zwecke zu ihren Bevollmächtigten ernannt Der Schweizerische Bundesrat: Herrn Georges Wagniere, ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Italien, Seine Majestät der König von Italien: Herrn Benito Mussolini, Präsidenten des Ministerrates, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, folgende Bestimmungen vereinbart haben: Art. 1.

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich in Anbetracht der zwischen ihnen bestehenden freundschaftlichen und vertrauensvollen Beziehungen, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die zwischen ihnen entstehen und nicht binnen angemessener Frist auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können, einem Vergleichsverfahren zu unterwerfen.

672 Falls das Vergleichsverfahren scheitert, so ist gemäss Artikel 15 und folgende des gegenwärtigen Vertrages eine gerichtliche Erledigung zu suchen.

Vorbehalten bleiben die Streitigkeiten, für deren Schlichtung die vertragschliessenden Teile durch andere zwischen ihnen bestehende Abmachungen an ein besonderes Verfahren gebunden sind.

Art. 2.

Handelt es sich um eine Streitigkeit, die gemäss der Landesgesetzgebung einer vertragschliessenden Partei in die Zuständigkeit der Gerichte fällt, so kann die belangte Partei es ablehnen, dass die Streitigkeit einem Vergleichsverfahren und gegebenenfalls einem Gerichtsverfahren unterworfen werde, bevor das zuständige Gericht eine endgültige Entscheidung gefällt hat.

In diesem Falle inuss das Begehren nach Einleitung eines Vergleichsverfahrens spätestens ein Jahr nach dieser Entscheidung gestellt werden.

Art. 8.

Die vertragschliessenden Teile bilden eine ständige Vergleichskommission von fünf Mitgliedern.

Sie ernennen, jeder für sich, nach freier Wahl je ein Mitglied und berufen die drei übrigen Mitglieder im gemeinsamen Einverständnis.

Diese drei Mitglieder sollen nicht Angehörige der vertragschliessenden Staaten sein, noch sollen sie auf deren Gebiet ihren Wohnsitz haben oder in deren Dienste stehen.

Aus der Mitte der gemeinschaftlich berufenen Mitglieder wird der Vorsitzende der Kommission im gemeinsamen Einverständnis ernannt.

Solange das Verfahren nicht eröffnet ist, steht jedem vertragschliessenden Teile das Eecht zu, das von ihm ernannte Mitglied abzuberufen und dessen Nachfolger zu ernennen, sowie auch seine Zustimmung zur Berufung jedes der drei gemeinsam ernannten Mitglieder zurückzuziehen. In diesem Falle muss unverzüglich zur Ersetzung der ausscheidenden Mitglieder geschritten werden.

Die Ersetzung der Mitglieder erfolgt nach Massgabe der für ihre Ernennung geltenden Bestimmungen.

Art. 4.

i Die Kommission ist binnen sechs Monaten nach Austausch der Ratifikationsurkunden zum gegenwärtigen Vertrage zu bilden.

Wenn die Ernennung der gemeinsam zu berufenden Mitglieder nicht innerhalb dieser Frist oder, im Falle einer Ergänzungswahl,

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nicht innerhalb von drei Monaten nach Ausscheiden eines Mitgliedes stattgefunden hat, so erfolgen die Wahlen gemäss den Bestimmungen des Artikels 45 des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907.

Art. 5.

Der ständigen Vergleichskommission liegt ob, die Schlichtung der Streitigkeit zu erleichtern, indem sie in unparteiischer und gewissenhafter Prüfung den Sachverhalt aufhellt und Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit macht.

Die Anrufung der Kommission erfolgt durch ein dahinziehendes Begehren, das von einem der vertragschliessenden Teile an deren Vorsitzenden gerichtet wird.

Dieses Begehren wird von der Partei, welche die Eröffnung des Vergleichsverfahrens verlangt, gleichzeitig der Gegenpartei notifiziert.

Art. 6.

Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung tritt die Kommission an dem von ihrem Vorsitzenden bezeichneten Orte zusammen.

Art. 7.

Das Verfahren vor der Kommission ist kontradiktorisch.

Die Kommission setzt selbst das Verfahren fest, wobei sie, falls nicht einstimmig ein anderweitiger Beschluss gefasst wird, die Bestimmungen in Titel III des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfalle vom 18. Oktober 1907 berücksichtigt.

Art. 8.

Die Verhandlungen der Kommission sind geheim, es sei denn, dass diese im Einvernehmen mit den Parteien anders beschliesst.

Art. 9.

Die vertragschliessenden Teile können besondere Vertreter bei der Kommission ernennen, die gleichzeitig als Mittelspersonen zwischen ihnen und der Kommission dienen.

Art. 10.

Unter Vorbehalt anderweitiger Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages trifft die Kommission ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit.

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Art. 11.

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, die Arbeiten der Kommission soweit als möglich zu fördern und insbesondere alle nach der Landesgesetzgebung zu ihrer Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um es der Kommission zu ermöglichen, auf ihrem Gebiete Zeugen und Sachverständige vorzuladen und zu vernehmen, Kowie Augenscheine durchzuführen.

Art. 12.

Die Kommission hat ihren Bericht binnen sechs Monaten feu erstatten, nachdem sie in einer Streitigkeit angerufen worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Teile diese Frist im gemeinsamen Einverständnis verlängern.

Jeder Partei wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt.

Der Bericht der Kommission hat weder in Bezug auf die Tatsachen noch hinsichtlich der rechtlichen Ausführungen die Bedeutung eines Schiedsspruches.

Art. 13.

Die Vergleichskommission hat die Frist festzusetzen, innerhalb deren sich die Parteien zu ihren Vorschlägen zu äussern haben.

Diese Frist darf indessen die Zeit von drei Monaten nicht überschreiten.

Art. 14.

Während der tatsächlichen Dauer des Verfahrens erhalten die Mitglieder der Vergleichskommission eine Entschädigung, deren Höhe von den vertragschliessenden Teilen zu vereinbaren ist.

Jede Partei kommt für ihre eigenen Kosten auf; die Kosten für die Kommission werden von den Parteien zu gleichen Teilen getragen.

Art. 15.

Nimmt einer der vertragschliessenden Teile die Vorschläge der ständigen Vergleichskommission nicht an oder äussert er sich nicht innerhalb der im Berichte der Kommission festgesetzten Frist dazu, so kann jeder von ihnen verlangen, dass die Streitigkeit dem Ständigen Internationalen Gerichtshof unterbreitet werde.

Falls nach Ansicht des Gerichtshofes der Streitfall nicht rechtlicher Natur sein sollte, so kommen die Parteien überein, dass darüber ex aequo et bono zu entscheiden ist.

Art. 16.

Die vertragschliessenden Teile setzen in jedem Einzelfall eine besondere Schiedsordnung fest, worin der Streitgegenstand, die

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etwaigen dem Ständigen Internationalen Gerichtshofe zu übertragenden besondern Befugnisse sowie alle sonstigen zwischen den Parteien vereinbarten Einzelheiten genau bestimmt werden.

Die Sehiedsordnung wird durch Notenaustausch zwischen den Regierungen der vertragschliessenden Teile festgesetzt.

Zu deren Auslegung ist in allen Stücken der Gerichtshof zuständig.

Kommt die Schiedsordnung nicht innerhalb von drei Monaten zustande, nachdem einer Partei ein Antrag auf Einleitung eines Gerichtsverfahrens unterbreitet worden ist, so kann jede Partei auf dem Wege eines einfachen Begehrens den Gerichtshof anrufen.

Art. 17.

Stellt der Ständige Internationale Gerichtshof fest, dass eine von einem Gericht oder irgend einer andern Behörde einer vertragschliessenden Partei getroffene Entscheidung ganz oder teilweise mit dem Völkerrecht in "Widerspruch steht, können aber nach dem Verfassungsrechte dieser Partei die Folgen der Entscheidung durch Verwaltungsmassnahmen nicht oder nicht vollständig beseitigt werden, so ist der verletzten Partei auf andere Weise eine angemessene Genugtuung zuzuerkennen.

Art. 18.

Der vom ständigen internationalen Gerichtshof gefällte Spruch ist von den Parteien nach Treu und Glauben zu erfüllen.

Über Schwierigkeiten, zu denen seine Auslegung Anlass geben könnte, - entscheidet der Gerichtshof, den jede Partei zu diesem Zwecke auf dem Wege eines einfachen Begehrens anrufen kann,

Art. 19.

Während der Dauer des Vergleichs- oder Gerichtsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Teile jeglicher Massnahme, die auf die Zustimmung zu den Vorschlägen der Vergleichskommission oder auf die Erfüllung des Spruches des Ständigen Internationalen Gerichtshofes nachteilig zurückwirken kann.

Art. 20.

Allfällige Streitigkeiten über die Auslegung oder Durchführung des gegenwärtigen Vertrages sind unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung unmittelbar auf dem Wege eines einfachen Begehrens dem Ständigen Internationalen Gerichtshöfe zu unterbreiten.

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Art. 21.

Der gegenwärtige Vertrag &oll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Rom ausgetauscht werden.

Der Vertrag tritt mit dem Austausche der Ratifikationsurkunden in Kraft. Er gilt für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Tage des Inkrafttretens an. Wird or nicht sechs Monate vor Ablauf dieser Frist gekündigt, so gilt er als für einen neuen Zeitraum von fünf Jahren verlängert und so fort für je einen Zeitraum von fünf Jahren.

Ist im Zeitpunkte des Ablaufs des gegenwärtigen Vertrages ein Vergleichs- oder Gerichtsverfahren anhängig, so nimmt dieses seinen Portgang gemäss den Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages oder irgendeines andern Abkommens, das die vertragschliessenden Teile im gegenseitigen Einvernehmen an dessen Stelle gesetzt haben Bullten.

Zu Urktmd dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet.

So geschehen in doppelter Urschrift zu Born am 20. September 1924.

Für die Schweiz: (L. S.) Wagnîère.

Für I t a l i e n : (L. S.) Mussolini.

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1924

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45

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1890

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

05.11.1924

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664-676

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