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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung des abgeänderten "VI. Abschnittes der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890.

(Vom 6. Dezember 1926.)

Am 10. Oktober 1926 hat das Volk des Kantons St. Gallen bei einem absoluten Mehr von 18,812 mit 19,952 annehmenden gegen 17,670 verwerfende Stimmen den Beschluss des Grossen Rates vom 19. Mai 1926 betreffend Abänderung der Vorschriften der Kantonsverfassung über deren Revision gutgeheissen. Für diese Verfassungsänderung sucht nun der Regierungsrat des Kantons St. Gallen mit Schreiben vom 19. Oktober die Gewährleistung des Bundes nach. Die abgeänderten Bestimmungen lauten in ihrer bisherigen und in ihrer neuen Fassung folgendermassen : Alter Text.

Neuer Text.

VI, Abschnitt, Revision der Verfassung.

VI, Abschnitt,

Art. 114.

Die Verfassung kann revidiert werden, wenn die absolute Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger es verlangt.

Art. 115.

Wenn von einer ordentlichen Versammlung des Grossen Rates bis zur andern 10,000 Bürger, deren Stimmberechtigung beglaubigt ist, beim Grossen Rate unterschriftlich das Begehren stellen, dass über die Vornahme einer Verfassungsre vision abgestimmt werde, so hat derselbe

Revision der Verfassung.

A. Allgemeine Bestimmungen.

Art. 114.

Der Antrag auf Gesamt- oder Teilrevieion der Verfassung kann gestellt werden: 1. vom Grossen Rate, 2. von 8000 stimmberechtigten Bürgern (Initiativbegehren).

Art. 115.

Das Initiativbegehren muss durch eigenhändige Unterschrift gestellt werden.

Es ist vor Beginn der Unterschriftensammlung bei der Staatskanzlei anzumelden und von dieser ohne Verzug im Amtsblatte zu veröffentlichen. Unterschriften, die vor

801 ohne Verzug diese Volksabstimmung in den politischen Gemeinden auf einen und denselben Tag zu veranstalten. Der Grosse Rat selbst kann auch von sich aus die Frage über Vornahme einer Verfassungsrevision an die Abstimmung des Volkes bringen.

Art. 116.

In gleicher Weise wie die Totalrevision der Verfassung kann auch die Revision einzelner Artikel derselben vom Volke verlangt werden.

In diesem Falle sind einer Revision nur jene Verfassungsartikel zu unterstellen, rücksichtlich welcher nach den Bestimmungen dieses Abschnittes sowohl die Volksabstimmung über die Re visions vornahm e verlangt, als auch die Revision selbst vom Volke beschlossen worden ist.

Der Grosse Rat beziehungsweise der Verfassungsrat hat eine dem Inhalte des Initiativbegehrens entsprechende Vorlage auszuarbeiten und der Volksabstimmung zu unterstellen.

Art. 117, Dem Grossen Rat steht das Recht zu, Antrage auf partielle Abänderung der Verfassung an die Abstimmung des Volkes zu bringen.

Solche Anträge müssen in einer ordentlichen Versammlung desselben beraten und, insofern sie in erster Beratung angenommen worden sind, in der darauf folgenden ordentlichen Versammlung einer zweiten Beratung unterstellt werden.

der Anmeldung gesammelt wurden, sind ungültig.

Das Initiativbegehren ist zustande gekommen, wenn die erforderliche Anzahl von Unterschriften binnen sechs Monaten seit der Anmeldung bei der Staatskanzlei eingereicht worden ist.

Der Grosse Rat stellt auf Grund eines vom Regierungsrat zu erstattenden Berichtes fest, ob das Initiativbegehren richtig zustande gekommen ist. Diese Feststellung muss in der nächstfolgenden Session erfolgen, sofern die Unterschriften wenigstens 14 Tage vor deren Beginn eingereicht worden sind,

Art. 116.

Jene Unterschriftenbogen eines Initiativbegehrens, auf welchen mit Namen aufgeführten Personen eine entsprechende Ermächtigung eingeräumt ist, können wieder zurückgezogen werden.

Zum Rückzuge bedarf es der unterschriftlichen Zustimmung aller Bevollmächtigten, soweit sie noch im Eanton St. Gallen stimmberechtigt sind.

Sofern nach diesem Rückzuge von Unterschriftenbogen nicht mehr 8000 gültige Unterschriften vorhanden sind, fällt das Initiativbegehren dahin.

Art.

117.

Die revidierten Verfassungsbestimmungen treten mit der Annahme durch die Mehrheit der stimmenden Bürger in Kraft.

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Zur Annahme derselben ist die absolute Mehrheit sämtlicher Mitglieder des Grossen Rates erforderlich.

Vor Ablauf von zwei Monaten nach Abschluss der /weiten Beratung darf die Abstimmung im Volke nicht stattfinden.

Art. 118.

Bei den Revisionsabstimmungen gemäss Art. 115 und 116 haben die Bürger über folgende Fragen zu entscheiden: a. ob eine Revision der Vorfassung vorgenommen werden solle oder nicht; b, ob im ersten Falle die Revision einem VerfassungSrate oder aber dem Grossen Rate übertragen werden soll.

Das Ergebnis der Abstimmung ist durch ein Protokoll festzustellen und sofort dem Bezirksaromann zuhanden des Regierungsrates zu übermitteln.

Art. 119.

Hat die absolute Mehrheit der Stimmenden die Revision dem Grossen Rate übertragen, so hat der Regierungsrat denselben einzuberufen.

Art. 120.

Hat die bezeichnete Mehrheit die Revision einem Verfassungsrate übertragen, so ist durch den Regierungsrat dessen Wahl zu veranstalten.

Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsrates hat auf Grund der

Art. 118.

Wird die Vorlage nicht von der Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen, so fällt das Revisionsbegehren dahin.

B. Gesamtrevision.

Art.

119.

Lautet der Antrag des Grossen Rates, welchen er mit der Mehrheit sämtlicher Mitglieder gefasst haben muss, oder das gültig zustande gekommene Initiativ begehren auf Gesamtrevision der Verfassung, so hat der Grosse Rat den Regierungsrat mit der Anordnung der Volksabstimmung zu beauftragen.

Bei dieser sind den Bürgern folgendefragen zum Entscheide vorzulegen : 1. ob eine Gesamtrevision der Verfassung stattfinden soll oder nicht ; 2. ob die Revision durch den Grossen Rat odor aber durch einen Verfassungsrat vorzunehmen sei.

Die Revision der Verfassung ist beschlossen, wenn die Mehrheit der stimmenden Bürger dies bejaht.

Art. 120.

Ist die Revision dem Grossen Rate übertragen worden, so wird dieser vom Regierungsrate einberufen.

Art. 121.

Ist die Revision einem Verfassungsrate übertragen worden, so ordnet der Regierungsrat dessen Wahl an.

803 amtlich publizierten letzten eidgenössischen Volkszählung in den politischen Gemeinden auf die gleiche Weise und in der gleichen Anzahl zu geschehen wie die Wahl der Mitglieder des Grossen Rates.

Der Verfassungsrat zählt gleichviel Mitglieder wie der Grosse Rat und wird nach dem gleichen Verfahren gewählt. Die Mitglieder des Regierungsrates sind in den Verfassungsrat wählbar.

Art. 121.

Der Regierungsrat beruft den Verfassungsrat ein und eröffnet ihn durch eine Abordnung.

Nach der Wahl des Verfassungsrates hat der Regierungsrat denselben zur Vornahme der Revision einzuladen und dessen Versammlung durch eine Abordnung zu eröffnen.

Der Verfassungsrat entscheidet über die Gültigkeit der Wahlen seiner Mitglieder und gibt sich selbst sein Reglement.

Art. 122.

Der Entwurf einer neuen Verfassung, sowie einzelne Abänderungsanträge sind öffentlich bekannt zu machen und an einem und demselben Tage dem Volke zur Annahme oder Verwerfung zu unterstellen.

Art. 123.

Der Entwurf einer neuen Verfassung soll in seiner Gesamtheit, blosse Abänderungsanträge dagegen sollen einzeln, nach Abschnitten oder Artikeln, in Abstimmung gebracht werden.

Eine revidierte Verfassung oder ein Abänderungsantrag ist angenommen und tritt sofort in Kraft, wenn die absolute Mehrheit der Stimmenden für Annahme gestimmt hat.

Der Verfassungsrat entscheidet über die Gültigkeit der Wahlen seiner Mitglieder und gibt sich selbst sein Reglement ; bis ein solches vorliegt, kommt das Reglement für den Grossen Rat sachgemäss zur Anwendung.

Art. 122.

Der Entwurf einer neuen Verfassung ist einer zweimaligen Beratung zu unterstellen ; die zweite Beratung darf nicht vor Ablauf von zwei Monaten, nachdem das Ergebnis der ersten Beratung im Amtsblatte veröffentlicht worden ist, stattfinden.

Der nach der zweiten Beratung angenommene Entwurf einer neuen Verfassung soll in seiner Gesamtheit dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden.

C. Teilrevision.

Art. 123.

Die teilweise Revision hat die Abänderung oder Aufhebung einer oder mehrerer Vorschriften der Verfassung oder die Aufnahme neuer Bestimmungen zum Gegenstande.

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Art. 124.

In Hinsicht auf Stimmfähigkeit, Stimmabgabe und Verfahren bei Abstimmungen über Revisionsfragen gelten im übrigen die Bestimmungen der Verfassung und der jeweiligen Gesetze.

Art. 124.

Geht der Antrag vom Grossen Rate aus, so bedarf es bei der Schlussabstimmung über den Revisionsentwurf in der ersten und in der zweiten Beratung jeweilen der Zustimmung der Mehrheit sämtlicher Mitglieder des Grossen Rates.

Die zweite Beratung darf nicht vor Ablauf von zwei Monaten nach Schiusa der ersten Beratung stattfinden.

Art. 125.

Ein Initiativbegehren auf teilweise Revision der Verfassung kann in der Form des ausgearbeiteten Entwurfes oder der einfachen Anregung gestellt werden.

Wird das Begehren in Form der einfachen Anregung gestellt, so ist darin anzugeben, in welcher Hinsicht eine Änderung der Verfassung verlangt wird.

Art. 126.

Stimmt der Grosse Rat dem in Form eines ausgearbeiteten Entwurfes eingereichten Initiativbegehren zu, so ist ohne weiteres die Volksabstimmung anzuordnen.

Lehnt der Grosse Rat das Begehren ab, so steht es ihm frei, einen Gegenvorschlag gleichzeitig der Volksabstimmung zu unterstellen.

Der Entscheid über Zustimmung oder Ablehnung erfolgt durch die Mehrheit der stimmenden Mitglieder des Grossen Rates.

Für die Beratung und Beschlussfassung über einen Gegenvorschlag gelten die Vorschriften des Art. 124.

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Art. 127.

Stimmt der Grosse Rat dem in Form einer einfachen Anregung eingereichten Initiativ begehren zu, so hat er eine dem Inhalte des Begehrens entsprechende Vorlage unter Beobachtung der für eine Gesetzesvorlage geltenden Vorschriften auszuarbeiten und der Volksabstimmung zu unterbreiten.

Lehnt er das Begehren ab, so hat er ohne Verzug die Volksabstimmung über das Initiativbegehren zu veranlassen. Spricht sich in diesem Falle die Mehrheit der stimmenden Bürger für daslnitiativbegehron aus, so hat der Grosse Rat ungesäumt nach Massgabe von Absatz l eine Vorlage auszuarbeiten, die wiederum der Volksabstimmung zu unterstellen ist.

Art. 128.

Kommt bei einem in Form des ausgearbeiteten Entwurfes eingereichten Initiativbegehren binnen Jahresfrist nach der gemäss Art. 115, Abs. 4, erfolgten Feststellung kein Beschluss des Grossen Rates über seine Stellungnahme zustande, so ordnet der Regierungsrat ohoe weiteres die Volksabstimmung an.

Art. 129.

Umfasst die Vorlage des Grossen Rates oder das Initiativbegehren mehrere verschiedenartige, nicht miteinander im Zusammeohang stehende G egenstände, so ist über j ed en Gegenstand eine gesonderte Volksabstimmung anzuordnen; diese Abstimmungen können am gleichen Tage statiti D den.

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Art. 130.

Sofern gleichzeitig mehr als ein Initiativbegehren über den nämlichen Gegenstand oder ein Initiativbegehren und ein Vorschlag des Grossen Rates vorliegen, so hat das Volk in einer ersten Abstimmung, bei welcher das relative Mehr massgebend ist, darüber zu entscheiden, welcher Vorlage es allfällig den Vorzug geben will.

Frühestens einen und spätestens drei Monate nach dieser Abstimmung hat das Volk in einer zweiten Abstimmung darüber zu entscheiden, ob es die vorgezogene Vorlage endgültig annehmen oder verwerfen will.

Wie sich aus einem Vergleich dieser beiden Texte ergibt, betrifft die vorliegende Verfassungsänderung Fragen des kantonalen Staatsrechtes, und zwar handelt es sieh um die Bestimmungen über die Revision der Verfassung. Diese werden durch den neuen Wortlaut übersichtlicher und deutlicher gestaltet und sind nun unterschieden in solche, die im allgemeinen für die Verfassungsrevisionen Geltung besitzen, und in andere, die bloss das Verfahren bei einer Gesamtrevision oder datm bei einer Teilrevision regeln. Dabei ist besonders die Art des Vorgehens bei einer Teilrevision genauer vorgezeichnet als bisher, es wird festgesetzt, wie sie durchzuführen ist, wenn ein Initiativ begehren in Form eines ausgearbeiteten Entwurfes oder wenn es in Form einer einfachen Anregung gestellt worden ist.

Verschiedene Vorschriften enthalten zudem Neuerungen gegenüber der bisherigen Ordnung. So wird die Mindestzahl der Stimmberechtigten, deren es zur Stellung eines Initiativbegehrens bedarf, von 10,000 auf 8000 herabgesetzt. Dabei können inskünftig jene Unterschriftenbogen, auf welchen mit Narnen aufgeführten Personen eine entsprechende Ermächtigung eingeräumt ist, wieder zurückgezogen werden, sofern die unterschriftliche Zustimmung aller Bevollmächtigten vorliegt. Ist die Revision der Verfassung beschlossen, so sind gemäss der neuen, in den Art. 122 und 124 niedergelegten Vorschrift der Grosse Rat oder der Verfassungsrat gehalten, den Entwurf einer zweimaligen Beratung zu unterstellen ; die zweite Beratung darf dabei nicht vor Ablauf von zwei Monaten, nachdem das Ergebnis der ersten Beratung im Amtsblatte veröffentlicht worden ist, stattfinden. Schliesslich findet der Grundsat», dass verschiedenartige Gegenstände, auch wenn sie in einem einzigen Initiativbegehren enthalten sind,

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dem Volke nicht zur gesamthaften, sondern nur zur gesonderten Abstimmung vorgelegt werden dürfen, in Art. 129 deutlicheren Ausdruck als im frühern Art. 123.

Die neuen Verfassungsbestimmungen enthalten offenkundig nichts dem Bundesreehte Zuwiderlaufendes. 8ie entsprechen vielmehr gerade der Vorschrift des Art, ti, Ziffer c, der Bundesverfassung, der von jeder Kantonsverfassung voraussetzt, dass sie vom Volke revidiert werden könne, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt, und der darin eine der Bedingungen sieht, die erfüllt sein müssen, damit der Verfassung die Gewährleistung des Bundes erteilt werden kann. Wir beantragen Ihnen deshalb, durch Annahme des nachstehenden Beschlussesentwurfes der Verfassungsrevision vom 10. Oktober 1926 die eidgenössische Gewährleistung zu erteilen.

B e r n , den 6. Dezember 1926.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Häberlin.

Der Bundeskanzler: Kaeslin.

(Entwurf.)

Bundesfoeschluss betreffend

die Gewährleistung der Abänderung des VI. Abschnittes der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 6. Dezember 1926 betreffend die Gewährleistung des revidierten VI. Abschnittes der Verfassung des Kantons 8t. Gallen, in Erwägung, dass die abgeänderten Vevfassungsbestimmungen nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten und in der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1926 von der Mehrheit der stimmenden Bürger angenommen worden sind, in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschliesst: Der Abänderung des VI. Abschnittes der Verfassung des Kantons St. Gallen wird die Gewährleistung des Bundes erteilt.

Der Bundesrat wird mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Gewährleistung des abgeänderten VI. Abschnittes der Verfassung des Kantons St. Gallen vom 16. November 1890. (Vom 6. Dezember 1926.)

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In

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Jahr

1926

Année Anno Band

2

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49

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2152

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08.12.1926

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