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Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 4. März 1929, um 18 Uhr, zur zweiten Tagung der 28. Legislaturperiode zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Präsident Dr. Walther die Tagung mit folgender Ansprache : Geehrte Herren Nationalräte !

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gestatten Sie mir, einer Pflicht dankbarer Pietät zu genügen. Während des ganzen abgelaufenen Jahres ist der Todesengel an unserem Rat vorübergegangen. Kaum hat das neue Jahr seinen Lauf begonnen, sind zwei unserer markantesten und angesehensten Mitglieder in jäher und tragischer Weise abberufen worden: Paul Maillefer und Albert Maunoir. Beide Kollegen sind aus einem völlig verschiedenen Milien hervorgegangen ; ihr Lebensweg hat sich sehr verschiedenartig gestaltet. Wenn wir aber die Arbeit ihres ganzen Lebens überblicken, zeigt sich in einem Punkte eine wesentliche Übereinstimmung beider: P. Maillefer und A. Maunoir waren typische Vertreter ihrer engern Heimat und verfochten mit der gleichen Konsequenz und dem gleichen Mut ihre politische Ueberzeugung, auf der sie ihr Lebenswerk aufgebaut hatten.

P a u l M a i l l e f e r ist am 9. Januar abbin einer heftigen Krise von Harnvergiftung erlegen. 8chon während der letzten Session der Bundesversammlung fühlte er sich offensichtlich unwohl; wer mit ihm in näherem persönlichem Verkehr stand, konnte sich der Befürchtung nicht verschliessen, dass Anzeichen einer schweren Erkrankung vorhanden seien. Nach Schluss der Session begab sich unser verehrter Kollege ins Leukerbad, um Heilung oder doch Besserung des Leidens zu suchen. Die Erwartungen erfüllten sich nicht. Statt Besserung trat eine Verschlimmerung ein, die unerwartet rasch zum Ende führte. Die Tragik, die in diesem plötzlichen Abschluss eines an Arbeit und Erfolg reichen Lebens liegt, wird vielleicht durch den Gedanken etwas gemildert, dass der Verstorbene dadurch wohl vor langem schwerem Siechtum bewahrt geblieben ist.

Paul Maillefer hat etwas mehr als 17 Jahre unserem Rate angehört. Manche seiner heutigen Kollegen, mit ihnen Ihr derzeitiger Vorsitzender, haben dessen ganze parlamentarische Tätigkeit auf eidgenössischem Gebiete in nächster Nähe miterlebt. Und doch ist es für uns alle nicht sehr leicht, dem Wirken, der Arbeit und den Verdiensten des Dahin-

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geschiedenen in vollem Masse gerecht zu werden. Paul Maillefer gehörte nicht zu jenen Menschen, die in ihrer öffentlichen Tätigkeit jeder Schwierigkeit und Unannehmlichkeit sorgsam aus dem Wege gehen, Differenzen materieller und persönlicher Art ängstlich vermeiden und ihr Wirken vornehmlich auf Vermehrung der eigenen Popularität einzustellen suchen.

Solchen Menschen erwachsen selten eigentliche Feinde ; sie sind persönlichen Angriffen weniger ausgesetzt. Sie schaffen sich anderseits aber auch keine tiefere Freundschaft und finden vor allem nicht, weder im engern noch im weitern Kreise, jenes Vertrauen, das zu allen Zeiten die Voraussetzung wirksamer und erfolgreicher öffentlicher Tätigkeit bilden musa. Solche Menschen ziehen keine tiefen Furchen, und ihre Spur verwischt, sobald sie aus dem Leben geschieden sind.

Paul Maillefer war aus ganz anderai Holz geschnitzt. Es war eine kraftvolle, festgefügte Persönlichkeit. Ein Mann ehrlichen Strebens und unermüdlicher Arbeit. Was Maillefer im Leben geworden ist, hat er aus e i g e n e r K r a f t erreicht. Diese Tatsache allein schon zwingt zur Achtung.

Seine Jugend war nicht leicht. Der frühe Tod seines Vaters brachte der Mutter harte Zeiten, und es fiel ihr schwer, für die Ausbildung ihres überaus intelligenten und hoffnungsvollen Sohnes zu sorgen. Sie verliess zu diesem Zweck die Heimatgemeinde Ballaigues und siedelte in den Kanton Neuenburg über. Paul Maillefer besuchte die Schulen yon Val-de-.

Travers und Peseux, um nachher an der Akademie von Neuenburg sich weiter auszubilden. Nach einiger praktischer Betätigung in Couvet und Zug schloss er seine Studien in Lausanne mit dem Doktorat der Philosophie ab. Bald nachher trat er in den Dienst des waadtländischen Erziehungswesens, Zuerst war er Klassenlehrer an der Kantonsschule, alsdann Lehrer an der Ecole supérieure und am Töcbtergynmasium in Lausanne, später Professor der Geschichte an den Ecoles normales und von 1895--1910 ausserordentlicher Professor der Geschichte der Universität Lausanne. Dieser berufliche Aufstieg war das Produkt der eigenen Kraft, eines ausserordentliehen Pflichtgefühls und unermüdlichen Schaffens. Arbeitsdrang und Pflichtgefühl kamen in ganz besonderem Masse zur Geltung, als Paul Maillefer sich in den Dienst der öffentlichen Verwaltung stellte. Er trat in die Lausanner
Gemeindebehörden ein, übernahm zuerst die Schuldirektion, dann die Leitung der städtischen industriellen Unternehmungen, um im Jahre 1918 neuerdings zur Schuldirektion zurückzukehren. Von 1910 bis 1921 war er Stadtpräsident von Lausanne. In allen diesen Beamtungen bewies er ein aussergewöhnliches Mass von Tatkraft und Verständnis für die Bedürfnisse des Volkes. Es war gèwiss für den Mann der Wissenschaft nicht leicht, sich in alle Zweige der öffentlichen Verwaltung einzuarbeiten.

Es gelang ihm dies merkwürdig rasch. Da er sich dabei von jeder bureau·kratischen Snhahlone möglichst fernzuhalten wusste, erwuchs ihm gerade auch als Verwaltungsmann jenes grosse Vertrauen, das ihm selbst aus den Kreisen politischer Gegner entgegengebracht wurde.

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In das politische Leben seines Heimatkantones trat P. Maillefer bereits im Jahre 1897, als er zum Mitgliede des Grossen Rates gewählt wurde, dem er mit kurzer Unterbrechung bis zu seinem Tode angehörte. Auch ein Sitz in der Regierung wäre ihm zur Verfügung gestellt worden, wenn er es nicht vorgezogen hätte, bei der kommunalen Verwaltung zu verbleiben. Der Eintritt ins eidgenössische Parlament brachte Paul Maillefer ein neues Gebiet für seine öffentliche Tätigkeit, Dass er für die parlamentarische Arbeit in geradezu hervorragender Weise qualifiziert war, wird niemand bestreiten können. Ausgerüstet mit grosser natürlicher Intelligenz, weitgehender allgemeiner Bildung, reicher Erfahrung auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens, dazu in besonderem Mass befähigt, seinen G-edanken und Ideen in ebenso klarer wie schöner Form Ausdruck zu verleihen, wurde er für seine Partei ein jederzeit schlagfertiger Wortführer, für das Parlament selbst ein überaus wertvoller Mitarbeiter, der sieh namentlich als Leiter und Referent wichtiger Kommissionen Geltung verschaffte. Gerade der Umstand, dass er, der Mann der Wissenschaft, als Präsident der Finanzkornmission gleichsam ,, in dea Sielen" gestorben ist, beweist die Vielseitigkeit eines aussergewöhnlichen Talentes.

Als Politiker ist Paul Maillefer viel angefochten worden. Und doch wird selbst sein schärfster Gegner anerkennen müssen, dass er auch in seiner politischen Betätigung ein ehrlicher und aufrechter Eidgenosse war und bis zu seinem Ende geblieben ist. Vor allem aus war er ein Verfechter des welschen Föderalismus. Er war Welscher durch und durch, der Rasse und dem Temperament nach. Aus dieser Einstellung heraus muss man seine ganze Haltung in den Fragen der eidgenössischen Staatspolitik und des eidgenössischen Haushaltes beurteilen. Mit eiserner Konsequenz focht er für die Souveränität der Kantone. Jede Ausdehnung der Bundesgewalt, jeder Versuch, die kantonale Bewegungsfreiheit einzuengen oder auf direktem oder indirektem Wege dem Staatssozialismus Vorschub zu leisten, fand an ihm eine erbitterte Gegnerschaft. Seine Kritik war stets temperamentvoll, oft zu scharf und raubte ihm manche Sympathien. In auffälliger Weise kam dies in den Kriegsjahren zur Geltung. Für die Notverordnungen und Generalvollmachten des Bundesrates zeigte er vielleicht
nicht immer das wünschenswerte Verständnis und bekämpfte in allzu starrer politischer und sozialer Einstellung Massnahmen, die von der grossen Mehrheit des Parlamentes in Übereinstimmung mit dem Rundesrate als notwendig erachtet wurden. Damit stellte er sich namentlich in Gegensatz zur Denkweise vieler seiner deutschschweizerischen Kollegen und der deutschschweizerischen Mentalität überhaupt. Auch wir Deutschschweizer haben wohl in der einen oder andern Frage für die Mentalität unserer welschen Miteidgenossen nicht das richtige Verständnis gezeigt und erst später eingesehen, dass deren Haltung dem Lande von Nutzen war.

Die Zahl der Eidgenossen, welche während der Kriegszeit sich frei von

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Sympathien oder Antipathien hielten, wird nicht gross gewesen sein. Eine wirkliche Neutralität des Herzens gab es wohl nicht. Viele versteckten aber ihre Gefühle; sie pflegten die Neutralität des Verstandes und übten diplomatische Zurückhaltung. Letztere war Paul Maillefer fremd. Sein, lebhaftes, politisches Temperament veranlasste ihn zu wenig zurückhaltender Stellungnahme, wo eine gewisse Reserve im allgemeinen Interesse gelegen war. Nur aus diesen Verhältnissen heraus lässt sich das Missgeschick erklären, das ihn im Jahre 1919 traf, als er von allen bürgerlichen Parteien als Bundesratskandidat an Stelle seines Hoimatgenossen Decoppet vorgeschlagen, bei der Wahl selbst aber gegenüber seinem Kollegen Chuard im fünften Wahlgang unterliegen musate. Wenn es auch im parlamentarischen Leben Tage gibt, deren man sich später nicht gerne mehr erinnert, so gehört sicher auch jener stürmische Dezembertag des Jahres 1919 dazu.

Und doch wurde gerade jener Misserfolg ein Prüfstein für die Charakterfestigkeit unseres dahingeschiedenen Kollegen und für seine Treue zum Bunde. Nach wie vor blieb er der unentwegte und unermüdliche Parlamentär arbeiter ; er zeigte keine Verdrossenheit und keine Verstimmung. Die heroische Art, wie er jenes Désaveu trug, dazu das in den letzten Jahren offensichtlich zu Tage tretende Bestreben, auch der deutschschweizerischen Mentalität mehr als früher gerecht zu werden, brachte ihm neue Sympathien und verschaffte ihm namentlich bei seiner eigenen Partei in ausserordentlichem Masse Ansehen und Einfluss. Und als er in einer kritischen Stunde last mit Einstimmigkeit der bürgerlichen Stimmen zum Nationalratspräsidenten gewählt wurde, hat er in völliger Ausgeglichenheit einwandfrei das bei der Wahl gegebene Versprechen eingelöst, mit anerkennenswerter Objektivität sein Amt versehen zu wollen. -- Paul Maillefer, der in seinem Denken und Handeln ganz in der romanischen Schweiz wurzelte, besass in der Waadt eine aussergewöhnliche Popularität. In der Stadt Lausanne im Speziellen hat er sich als Administrator grosse Verdienste erworben. Als Geschichtsprofessor der Universität hat er sich durch verschiedene Werke als ein Mann reichen Wissens und hoher Kultur ausgewiesen. Seine Parlamentsarbeit wird auch vor scharfer Kritik bestehen können. Von Natur aus ernst und reserviert, war er im persönlichen
Verkehr stets liebenswürdig und für jene, die in nähere Beziehung zu ihm traten, von gewinnender Herzlichkeit. Und namentlich soll ihm auch eines nicht vergessen werden. In konfessioneller Hinsicht kannte er keine Engherzigkeit.

Auch bei ihm zeigte sich so recht, daes nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession oder Geistesrichtung an sich das Verhalten gegenüber religiös anders denkenden Menschen bestimmt. Stets wird die wahre Vornehmheit des Denkens und des innern Fühlens in der objektiven Würdigung anderer Auffassungen und in der edlen Rücksichtnahme auf die Empfindung Andersgläubiger ihren Ausdruck zu finden.

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Letzten Sonntag nachmittag traf aus Genf die erschütternde Nachricht ein, dass Nationalrat M a u n o i r plötzlich aus dem Leben geschieden sei. Vor etwas mehr als zwei Wochen war er von einer schweren Grippe befallen worden. Die Krankheit nahm dann nicht den schlimmen Verlauf, wie es zuerst geschienen hatte. Der Kranke erholte sich und konnte bereits letzten Donnerstag wieder eine Versammlung seiner Genfer Parteigenossen präsidieren. Sonntag nachmittags machte er eine kurze Automobilfahrt, erlitt nach der Rückkehr -- es war gegen Abend -- einen schweren Herzkrampf, der ganz unvermittelt das Ende herbeiführte. Die Nachricht vom Hinschied unseres Kollegen Maunoir wird in weiten Kreisen des Schweizervolkes grosses Bedauern auslösen. Vor allem aus bei allen jenen, die ihm freundschaftlich und politisch nahe standen, dann aber auch gewiss bei allen jenen, die die öffentliche Tätigkeit dieses hervorragenden Mannes auf dem Gebiete der Politik seines Heimatkantones wie der Eidgenossenschaft verfolgt und ihm -- ob sie seine politischen Auffassungen und Ansichten teilten oder bekämpften -- unbegrenzte Hochachtung entgegenbrachten.

Albert Maunoir stammte aus einer sehr angesehenen Genfer Familie die aus der Bretagne eingewandert, Ende des 18. Jahrhunderts das Genfer Bürgerrecht erworben hatte. Er besuchte die Schulen seiner Vaterstadt, wo er auch seine juristischen Studien begann und bis zum Lizentiat fortsetzte.

Er gehörte zu den glücklichen Naturen, die in früher Jugend ihren Beruf erkennen und ohne innere Kämpfe endgültig diesen Beruf erwählen.

Glückliche materielle Lebensverhältnisse -- Albert Maunoir stand in dieser Richtung immer auf der Sonnenseite des Lebens -- ermöglichten es ihm, seiner Neigung zu folgen. Nachdem er zuerst einige Jahre die Stellvertretung des Staatsanwaltes besorgt und sich dabei ein gründliches theoretisches und praktisches Wissen des Strafrechtes angeeignet hatte, eröffnete er in Genf ein eigenes Advokaturbureau und erwarb sich sofort den Ruf eines ausgezeichneten Anwaltes. Die französische Gerichtspraxis kennt für den Anwalt den schönen Ausdruck ,,Maître11, Albert Maunoir war in Tat und Wirklichkeit der ,,Meister des Barreau"-, Ausgerüstet mit einem glänzenden Verstand und einer aussergewöhnlichen Feinheit juristischer Klarheit, verfügte er über eine erstaunliche Schönheit
und Präzision des Ausdruckes, dieser wunderbaren Gaben des lateinischen Stammes. Es war für den Juristen -- Advokaten und Richter -- ein besonderer Genuss, Maunoir plädieren zu hören,' wenn er mit seiner beweglichen Eloquenz und tiefer innerer Wärme eine Sache verfocht, die er als gerecht erkannt hatte. Im Jahre 1903 liess er sich auf das Drängen seiner politischen Freunde in die Regierung seines Heimatkantons wählen, in der er während zwölf Jahren abwechselnd drei verschiedene Departemente leitete. Auch hier zeichnete er sich aus durch eine rasche Auffassungsgabe, die ihm das Einarbeiten in die verschiedeneu Verwaltungsabteilungen ungemein erleichterte. Der Sprechende hatte oft Gelegenheit, zu konstatieren, in welch gründlicher, überragender Weise Regierungsrat

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Maunoir die ihm unterstellten Verwaltungsressorts beherrschte. Unbekümmert um Erwägungen persönlicher Popularität traf er jene Massnahmen, die er als richtig erkannte. In gleicher Weise entwarf er gesetzliche Vorschläge, die er mit ebensoviel Geschick wie Mut vor dem Regierungsrat, dem Grossen Rate und auch vor dem Volke vertrat. Volle Befriedigung hatte ihm die Regierungstätigkeit infolge verschiedener politischer und persönlicher Verumständungen nicht gewährt, und so kehrte er 1915 wieder zur Advokatur zurück. In den Grossen Rat von Genf wurde Albert Maunoir bereits im Jahre 1895 gewählt. Er hat ihm bis zu seinem Lebensende angehört. In dieser Behörde hat er eine reiche Tätigkeit entfaltet. Es gab fast keine Frage grossen Stiles, zu der Maunoir nicht das Wort ergriff. Er war einer der glänzendsten Debatter des Rates, gewandt und sicher, jederzeit bereit, auf Zurufe und Zwischenbemerkungen, wie sie in den kantonalen Parlamenten der Westschweiz üblich sind, schlagfertig zu antworten.

Und wenn es auch das eine oder andere Mal ,,hart auf hart" ging, die Achtung des Rates blieb ihm unvermindert, so dass er jahrelang als Sekretär amtete und dann zum Vizepräsidenten und im Jahre 1921 zum Präsidenten gewählt wurde.

Im Jahre 1914 erfolgte die Wahl Albert Maunoirs zum Mitgliede des Nationalrates.

Obwohl ihm jede Popularitätssucht fernelag und ihm nichts so zuwider war, wie dem Druck der Strasse nachzugeben, war seine Stellung in Genf so tief verankert, dass er stets als Erster auf der Liste der Gewählten stand. Es hat dem ihm entgegengebrachten Vertrauen keinen Eintrag getan, wenn auch seine politischen Gegner gegen ihn das eine oder andere Mal den Vorwurf des reaktionären Einschlages erhoben. An Orten, wo Extreme sich berühren, wie in Genf und anderwärts, ist man leicht le réactionaire de quelqu'un. Albert Maunoir hat diesen Vorwurf nie schwer genommen, in dem Bewusstsein, dass der konsequente Minderheitspolitiker solchen Vorwürfen mehr als andere ausgesetzt sei. Im Nationalrate erwarb eich Maunoir sehr rasch die gleiche angesehene Position. Das Parquet unseres Rates bot ihm in besonderem Masse die Gelegenheit zur Entwicklung seiner glänzenden Begabung. Jede ihm übertragene Aufgabe nahm er ernst.

Feind von Bluff und unnötiger Rethorik, arbeitete er mit grosser Gründlichkeit speziell in den Kommissionen,
deren Mitgliedschaft oder Leitung ihm übertragen war. Wir alle erinnern uns, in welchem besondern Masse diese Gaben bei seinem glänzenden Referate über das Militärstrafgesetz zum Ausdruck kamen. Dieser Rechtsmaterie galt sein besonderes Interesse, da er mit unserer militärischen Rechtssprechung enge verwachsen war. Schon in Jüngern Jahren wurde er zum Justizoffizier ernannt, war Untersuchungsrichter, Auditor, Grossrichter und zuletzt Stellvertreter des Oberauditoi-s.

Durchdrungen von der Notwendigkeit und Bedeutung unserer Armee, durch und durch Patriot, trat er mit Eifer und Überzeugung für das

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Bestreben ein, unser militärisches Strafrecht und unsere militärische Rechtssprechung im Sinne moderner Rechtsauffassung auszugestalten.

Während einer Reihe von Jahren hat Herr Maunoir dem Bureau unseres Rates angehört und ist vor kurzer Zeit auch zum Mitglied der wichtigsten Kommission, der Finanzkommission, gewählt worden.

Im persönlichen Verkehr war Albert Maunoir von stets sich gleichbleibender Liebenswürdigkeit, Dem geistreichen Causeur, ausgestattet mit Witz und Humor, dem persönlichen Charme des in seinem Urteil so unabhängigen Kollegen konnte sich niemand entziehen. Es entsprach dem ganzen Wesen des im besten Sinne wirklich vornehmen Menschen, dass er sich gleich wie Paul Maillefer gegenüber religiös Andersdenkenden stets weitestgehende und objektive Toleranz angelegen sein liess.

Meine Herren! Durch den Hinschied von Paul Maillefer und Albert Maunoir hat die romanische Schweiz und deren Politik zwei ihrer hervorragendsten, jeder in seiner Art typischen, Vertreter verloren. Das Vaterland betrauert zwei wackere Söhne, die ihm treu ergeben waren.

Wir, die wir den beiden hochverdienten Männern und Kollegen in besonderem Masse nahestanden, wollen ihnen ein treues, ehrenvolles Andenken bewahren. Ich bitte, sich zu ihren Ehren von den Sitzen erheben zu wollen.

Im S t ä n d e r a t eröffnete Herr Präsident Dr. Wettstein die Tagung mit folgender Ansprache : Geehrte Herren Ständeräte!

Am Nachmittag des 12. Januar, im kalten Schein einer bleichen Wintersonne, begleitete in Lausanne ein schier endloser Leichenzug die sterbliche Hülle Paul M a i l i e f er s zur letzten Ruhestätte. Aus allen Gauen des Schweizerlandes, besonders zahlreich aber aus seiner geliebten waadtländischen Heimat, hatten sie sich zusammengefunden, die dem ehemaligen Präsidenten des Nationalrates und des waadtländischen Grossen Rates, dem einstigen Oberhaupt der Stadt Lausanne und dem Führer der waadtländischen radikalen Partei die letzte Ehre erweisen wollten. Die Schatten, die auch diese starke und weithin sichtbare Persönlichkeit begleitet hatten, sanken ein in die tiefe Trauer, die das unübersehbare Gefolge in gemeinsamem Leide verband. Unerwartet rasch hatte der Tod Paul Maillefer zu denen abgerufen, die nicht wiederkehren. Wenige Wochen vorher hatte er noch in begeisterter und selbstloser Rede der Freude des Waadtlandes über die Wahl seines Landsiuatmes Pilet zum Bundesrat Ausdruck gegeben. Ein kurzes Krankenlager, umschattet mehr vielleicht noch von seelischen als körperlichen Schmerzen, erschütterte die Lebenskraft des scheinbar so robusten Mannes,

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und jäh überfiel uns die Nachricht, dass der Tod seinem Wirken ein Ende gemacht habe.

In der Juragemeinde Ballaigues, wo ich mit ihm noch letzten Sommer auf einer Inspektionstour seine schlichten, arbeitsamen Verwandten grüsste, war Paul Maillefer am 14. Oktober 1862 geboren. Vorzeitig lernte er den Ernst des Lebens kennen; er verlor im Kindesalter seinen Vater; von seiner Mutter sorglich erzogen, widmete er sich dem Lehrerberuf, der aber dem starken geistigen Auftrieb seiner Persönlichkeit auf die Dauer nicht genügte. Nach einigen Jahren der praktischen Lehrtätigkeit in Couvet und am Institut Minerva in Zug vollendete er das akademische Studium in Lausanne, wo er die weisse Zofingermütze trug, und schloss es mit dem philosophischen Doktorexamen ab. Von 1886 bis 1894 war er Lehrer am Lausanner Gymnasium, zugleich seit 1892 Privatdozent an der Universität.

Im folgenden Jahre 1895 wurde er ausserordentlicher Professor für Geschichte an der Universität. Von 1900--1909 wirkte er in gleicher Eigenschaft am Lehrerseminar, Aus seiner Dozentenzeit stammen eine Reihe bemerkenswerter geschichtlicher Arbeiten, namentlich seine auch in der deutschen Schweiz sehr geschätzte Geschichte des Kantons Waadt. Er war ferner der Grunder der hervorragenden Revue historique vaudoise.

Früh wirkte sich in ihm neben dem Historiker der Politiker aus.

Als Dreissigjährigen berief ihn das Vertrauen seiner Mitbürger in den Lausanner Geraeinderat, wo er bis 1899 das Schulwesen leitete. Dem Conseil Communal gehörte er von 1899 bis 1909 an, 1904 präsidierte er den Bat.

1909 wurde ihm wieder ein Stadtratsmandat übertragen und im folgenden Jahre schon das Amt des Stadtpräsidenten, des Syndic de Lausanne. Es war damals eine politisch bewegte Zeit, aber alle Zeugnisse bestätigen, dass Paul Maillefer ein ruhiger und energischer Steuermann war. Zwölf Jahre lang, bis Ende 1921, führte er mit sicherer Hand das städtische Steuerruder. Dem Grossen Rate gehörte er, mit einem kurzen Unterbruch, von 1897 bis zu seinem Tode an, 1919/20 war er sein Vorsitzender. Auch hier errang er sich eine Bedeutung und einen Einfluss, wie ihn nur die hervorragendsten radikalen waadtländischen Politiker besessen haben.

Bald nach seiner Wahl zum Lausanner Stadtpräsidenten wählten ihn seine Waadtländer in den Nationalrat, und aus jeder Wiederwahl ging er
als Erster hervor, auch nachdem die Proportional wähl ihre kleinen Teufelchen auf die Erkürung der Wägeten und Besten losgelassen hatte.

Wie in der waadtländischen Heimat, so wusste er sich durch seine Rednergabe, seine Arbeitskraft und seine politische Bestimmtheit im eidgenössischen Parlament Geltung und Achtung zu verschaffen. Der Weg zur höchsten Würde der Eidgenossenschaft schien ihm offen zu stehen.

Da kam der grauenhafte Weltkrieg und mit ihm auch die Verwirrung der Geister im Lande der Eidgenossen. Der Graben öffnete sich, und ihm entstiegen Misstrauen und Argwohn. Paul Mai liefere trotz aller äussern Zu-

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riickhaltung politisch leidenschaftliche Natur ging zur schärfsten Opposition gegen die dem Bundesrate durch die Verhältnisse aufgezwungene Politik der Vollmachten über ; er wurde der Protagonist dieser Opposition, unbekümmert darum, ob dadurch der Graben erweitert werde, und ob ihm dabei harte und unbegründete Ungerechtigkeiten gegen die deutsche Schweiz mitunterliefeu. Es ist das Recht der Minderheit, zu kritisieren, dio Pflicht der Mehrheit ist, zur rechten Zeit zu schweigen. 8ie hat im Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit geschwiegen, aber sie hat es bitter empfunden, dass die Leidenschaft auf der andern Seite ein gefährliches Misstrauen gegen sie heraufbeschwor. Wohl hat auch in der deutschen Schweiz niemand an der Reinheit der Gesinnung Paul Maillefers gezweifelt, aber als 1919 zu entscheiden war, ob der Bundesratssitz, den Decoppet verlassen hatte, durch Paul Maillefer besetzt werden solle, da. war nach allem Vorausgegangenen die Vertrauenskrisis unvermeidlich. Eine solche Wahl kann nur das Ergebnis eines starken Vertrauens sein. Die Mehrheit der Bundesversammlung brachte dieses Vertrauen damals nicht auf, zu tief war die Enttäuschung darüber, dass ein so hervorragender Führer der welschen Schweiz, ein historisch und politisch so ausgezeichnet geschulter Geist wie Maillefer jahrelang seine Aufgabe darin gesehen hatte, Misstrauen in den eidgenössischen Boden zu säen. Nicht ein mesquines Vergeltungsbedürfnis war es, das die Wahl Maillefers in den Bundesrat hinderte, sondern das Bewusstsein, dass eine solche Wahl der Ausdruck zuversichtlichen Vertrauens sein müsste, und dieses Vertrauen fehlte in jener dunklen Zeit.

Der Graben hat sich geschlossen, Paul Maillefer hat seine deutschschweizerischen Eidgenossen wieder besser kennen gelernt, er hat in Winterthur und 8t. Gallen sein offenes Bekenntnis zur schweizerischen Einigkeit abgelegt und dem Sprechenden gegenüber in manchem vertraulichen Gespräch seiner Freude darüber Ausdruck gegeben, dass wir uns wieder gefunden, und dass sein aus der psychischen Verwirrung der Kriegszeit stammendes Misstrauen sich als grundlos erwiesen habe.

Das Vertrauen auch ihm gegenüber ist wiedergekehrt; Maillefer wurde ohne Widerstand Präsident des Nationalrates, und jahrelang wirkte er als Präsident der Finanzkommission und anderer hervorragender Ausschüsse.
Wir mussten uns wieder verstehen und lieben lernen -- aber auch in den trübsten Zeiten haben wir nie daran gezweifelt, dass in Paul Maillefer, dem unentwegten Waadtländer Föderalisten, ein gutes, treues, eidgenössisches Herz schlug. Es hat aufgehört zu sehlagen, wir aber, die wir ihn trotz aller vorübergehender Missverständnisse geschätzt und als starke, ehrliche Schweizernatur stets hochgeachtet haben, wir werden ihn und seine grosse Lebensarbeit nicht vergessen.

Unmittelbar vor der Abreise in die Frühjahrssession der Bundesversammlung ereilte uns die betrübende Kunde, dass die welsche Schweiz einen zweiten ihrer hervorragenden Vertreter im Nationalrat-durch einen jähen Tod verloren habe. Am 3. März starb unerwartet Nationalrat

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A l b e r t E d o u a r d M a u n o i r , der seinen Heimatkanton Genf seit 1914 im Nationalrat vertreten hatte. Fast gleichaltrig mit Paul Maillefer, nur ein Jahr jünger, hatte er statt wie dieser die Karriere der kommunalen diejenige der kantonalen Ämter durchgemacht. Nach Vollendung seiner juristischen Studien übte er zunächst fünf Jahre, von 1885--1890, die Rechtsanwalispraxis aus und übernahm dann die Stelle des Substituten des Staatsanwaltes, kehrte aber nach fünf Jahren ganz zur Advokatur zurück.

In das gleiche Jahr fällt der Beginn seiner parlamentarischen Tätigkeit im Kanton. Seine Mitbürger übertrugen ihm 1895 ein Grossratsmandat, das er bis zu seinem Tode bekleidete. Der liberal-konservativen Partei angehörig, vertrat er mit der ihm eigenen ruhigen und sachlichen Bestimmtheit, doch stets in verbindlicher Form, die Grundsätze seiner politischen Richtung. War in Paul Maillefer der Politiker zuweilen stärker als der Historiker, so überwog im Wesen Albert Maunoirs das Rechtsempfinden die rein politische Überlegung. Der Jurist in ihm entschied, Opportunität war ihm ein Fremdwort; was er für recht und gerecht erkannt hatte, das vertrat er mit einer bis zur Hartnäckigkeit gesteigerten Konsequenz.

Dieses unerschütterliche Rechtsempfinden trug ihm auch, als er den Genfer Rat. präsidierte, den Ruf eines streng unparteiischen Vorsitzenden ein.

Mit demselben starken Verantwortungsgefühl, geleitet von einem angeborenen Rechtssinn, ging er an die Aufgaben heran, die ihm seine Genfer Mitbürger mit der Wahl in den Staatsrat 1903 übertrugen. Er hat ihm zwölf Jahre lang angehört, und auch seine Gegner anerkennen, dass er sein Amt mit äusserster Gewissenhaftigkeit verwaltete, ein Mann der unermüdlichen Arbeit, aber auch des energischen Kampfes, wo er ihm aufgedrängt wurde.

1914 trat er in den Nationalrat ein. Hier errang er sich bald eine Führerposition, die über die zahlenmässige Vertretung seiner Partei hinausging, durch seine kluge, wohl abgewogene Rede. Auch er war ein überzeugter Föderalist und Gegner der Vollmachten, Auch er vertrat mit allem Nachdruck die Opposition gegen jede Art von Etatismus, aber er tat es mit jener Courtoisie, die den Gegner nicht verletzt, weil sie nur Verteidigung der eigenen, nicht Angriff auf die andere Überzeugung ist. Wie stark auch in Maunoir das eidgenössische
Empfinden war, das zeigte er durch seine positive Mitarbeit an grossen Aufgaben des Bundes, an der Ausarbeitung des Militärstrafgesetzes, am Zonenabkommen, als Oberst der Justiz, als Mitglied einer grossen Zahl von wichtigen Kommissionen. Nicht Genf nur und die welsche Schweiz, das ganze Vaterland trauert über den Hinschied dieses wertvollen Mannes, der mitten im Wirken für seine engere und weitere Heimat abberufen wurde.

Meine Herren ! Ich lade Sie ein, sich zum Zeichen der Trauer um die.beiden hervorragenden Eidgenossen von Ihren Plätzen zu erheben.

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13.03.1929

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