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Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Rate der Eidgenossenschaft sind am 23. Soptember 1929, um 18 Uhr, zur vierten Tagung der 28. Legislaturperiode zusammengetreten.

Im N a t i o n a l rat eröffnete Herr Präsident Dr. Walther die Tagung mit folgender Ansprache · Es ist immer eine schmerzliche Pflicht des Vorsitzenden der Eidgenössischen Bäte, einem Mitgliede des Parlamentes den letzten Gruss zu entbieten. Doppelt schmerzlich wird diese Pflichterfüllung, wenn der Heimgang verdienter Männer sich in dem Masse häuft, wie dies im Präsidialjahr 1928/29 der Fall ist. Noch stehen die Gestalten der Kollegen Maillefer, Maunoir und Micheli vor unserem geistigen Auge; noch gedenken wir lebhaft ihrer verdienstvollen Mitarbeit und ihrer liebenswürdigen Kollegialität. Und wieder gilt es heute, der tiefen Trauer über den Heimgang zweier Männer Ausdruck zu geben, die zu den bekanntesten Gestalten des Parlamentes gezählt haben: Nationalrat Frédéric de Eabours und Ständerat Josef Winiger.

N a t i o n a l r a t F r é d é r i c de B a b o u r s starb in der Vollkraft der Jahre. Geboren am 5. Oktober 1879 hat er ein Alter von nicht ganz fünfzig Jahren erreicht. Nach Absolvierung der Gymnasialstudien in Genf studierte er in Bern und in seiner Vaterstadt die Rechte, um im Jahre 1901 das Anwaltspatent zu erwerben und bald darauf in Genf sich der Advokatur zu widmen. Sehr rasch erwarb er sich den Euf eines ausgezeichneten Anwaltes und wurde namentlich auch seiner glänzenden Begabung wegen als Verteidiger \iel in Anspruch genommen. Manch deutschschweizerischer junger Jurist arbeitete sich auf seinem Bureau, um sich zugleich auch in der französischen Sprache auszubilden, in die Anwaltspraxis ein. Ins öffentliche Leben trat Fr. de Eabours im Jahre 1908 mit seiner Wahl zum Verf assungsratsmitglied der protestantischen Landeskirche. In weiteren Kreisen des Landes \\urde er aber ala politische Persönlichkeit im Jahre 1912 bekannt, als er auf der «Plaine de Plainpalais» eine feurige Eede gegen den Gotthardvertrag hielt. Jene Kampagne öffnete ihm den Weg in den Grossen Eat seines Heimatkantons. Hier hatte er reichlich Gelegenheit, den Bewei« für seine parlamentarische Befähigung zu erbringen. Obwohl er noch nicht in die eidgenössische Politik eingetreten war, beschäftigte er sich in den ersten Kriegsjahren lebhaft mit den eidgenössischen
Angelegenheiten. Er hielt in verschiedenen Städten zahlreiche Vorträge über volkswirtschaftliche Tagesfragen und bekämpfte namentlich den Einfluss Deutschlands auf die schweizerische Wirtschaftspolitik. In der «Tribune de Genève» und in der «Suisse» erschienen regel mässig jede Woche aus seiner Feder ebenso scharfe wie gewandte Artikel, ·\\elche das gleiche Ziel verfolgten. Er galt als einer der schärfsten Gegner der damaligen offiziellen Bundespolitik. Mit einer gewissen Spannung, vielleicht da und dort mit einer gewissen Besorgnis sah man seiner eidgenössischen parla-

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mentarischen Tätigkeit entgegen, als er im Jahre 1917 in den Nationalrat gewählt wurde. Man wusste, dass in ihm die Gegner der Generalvollmachten und des sogenannten « Etatismus » einen scharfen und gefährlichen Vertreter gefunden hatten. Sein erstes Auftreten führte zu einem heftigen Zusammenstoss mit dem damaligen Chef des Justizdepartementes. ein Schauspiel, wie man es in diesem Saale nicht gewohnt war. De Babours hatte sich damit insofern eine Position geschaffen, als jedermann die aussergewöhnliche Beredsamkeit und Gewandtheit des jungen Parlamentariers, seine scharfe Dialektik anerkennen musste. Diese Position hatte er sich auch in den verschiedenen Perioden, während denen er dem Nationalrate angehörte, erhalten.

Eine jede seiner Eede war ein Stück feiner, vielfach ganz eigenartiger Beredsamkeit und fand stets die Aufmerksamkeit des Eates. Seinem lebhaften Geist entsprach es, dass er für ungezählte Fragen Interesse fand und daher auch der Urheber zahlreicher Motionen, Postulate und Interpellationen wurde. Ich erinnere an seine Anregungen betreffend Sicherstellung der Leistungen der deutschen Lebensversicherungsgesellschaften, betreffend parlamentarische Kommission für auswärtige Angelegenheiten, Beschleunigung der eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, betreffend bundesgerichtliche Prüfung der Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit etc. Sein Interesse beschränkte sich aber nicht bloss auf die politischen Angelegenheiten. Als ein durch und durch moderner Mensch kümmerte er sich um alle aktuellen Fragen des modernen Lebens. Er war einer der ersten, der die Aufmerksamkeit des Parlamentes auf die Eadiophonie lenkte. Die Interessen des Automobilismus fanden in ihm einen warmen Verfechter. Dem internationalen Arbeitsamte in Genf wandte er sein besonderes Interesse zu. In einem überaus warmen sympathischen Schreiben, das dessen Direktor Albert Thomas an den Vorsitzenden Ihres Eates richtete, anerkennt Direktor Thomas seine ebenso intensive wie wertvolle Mitarbeit an den Aufgaben des Arbeitsamtes. Seit seinem letzten Wiedereintritt in unsern Eat hat de Eabours von seiner alten Kampfesfreudigkeit viel verloren. Er war ausgeglichener geworden. Seine Lebhaftigkeit, sein Eifer, sich zu betätigen, waren aber bei dem scheinbar gesundheitsstrotzenden Mann gleichgeblieben und hätten wohl noch
viel erspriessliche Arbeit für das Land erwarten lassen.

Frédéric de Eabours war kein Staatsmann; er wollte auch keiner sein.

Das nüchterne Abwägen und Überlegen lag nicht in seiner Natur. Seinem beweglichen Geiste, seiner raschen Auffassungsgabe entsprach es, anregend und kritisierend in die Tagesprobleme einzugreifen, ohne dabei auf eine Fuhrerrolle Anspruch zu erheben, oder auch nur an bestimmte politische Eichtlinien sich zu halten. Im Parlamente, speziell in unserem Eate, gehörte er zu den populären Gestalten. Eine zwingende Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr war ihm eigen, und mit seinem fröhlichen weltmännischen Wesen, seiner typischen welschen Charme erwarb er sich die Sympathie aller, die mit ihm in persönliche Beziehungen traten. Ich weiss, dass Sie alle, meine verehrten Kollegen, Frédéric de Eabours ein freundliches Gedenken bewahren werden.

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S t ä n d e r a t Josef Winiger.

Man kann sich wohl nicht leicht grössere persönliche Gegensätze denken als jene beiden Mitglieder der eidgenössischen Eäte, denen unsere heutige Ehrung gilt. Frédéric de Kabours, der Feuerkopf, der jeder momentanen Eingebung impulsiv Folge gibt, mit seinem sprudelnden Geist das eine oder andere Mal auch neben das Ziel schiesst, und Josef Winiger, der überlegende, klare Kopf, der keine Meinung kund gibt, bevor er die Sache reiflich geprüft und sich nach intensiver Überlegung ein Urteil gebildet hat, ein Urteil, das dann allerdings auch fast ausnahmslos das Eichtige trifft. Die beiden dahingeschiedenen Parlamentarier bieten ein Beleg für die Erfahrungstatsache, dass der Einfluss der heimatlichen Scholle, das Milieu, in dem ein Mensch aufgewachsen ist, für die Charakterbildung wie für den ganzen Lebensweg bestimmend und ausschlaggebend zu wirken pflegt. De Eabours ist zeitlebens ein Kind der Grossstadt geblieben, Josef Winiger stand bis zu seinem Tode unter den Eindrücken, die er in seinem Vaterhause empfangen, und unter dem Einfluss der Ideen, die in seiner frühen Jugend auf ihn eingewirkt hatten.

Ständerat Josef Winiger ist im Jahre 1855 in Zeli, einer Gemeinde des luzernischen Hinterlandes, geboren, wo sein Vater Arzt war. Seine Eltern waren wohlgebildete fromme Leute, denen es nicht an geistigen Interessen mangelte.

Es war das typische ländliche Luzerner Doktorhaus der damaligen Zeit. Der Vater stand trotz seiner grossen beruflichen Inanspruchnahme im Mittelpunkt der Gemeinde, kümmerte sich lebhaft um die politischen Angelegenheiten des Kantons und der Gemeinde. In dem frommen katholischen Doktorhause wurde viel politisiert. Unauslöschlich blieben daher auch für Josef Winiger die politischen Erlebnisse der Jugend, namentlich auch die vom Knaben begierig aufgenommenen Erzählungen der Ereignisse an der Berner Grenze während der Freischarenzeit und der bewegten Vorkommnisse jener stürmischen Zeit.

Das Gymnasium absolvierte Josef Winiger in Luzern, um sich nachher an den Universitäten Innsbruck, Basel und Heidelberg den juristischen Studien zu widmen. Nach bestandener Staatsprüfung wurde er, erst 23 Jahre alt, zum luzernischen Obergerichtsschreiber gewählt, in welcher Stellung er während dreizehn Jahren verblieb. Hier fand er reichlich Gelegenheit, seine juristischen
Kenntnisse praktisch zu vertiefen. Diese juristische Schulung ist ihm im spätem Leben sehr zustatteu gekommen. Er hat als Journalist nie den theoretisch und praktisch vorzüglichen Juristen verleugnet. Jeder seiner Artikel verriet im logischen Aufbau, in der klaren Entwicklung den tiefgründigen Juristen. Namentlich zeigte sich aber auch der Wert dieser Schulung bei seiner Anteilnahme an den gesetzgeberischen Arbeiten des Ständerates. Ich erinnere speziell an seine wertvolle Mitarbeit bei der Beratung des schweizerischen Zivilgesetzbuches.

Schon in seiner Stellung als Obergerichtsschreiber war Josef Winiger publizistisch tätig gewesen und hatte eine Eeihe bemerkenswerter Artikel über allgemeinpolitische, juristische und volkswirtschaftliche Fragen veröffentlicht. Als nach den schweren politischen Kämpfen, die der Kanton

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Luzern ini Jahre 1901 durchzumachen hatte, eine Neuregelung der redaktionellen Verhältnisse des «Vaterland» nötig wurde, folgte Josef Winiger einem Rufe in die Redaktion dieses Blattes, dem er bis zu seinem Tode treu geblieben ist. Er ist als Journalist wie als Parlamentarier «in den Sielen» gestorben.

Nach der grossen Kälte des letzten Winters hatte sich ein bereits vorhandenes Herzleiden schwer bemerkbar gemacht und zu zeitweiser Arbeitsaussetzung genötigt. Mit grosser Energie suchte er die verschiedenen Anfälle zu überwinden und sich immer wieder seiner redaktionellen Arbeit zu widmen. In der zweiten Hälfte der Sommersession kam er auch zu den Sitzungen des Ständerates, um seine parlamentarische Pflichterfüllung wieder aufzunehmen.

Kurz nach Schiusa der Junisession trat aber ein neuer Rückfall ein. Das Herz war der neuen Affektion nicht mehr gewachsen. Trotz eisernem Lebenswillen, trotz des ungebrochenen Arbeitsgeistes gab er am 6. August seine Seele ihrem Schöpfer zurück.

Mit Ständerat Josef Winiger hat der Kanton Luzern einen seiner angesehensten und bedeutendsten Männer verloren. An seiner Bahre trauert das ganze Luzerner Volk, ohne Unterschied der politischen Partei. Die gesamte luzernische Presse, von der äussersten Rechten bis zur aussersteii Linken, hat dem Verstorbenen die grossie Hochachtung bekundet und dankbar anerkannt, was er während Jahrzehnten für seine engere Heimat geleistet hat. Diese Anerkennung galt in besonderem Masse seiner Arbeit als Mitglied des Grossen Rates, in den er im Jahre 1891 gewählt wurde und den er zweimal präsidiert hat. Er galt im Grossen Rate bei sämtlichen Parteien als Autoritätsperson. Seine reiche Erfahrung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, sein klares und sicheres Erfassen aller wichtigen Probleme, seine objektive Behandlung jeder einzelnen Frage und sein ganzes ausgeglichenes Wesen schufen ihm im kantonalen Parlament eine Stellung, wie sie seit dem Tode von Philipp Anton Segesser keinem luzernischen Politiker zuteil geworden ist. Während den letzten dreissig Jahren ist im Grossen Rate des Kantons Luzern keine Präge grösseren Stiles behandelt, kein wichtiges Gesetz beraten worden, ohne dass die Mitwirkung WTinigers dabei von ausschlaggebender Bedeutung gewesen wäre.

Wenn es sich dabei auf politischem Boden um delikate Angelegenheiten handelte,
so kam das diplomatische, ebenso geschickte wie zurückhaltende Wesen Winigers zu ganz spezieller Geltung.

Im Jahre 1897 wurde Josef Winiger in den Ständerat gewählt. Er war der geborene Standesvertreter. Er erwarb sich wie auf kantonalem so auch auf eidgenössischem Boden rasch eine überaus angesehene Stellung. Sein umfassendes gründliches juristisches Wissen, seine allgemeine Bildung, sein klarer Verstand und seine im Heimatkantone bereits gesammelten Erfahrungen kennzeichnen" seine Wirksamkeit auch auf dem Boden unseres Parlamentes. Er beteiligte sich sehr rege am parlamentarischen Leben. Wenn er in die Debatte eingriff, geschah es stets mit völliger Beherrschung des Gegenstandes. Der oratorische Schmuck einer bildreichen Sprache lag ihm nicht. Ihm war nicht darum zu tun, den Zuhörer hinzureissen, als vielmehr ihn zu überzeugen.

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Er sprach logisch scharf, dialektisch gewandt und formell korrekt. Dem wohl überlegten Gedanken versagte nie die zutreffende und gewählte Form. Fragen juristischer, finanz- und eisenbahnpolitischer und volkswirtschaftlicher Natur erfasste er mit Meisterschaft. Speziell aber ging er auch nie der Erörterung prinzipiell politischer Fragen aus dem Wege und vertrat mit offenem Mute seine religiöse und politische Überzeugung. Seine Worte fanden dann auch regelmässig eine volle Beachtung, und zwar nicht nur im Plenum des Eates selbst, sondern a,uch in den zahlreichen und wichtigen Kommissionen, in die er berufen wurde. Das Präsidium des Ständerates, das ihm durch einstimmigen Beschluss des Eates für das Jahr 1910/11 übertragen wurde, hat er in geradezu vorbildlicher Weise gefuhrt. Alle diese verdienstvolle Arbeit, dazu sein konziliantes Wesen im persönlichen Verkehr, seine bescheidene Zurückhaltung, verbunden mit grosser Verbindlichkeit, brachten ihm wie im luzernischen Grossen Bäte so auch im Ständerate grösstes Ansehen und viel Sympathien. Auch jene Mitglieder des Nationalrates, welche Gelegenheit hatten, mit ihm persönlich Fühlung zu nehmen, konnten sich dem Eindrucke dieser aussergewöhnlichen Persönlichkeit nicht entziehen.

Der Einfluss, den Ständerat Josef Winiger während Jahrzehnten auf das öffentliche Leben der engern und weitern Heimat ausgeübt hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine tiefe, allerdings sich nie aufdrängende Religiosität, die Zielsicherheit seiner Welt- und Lebensauffassung gaben ihm als Journalist wie als Politiker ein unerschütterliches Gleichgewicht, das auch durch sensationelle Ereignisse nicht verdrängt wurde. Sensationsjournalistik bot für ihn keinen Beiz. Als philosophische Natur besass er die starke Kraft des Abwartens, um zu neuen Erscheinungen und Ansprüchen erst nach gründlicher Prüfung Stellung zu nehmen. Kein Drängen und kein Stürmen konnte ihn vom Wege der nüchternen Wirklichkeit abbringen. In diesem Sinne leitete er das ihm anvertraute Blatt. In diesem Sinne suchte er auch die politische Partei, in der er an führender Stelle stand, zu influenzieren. Er war kein Politiker starrer Opposition. Sein Ziel ging nicht auf Zuspitzung, sondern auf die Milderung und Ausgleichung der politischen Gegensätze, auf die sachliche Erfüllung und den Ausbau der staatlichen
Aufgaben. Wie die ganze luzernische kantonale Politik unter dem fuhrenden Einfluss von Josef Winiger stand, so trug auch die Bundespolitik der Partei und der parlamentarischen Fraktion, der er angehörte, das Zeichen seines Geistes. Kampf um Gleichberechtigung, Abwehr ungerechter Beurteilung, dafür aber auch getreue und loyale Mitarbeit auf dem ganzen weiten Gebiete der Bundespolitik zum Wohle der Gesamtheit -- das waren die politischen Ziele Winigers, für die er immer und immer wieder die Parteigenossen der engern und weitern Heimat zu sammeln wusste.

Fünf Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit und nie versagender Freundschaft haben Ihren Vorsitzenden mit Josef Winiger verbunden. Sie werden es-, meine hochverehrten Herren Kollegen, daher verstehen, dass es eine harte Stunde ist, in der ich dem Freunde den letzten Gruss des Parlamentes zu ent-

850 bieten habe. Ich bin aber überzeugt, dass Sie alle, die Sie Ständerat Winiger gekannt haben, diesem edlen, senkrechten Eidgenossen, dem treuen Sohne des engern und weitern Vaterlandes, ein ehrenvolles Andenken bewahren werden.

Ich bitte Sie, sich zu Ehren der verstorbenen Mitglieder der eidgenössischen Eäte, Nationalrat Frédéric de Eabours und Ständerat Josef Winiger, von Ihren Sitzen erheben zu wollen.

Im S t ä n d e rat eröffnete Herr Präsident Dr. Wettstein die Tagung mit folgender Ansprache : Ein dunkles Verhängnis liegt über der Vertretung der liberal-konservativen Partei Genfs im Nationalrate. Ära 3. März dieses Jahres starb Nationalrat Maunoir, im folgenden Monate Nationalrat Jules Micheli, heute habe ich die schmerzliche Pflicht, zum dritten Male innert der kurzen Spanne eines halben Jahres einem Vertreter der gleichen Partei den Nachruf zu halten.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni starb in Genf plötzlich, eben aus der Junisession der Bundesversammlung heimgekehrt, noch voll von politischen Plänen und Kampfeif er, Frédéric de Eabours, im Alter von noch nicht SO Jahren, de Eabours war am 15. Oktober 1879 in Genf, als Spross einer seit Jahrhunderten ansässigen, ursprünglich französischen Familie geboren. Seine juristischen Studien absolvierte er in Bern und Genf und liess sich dann 1901 als junger Anwalt in seiner Vaterstadt nieder. Sein feuriger, tatendurstiger Geist konnte sich aber nicht mit der Advokatur begnügen, es steckte in ihm ein starkes politisches Temperament, das sich schon während der Studienzeit in der «Zofingia» bemerkbar gemacht hatte und nun energisch nach öffentlicher Betätigung drängte. Im Alter von 34 Jahren errang er sich einen Sitz im Grossen Eate, wo der lebhafte, witzige, stets zum ungebremsten parlamentarischen Angriff bereite Eedner sich bald eine besondere Stellung erwarb.

Sein Ehrgeiz strebte aber nach einem weiteren Kampffelde. 1917, während der Kriegsjahre, die ja dem Föderalismus, den er vertrat, einen kräftigen Aufschwung brachten, eroberte er in heissena Kampfe zum ersten Mal ein Nationalratsmandat. In der Nachwahl siegte er mit einer Mehrheit von 51 Stimmen über seinen radikalen Gegner Willemin. Auch im Nationalrate machte sich der politische Draufgänger rasch bemerkbar. Sein Kampf gegen die bundesrätlichen Vollmachten, seine unerbittliche Kritik
an der eidgenössischen Verwaltung, sein unversöhnliches Misstrauen gegen alles, was ihm der Deutschfreundlichkeit verdächtig schien, machten ihn zu einer der am schärfsten profilierten Gestalten des Eates. Kampfnaturen wie er kennen, wenn der Geist über sie Jkommt, keine Hemmungen; dass er nicht selten übers Ziel schoss, in der Hitze des Gefechtes gelegentlich einseitig und ungerecht wurde, hat ihm auch in seiner engern Heimat, selbst unter seinen politischen Gesinnungsgenossen, Sympathien gekostet. Die Wirkung zeigte sich im eigenartigen Schicksal seines Mandates. 1919 und 1922, bei den ersten Proporzwahlen, wurde er wiedergewählt, 1925 unterlag er, seine Wähler zogen Maunoir und Micheli vor. Ver-

851 geblich war auch ein Versuch, ihn in den Ständerat zu bringen. Erst im März 1928 führte ihn der Proporz, zum Ersätze von Horace Micheli, wieder in den Rat ; die Wahlen im Herbst 1928 entzogen ihm aber von neuem den Sitz, bis er ihn im Juni 1929 als Nachfolger von Jules Micheli, zum letzten Mal, wieder einnehmen konnte. In den Gastspielen, wie er sein unregelmässiges Auftreten im, Rate scherzend einmal selbst genannt hat, im Juni und September 1928 und im Juni 1929, zeigte er, dass er etwas älter und besonnener geworden war, dass er aber die alte Kampffreude nicht verloren hatte; es war namentlich die auswärtige Politik, an der er seine kritischen Waffen übte.

Nun ist der beredte Mund verstummt, das ungestüme Herz hat aufgehört zu schlagen, ein Leben voll Kampf und politischer Leidenschaft ist ausgelöscht.

Auch seine einstigen Gegner werden ihm die Anerkennung nicht versagen, dass diese Leidenschaft ehrlich und charaktervoll war und dass dieses Herz gut eidgenössisch geschlagen hat, wenn auch im. föderalistischen Takt. Auch bei seinen schärfsten Attaken verlor man nie den Eindruck, dass es ihm um Ideen ging, um die Idee eines föderalistischen Liberalismus und einer Demokratie, die in den persönlichen Freiheitsrechten des Bürgers ihre grössten Werte sieht.

Gewiss, er war vor allem Genfer, aber im Grunde seines Herzens auch ein Schweizer Patriot ; hat er doch seinem Land auch als Artillerie-Offizier, zuletzt als Hauptmann, gedient. Er suchte vielleicht die Wohlfahrt der Eidgenossenschaft auf anderen Wegen als wir, aber an seiner innern Hingabe an die eidgenössische Gemeinschaft darf niemand zweifeln. Man spürte sie im persönlichen Verkehr, wo de Rabours der liebenswürdigste Mensch, der warmherzigste Freund und charmanteste Gesellschafter war. So werden wir stets gern, bei aller Versehiedenartigkeit des politischen Fühlens und Meinens, des Dahingeschiedenen gedenken.

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Ganz anders ist das Bild des Mannes, dessen Verlust in erster Linie unseren Rat schmerzlich trifft. In der Nacht vom 8. auf den 9. August starb in Luzern nach längerer, heroisch ertragener Krankheit unser Kollege Josef Winiger im 75. Altersjahr. Im Juni hatten wir noch die Freude, ihn für einige Tage unter uns zu sehen, und schon hofften wir, seine Gesundheit werde ihm das Wiederkommen erlauben. Leider hatte er seine Widerstandskraft überschätzt; er musste vorzeitig nach Hause zurückkehren, und nach wenigen Wochen erlag er der tückischen Krankheit.

Josef Winiger war ein Kind des Luzerner Hinterlandes; er wurde am 24. Januar 1855 in Zeli als Sohn des Arztes Dr. Andreas Winiger geboren und hat eine sonnige Jugend dort verlebt. Schon in den Gymnasialjahren regte sich in ihm das Fuhrertalent : er war in den obern Klassen bereits Präsident der Lokalsektion des schweizerischen Studentenvereins und Mitglied des Zentralkomitees. In Innsbruck, Basel und Heidelberg studierte er Jurisprudenz; 1878, im Alter von erst 23 Jahren, ~w urde er luzernischer Obergerichtsschreiber und trat dann 1892, nach ISjähriger Beamtentätigkeit, in die Redaktion des «Vaterland» ein. Damit begann sein politisches Wirken. Die kluge, weitsichtige und Bundesblatt. 81. Jahrg. Bd. II.

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BS2 vornehme Art, in der er das Blatt leitete, gewann ihm rasch das Vertrauen seines Kantons. Es war kein bedeutungsloser Zufall, dass seine Berufung an das «Vaterland» zeitlich zusammenfiel mit der Wahl Zemps, als des ersten katholisch-konservativen Vertreters, in den. Bundesrat. Diese Wahl bedeutete für die Partei eine wichtige politische Wende ; sie war nicht mehr nur Oppositionspartei, sondern zur unmittelbaren Mitarbeit und Mitverantwortlichkeit in der eidgenössischen Politik berufen. Winiger mit seinem politischen Klarblick schlug entschlossen die Bahn der neuen Politik, die mit dem Namen Zemp gekennzeichnet ist, und der er in der Zemp-Biographie ein schönes literarisches Denkmal gesetzt hat, ein, und er ist ihr allen Anfechtungen zum Trotz und unbeirrt von den Versuchen einzelner Gruppen seiner Partei, wieder zu einer unfruchtbaren Opposition abzuschwenken, treu geblieben. Im Jahr 1897 wurde er dazu berufen, seine Politik im Ständerate zu vertreten.

87 Jahre lang leitender politischer Bedakteur, 32 Jahre lang Mitglied der Ständevertretung schon diese Zahlen reden von einem ungewöhnlich reichen Lebenswerk. Was es bedeutet, in einem fuhrenden, seiner Verantwortlichkeit der Öffentlichkeit, dem Staat und dem Volke gegenüber bewussten politischen Blatte Tag für Tag die politischen Ereignisse darzustellen und zu werten, ihre Bedeutung und ihre Zusammenhänge zu erfassen, den Kampf für und gegen Ideen zu führen, zum Angriff und zur Verteidigung jederzeit gerüstet zu sein, das vermag nur der ganz zu ermessen, der selber diese aufreibende Tätigkeit längere Zeit ausgeübt hat. Was Winiger für eine Lebensarbeit mitbrachte, war die solideste Grundlage des journalistischen Berufes: ein umfassendes, gründliches Wissen, juristische Schulung, philosophische Klarheit; diese Eigenschaften ermöglichten ihm das sichere Abwägen und Urteilen. Er bestach nicht durch eine glänzende schriftstellerische Begabung, durch einen prunkenden Stil; seine Artikel waren Muster sachlicher Darstellung und Beweisführung; er suchte nicht zu überreden, sondern zu überzeugen. Fast z^ei Jahrzehnte lang habe ich zu gleicher Zeit auf anderm Posten dieselbe Tätigkeit ausgeübt; wir haben unsere Klingen oft gekreuzt, aber es war stets ein ritterliches Fechten, man achtete des Gegners Überzeugung und stritt für Ideen. Nie habe ich Winiger
im journalistischen Kampfe unfair gefunden; seine Waffe war die überlegene Ironie; so fest er auf dem Boden seiner katholischen Weltanschauung stand, und so treu er zu seiner politischen Partei hielt, es kam nie ein gehässiges, den Gegner beschimpfendes Wort aus seiner Feder. Nicht die Kritik, sondern die positive Arbeit war ihm die Hauptsache. Wo er den Boden zu gemeinsamem Wirken fand, da scheute er sich nicht, auch dem politischen Gegner die Hand zu reichen, denn über allem, was trennt, stand ihm die Sorge für eine gesunde politische und soziale Weiterentwicklung der Eidgenossenschaft. So hat er unverzagt die Zempsche Eisenbahnpolitik, die Versicherungswerke, die Eechtsvereinheitlichung, die straffere Organisation des Militärwesens und manches andere unterstutzt, auch wenn er nicht die ganze Partei hinter sich wusste.

Was er uns in diesem Bäte war, das empfinden wir alle tief. Wir verlieren in ihm einen lieben Kollegen und Freund; persönlich von fast übertriebener

853 Bescheidenheit, stets höflich und zuvorkommend, war er auch als parlamentarischer Politiker eine Erscheinung, die unvergesslich bleibt. Seine Voten, die niemand durch lärmende Beredtsamkeit erschreckten, waren klar, bestimmt, fein abgewogen und durchgearbeitet. Man hat ihn die verkörperte Vorsicht genannt; gewiss, unvorsichtiges, improvisiertes Eeden, hitziger Angriff, ungestümes Draufgängertum waren ihm gänzlich fremd. Aber seine Vorsicht und Gemessenheit waren nicht Schwäche noch Furcht, sie wurzelten in seinem versöhnlichen Wesen, seiner natürlichen Herzensgüte, seinem tiefen menschlichen Verstehen. Er wich dem Kampfe nicht aus, aber er suchte ihn ohne Verletzung des Gegners zu führen. Deshalb hatten wir nicht nur Achtung vor seinem klaren Geiste, seinem Wissen und seiner politischen Einsicht, wir hatten ihn alle lieb als wertvollen Menschen und stets freundlichen und hilfsbereiten Kollegen. Wer mit ihm in Kommissionen zusammengearbeitet hat, weiss, wie sehr er immer für Verständigung gewirkt hat, wo nicht grundsätzliche Anschauungen eine solche ausschlössen. Das Vertrauen des Biates erhob ihn 1911 auf den Präsidentenstuhl.

Oft noch werden wir sein kluges Wort, sein reifes Urteil vermissen; nicht seine Fraktion nur, der ganze Eat trauert um den Verlust eines seiner ältesten, liebenswürdigsten, arbeitsamsten und in seinem Wesen und Wirken fruchtbarsten Mitglieder.

Ich bitte Sie, sich zu Ehren der beiden Verstorbenen von Ihren Sitzen zu erheben.

In den N a t i o n a l r a t ist neu eingetreten, an Stelle des verstorbenen Herrn F.-J. de Rabours : Herr Edouard S t e i n m e t z , gewesener Kaufmann, von und in Genf.

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Aus den Verhandlungen des Bundesrates.

(Vom 16. September 1929.)

Die bulgarische G-esandtschaft teilt mit, dass infolge Rücktrittes des Herrn Generalkonsul Raoul Siegrist das bulgarische Generalkonsulat in Genf aufgehoben worden ist. Die Konsulargeschäfte für die Kantone Genf, Waadt, Wallis und Neuenburg werden von nun an von der bulgarischen Gesandtschaft in Bern besorgt.

(Vom 17. September 1929.)

Es werden folgende Bandesbeiträge bewilligt: 1. Dem Kanton Bern an die zu Fr. 265,000 veranschlagten Kosten der Entwässerung des Reutigen-Zwieselbergmooses in den Gemeinden Heutigen, Zwieselberg und Niederstocken, Amtsbezirke Niedersimmental und Thun, 25 %, im Maximum Fr. 66,250.

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25.09.1929

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