885

# S T #

Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 3. Juni 1929, um 18 Uhr, zur dritten Tagung der 28. Legislaturperiode zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Präsident Dr. Walther die Tagung mit folgender Ansprache : Geehrte Herren Nationalräte!

Zum dritten Male in diesem Jahre ist einer unserer Kollegen in der Vollkraft der Jahre aus dem Leben geschieden. Jeder dieser Verluste hat unseren Rat schwer betroffen. Die Herren Maillefer und Maunoir zählten zu den verdientesten und angesehensten Mitgliedern des Nationalrates. Sie standen beide auf der Höhe des Schaffens und ein reiches Maas ausgezeichneter parlamentarischer Arbeit hatte ihnen im ganzen Lande wohlverdientes Ansehen gebracht. Heute beklagen wir den Hinscheid eines Kollegen, der erst kurze Zeit unserem Rat angehörte, von dem wir aber angesichts seines verdienstvollen Wirkens in der engern Heimat auch auf dem Boden des eidgenössischen Parlamentes eine erfolgreiche Tätigkeit erwarten durften. Jules M i c h e l i wurde im Herbst 1928 zum Mitgliede des Nationalrates gewählt. Der Name Micheli hatte hier im Rate guten Klang. Noch steht uns allen der ehemalige Kollege Horace Micheli, der hervorragende Parlamentarier und glänzende Publizist, ein Edelmann im besten Sinne des Wortes, in freundlicher Erinnerung. Es ist etwas Eigenes um die Zugehörigkeit zu einer alten, angesehenen und verdienten Familie.

Keiner ihrer Angehörigen kann sich wohl ganz dem Einflüsse der alten, fest verankerten Tradition entziehen. Diese letztere gibt vielfach Ziel und Richtung und ist namentlich auch bestimmend für die Einstellung zur Öffentlichkeit. Das bat sich in besonderem Masse bei Jules M i c h e l i bewährt. Er entstammt einer alten, hochangesehenen Familie, in der das Bestreben nach wissenschaftlicher Betätigung stark vertieft, dabei aber der Sinn für die Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit, für wahre Wohltätigkeit im christlichen Sinne und für treue, opferfreudige Ergebenheit an die engere und weitere Heimat fest verwurzelt war, G-eboren im Jahre 1877, besuchte er die Schulen und die Universität seiner Vaterstadt Genf, um seine Studien später an der Universität Leipzig und Berlin fortzusetzen und mit dem Doktorate der Universität Leipzig abzuschliessen. Seine Absicht war, sich auf dem Gebiete der Physik, Chemie und Landwirtschaft
wissenschaftlich zu betätigen. Mit dem geistigen Rüstzeug fUr diese Betätigung war er in weitgehendstem Masse versehen. Das Schicksal fügte es anders. Als er 26 Jahre alt war, starb plötzlich sein Vater. Und nun erging an Jules Micheli der Ruf, die Leitung der Familiengüter und die

Führung der Familie zu übernehmen. In treuer Pflichterfüllung und stiller Resignation verlieas er das Feld der Wissenschaft, um in einen praktischen Wirkungskreis einzutreten. Mit grossem Eifer widmete er sich der Landwirtschaft. Durch seine weitgehende allgemeine und fachliche Bildung war er auch bald befähigt, diese grosse und schwere Aufgabe der Güterbewirtschaftung mit Erfolg durchzuführen. Weil er dabei alle die Schwierigkeiten und Hemmungen, mit denen die Landwirtschaft zu kämpfen hat, kennen lernte, war er in der Lage, deren Ratgeber und Anwalt zu werden.

Mit edler Begeisterung fasste er diese Aufgabe auf. Er vertrat die Interessen der Landwirtschaft in Wort und Schrift, in Versammlungen und Kursen und auch als wissenschaftlicher landwirtschaftlicher Mitarbeiter des ,,Journal de Genève". In ganz besonderem Masse trat er in der Öffentlichkeit hervor im Kampf für die G e t r e i d e v o r s o r g u n g . Wieso mancher unter uns, war er entschiedener Anhänger des Getreidemonopols, das sich auch nach seiner Ansicht bestens bewährt hatte. Nach dem ablehnenden Volksentscheid vom 5. Dezember 1926 stellte er sich aber als guter Demokrat in Anpassung an den Willen der Volksmehrheit im Kampfe für eine m o n o p o l f r e i e Lösung der Getreidefrage in die vorderste Linie. In jener grossen Volksversammlung, welche für die Stellungsnahme dea Standes Genf in der Getreidefrage ausschlaggebend war, konnte er gesundheitshalber nicht mehr den Vorsitz führen. Trotz Kälte und Bise verliees er aber die Klinik, in die er sich zu Operationszwecken hatte begeben müssen, um seine Mitbürger im Gemeindesaal von Plainpalais von der Notwendigkeit und Möglichkeit des neuen Lösungsversuches eines grossen Problems zu überzeugen, Jules Micheli war ein Mann ernstester Lebensauffassung; ein Edelmensch von angeborener Gewissenhaftigkeit und unermüdlicher Pflichterfüllung. In diesen Eigenschaften und in der Festhaltung guter alter Familientradition stellte er sich auch rückhaltlos in den Dienst der Öffentlichkeit, als der Buf des Volkes an ihn erging. Schon im Jahre 1902 trat er an der Stelle seines Vaters in den Gemeinderat von Jussy ein, um im Jahre 1907 die Nachfolgeschaft seines Onkels Henri Faesch als Maire von Jussy zu übernehmen. Wahrend mehr als hundert Jahren ist dieses Amt ununterbrochen einem Mitgliede der Familie
Micheli-Faesch anvertraut gewesen. Darin liegt eine grosse Hingabe dieser Familie an das Volk, aber auch eine Kundgebung treuer Anhänglichkeit des Volkes an eine verdiente Familie, ein Beweis, dass der Satz von der ,,Undankbarkeit der Republik" doch nicht immer Geltung hat. Im Jahre 1907 wurde Jules Micheli in den Grossen Rat seines Heimatkantons gewählt, um 22 Jahre bis zu seinem Tode als überaus geachtetes Mitglied der demokratischen Partei weniger in den Fragen der Politik als in landwirtschaftlichen und fiskalischen Angelegenheiten wertvolle Dienste zu leisten. Mehr und mehr trat er in der landwirtschaftlichen Bewegung auch ausserhalb seines Heimatkantons in den Vordergrund. Und so schien seine Kandidatur bei den

887

Nationalratswahlen des Jahres 1928, als auch die demokratische Partei sich entschloss, einen landwirtschaftlichen Vertreter auf die Liste zu nehmen, ohne weiteres gegeben. Seine Wahl erfolgte in ehrenvollster Weise. Der Ernst und die Gewissenhaftigkeit, mit der er sich sofort der neuen Aufgabe zu widmen begann, Hessen viel erwarten. Es sollte anderà .kommen, Die Operation, der er sich Ende März unterzogen hatte, brachte keine Heilung von schweren Leiden. Am 7. April gab er als gläubiger Christ die Seele seinem Schöpfer zurück. Jules Micheli war uns in der kurzen Zeit seiner Parlamentszugehörigkeit ein lieber, überaus sympathischer Kollege geworden. Mit seiner Gattin, seinen Kindern und der grosseu Zahl seiner Freunde betrauern wir tief den frühzeitigen Heimgang dieses Ratmitgliedes, das der engern und weitern Heimat, Land und Volk noch viele schätzenswerte Dienste hätte leisten können. Wir alle werden ihm ein treues, ehrenvolles Andenken bewahren. Ich bitte Sie, verehrte Kollegen, sich zu seiner Ehre von Ihren Sitzen erheben zu wollen.

Im S t ä n d e r a t eröffnete Herr Präsident Dr. Wettstein die Tagung mit folgender Ansprache : Geehrtes Herren Ständeräte!

Während der Ständerat in der Zeit zwischen der Frühlings- und der Sommersaison von Verlusten verschont geblieben ist, hat der Tod dem Nationalrat eines seiner amtsjüngsten Mitglieder, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, entrissen. Kaum hatte sich die Gruft über Albert Maunoir geschlossen, raffte ein unerbittliches Schicksal auch den zweiten Vertreter der Genfer demokratischen Partei, J u l e s M i c h e l i , hinweg.

Mit Maunoir war er im Oktober 1928 iu den Nationalrat gewählt worden.

So kurz sein Wirfeen im Rate war, es genügte, um den Beweis zu leisten, dass die Volksvertretung in ihm ein tüchtiges und wertvolles Mitglied bekommen hatte, eine hochgebildete und reich kultivierte Persönlichkeit, ausgerüstet mit weitumspannendem und gründlichem Wissen, vor allem einen rorzüglichen Kenner und Freund der Landwirtschaft und eine Arbeitskraft, der keine Aufgabe im Dienste des Landes zu schwer war.

Jules Micheli war 1877 in Jussy geboren. Er studierte in Genf, Berlin und Leipzig, wo er sich den Doktortitel in den Naturwissenschaften, Mathematik und Literatur erwarb. Sein Ziel war die wissenschaftliche Laufbahn. Aber der frühe Tod seines Vaters zwang ihn zur Übernahme der Familiendomäne von Crest im Alter von erst 26 Jahren. Mit der ganzen Energie und Zähigkeit seines Willens arbeitete er sich in seine Aufgabe hinein und erwies sich dank seiner Fähigkeit, seine wissenschaftlichen Kenntnisse in der Praxis zu verwenden, rasch als ausgezeichneter

888

Landwirt, dem die Landwirtschaft bedeutende Verbesserungen auf fast allen Gebieten ihrer Produktion, namentlich im Wein- und Getreidebau, zu verdanken hat. Er galt deshalb bald als einer ihrer kundigsten Vorkämpfer. Aber Jules Micheli war zu sehr Genfer Patriot, um sich auf eine private Erwerbstätigkeit zu beschränken, mochte sie ihm noch so reizvolle Aufgaben stellen. Früh schon widmete er einen Teil seiner Arbeitskraft den öffentlichen Angelegenheiten. Schon mit 25 Jahren trat er in den Gemeinderat von Jussy ein, wurde 1907 mit 29 Jahren Maire, ein Amt, das auch sein Vater und sein Grossvater bekleidet hatten, und im gleichen Jahre wählten ihn seine Mitbürger in den Grossen Rat. Beide Ämter hatte er bis zu seinem Tode inné.

So sehr er die Landwirtschaft liebte und so energisch er ihre Interessen vertrat, so war er doch kein fanatischer Agrarier. Davor bewahrten ihn seine universelle Bildung und sein Gemeinschaftsgeist. Stets trat er für Verständigung zwischen Stadt und Land ein, und wie sehr seine Mitbürger seine konziliante Haltung zu würdigen wussten, zeigte im letzten Herbst die glänzende Wahl in den Nationalrat. Er blieb nur mit wenigen Stimmen hinter seinem so populären Freunde Maunoir zurück. Grosse Verdienste erwarb er sich noch in jüngster Zeit durch seine Mitarbeit in der Lösung der Getreidefrage.

Der Kanton Genf verliert in ,,ihm einen ausgezeichneten Bürger, die Schweiz einen treuen Eidgenossen, die Bundesversammlung einen arbeitsfreudigen und liebenswürdigen Kollegen, dessen Andenken in hohen Ehren bleiben wird. Ich ersuche Sie, sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen zu erheben.

In den N a t i o n a l rat sind neu eingetreten : Herr Friedrich P e s t a l o z z i , Landwirt, von Zürich, in Wil (St. Gallen), an Stelle des zurückgetretenen Herrn J. J. Gabathuler ; ,, Frédéric-Jules de R a b o u r s , Rechtsanwalt, von und in Genf, an Stelle des verstorbenen Herrn F.-J. Micheli; ,, Rudolf R e i c h l i n g , Landwirt, von und in Stäfa, an Stelle des zurückgetretenen Herrn R. Streuli.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesversammlung.

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1929

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

24

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

12.06.1929

Date Data Seite

885-888

Page Pagina Ref. No

10 030 723

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.