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Parlamentarische Initiative über das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf Stellungnahme des Bundesrates vom 12. August 1981

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, Wir unterbreiten Ihnen unsere Stellungnahme zum Bericht der Kommission des Nationalrates vom 13. Februar 1980'), die mit der Prüfung der parlamentarischen Initiative über das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf beauftragt war.

l 11

Problem

Mit dem Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf verbinden sich bestimmte Erwartungen. Im Hinblick darauf stösst das heutige Abstimmungsverfahren auf Kritik: Mängel werden aufgezeigt und Möglichkeiten, sie zu verbessern. In seiner Botschaft vom 9. April 1975 zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte hat sich der Bundesrat mit dem Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf auseinandergesetzt.2) Er und, seinem Antrag folgend, der Gesetzgeber haben sich damals, in Kenntnis aller Erwartungen und Kritik, für den bestehenden Zustand, für das heutige Abstimmungsverfahren, ausgesprochen.3)

12 Am 13. Dezember 1978 reichte Nationalrat Muheim eine in die Form des ausgearbeiteten Entwurfs gekleidete parlamentarische Initiative ein. Diese bezweckt, durch Änderung der Bundesverfassung (Art. 121 Abs. 6, Art. 123 Abs. 1) und des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 19764) über die politischen Rechte (Art. 15 Abs. 3, Art. 76) das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf wie folgt zu ändern: In der (einzigen) Abstimmung werden den Stimmberechtigten auf dem gleichen Stimmzettel folgende Fragen vorgelegt: - Wollen Sie die Volksinitiative annehmen?

- Für den Fall, dass die Volksinitiative verworfen werden sollte: Wollen Sie den Gegenentwurf der Bundesversammlung annehmen?

1981-661

163

Gültig sind Stimmzettel, die eine oder beide Fragen mit «Ja» oder «Nein» beantworten.

Die Volksinitiative ist angenommen, wenn ihr mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmt.

Der Gegenentwurf ist angenommen, wenn ihm mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmt und die Volksinitiative zurückgezogen oder verworfen worden ist.

Wenn demnach mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sowohl der Volksinitiative als auch dem Gegenvorschlag zustimmt, ist nur die Volksinitiative angenommen.

13 Am 13. Februar 1980 legte die mit der Prüfung der parlamentarischen Initiative beauftragte Kommission des Nationalrates einen Gegenvorschlag vor. Dieser bezweckt, durch Änderung des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 19765' über die politischen Rechte (Art. 76) und des Geschäftsverkehrsgesetzes6' (Art. 27 Abs. 3 zweiter Satz) das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf wie folgt zu ändern: In einer Vorabstimmung werden den Stimmberechtigten auf dem gleichen Stimmzettel folgende Fragen vorgelegt: - Ziehen Sie die Volksinitiative dem Gegenentwurf vor?

oder - Ziehen Sie den Gegenentwurf der Volksinitiative vor?

Gültig sind nur Stimmzettel, die eine der beiden Fragen mit «Ja» beantworten.

Zur Hauptabstimmung, die spätestens sechs Monate nach der Vorabstimmung stattfindet, gelangt jene Vorlage (Volksinitiative oder Gegenentwurf), welche die Mehrheit der in der Vorabstimmung gültigen Ja-Stimmen erzielt.

Die Vorlage ist angenommen, wenn ihr (in der Hauptabstimmung) mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände zustimmt.

14 Am 27. Juni 1980 stellte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement den Bericht der Kommission des Nationalrates in deren Auftrag den Kantonsregierungen und den politischen Parteien zur Vernehmlassung zu, mit der Einladung, folgende Fragen zu beantworten: Soll das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf geändert werden?

Wenn ja, warum und in welchem Sinne: - nach der Initiative Muheim?

oder - nach dem Gegenvorschlag der Kommission?

oder - nach einer ändern Variante, gegebenenfalls nach welcher?

24 der 26 Kantonsregierungen und 11 der 15 in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien haben geantwortet. Einige Organisationen haben von

164

sich aus geantwortet; ihre Argumente und Vorschläge decken sich mit jenen der offiziell befragten Kantonsregierungen und politischen Parteien.

15 Unserer Stellungnahme im Sinne von Artikel 21sePties Absatz 2 des Geschäftsverkehrsgesetzes ') liegt folgendes Problem zugrunde : Hat die durch die parlamentarische Initiative ausgelöste, in der Kommission des Nationalrates und namentlich im Vernehmlassungsverfahren ausgetragene Diskussion Gesichtspunkte zutage gefördert, die es rechtfertigen, auf den bei der Vorbereitung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vertretenen Standpunkt zurückzukommen, gegebenenfalls in welchem Sinne?

2

Problembeurteilung

21

Erwartungen

Mit dem Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf verbinden sich demokratische, föderalistische und abstimmungstechnisch-praktische : Erwartungen.8)

211

Demokratische Erwartungen

Das Abstimmungsverfahren soll gewährleisten, dass die Stimmberechtigten ihren tatsächlichen Willen frei und differenziert äussern - möglichst viele der nachfolgenden 13 Wertvorstellungen ausdrücken - können.

Stehen eine Volksinitiative (A), ein Gegenentwurf (B) und der bestehende Zustand (C) einander gegenüber, so lassen sich 13 Wertvorstellungen - Präferenzen (>), Indifferenzen ( = ), Verbindungen von beiden - denken9): © @ ® ®" ©

A>B>C A>OB B>A>C B>C>A C>A>B

© © ® ® ®

C>B>A A=B>C A=C>B A>B=C B=C>A

© @ ©

B>A=C C>A=B A=B = C

Das Abstimmungsverfahren soll ferner gewährleisten, - dass Volksvorlagen nur als angenommen gelten, wenn ihnen mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden zustimmt ; - dass eine Volksinitiative und ein Gegenentwurf einander gleichgeordnet sind, wogegen der bestehende Zustand beiden gegenüber bevorzugt werden darf; - dass sich das Abstimmungsergebnis klar und eindeutig (widerspruchsfrei) ermitteln lässt.

165

212

Föderalistische Erwartungen

Das Abstimmungsverfahren soll die durch die Kantone verkörperte schweizerische Vielfalt, die durch die Kantone verwirklichte dezentralisierte Staatsstruktur sowie den Schutz der durch die Kantone vertretenen Minderheiten gewährleisten. Der Föderalismus soll deshalb in der Diskussion um das Abstimmungsverfahren als Gegebenheit anerkannt werden. Verfassungsänderungen sollen nur als angenommen gelten, wenn ihnen (auch) mehr als die Hälfte der Stände zustimmt.

213

Abstimmungstechnisch-praktische Erwartungen

Die Abstimmungsfragen sollen für den Stimmberechtigten so klar als möglich und in einer ihm vertrauten Form gestellt sein: sich (wenn möglich) mit «Ja» oder mit «Nein» beantworten lassen.

Das Abstimmungsverfahren soll - bis zu Ende einleuchten, das heisst, seine Tragweite und Auswertung erkennen lassen und keinerlei Anschein von Willkür erwecken; - eine rasche Auswertung (wenn möglich am Abend des Abstimmungstages) gewährleisten; - die Aufgabe der politischen Parteien und anderer Organisationen, die den Abstimmungskampf führen, nicht übermässig erschweren; - taktische Manöver nicht begünstigen; - die Zahl der Abstimmungen nicht vergrössern; - die Abstimmungskosten nicht vergrössern (wobei die Nachteile verfahrensmässig verfälschter Abstimmungsergebnisse mit zu veranschlagen sind).

22 221

Kritik Mängel des heutigen Abstimmungsverfahrens

Das Vernehmlassungsverfahren hat die im staatsrechtlichen Schrifttum erörterten10), von der Presse wiederholt aufgegriffenen11' Mängel des heutigen Abstimmungsverfahrens im wesentlichen bestätigt.

Das heutige Abstimmungsverfahren kann zu Ergebnissen führen, die - so lautet ein Haupteinwand - den «Volkswillen verfälschen».

Nach Artikel 76 Absatz l des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 197612) über die politischen Rechte werden den Stimmberechtigten auf dem gleichen Stimmzettel folgende Fragen vorgelegt: - Wollen Sie die Volksinitiative annehmen? (I) oder - Wollen Sie den Gegenentwurf der Bundesversammlung annehmen? (II) Mit dieser Fragestellung lassen sich von den im Abschnitt 211 genannten 13 Wertvorstellungen nur deren vier ausdrücken, nämlich: 166

1^ ff]

(là

(fìl

A>C>B B>C>A C>A-B A-B-C

mit mit mit

mit

Antwort auf Frage I

Antwort auf Frage II

Ja Nein Nein (leer)

Nein Ja Nein (leer)

Entsprechend beschränkt sich der Abstimmungskampf regelmässig darauf, eine Lösung - die Volksinitiative (A), den Gegenentwurf (B) oder den bestehenden Zustand (C) - zu befürworten, ohne die nicht befürworteten Lösungen in eine Rangfolge zu stellen.

Nach Artikel 76 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 ") über die politischen Rechte sind Stimmzettel gültig, die beide Fragen (I und II) mit «Nein» beantworten, nicht aber - Artikel 76 Absatz 3 - solche, die beide Fragen mit «Ja» beantworten. Das Verbot des doppelten «Ja», verbunden mit der Erlaubnis des doppelten «Nein», spaltet die Befürworter von Änderungen des bestehenden Zustandes in zwei Gruppen. Daher können die Befürworter von 'Änderungen gegenüber den Gegnern eine Mehrheit ausmachen, ohne dass deswegen der bestehende Zustand geändert wird.14) Nach Artikel 123 Absatz l der Bundesverfassung treten Verfassungsänderungen «in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger und von der Mehrheit der Kantone angenommen sind». Das Erfordernis des absoluten Mehrs der gültigen Stimmen führt dazu, dass sich jedes «Ja» zur einen Änderungsvorlage (Volksinitiative oder Gegenentwurf) praktisch als «Nein» zur ändern auswirkt; denn ein «Ja» zur einen Änderungsvorlage erhöht das absolute Mehr für die andere.

Das heutige Abstimmungsverfahren kann - indem es Änderungen hemmt und den bestehenden Zustand begünstigt - die Lösung anstehender Probleme verzögern.

Nicht alle Stimmberechtigten verstehen das heutige Abstimmungsverfahren. Die Staatskanzleien stellen fest, dass die Zahl der ungültigen Stimmen bei Abstimmungen über Volksinitiativen mit Gegenentwurf bis zu zwölfmal höher ist als bei gewöhnlichen Abstimmungen.

222

Verbesserungsmöglichkeiten

Im Vernehmlassungsverfahren haben 16 Kantonsregierungen und 7 politische Parteien eine Änderung des heutigen Abstimmungsverfahrens befürwortet und die nachfolgend skizzierten Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt: Verbesserungsmöglichkeit im Sinne der parlamentarischen Initiative von Nationalrat Muheim befürwortet von der Regierung des Kantons Bern und von folgenden politischen Parteien: FDP/PRO (eventuell), SPS/PS, LdU/AdI, EVP/PEP, PdA/PdT, NA/AN, POCH sowie von einzelnen Organisationen.

167

Verbesserungsmöglichkeit im Sinne des Gegenvorschlags der Kommission des Nationalrates befürwortet von den Regierungen der Kantone Obwalden, Appenzell-Ausserrhoden (eventuell), Appenzell-Innerrhoden (eventuell), St. Gallen und Graubünden (eventuell).

Verbesserungsmöglichkeit im Sinne der abgewandelten parlamentarischen Initiative von Nationalrat Muheim: wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sowohl der Volksinitiative als auch dem Gegenentwurf zustimmt, ist jene Vorlage angenommen, die sowohl mehr Volks- als auch mehr Standesstimmen erzielt; erzielt die eine Vorlage mehr Volks- und die andere mehr Standesstimmen, so soll eine Lösung angestrebt werden, «tendant à faire admettre, par les Chambres, un compromis» ; befürwortet von der Regierung des Kantons Neuenburg.

Verbesserungsmöglichkeit im Sinne des abgewandelten Gegenvorschlags der Kommission des Nationalrates: Erfordernis des Ständemehrs bereits in der Vorabstimmung; befürwortet von der Regierung des Kantons Wallis.

Alternativabstimmung, mit Erlaubnis des doppelten «Ja»: wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sowohl der Volksinitiative als auch dem Gegenentwurf zustimmt, ist jene Vorlage angenommen, die mehr Fotostimmen erzielt; befürwortet von den Regierungen der Kantone Zürich und Glarus.

Alternativabstimmung, mit Erlaubnis des doppelten «Ja»: wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sowohl der Volksinitiative als auch dem Gegenentwurf zustimmt, ist jene Vorlage angenommen, die mehr Standesstimmen erzielt; befürwortet von der Regierung des Kantons Jura.

Bedingte Eventualabstimmung, mit Erlaubnis des doppelten «Ja»: im Hinblick auf den Fall, dass mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sowohl der Volksinitiative als auch dem Gegenentwurf zustimmt, wird die Zusatzfrage gestellt, welche Vorlage als angenommen gelten soll; befürwortet von den Regierungen der Kantone Luzern, Uri, Basel-Stadt und Basel-Landschaft sowie von einzelnen Organisationen.

Bedingte Hauptabstimmung: wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände einer Vorlage zustimmt, ist diese angenommen; wenn nicht, findet eine zweite Abstimmung über jene Vorlage statt, die mehr Volksstimmen erzielt hat; befürwortet von der Regierung des Kantons Zug.

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Qualifizierte bedingte Hauptabstimmung: wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände einer Vorlage zustimmt, ist diese angenommen; wenn nicht, findet eine zweite Abstimmung über jene Vorlage statt, die mehr Volksstimmen erzielt hat, vorausgesetzt, die Mehrheit der gültig Stimmenden habe sich für eine Änderung des bestehenden Zustandes ausgesprochen; befürwortet von der Regierung des Kantons Thurgau.

Abstimmung über die Frage, ob der bestehende Zustand geändert werden soll: die Frage ist bejaht, wenn mehr als die Hälfte der gültig Stimmenden und der Stände sie bejaht; in diesem Fall findet eine zweite Abstimmung über die Volksinitiative und den Gegenentwurf statt; angenommen ist jene Vorlage, der die Mehrheit der gültig Stimmenden und der Stände zunimmt; befürwortet von der Regierung des Kantons Freiburg.

Abstimmung über den Gegenentwurf: nur wenn er verworfen wird, findet eine Abstimmung über die Volksinitiative statt; befürwortet von der Regierung des Kantons Schaffhausen.

Gleichzeitige Eventualabstimmung: Abstimmung über die Frage, ob die Volksinitiative oder der Gegenentwurf bevorzugt werde, und gleichzeitig über die Frage, ob die Volksinitiative, falls bevorzugt, angenommen werde oder ob der Gegenentwurf, falls bevorzugt, angenommen werde ; befürwortet vom Partito socialista autonomo.

223

Anhang : Befürwortung des heutigen Abstimmungsverf ahrens

Im Vernehmlassungsverfahren haben 8 Kantonsregierungen, 4 politische Parteien sowie einzelne Organisationen das heutige Abstimmungsverfahren befürwortet: die Regierungen der Kantone Schwyz, Solothurn, Appenzell-Ausserrhoden, Graubünden, Tessin, Waadt und Genf sowie folgende politische Parteien: CVP/PDC, FDP/PRD, SVP/UDC, LP/PL.

23

Beurteilung der Erwartungen und der Kritik

Das heutige Abstimmungsverfahren erfüllt die föderalistischen und die abstimmungstechnisch-praktischen Erwartungen in hohem Masse, nicht aber darin ist sich die Kritik im wesentlichen einig - alle demokratischen Erwartungen. Dazu ist dreierlei zu bemerken.

169

231 Neben der im staatsrechtlichen Schrifttum und in der Presse erörterten staatsrechtlichen Frage, welches Abstimmungsverfahren die demokratischen, föderalistischen und abstimmungstechnisch-praktischen Erwartungen am besten erfülle, stellt sich die politische Frage, welches Abstimmungsverfahren die grösste Zustimmung finde.

Im Vernehmlassungsverfahren hat keine der aufgezeigten Verbesserungsmöglichkeiten eine überzeugende Zustimmung gefunden: weder jene im Sinne der parlamentarischen Initiative von Nationalrat Muheim noch jene im Sinne des Gegenvorschlags der Kommission des Nationalrates noch irgendeine andere.

Die grösste Zustimmung hat das heutige Abstimmungsverfahren gefunden. Daraus erhellt, wie fragwürdig die These sein kann, die den Gegnern eines bestehenden Zustandes eine gemeinsame Haltung unterstellt; auf dieser These aber beruht weitgehend die Kritik am heutigen Abstimmungsverfahren.

Die im Vernehmlassungsverfahren aufgezeigten Verbesserungsmöglichkeiten schliessen einander ganz oder teilweise aus ; wer einen Mangel des heutigen Abstimmungsverfahrens zu beheben sucht, läuft Gefahr, dadurch einen neuen zu schaffen.

232

Die Mängel des heutigen Abstimmungsverfahrens aktualisieren sich eher selten, wie aus nachfolgender Zusammenstellung erhellt. 15> Abstimmungen über Volksinitiativen mit Gegenentwurf von 1891 bis 1981 Zeitspanne

1891-1900 1901-1910 1911-1920 1921-1930 1931-1940 1941-1950 1951-1960 1961-1970 1971-1980 1981

170

Volksinitiative angenommen Gegenentwurf verworfen

Volksinitiative verworfen Gegenentwurf angenommen

Volksinitiative verworfen Gegenentwurf verworfen

l © l@ l ® l © l© 2 ©l®

l © l © 2 @J©

(T)

Verbot der Errichtung von Spielbanken (Änderung von Art. 35 BV)

@

Getreideversorgung (Aufnahme eines Art. 23bis BV)

(D

Private Rüstungsindustrie (Änderung von Art. 41 B V)

@

Sicherstellung der Kaufkraft und Vollbeschäftigung; Freigeldinitiative (Änderung von Art. 39 BV)

(S)

Schutz der Mieter und Konsumenten; Weiterführung der Preiskontrolle (Verlängerung des Verfassungszusatzes vom 26. Sept. 1952)

(D

Schaffung einer Volkspension (Änderung von Art. 34iuater BV)

©

Soziale Krankenversicherung (Änderung von Art. 34bis und 34iuin
(s)

Förderung des Wohnungsbaues (Aufnahme eines Art. 34sexies BV)

@

Neuordnung des Staatsvertragsreferendums (Änderung von Art. 89 BV)

@

Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Änderung von Art. 34ter BV)

®

Mieterschutz (Aufnahme eines Art. 31s«xiss BV)

In den Abstimmungen © und @ (zit. in Anm. 14) haben die Befürworter von Änderungen des bestehenden Zustandes gegenüber den Gegnern eine Mehrheit ausgemacht; dadurch ist jedoch die Frage, ob den Befürwortern von Änderungen eine gemeinsame Haltung unterstellt werden dürfe, nicht beantwortet.

233 Gegenstand des Vernehmlasstmgsverfahrens war das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf. Von der Sache her erwies es sich indes als unumgänglich, dass staatspolitische Grundfragen miteinbezogen wurden, namentlich betreffend - die Frage des Föderalismus (konkretisiert als Frage nach dem Verhältnis zwischen Volks- und Standesstimmen) ; - .die Frage nach dem Sinn von Gegenentwürfen; - das Verhältnis zwischen der Bundesversammlung und den Initianten; - das Verhältnis zwischen den Initianten und dem Initiativkomitee; - die Stellung der politischen Parteien im Abstimmungsverfahren.

Werden solche staatspolitischen Grundfragen nicht in die Diskussion über das Abstimmungsverfahren miteinbezogen (sondern als im Sinne des geltenden Rechts beantwortet vorausgesetzt), so dürfte sich auch weiterhin kaum jene überzeugende Zustimmung zu einer Verbesserungsmöglichkeit finden lassen, die als politische Grundlage taugt, um das heutige Abstimmungsverfahren zu ändern.

Werden solche staatspolitischen Grundfragen in die Diskussion über das Abstimmungsverfahren miteinbezogen, so wird - veranlasst durch ein Sonderproblem - jene Grundsatzdiskussion teilweise vorweggenommen, die in naher Zukunft, im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung ausgelöst werden sollte.

171

Zusammenfassend beurteilen wir das im Abschnitt l umschriebene Problem wie folgt: Die durch die parlamentarische Initiative ausgelöste, in der Kommission des Nationalrates und namentlich im Vernehmlassungsverfahren ausgetragene Diskussion über das Abstimmungsverfahren hat bezüglich Erwartungen und Kritik keine wesentlich neuen Gesichtspunkte zutage gefördert. Wohl wird das heutige Abstimmungsverfahren in den meisten Vernehmlassungen als änderungsbedürftig gewertet; dennoch vermag es eine grössere Zustimmung zu finden als irgendeine der aufgezeigten Verbesserungsmöglichkeiten.

Die Diskussion über das Abstimmungsverfahren ist zugleich eine Diskussion über staatspolitische Grundfragen. Sie wird sinnvollerweise nicht jetzt gesondert, sondern im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung umfassend geführt.

3

Standpunkt des Bundesrates

Im Rahmen der eingeleiteten Totalrevision der Bundesverfassung werden auch Neuerungen im Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf diskutiert. Es empfiehlt sich nicht, das heutige Abstimmungsverfahren vorher zu ändern.

12. August 1981

172

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Purgier Der Bundeskanzler: Buser

Anmerkungen

»BB11980I 1395 ff.

2

> BEI 1975 11352 ff. (Art. 74)

3

4

>BB1 1975 I 1356 (vor Art. 75), 1381 unten f. (Art. 74); Art. 76 des BG vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (SR 161.1).

> SR 161.1

5

>SR 161.1

6

>SR 171.11

7

>SR 171.11

''Etienne Grisel, Le mode de votation sur l'initiative populaire et le contre-projet en droit fédéral, Zbl. 80 (1979) 554 ff. (1.2); Hans Huber, Rechtsgutachten über die Fragestellung an die Stimmberechtigten* auf dem Stimmzettel in der kantonalen Abstimmung über das «Gesetz über die Revision des Verfahrens in Zivilsachen» (Muri bei Bern, 7. Febr. 1976) l ff.; Bericht des Rechtsdienstes der Bundeskanzlei zur parlamentarischen Einzelinitiative NR Muheim (Bern, Mai 1979) 27 f. Ähnlich: die meisten Vernehmlassungen.

9)

Christoph Haab, Abstimmung über Initiative und Gegenvorschlag: Das Verfahren mit bedingter Eventualabstimmung, Zbl. 77 (1976) 380.

10

' Jean-François Aubert, Traité de droit constitutionnel suisse I (Paris/Neuchâtel 1967) 159 ff., n o s 410ff.; Walther Burckhardt, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung (3. A. Bern 1931) Art. 121, S. 817 f. (5); Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht (Zürich 1949) 724 unten f.; Etienne Grisel (zit. in Anm. 8) 560ff.

(2.1.3); Christoph Haab (zit. in Anm. 9) 377 f. (IA); Adolf Jähr, Das Abstimmungsproblem bei Initiativen (Zusammenstellung einer Artikelserie des St. Galler Tagblattes, 1975) l ff.; Josef Keller, Initiative und Gegenentwurf: Wie soll die Abstimmungsfrage formuliert werden?, Zbl. 76 (1975) 177 ff.

n)

Namentlich am 24. Oktober 1979 in allen grösseren schweizerischen Tageszeitungen, im Anschluss an die Pressekonferenz der Kommission des Nationalrates vom 23. Oktober 1979.

12

>SR 161.1

13

>SR 161.1

14

> Beispiele: Eidgenössische Volksabstimmung vom 8. Dezember 1974 betreffend den BB über die soziale Krankenversicherung und die Änderung der Bundesverfassung auf dem Gebiet der Kranken-, Unfall- und Mutterschaftsversicherung (BB1 1975 I 486); eidgenössische Volksabstimmung vom 25. September 1977 über die Volksinitiative «für einen wirksamen Mieterschutz» und Gegenvorschlag (BB1 1977 III 839).

"'Referendumsvorlagen, Dringliche Bundesbeschlüsse, Volksinitiativen, Volksabstimmungen 1848-1974; Nachtrag 1. Mai-15. Oktober 1980; beides herausgegeben von der Schweizerischen Bundeskanzlei.

7933

173

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Parlamentarische Initiative über das Abstimmungsverfahren bei Volksinitiativen mit Gegenentwurf Stellungnahme des Bundesrates vom 12. August 1981

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1981

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

29.09.1981

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163-173

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