Das schweizerische Sicherheitsdispositiv und der Fall Mohamed Achraf ­ eine zusammenfassende Beurteilung aus der Perspektive der parlamentarischen Oberaufsicht Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation (Zusammenfassung) vom 16. November 2005

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Bericht 1

Einleitung

Ende Oktober 2004 war aus der internationalen wie auch aus der nationalen Presse zu entnehmen, dass die spanische Polizei eine Zelle mutmasslicher islamischer Terroristen aufgedeckt hatte, welche ein Attentat auf den nationalen Strafgerichtshof («Audiencia nacional») geplant haben soll. Als Chef der Zelle wurde ein Mann namens Mohamed Achraf genannt, der zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz inhaftiert war. Es stellte sich heraus, dass Mohamed Achraf aufgrund eines Verdachts auf ein Bagatelldelikt am 28. August 2004 im Flughafen Zürich verhaftet worden war und sich wegen seinem abgewiesenen Asylgesuch zum Zeitpunkt der Pressemeldungen in Ausschaffungshaft befand.

Diese Nachrichten wurden in der Öffentlichkeit kritisch, aber auch kontrovers diskutiert. Viele Medien warfen die Frage auf, ob der mutmasslich sehr gefährliche Terrorist in der Schweiz aus der Haft hätte entlassen werden können, bevor die spanischen Justizbehörden am 19. Oktober 2004 die schweizerischen Justizbehörden offiziell über ihren Terrorismusverdacht informierten.

Gemäss den Pressemeldungen zeigte sich der Direktor der Zürcher Gefängnisse in einer ersten Reaktion erstaunt, dass er nicht früher durch die Bundesanwaltschaft informiert wurde und von der mutmasslichen Gefährlichkeit Mohamed Achrafs erst aus den Medien erfuhr. Die Bundesanwaltschaft liess ihrerseits verlauten, dass sie erst am 20. Oktober 2004 über den Fall informiert wurde. Den Medienberichten und danach der Medienmitteilung des EJPD vom 3. November 2004 konnte jedoch entnommen werden, dass der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) des Bundesamtes für Polizei (fedpol; EJPD) sich schon vor dem Publikwerden des Falls mit diesem befasste und dazu im Kontakt mit seinen spanischen Partnerdiensten stand.

Das EJPD bezeichnete seinerseits in der erwähnten Medienmitteilung die Massnahmen der schweizerischen Behörden sogar als «Fahndungserfolg»1.

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Untersuchung der Geschäftsprüfungsdelegation

Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) übt die parlamentarische Oberaufsicht über den Bereich des Staatsschutzes und der Nachrichtendienste aus (Art. 53 Abs. 2 Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung; ParlG, SR 171.10).

Am 22. November 2004 beschloss die GPDel, den Fall Achraf aus der Perspektive der Oberaufsicht zu untersuchen. Wäre Mohamed Achraf entlassen oder in sein vermutliches Heimatland Algerien ausgeschafft worden, bevor die Bundesbehörden seinen Aufenthaltsort feststellen konnten, so hätte dies eine allfällige Beeinträchtigung der internationalen Sicherheit wie auch des internationalen Images der Schweiz bedeuten können. Aber auch wenn sich der Terrorismusverdacht gegen Mohamed Achraf nicht erhärten lassen sollte, hätte seine vorzeitige Freilassung eine bedeutende politische Dimension aufgewiesen. Ein besonderes Augenmerk richtete 1

Vgl. die Medienmitteilung des EJPD vom 3.11.2004 «Fall Achraf: Bundesrat Blocher informiert».

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die GPDel auf die Zusammenarbeit und die Koordination der verschiedenen involvierten Bundesstellen. Damit erfüllte sie ebenfalls den Auftrag der GPK-N, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bundesstellen im Sicherheitsbereich zu untersuchen.

Ihre umfangreiche Untersuchung veranlasste die GPDel zu verschiedenen Feststellungen und Empfehlungen, die sie am 16. November 2005 direkt an den Bundesrat richtete.

Aufgrund des Detaillierungsgrads des Schlussberichts der GPDel bestehen aus ihrer Sicht überwiegende Geheimhaltungsinteressen, die gegen eine Veröffentlichung des Schlussberichts sprechen. Deshalb hat die GPDel beschlossen, ihre Erkenntnisse zusammenzufassen und in dieser Form zu veröffentlichen. Die nachfolgende Zusammenfassung enthält alle wichtigen Erkenntnisse und Empfehlungen des Schlussberichts der GPDel an den Bundesrat.

Die Geschäftsprüfungskommissionen haben an ihrer gemeinsamen Sitzung vom 7. Dezember 2005 diese Zusammenfassung zur Kenntnis genommen und ihre Publikation beschlossen.

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Wichtigste Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

Die Identität und der Aufenthaltsort vom Mohamed Achraf wurden durch die Bundesbehörden in Zusammenarbeit mit den Kantonen rechtzeitig entdeckt und in der Folge konnte er an Spanien ausgeliefert werden. Die GPDel stellt in ihrer Untersuchung anhand dieses Falls jedoch fest, dass in verschiedenen Bereichen des schweizerischen Sicherheitsdispositivs bei den involvierten Bundesstellen sowie bei den Schnittstellen zu den Kantonen Optimierungsbedarf besteht. Gerade im Bereich des gut organisierten und professionell agierenden Terrorismus können auch kleinere Mängel schwerwiegende Konsequenzen haben.

3.1

Zusammenarbeit der Bundesstellen

Die GPDel stellte fest, dass der DAP ab anfangs August 2004 mehrere Anfragen seines spanischen Partnerdienstes zu Mohamed Achraf erhielt und in der Folge nachrichtendienstliche Abklärungen vornahm. Nachdem der DAP über eine Anfrage an die Kantone am 8. September 2004 festgestellt hatte, dass sich Mohamed Achraf im Kanton Zürich in Ausschaffungshaft befand, wurde der Kreis der über die Anfragen informierten schweizerischen Behörden am 16. September 2004 auf den Fachdienst «Ideologisch motivierte Delikte» der Kantonspolizei Zürich (IMD) ausgeweitet. Bis zum 19. Oktober 2004 waren also nur diese beiden Dienststellen über die spanischen Anfragen und die darin enthaltenen Angaben im Detail informiert.

Sowohl die Bundeskriminalpolizei (BKP) wie auch der Strategische Nachrichtendienst (SND) erhielten von anderen ausländischen Partnerdiensten Anfragen und Informationen zu Mohamed Achraf. Der SND leitete diese an die BKP weiter. Ein Informationsaustausch zwischen der BKP und dem DAP sowie zwischen dem SND und dem DAP fand jedoch bis zur offiziellen Information der schweizerischen Behörden durch den spanischen Justizminister nicht statt. Im konkreten Fall hatte dies keine schwerwiegenden Konsequenzen, doch vermag diese Situation aus grund-

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sätzlichen Überlegungen nicht zu befriedigen. Die GPDel richtete deshalb folgende Empfehlung an den Bundesrat: Empfehlung 1 Die Geschäftsprüfungsdelegation fordert den Bundesrat auf, Massnahmen zu treffen, die einen schnellen und umfassenden Informationsaustausch zwischen der Bundeskriminalpolizei und dem Dienst für Analyse und Prävention im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeiten gewährleisten.

Auch die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen dem DAP und dem SND müssen aus Sicht der GPDel dringend verbessert werden.

3.2

Einschätzung der spanischen Anfragen durch den DAP und Behandlungsdauer

Meldungen ausländischer Partnerdienste mit einem mutmasslichen terroristischen Hintergrund und einem Bezug zur Schweiz ­ wie die Meldungen des spanischen Nachrichtendienstes zu Mohamed Achraf ­ bedürfen aus Sicht der GPDel besonderer Aufmerksamkeit. Sie weisen nicht nur ­ wie andere Meldungen auch ­ auf ein mögliches Sicherheitsrisiko hin, sondern beinhalten auch ein Risikopotential für die Reputation der Schweiz. Die GPDel ist deshalb der Ansicht, dass den Meldungen aus Spanien durch den DAP eine grössere Bedeutung hätte beigemessen werden müssen und fordert für die Zukunft entsprechende Massnahmen. Im Weitern beurteilt die Delegation die Dauer der verschiedenen Verfahrensschritte wie auch die resultierende Gesamtdauer der Bearbeitung der spanischen Meldungen beim DAP als relativ lang. Bei einer anderen Konstellation wären die ergriffenen Massnahmen allenfalls zu spät wirksam geworden. Es ist deshalb zu prüfen, inwieweit durch organisatorische oder allenfalls personelle Massnahmen die Verfahrensdauer optimiert werden kann.

Die GPDel richtete folgende Empfehlung an den Bundesrat: Empfehlung 2 Die Geschäftsprüfungsdelegation fordert den Bundesrat auf, Vorkehrungen zu treffen, damit in Zukunft Meldungen ausländischer Partnerdienste mit einer politischen Dimension für die Schweiz systematisch eine grössere Bedeutung beigemessen wird und sie rascher behandelt werden. Unter solchen Meldungen sind ­ wie bei den Meldungen im Fall Mohamed Achraf ­ inbesondere Meldungen zu verstehen, die einen Bezug zur Schweiz und Hinweise auf terroristische Handlungen aufweisen. Die Zuverlässigkeit des ausländischen Partnerdienstes ist bei der Bewertung seiner Meldungen mit einzubeziehen.

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3.3

Informationsfluss im DAP

Die Einschätzung der Anfragen des spanischen Partnerdienstes durch die mit der Bearbeitung betrauten Stellen im DAP führte auch dazu, dass diese Anfragen und die laufenden Abklärungen dem Leiter des DAP wie auch dem Direktor fedpol bis zum 19. Oktober 2004 nicht bekannt waren. Diese Informationen blieben bis zu diesem Zeitpunkt auf der Stufe des zuständigen Fachbereichsleiters. Erst als dem Vorsteher des EJPD ein Gespräch des spanischen Justizministers angekündigt wurde und der Leiter DAP der Frage nachging, um welchen Fall sich das angekündigte Telefongespräch drehen könnte, erfuhr der Leiter DAP von Mohamed Achraf. Er informierte daraufhin auch den Direktor fedpol.

Die GPDel ist aufgrund ihrer Einschätzung überzeugt, dass zumindest der Leiter DAP frühzeitig über den Fall hätte informiert werden müssen, natürlich mit all den notwendigen Vorbehalten wie dem noch nicht bestätigten Terrorismustatverdacht.

Empfehlung 3 Die Geschäftsprüfungsdelegation fordert den Bundesrat auf, organisatorische Vorkehrungen im Dienst für Analyse und Prävention (DAP) zu treffen, damit der Leiter DAP und allenfalls der Direktor des Bundesamtes für Polizei über Meldungen im Sinne der Empfehlung 2 rechtzeitig informiert werden.

3.4

Feststellung des Aufenthaltsorts einer inhaftierten Person

Obwohl der spanische Partnerdienst schon in seinen ersten Anfragen angab, dass Mohamed Achraf sich in der Schweiz aufhalte ­ allerdings ohne nähere Angaben2 ­, überprüfte der DAP die Möglichkeit einer Inhaftierung in der Schweiz erst, als der spanische Partnerdienst ihn darauf hinwies. Die Anfrage an die Kantone erfolgte über ein Kreisschreiben. Jeder einzelne Kanton musste entsprechende Abklärungen durchführen. Das Verfahren ist relativ aufwändig und wird dementsprechend nur bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte durchgeführt.

Die GPDel ist der Ansicht, dass dieses Verfahren den heutigen Anforderungen nicht mehr genügt. Der DAP muss schnell, unkompliziert und somit auch systematisch bei Aufenthaltsnachforschungen feststellen können, ob sich die gesuchte Person in der Schweiz in Haft befindet. Die Delegation erachtet es deshalb als dringend, dass ein System geschaffen wird, das eine systematische und schnelle Aufenthaltsüberprüfung erlaubt. Die Schaffung einer entsprechenden Datenbank wurde durch den Vorsteher EJPD geprüft, doch aufgrund der Kosten im Frühjahr 2005 verworfen.

Das Problem besteht jedoch weiterhin. Ein Verzicht auf jegliche Massnahmen, um die aktuellen Schnittstellen zu den Kantonen zu verbessern, ist aus Sicht der GPDel keine Lösung. Die betroffenen Verwaltungsstellen haben nach Alternativen zu suchen, welche eine schnelle und systematische Abklärung einer allfälligen Inhaftierung einer Person in den schweizerischen Gefängnissen ermöglichen.

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Die Meldungen des spanischen Nachrichtendienstes wiesen jedoch auch darauf hin, dass sich Mohamed Achraf bis Ende Juli 2004 in Spanien aufgehalten habe.

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Empfehlung 4 Die Geschäftsprüfungsdelegation fordert den Bundesrat auf, Lösungen zu erarbeiten, welche den schweizerischen Sicherheitsdiensten ermöglichen würden, eine allfällige Inhaftierung einer Person in der Schweiz schnell und systematisch abzuklären.

4

Weiteres Vorgehen

Die Geschäftsprüfungsdelegation fordert den Bundesrat auf, bis Ende März 2006 zu ihrem Bericht und den Empfehlungen Stellung zu nehmen.

Im Bereich der Informationsbeschaffung und -auswertung ist die von der DPDel schon seit längerem geforderte Koordination zwischen den einzelnen Diensten unbedingt zu stärken. Hier stehen zurzeit verschiedene Reformprojekte an3, die von der GPDel im Rahmen ihrer Oberaufsicht begleitet werden. Die Delegation hat deshalb beschlossen, im Zusammenhang mit ihren Feststellungen zur Zusammenarbeit der Dienste im Fall Mohamed Achraf noch keine weiteren Empfehlungen in diesem Bereich an den Bundesrat zu richten, sondern diese im Rahmen der Reformprojekte einzubringen.

16. November 2005

Im Namen der Geschäftsprüfungsdelegation Die Präsidentin: Helen Leumann-Würsch, Ständerätin Der stv. Sekretär: Christoph Albrecht

3

Vgl. die Motion der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates «Umfassende Gesetzesgrundlage für das System der Nachrichtendienste» (05.3001) und die Medienmitteilung des Bundesrates vom 22.6.2005 zur sicherheitspolitischen Führung des Bundes und Kooperation der Nachrichtendienste.

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Abkürzungsverzeichnis Abs.

Art.

BKP Bst.

DAP EJPD fedpol GPDel GPK-N GPK-S IMD ParlG SND SR Stv.

Vgl.

z.B.

Absatz Artikel Bundeskriminalpolizei Buchstabe Dienst für Analyse und Prävention Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Bundesamt für Polizei Geschäftsprüfungsdelegation Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Fachdienst Ideologisch motivierte Delikte der Kantonspolizei Zürich Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz); SR 171.10 Strategischer Nachrichtendienst Systematische Rechtssammlung stellvertretende Vergleiche Zum Beispiel

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