Evaluation der Rolle des BSV in der Invalidenversicherung Bericht von Interface Institut für Politikstudien zuhanden der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK) vom 1. Juni 2005

2005-2334

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Zusammenfassung Fragestellung und Methodisches Vorgehen Die Invalidenversicherung (IV) verzeichnet seit den Neunzigerjahren ein starkes Rentenwachstum. Aus finanziellen und auch aus sozialpolitischen Gründen ist die starke Zunahme der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger problematisch. Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (GPK-S) hat vor diesem Hintergrund die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) beauftragt, die Rolle des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) in der IV zu evaluieren. Die vorliegende Evaluation untersucht im Auftrag der PVK zwei Aspekte: ­

Einerseits soll aufgezeigt werden, welche konkreten Aufgaben das BSV im Bereich der Aufsicht über die kantonalen IV-Stellen (IVST) hat, wie das BSV diese Aufgaben wahrnimmt und welche Wirkungen damit verbunden sind.

­

Andererseits soll untersucht werden, wie und mit welchen Folgen das BSV die Aufgabe wahrnimmt, die Gesetzgebung gemäss Artikel 11 der Organisationsverordnung des Eidgenössischen Departements des Innern (OV-EDI) weiterzuentwickeln.

Untersucht wurde der Zeitraum zwischen 1995 und heute. Als Datengrundlage dienten 20 Expertengespräche und zahlreiche Dokumente.1 Im Bereich Aufsicht wurden die Produkte der Aufsichtsarbeit des BSV und bestehende Expertisen und Studien zum Thema Aufsicht in der IV analysiert. Die Dokumentenanalyse zum Untersuchungsbereich Gesetzgebung umfasst die Auswertung der Vernehmlassungsvorlagen zur 4. und zur 5. IVG-Revision sowie die Gesetzgebung.

Zentrale Ergebnisse Nachfolgend fassen wir die Ergebnisse der Evaluation entlang den untersuchungsleitenden Fragestellungen zusammen.

Welche Konsequenzen haben die gesetzlichen Grundlagen für die Aufsicht des BSV über die IV?

Der Gesetzgeber gibt dem Bund eine umfassende Aufsichtkompetenz über die IV.

Diese schliesst die fachliche, die administrative und die finanzielle Aufsicht ein.

Zudem stehen repressive Mittel zur Verfügung. Die bundesrechtlichen Aufsichtskompetenzen gehen über eine ledigliche Kontrolle des Vollzugs durch die Kantone hinaus. Gleichzeitig lässt der Gesetzgeber dem BSV einen grossen Handlungsspielraum bei der konkreten Umsetzung der Aufsicht.

1

Experteninterviews mit: Verantwortlichen des BSV im Geschäftsfeld Invalidenversicherung, des Bereichs Forschung und Entwicklung sowie dem Direktor des BSV, mit den Leitern von acht ausgewählten kantonalen IVST, dem Präsident der IVSK, Vertreter/-innen von Behindertenorganisationen, zwei Vertretern des seco, Direktion für Arbeit und einem Sozialversicherungsexperten.

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Die Aufgabe der kantonalen Aufsichtsbehörde umfasst die Wahl der IVST-Leitung und Regelung der internen Organisation. Die Aufteilung der Aufsichtskompetenzen von Bund und Kantonen greifen somit ineinander. Das BSV ist bei der Umsetzung der Aufsicht auf die Kooperation mit der kantonalen Aufsichtsbehörde angewiesen.

Gleichzeitig benötigen die kantonalen Aufsichtsbehörden fundierte Ergebnisse der fachlichen Aufsicht des BSV, um Einfluss auf die Führung und Organisation der IVST zu nehmen. In der Praxis zeigen sich diesbezüglich Schwierigkeiten. Einerseits werden die kantonalen Aufsichtsbehörden nicht mit allen Aufsichtsdaten, die zur Verfügung stehen, dokumentiert. Andererseits ist die Abgrenzung zwischen fachlicher Aufsicht (Bundeskompetenz) und organisatorischer Aufsicht (kantonale Kompetenz) in der Praxis oft unklar, was teilweise zu einem Aufsichtsvakuum führt.

Wie ist der Vollzug der Aufsicht durch das BSV zu beurteilen?

Bis ins Jahr 2000 hat das BSV seine fachliche Aufsicht über den Vollzug der IV nur punktuell wahrgenommen. Im Bereich der retrospektiven Aufsichtsinstrumente verfügte das BSV lediglich über die alle fünf Jahre stattfindende materielle Geschäftsprüfung. Dem Instrument wurden zudem erhebliche Mängel attestiert.2 Auch über präventive Aufsichtsinstrumente fand die Sicherstellung des einheitlichen und gesetzeskonformen Vollzugs nur teilweise statt. Die Weisungen waren in dieser Phase nicht aktualisiert. Erst Ende der Neunzigerjahre wurde das Schulungsangebot für das IVST-Personal aufgebaut. Verschiedene Faktoren haben zu dieser mangelhaften Aufsichtstätigkeit beigetragen. Erstens war die Aufsicht BSV-intern auf mindestens fünf Sektionen aufgeteilt. Zweitens erschwerte die Tatsache, dass in den IVST nebeneinander zahlreiche nicht kompatible EDV-Systeme bestanden, die Möglichkeiten zur Prüfung der Geschäftstätigkeit der IVST. Drittens stiess das BSV beim Aufbau neuer Aufsichtsinstrumente bei den IVST anfänglich auf Misstrauen und zum Teil auf Widerstand. Die Bestrebungen des BSV wurden als Eingriff in den föderalistischen Vollzug wahrgenommen.

Seit 2000 nimmt das BSV seine fachliche Aufsichtsfunktion verstärkt wahr. Es hat verschiedene neue Instrumente implementiert und bestehende verbessert. Einige Instrumente weisen jedoch nach wie vor Mängel auf, sodass ihre Aussagekraft
eingeschränkt ist. Das zentrale Problem heute liegt jedoch darin, dass die einzelnen Instrumente nicht in eine Gesamtstrategie der fachlichen Aufsicht eingebettet sind.

Entsprechend werden die einzelnen Aufsichtsergebnisse nicht zu einer fachlichen Gesamtbeurteilung des IV-Vollzugs durch eine IVST zusammengeführt.

Im Rahmen der administrativen Aufsicht führte das BSV Ende der Neunzigerjahre ein Berechnungsmodell zur Personalausstattung der einzelnen IVST ein. Dieses so genannte Ressourcenmodell gewährleistet gesamtschweizerisch gleiche Bedingungen, was die Personalressourcen für den Vollzug auf den IVST anbelangt. Das Berechnungsmodell stellt unbestritten eine gute Grundlage für die proportionale Verteilung der Personenressourcen auf die kantonalen IVST dar.

2

Ernst & Young 2000.

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Die finanzielle Aufsicht nimmt das BSV wahr, indem es jährlich den Voranschlag der IVST für die Verwaltungskosten und die Jahresrechnung genehmigt. Diese Praxis der differenzierten Budgetierung der Verwaltungskosten ist wenig effizient.

Sie entspricht auch kaum einer modernen Verwaltungsführung.

Wie ist die Wirkung der Aufsicht des BSV zu beurteilen?

Die Wirkung der Aufsicht des BSV wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung danach beurteilt, ob sie den einheitlichen Vollzug des IVG und gesetzeskonforme Leistungsentscheide gewährleistet. Da das BSV seine Funktion in der fachlichen Aufsicht über den Vollzug der IV bis ins Jahr 2000 nur sehr eingeschränkt wahrgenommen hat, ist die Wirkung der Aufsicht in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre entsprechend als gering zu beurteilen. Seit 2000 stehen umfangreichere Aufsichtsdaten zur Verfügung. Die Wirkung der Aufsichtstätigkeit des BSV ist jedoch nach wie vor nicht optimal. Die IVST nutzen zwar die heute zur Verfügung stehenden Aufsichtsdaten zur internen Steuerung und Qualitätsverbesserung des IV-Vollzugs. Die heute verfügbaren Aufsichtsdaten und das Benchmarking der IVST, welches das BSV erstellt, ermöglichen jedoch lediglich einen horizontalen Vergleich mit einer Orientierung am schweizerischen Mittelwert. Es fehlen quantifizierte Wirkungsziele betreffend die Tätigkeiten der IVST.3 Die Aufsicht des BSV entspricht somit nicht den Vorgaben einer ergebnisorientierten Verwaltungssteuerung.

Mit dem umfangreichen und gut frequentierten Weiterbildungsangebot erfüllt das BSV den Auftrag zur Schulung der IV-Mitarbeitenden. Das Bundesamt erreicht damit eine gute Wirkung im präventiven Bereich. Das Weiterbildungsangebot unterstützt eine gesetzeskonforme und einheitliche Entscheidpraxis. Die Weisungen sind heute auf einem aktuellen Stand und werden im Rahmen des Entscheidverfahrens für IV-Leistungen auf den IVST angewendet.

Wie nimmt das BSV seinen Handlungsspielraum bei der Gestaltung von Gesetzesrevisionen im Bereich IV wahr?

Das BSV reagierte primär auf Themen, welche verwaltungsextern oder vom Departement eingebracht wurden. In der 4. IVG-Revision nahm das BSV primär die Anliegen der Behindertenorganisationen auf und entwickelte diese weiter. Die 5. IVGRevision wurde vom Departementvorsteher ausgelöst. Insgesamt muss die Strategie des BSV bei der
Gestaltung von Gesetzesrevisionen im Bereich der IV als passiv bezeichnet werden. Das Amt sieht seine zentrale Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung in der Konkretisierung von Anliegen, welche vom Parlament, vom Departement oder von wichtigen Akteurgruppen aufgegriffen werden. Ein Agenda-Setting des BSV auf Grund spezifischer Sachkompetenz in der IV-Thematik wird dagegen nicht als vordringliche Aufgabe des Amtes erachtet.

Wie ist die Zusammenarbeit des BSV in der Gesetzgebung mit den BSV-externen Akteuren zu beurteilen?

3

Eine Ausnahme ist das Instrument «Prozessziele».

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Die Zusammenarbeit des BSV mit externen Akteurgruppen zur inhaltlichen Entwicklung der Gesetzgebung erfolgte in der Vergangenheit nicht systematisch und bei der 5. IVG-Revision sehr spät. Regelmässig involviert war zwar die vom Bundesrat eingesetzte AHV/IV-Kommission. Diese nimmt ihre Rolle aber nicht im Sinne eines Strategieorgans wahr, sondern als Gremium zur Beratung von Vorlagen. Die Zusammenarbeit zwischen dem BSV und den IVST war in den letzten Jahren blockiert. Inhaltliche Differenzen und der Kommunikationsstil gegenüber den IVST trugen dazu bei, dass lange Zeit keine fruchtbare Kooperation zwischen diesen beiden Akteuren möglich war. Die IVST wurden daher bis vor kurzem nicht in die Entwicklung der IV-Gesetzgebung einbezogen. In der 4. IVG-Revision zog das BSV in einer frühen Phase weitere externe Akteure zur Entwicklung der Themen bei. In der 5. IVG-Revision gab es in der ersten Phase der Erarbeitung der Revision auch auf Grund des Zeitdrucks keinen Einbezug von verwaltungsexternen Akteurgruppen.

Erst nachdem die Vernehmlassung durchgeführt worden war, wurden Arbeitsgruppen zur Erarbeitung der definitiven Botschaftsinhalte gebildet.

Auf welcher Datenbasis nimmt das BSV die Weiterentwicklungen vor? Verfügt es über die notwendigen (wissenschaftlichen) Grundlagen?

Das BSV verfügte bis ins Jahr 2000 nur über wenige wissenschaftliche Grundlagen zur Weiterentwicklung der IV-Gesetzgebung. Das BSV verpasste es, frühzeitig relevante Themenfelder zu bestimmen und für die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen zu sorgen. Erst für die Ausarbeitung der Vernehmlassungsvorlage zur 5. IVG-Revision berücksichtigte das BSV vermehrt Forschungsergebnisse ­ insbesondere zum Thema Rentenwachstum. Seit 2001 verfügt das BSV zudem über differenzierte Prozessdaten zur Geschäftsabwicklung der IVST. Diese bildeten in der Erarbeitung der 5. IVG-Revision einen wichtigen Ausgangspunkt. Die Forschung spielt innerhalb des BSV bis heute eine untergeordnete Rolle für die Weiterentwicklung der Gesetzgebung. Nach wie vor wird der BSV-interne Forschungsbereich nicht systematisch in die gesetzgeberische Arbeit des BSV einbezogen.

Wie reagierte das BSV inhaltlich auf das Problem des Rentenwachstums?

Das BSV nahm die Problematik des Rentenwachstums zwar wahr, erkannte deren Dringlichkeit jedoch erst spät. Die fehlende
Sensibilisierung für die Dringlichkeit des Problems wurde dadurch begünstigt, dass die Thematik bis vor kurzem nur am Rande Gegenstand der politischen Diskussion war. Weder das Parlament noch der Bundesrat griffen das Thema in dieser Zeit auf. Vor diesem Hintergrund verpasste es das BSV in der 4. IVG-Revision eine grundsätzliche Strategie zur Eindämmung des Rentenwachstums zu entwickeln. Das BSV setzte die Priorität primär auf organisatorische und verfahrenstechnische Optimierungen, um einen einheitlicheren und strikteren Vollzug zu erreichen. Daneben sollten gezielte Sparmassnahmen zur Entlastung der IV beitragen. Relevante Massnahmen im Bereich beruflicher Wiedereingliederung wurden nicht aufgegriffen, obschon von externen Akteuren schon früh auf diesbezügliche Schwachstellen hingewiesen worden war. Das leitende Motiv der 4. IVG-Revision bestand in der längerfristigen Eindämmung des Ausgabeüberhangs und nicht in der expliziten Bekämpfung der steigenden Anzahl IV-Rentenbezüger/-innen. Erst in der 5. IVG-Revision rückte das Thema Renten-

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wachstum explizit ins Zentrum und es wurden Massnahmen erarbeitet, welche die Problematik auf mehreren Ebenen angehen.

Erfüllt das BSV seine Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung auf effiziente Weise?

Das BSV erfüllte seine Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung wenig effizient, da es vorhandene Ressourcen nicht optimal nutzte. Dazu trugen in besonderem Masse die mangelhafte BSV-interne Zusammenarbeit im Bereich der Forschung, der unsystematische und zum Teil späte Einbezug externer Akteure sowie die fehlende Zusammenarbeit zwischen dem BSV und den IVST bei.

Die zentralen Erkenntnisse der Untersuchung sind somit: ­

Bis ins Jahr 2000 hatte die Aufsichtstätigkeit des BSV kaum eine Wirkung hinsichtlich eines einheitlichen Vollzugs der IV und gesetzeskonformer Leistungsentscheide.

­

Trotz verstärkter Aufsichtstätigkeit des BSV seit 2000 ist die Wirkung nicht optimal. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass die einzelnen Aufsichtsinstrumente des BSV nicht in eine Gesamtstrategie zur Aufsicht über den IV-Vollzug eingebettet sind. Andererseits verfügt das BSV über keine Wirkungsziele betreffend die Tätigkeiten der IVST, so dass keine ergebnisorientierte Aufsichtstätigkeit möglich ist.

­

Die Aufteilung zwischen Bund und Kantonen in der Aufsicht über den IV-Vollzug ist nicht in allen Teilen ausreichend geregelt und die Kooperation ist ungenügend.

­

Das BSV sieht seine zentrale Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung in der Konkretisierung der Anliegen, welche extern aufgegriffen werden und nicht in einem aktiven Agenda-Setting auf Grund spezifischer Sachkompetenz.

­

Bei der Weiterentwicklung der Gesetzgebung erfolgten der Einbezug externer Akteure und der Rückgriff auf interne Kompetenzen nicht systematisch.

Insbesondere nutzt das BSV seine internen Forschungs- und Statistikressourcen kaum. Spannungen blockierten zudem bis vor kurzem die Integration der IVST in den Gesetzgebungsprozess.

­

Das BSV erkannte die Dringlichkeit der Problematik des Rentenwachstums erst spät. Es hat den Handlungsspielraum, den es in der Aufsicht und der Entwicklung der Gesetzgebung besitzt, um dieser Problematik zu begegnen, in der Folge nicht genügend wahrgenommen.

2326

Abkürzungsverzeichnis AHV

Alters- und Hinterlassenenversicherung

AHVG

Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung

AHVV

Verordnung zum Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung

AK

AHV-Ausgleichskasse (n)

ATSG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts

BSV

Bundesamt für Sozialversicherung

DOK

Dachorganisationskonferenz der Privaten Behindertenhilfe

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

EVG

Eidgenössisches Versicherungsgericht

IV

Invalidenversicherung

IVG

Bundesgesetz über die Invalidenversicherung

IVSK

IV-Stellen-Konferenz

IVST

IV-Stelle(n)

IVV

Verordnung zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung

i.V.m.

in Verbindung mit

KAK

Kantonale Ausgleichskasse(n)

lit.

litera (Buchstabe)

PVK

Parlamentarische Verwaltungskontrolle

RAD

Regionale ärztliche Dienste

SVA

Sozialversicherungsanstalt

ZAS

Zentrale Ausgleichskasse

2327

Teil A: Einleitung 1

Hintergrund

Die Invalidenversicherung (IV) verzeichnet seit den Neunzigerjahren ein starkes Rentenwachstum. Als Folge davon ist bis Ende 2004 eine Verschuldung der IV von über sechs Milliarden Franken entstanden. Wirksame Strategien zur Eindämmung dieses Wachstums drängen sich jedoch nicht nur aus finanziellen Überlegungen auf.

Die starke Zunahme der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger ist auch aus sozialpolitischen Gründen problematisch.

Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (GPK-S) ortet im Bereich «Vollzugsföderalismus unter Bundesaufsicht» den grössten Klärungsbedarf. Sie hat daher die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) beauftragt, die Rolle des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) in der IV zu evaluieren. Die Evaluation soll zwei Aspekte vertieft untersuchen: ­

Einerseits soll aufgezeigt werden, welche konkreten Aufgaben das BSV im Bereich der Aufsicht über die kantonalen IV-Stellen (IVST) hat, wie es diese Aufgaben wahrnimmt und welche Wirkungen damit verbunden sind.

­

Andererseits soll untersucht werden, wie und mit welchen Folgen das BSV die Aufgabe wahrnimmt, die Gesetzgebung gemäss Artikel 11 der Organisationsverordnung des Eidgenössischen Departements des Innern (OV-EDI) weiterzuentwickeln.

Die PVK hat Interface Institut für Politikstudien mit dieser Untersuchung beauftragt.

Der vorliegende Bericht stellt die Resultate der Analyse vor.

Der Bericht besteht aus drei Teilen. In Teil A werden die Fragestellung und das methodische Vorgehen erläutert. Teil B widmet sich dem Thema Aufsicht in der IV.

Die Weiterentwicklung der Gesetzgebung durch das BSV ist Inhalt von Teil C.

2

Fragestellung

Dem BSV kommen im Rahmen der Invalidenversicherung verschiedene Aufgaben zu. Es lassen sich drei Bereiche unterscheiden. Das BSV übernimmt erstens eigene Durchführungsaufgaben in der IV. Zweitens übt das BSV gemäss Invalidenversicherungsgesetz (IVG) die fachliche, administrative und finanzielle Aufsichtsfunktion über die kantonalen IVST aus (Art. 64 IVG). Drittens hat das BSV die Aufgabe der Weiterentwicklung der Gesetzgebung im Bereich der IV (Art. 11 OV-EDI).

Die beiden letztgenannten Bereiche stehen im Zentrum der vorliegenden Evaluation.

Zum Thema Aufsicht sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: ­

Mittels welcher Strategien und Aktivitäten (Aufsichtsinstrumente) setzt das BSV seine Aufsichtsfunktion in der IV gemäss Artikel 64 IVG um?

­

Nutzt das BSV seine Handlungsspielräume?

­

Nimmt das BSV die Aufsichtsfunktion auf eine kohärente, effiziente und wirksame Weise war?

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­

Welche Faktoren erschweren es dem BSV gegebenenfalls, seine Aufsichtsrolle in der IV wahrzunehmen?

­

Wie ist im Bereich der Aufsicht die Zusammenarbeit des BSV mit den wichtigen Akteuren, namentlich den kantonalen IVST und den zuständigen kantonalen Aufsichtsbehörden zu beurteilen?

Im Themenbereich Weiterentwicklung der Gesetzgebung stehen folgende Fragen zur Beantwortung im Zentrum: ­

Mittels welcher Strategien und Aktivitäten übt das BSV seine Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung aus (Nutzung Handlungsspielraum, Zusammenarbeit mit BSV-externen Akteuren, Einbezug wissenschaftlicher Grundlagen)?

­

Inwiefern reagierte das BSV inhaltlich auf wichtige Entwicklungen der IV, insbesondere auf die Zunahme der Anzahl IV-Rentenbezüger/-innen?

­

Welche Faktoren erschweren es dem BSV gegebenenfalls, seine Rolle im gesetzgeberischen Bereich in der IV wahrzunehmen?

3

Methode

3.1

Untersuchungszeitraum

Die Abbildung 1 zeigt den Untersuchungszeitraum für beide Fragestellungen auf.

Dieser bezieht sich auf die Zeit zwischen 1995 und heute. Für den Fragebereich «Aufsicht» drängt sich diese Festlegung auf, weil die Kantone nach In-Kraft-Treten der 3. IVG-Revision und einer Übergangsfrist von drei Jahren bis 1995 Zeit hatten, kantonale IVST zu gründen. Für den Fragebereich «Gesetzgebung» konzentrieren wir uns ebenfalls auf die genannte Periode. Damit können die Aktivitäten des BSV sowohl beim Gesetzgebungsprozess für die 4. IV-Revision als auch für die 5. IV-Revision einbezogen werden.

Abbildung 1 Untersuchungszeitraum Untersuchungszeitraum Fragestellung Aufsicht und Gesetzgebung

1.1.92

Vorbereitung 3. IV-Revision In-Kraft-Treten 3. IV-Revision

1.1.95

1.8.00

Vorbereitung 4. IV-Revision

Kant. IVST Einführung

1.1.04

heute

Vorbereitung 5. IV-Revision In-Kraft-Treten 4. IV-Revision

O rganisationsverordnung für das EDI

2329

3.2

Datenerhebung und -auswertung

Die Fragestellung der vorliegenden Evaluation legt die Anwendung qualitativer Methoden nahe. Folgende zwei methodische Zugänge kamen zum Einsatz:

3.2.1

Dokumentenanalyse

Eine Liste sämtlicher, in die Auswertung einbezogener Dokumente ist im Anhang aufgeführt.

Teil B: Aufsicht Im Bereich Aufsicht werden die Produkte der Aufsichtsarbeit des BSV im erwähnten Untersuchungszeitraum analysiert. Es sind dies Berichte zur Geschäftstätigkeit der IVST erstellt durch das BSV (Jahre 2000­2003) und Berichte zur materiellen Geschäftsprüfung der IVST für acht ausgewählte Kantone. Die Auswahl wurde auf Grund der Rentenquoten und den Ergebnissen der Analyse der Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen der IVST vorgenommen. Mit diesen beiden Kriterien werden zentrale Aspekte der Aufsicht berücksichtigt.

Zudem konnte die Bearbeitung der untersuchungsleitenden Fragestellungen im Bereich der Aufsicht auf verschiedene bestehende Arbeiten aufbauen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen auf Studien und Expertisen, welche vom Geschäftsfeld IV in Auftrag gegeben wurden.

Teil C: Gesetzgebung Der Schwerpunkt der Dokumentenanalyse zum Untersuchungsbereich Gesetzgebung bildet die Auswertung der Vernehmlassungsvorlagen zur 4. und zur 5. IVGRevision.4 Ausgehend von im Bericht der PVK identifizierten Faktoren des IV-Rentenwachstums wird analysiert, ob und in welchem Umfang das BSV im Gesetzgebungsprozess auf diese Faktoren reagiert hat.5 In einem zweiten Schritt wird untersucht, inwiefern die in den Vernehmlassungsvorlagen eingebrachten Themen Niederschlag in der Gesetzgebung gefunden haben. Zusätzlich in die Analyse einbezogen werden die Stellungsnahmen der IVST-Konferenz (IVSK) und der Dachorganisationskonferenz der Privaten Behindertenhilfe (DOK) in den Vernehmlassungen zur 4. und 5. IVG-Revision.

4

5

Bundesrat (1996): 4. IV-Revision:. Bericht zu den Grundzügen und Hauptpunkten der Revision, Bern; Bundesrat (2000): 4. IV-Revision. Erläuternder Bericht und Entwurf für die Vernehmlassung, Bern; Bundesrat (2004): 5. IV-Revision. Entwurf und erläuternder Bericht für die Vernehmlassung, Bern.; Bundesrat (2004a): IV-Verfahren. Entwurf und erläuternder Bericht für die Vernehmlassung, Bern.

Parlamentarische Verwaltungskontrolle (2005): Evaluation Invalidenversicherung, Schlussbericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Subkommission EDI-UVEK der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates. Bern.

2330

3.2.2

Expertengespräche

Mit folgenden zentralen Akteurgruppen sind leitfadengestützte Gespräche durchgeführt worden: ­

Verantwortliche des BSV im Geschäftsfeld Invalidenversicherung, des Bereichs Forschung und Entwicklung sowie dem Direktor des BSV

­

Verantwortliche von acht ausgewählten kantonalen IVST

­

Präsident der IVSK

­

Vertreter/-innen von Behindertenorganisationen

­

Vertreter des seco, Direktion für Arbeit, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung

­

Wissenschaftlicher Experte

Die Liste der befragten Personen befindet sich im Anhang.

2331

Teil B: Aufsicht 4

Ausgangslage und Evaluationskonzept

Im Rahmen der 3. IVG-Revision wurde die Einführung von kantonalen IVST beschlossen. Mit der Wahl dieser dezentralisierten Struktur für den Vollzug, gab der Gesetzgeber einem föderalistischen Modell gegenüber einem Modell mit dezentralisierten IVST des Bundes den Vorzug.6 Die Organisation der kantonalen IVST wurde den Kantonen übergeben.7 Massgeblich dafür ist Artikel 54 IVG, welcher festhält, dass jeder Kanton ­ oder mehrere Kantone gemeinsam ­ durch besonderen Erlass eine unabhängige IVST errichten müssen. Das Bundesgesetz schreibt somit die Rechtsform der kantonalen IVST nicht ausdrücklich vor. In jedem Fall jedoch haben die IVST gegenüber der kantonalen Verwaltung selbstständig zu sein. In der Folge haben die Kantone die IVST überwiegend als selbstständige öffentlichrechtliche Anstalten des kantonalen Rechts errichtet und damit mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet.

Gleichzeitig mit der Bestimmung einer dezentralisierten Organisationsform in der 3. IVG-Revision hat der Gesetzgeber spezifische Aufsichtsbestimmungen festgehalten. So liegt die Aufsicht über die kantonalen IVST gemäss Allgemeinem Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) beim Bundesrat (Art. 76 ATSG i.V.m. Art. 64 IVG). Ihm steht die Möglichkeit zu, seine Aufsichtsbefugnisse auf das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) zu übertragen, das seinerseits gewisse Aufgaben und Befugnisse an das BSV delegieren kann (vgl. Art. 176 AHVV).

Die untersuchungsleitenden Fragestellungen zur Aufsicht in der IV fokussieren die konkreten Aufgaben, welche das BSV im Bereich der Aufsicht über die kantonalen IV-Stellen hat, wie es diese Aufgaben wahrnimmt und welche Wirkungen damit verbunden sind (vgl. Ziff. 2).

In der evaluationswissenschaftlichen Terminologie lassen sich diese Fragestellungen unterschiedlichen Stufen der Wirkungsentfaltung zuordnen.8 In Tabelle 1 sind die Evaluationsfragen den jeweiligen Evaluationsgegenständen zugeordnet. In der zweiten und dritten Spalte sind die aus den Fragen entwickelten Beurteilungskriterien und die Datenbasis festgehalten.

6

7 8

Mit der 3. IVG-Revision gingen organisationsrechtliche Neuerungen einher.

Die IV-Kommissionen, die IV-Sekretariate und die Regionalstellen wurden organisatorisch und sachlich zu den IVST der Kantone (und derjenigen des Bundes) zusammengefasst; Monioudis, H. (2003): Die Organisation ausgewählter Sozialversicherungszweige und die rechtliche Stellung der Sozialversicherungsträger, Zürich, S. 98; zitiert Monioudis 2003.

Neben den 26 kantonalen IVST führt der Bund eine IVST für Versicherte im Ausland (Art. 56 IVG). Diese IVST ist der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf angegliedert.

Bussmann, W.; Klöti, U.; Knoepfel, P. (Hrsg.) (1997): Einführung in die Politikevaluation, Basel.

2332

Tabelle 1 Evaluationsgegenstände, Fragen und Bewertungskriterien Gesetzgebung Beurteilungskriterien Geeignete Kompetenzausstattung und genügend Umsetzungsspielraum für das BSV, Schnittstellenklarheit Welche Konsequenzen haben die Gewährleistung der Kooperation kantonalen Organisationsstrukturen der zwischen Bund und kantonaler IV für die Umsetzung der Aufsichtsbehörde Aufsichtsfunktion durch das BSV?

Fragen (Kapitel 5) Welche Konsequenzen hat die gesetzliche Grundlage für die Umsetzung der Aufsichtsfunktion durch das BSV?

Vollzug der Aufsicht durch das BSV Fragen (Kapitel 6) Bewertungskriterien Mit welchen Aufsichtsinstrumenten Beschreibung nimmt das BSV seine Aufsichtsfunktion wahr?

Wie ist die Aufsichtsstrategie des BSV Eignung, Vollständigkeit und in der IV zu beurteilen?

Kohärenz der Aufsichtsstrategie Wirkungen der Aufsicht durch das BSV Frage (Kapitel 6) Bewertungskriterien Welche Wirkungen haben die Initiierung von Aufsichtsaktivitäten des BSV bei den Verbesserungsprozessen, IVST?

Unterstützung der internen Steuerung der IVST, Gewährleistung gesetzeskonformer Leistungsentscheide und homogener Vollzug

5

Datenbasis IVG, IVV, AHVG, Dokumente IVG, IVV, AHVG, Dokumente, Interviews Datenbasis Dokumente, Interviews Dokumente, Interviews Datenbasis Interviews

Gesetzliche Grundlagen der Aufsicht in der IV

Die kantonalen IVST sollen unter der Aufsicht des Bundes den Vollzug des IVG durchführen. Aus der föderalistischen Umsetzung der IV ergeben sich Schnittstellen zwischen Bund und Kanton. Weiter ergibt sich im Rahmen des Vollzugs der IV eine vertikale Schnittstelle zu den Organen der AHV beziehungsweise zu den kantonalen Ausgleichskassen. Abbildung 2 zeigt die Schnittstellen und die Akteure im Zusammenhang mit der Aufsichtsfunktion in der IV.

2333

Abbildung 2 Organisation der Aufsicht in der IV Aufsicht des BSV Fachliche Aufsicht, finanzielle und administrative Aufsicht

Externe Revision Betriebswirtschaftliches Controlling

Aufsicht des Kantons Administrativeorganisatorische Aufsicht

Kantonale Ausgleichskassen Vollzug AH V

Schnittstelle *

Unabhängige kantonale IVST Vollzug IV

* Rentenberechnung auf Grund IV-Grad Auszahlung der Leistungen

Im folgenden Abschnitt 5.1 werden die gesetzlichen Regelungen bezüglich Aufgaben und Aufsichtskompetenzen des Bundes, der Kantone und zur Schnittstelle AHV dargestellt. Im Abschnitt 5.2 erfolgt die Beantwortung der Evaluationsfragen zu den gesetzlichen Grundlagen im Bereich Aufsicht.

5.1

Gesetzliche Grundlagen im Bereich Aufsicht

Die folgenden Ausführungen basieren insbesondere auf der Arbeit von Monioudis (2003) zur Organisation ausgewählter Sozialversicherungszweige und der rechtlichen Stellung der Sozialversicherungsträger.9

5.1.1

Bundesaufsicht

Artikel 64 Absatz 1 IVG hält fest, dass die IVST die IV unter der Aufsicht des Bundes vollziehen. In Absatz 2 wird weiter ausgeführt, dass die Erfüllung der Aufgaben durch die IVST vom Bundesamt jährlich zu überprüfen ist und dieses für eine einheitliche Anwendung des Gesetzes sorgt.

In der Verordnung über die IV (IVV) wird die Aufsichtsfunktion des Bundes weiter spezifiziert. Dabei wird zwischen «Fachlicher Aufsicht» sowie «Administrativer und finanzielle Aufsicht» unterschieden. In Artikel 92 Absatz 1 bis 4 IVV wird die fachliche Aufsicht durch den Bund wie folgt definiert: ­

9

Die fachliche Aufsicht des Bundes nach Artikel 64 Absätze 1 und 2 IVG wird durch das Bundesamt ausgeübt. Dieses erteilt den mit der Durchführung der Versicherung betrauten Stellen Weisungen für den einheitlichen Vollzug im Allgemeinen und im Einzelfall (Abs. 1).

Monioudis 2003.

2334

­

Das Bundesamt stellt die Schulung des Fachpersonals der IV-Stellen sicher (Abs. 2).

­

Es überprüft jährlich die Erfüllung der in Artikel 57 IVG erwähnten Aufgaben durch die IV-Stellen und sorgt für die Behebung der Mängel (Abs. 3).

­

Die IV-Stellen haben dem Bundesamt nach dessen Weisungen bei Bedarf mehrmals jährlich über ihre Geschäftsführung Bericht zu erstatten (Abs. 4).

Als repressives Aufsichtsmittel kann das Bundesamt in Fällen schwerer Pflichtverletzung zudem vom Kanton verlangen, dass der Leiter einer IVST und seine Mitarbeiter der Stellung enthoben werden. In Fällen wiederholter schwerer Missachtung der gesetzlichen Vorschriften kann das Bundesamt die kommissarische Verwaltung einer IVST anordnen (Art. 66 IVG i.V.m. Art. 72 Abs. 2 und 3 AHVG).

Artikel 92bis IVV regelt die administrative und finanzielle Aufsicht über die IVST.

In Abs. 1 hält der Verordnungsgeber fest, dass das Bundesamt die administrative und finanzielle Aufsicht der IVST ausübt durch folgende Genehmigungen: ­

Stellenpläne mit der Endeinstufung des Personals (Abs. 1 Bst. a) und

­

Voranschlag und Jahresrechnung der IVST betreffend der administrativen Durchführungskosten (Abs. 1 Bst. b).

Grundsätzlich hat die fachliche Aufsicht in der IV den bedeutend wichtigeren Stellenwert als die administrative und finanzielle Aufsicht. Dies wird mit einem Vergleich der Ausgaben deutlich. Im Jahr 2003 betrugen die Ausgaben der IV 10,7 Milliarden Franken. Über 96 Prozent dieser Ausgaben wurden durch individuelle Geldleistungen ­ insbesondere Renten (6,3 Mia. Fr.) ­ oder in Form von Subventionen an Institutionen (z.B. Heime) ausgerichtet.10 Die fachliche Aufsicht des BSV fokussiert den Bereich der individuellen Leistungen. Lediglich die verbleibenden vier Prozent der Ausgaben der IV fallen auf Verwaltungs- und Durchführungskosten und somit in den Bereich der administrativen und finanziellen Aufsicht.

5.1.2

Kantonale Aufsicht

Rechtliche Vorgaben Artikel 54 IVG regelt die Errichtung kantonaler IVST. Gemäss Gesetz hat jeder Kanton durch besonderen Erlass eine unabhängige IVST zu errichten. Mehrere Kantone können durch Vereinbarung auch eine gemeinsame IVST errichten oder einzelne Aufgaben einer anderen IVST übertragen (Art. 54 Abs. 1 IVG).

Der kantonale Erlass oder die Vereinbarung regeln gemäss Artikel 54 Absatz 2 IVG:11

10 11

BSV (2004): IV-Statistik 2004, Bern.

Beispielsweise regelt das Einführungsgesetz des Kantons Luzern in Artikel 6, Absatz 1 (EG IVG LU) die Aufgaben wie folgt: Das Gesundheits- und Sozialdepartement beaufsichtigt die IV-Stelle in Verwaltungsangelegenheiten, soweit die Aufsicht nicht dem Bund oder richterlichen Instanzen zukommt. In Absatz 3 definiert das Gesetz die Aufsicht konkret folgendermassen: Die IV-Stelle unterbreitet dem Gesundheits- und Sozialdepartement die Geschäftsordnung, das Organigramm, den Stellenplan und alle Geschäfte, die dem Bund zur Genehmigung vorzulegen sind, zur Stellungnahme zuhanden des Bundesamtes für Sozialversicherung.

2335

­

den Sitz der IVST (Bst. a),

­

ihre interne Organisation (Bst. b),

­

die rechtliche Stellung ihres Leiters und seiner Mitarbeiter (Bst. c).

Das Bundesrecht äussert sich nicht weiter darüber, wie die interne Organisation im Einzelfall auszugestalten ist. Die Aufgaben eines Kantons beziehungsweise der von ihm eingesetzten Aufsichtskommission sind je nach kantonalem Einführungsgesetz zum IVG unterschiedlich differenziert konkretisiert.12 Die meisten Kantone definieren folgende Kompetenzen der kantonalen Aufsichtsbehörde: ­

die Wahl des IVST Direktors oder der Direktorin,

­

die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen des Personals,

­

die Regelung der internen Organisation (z.B. interne organisatorische Weisungen und Organigramm).

Das BSV hat im Rahmen der Errichtung der kantonalen IVST die kantonalen Einführungsgesetze genehmigt. Der Genehmigung kam für die IVST konstitutive Wirkung zu.

Organisationsrechtliche Ausgestaltung der IVST Der Bundesgesetzgeber schreibt auch die Rechtsform der kantonalen IVST nicht ausdrücklich vor. Es wird den Kantonen überlassen, die Rechtsform ihrer IVST zu bestimmen. In jedem Fall aber haben die IVST von den Kantonen unabhängig (Art. 54 Abs. 1 IVG), das heisst gegenüber der kantonalen Verwaltung selbstständig zu sein. In der Praxis wurden verschiedene organisationsrechtliche Modelle von IVST entwickelt. Sie reichen von der vollständigen räumlichen und/oder personellen sowie führungstechnischen Trennung der kantonalen Sozialversicherungsträger der AHV- und IV bis hin zu deren Zusammenfassung hinsichtlich Organisation und Führung. Es lassen sich vier Modelle unterscheiden.13

12

13

a)

Eine vollständige Unabhängigkeit der AHV- und IV-Durchführungsorgane haben zum Beispiel die Kantone Basel-Stadt, Genf, Luzern, Neuenburg und Wallis gewählt. Die Träger verfügen über eine eigene Organisation, eigene Räumlichkeiten und Mittel, eigenes Personal sowie eigene Führungs- und Aufsichtsorgane. Mit Ausnahme der bundesrechtlich vorgeschriebenen Zusammenarbeit zwischen der kantonalen Ausgleichskasse und der kantonalen IVST bestehen in diesen Kantonen zwischen den beiden Sozialversicherungsträgern keine weiteren Berührungspunkte. Beide Versicherungsträger sind als selbstständige öffentlichrechtliche Anstalten konzipiert.

b)

Eine andere kantonale Ausprägung fasst den AHV- und den IV-Versicherungsträger räumlich und führungstechnisch zusammen. Bei dieser Lösung erfolgt die Führung beider Träger durch denselben Leiter oder dieselbe Leiterin in Personalunion. Diese Organisationsstruktur wurde insbesondere in kleineren Kantonen umgesetzt (z.B. Appenzell-Innerrhoden, Glarus, Jura, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, Schaffhausen, Uri, Zug). Durch das Zusammenlegen der Verwaltungsdienste können Synergien genutzt werden.

Die kantonale Aufsichtsfunktion nimmt je nach Ausgestaltung der entsprechende zuständige Regierungsrat oder eine eigens dafür eingesetzte Aufsichtskommission mit Vertretung des zuständigen Regierungsrates wahr.

Monioudis 2003, S. 125 ff.

2336

Die Personalunion auf der Leitungsstufe führt jedoch dazu, dass in einer Person die Verantwortung für die Durchführung von zwei verschiedenen Sozialversicherungszweigen erfolgt, mit je ­ gemäss Bundesrecht ­ unterschiedlichen Aufgaben, Mitteln, Befugnissen und Kompetenzen beziehungsweise anderen Bundesaufsichtsregelungen.

c)

5.1.3

Einige Kantone haben anlässlich der 3. IVG-Revision eine Sozialversicherungsanstalt (SVA) aufgebaut. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen.

c1) Zum einen wurden Anstalten gegründet, die unter einem von der kantonalen Verwaltung ausgegliederten Dach zwei oder mehrere voneinander unabhängige Rechtssubjekte mit eigener Rechtspersönlichkeit vereinen (z.B. Basel-Landschaft, Freiburg, Graubünden, Zürich). Hier umspannt eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt die beiden selbstständigen und voneinander unabhängigen Sozialversicherungsträger kantonale Ausgleichskasse und IVST.

c2) Zum anderen wurden Sozialversicherungsanstalten gegründet, welche ein eigenständiges und aus der kantonalen Verwaltung ausgegliedertes Rechtssubjekt bilden.14 Die vom Bundesrecht als selbstständig definierte kantonale Ausgleichskassen (KAK) und die IVST werden als zwei Abteilungen zu einer einzigen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit zusammengefasst (Aargau, St. Gallen, Tessin). Die beiden Träger sind dadurch weder von der Sozialversicherungsanstalt noch voneinander unabhängig und sie sind auch nicht mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit ausgestattet.

Schnittstelle zwischen AHV- und IV-Strukturen

Der IV-Vollzug ist mit demjenigen der AHV verknüpft. Der Kreis der Versicherten, die Beitragsgrundsätze und die Rentensysteme sind identisch oder sehr ähnlich. Die Durchführung der IV erfolgt denn auch teilweise durch die AHV-Organe. Die Ausgleichskassen machen das Beitragsinkasso und führen die individuellen Konten der Versicherten. Den Ausgleichskassen der Kantone kommen bei der Durchführung der IV zwei weitere Aufgaben zu:15 ­

Die Berechnung der Renten auf Grund des IV-Grades, welcher durch die IVST festgesetzt wird und

­

Die Berechnung der Taggelder sowie die Auszahlung der Renten, Taggelder und Hilflosenentschädigung.

Die kantonalen Ausgleichskassen übernehmen damit den gesamten Geldverkehr für die Versicherungsleistungen, welche die IVST sprechen. Zugleich führen sie die Rechnung der administrativen Durchführungskosten der IVST (Art. 60 Abs. 1 IVG i.V.m., Art. 44 IVV). Sie werden für diese Aufgaben entschädigt. Die Revision der Rechnungsführung für die IVST wird im Rahmen der Revision der Ausgleichskassen durch unabhängige, externe, spezialisierte und vom Bundesamt zugelassene Revisionsstellen geprüft (Art. 68 Abs. 1 AHVG).

14 15

Eine Ausnahme ist das IAS im Kanton Tessin.

Zudem haben die kantonalen Ausgleichskassen mitzuwirken bei der Abklärung der versicherungsmässigen Voraussetzungen.

2337

5.2

Beantwortung der Evaluationsfragen zu den Vorgaben durch die Gesetzgebung

Im folgenden Abschnitt werden die Aufsichtsmöglichkeiten des BSV gemäss den Beurteilungskriterien der Evaluation geprüft (vgl. Tabelle 1).

Eignung der Kompetenzausstattung des BSV in der Aufsicht Mit der fachlichen sowie der administrativen und finanziellen Aufsicht und der Möglichkeit der repressiven Mittel hat der Gesetzgeber dem Bund eine umfassende Aufsichtkompetenz zugewiesen. Wie Monioudis (2003) und Knapp (1996) ausführen, gehen die bundesrechtlichen Aufsichtskompetenzen über eine ledigliche Kontrolle des Vollzugs durch die Kantone hinaus.16 Diese umfassende Kompetenzausstattung ist angezeigt, da es darum geht, im komplexen Entscheidverfahren, bei breiter Leistungspalette, trotz föderalistischem Vollzug eine gesetzeskonforme und einheitliche Anwendung der Gesetzgebung zu gewährleisten. Die Aufteilung der Aufsichtskompetenzen von Bund und Kantonen greifen ineinander und ergänzen sich grundsätzlich. In der konkreten Umsetzung zeigen sich gewisse Probleme hinsichtlich der Koordination der beiden Aufsichtsbereiche. Diese Probleme werden in den folgenden Abschnitten ausgeführt.

Gewährleistung der Kooperation Bund und Kanton Die Aufsicht von Bund und kantonalen Aufsichtsbehörden sind miteinander verzahnt. Die Kompetenzen der kantonalen Aufsichtsbehörden bestehen in der Wahl des IVST-Direktors oder der IVST-Direktorin, der Formulierung der Anstellungsund Arbeitsbedingungen des Personals und der Regelung der internen Organisation (z.B. interne organisatorische Weisungen und Organigramm). Das BSV ist auf die Kooperation mit der kantonalen Aufsichtsbehörde angewiesen. Damit die kantonale Aufsichtsbehörde ihre Aufsichtspflichten gegenüber der IVST-Leitung wahrnehmen kann, braucht sie umgekehrt qualifizierte und umfassende Erkenntnisse der fachlichen Aufsicht des BSV. Erst auf dieser Basis ist es für die kantonalen Aufsichtsbehörden möglich, Einfluss auf die Führung und Organisation der IVST zu nehmen beziehungsweise allenfalls Personal- oder Organisationsentscheide zu fällen.

In der Praxis zeigen sich gewisse Schwierigkeiten. Einerseits werden die kantonalen Aufsichtsbehörden nicht mit allen Aufsichtsdaten, die zur Verfügung stehen, dokumentiert. Andererseits ist die Abgrenzung zwischen fachlicher Aufsicht (Bundeskompetenz) und organisatorischer Aufsicht (kantonale Kompetenz) in der Praxis oft unklar, was teilweise zu einem Aufsichtsvakuum führt.17

16 17

Monioudis 2003, S. 108; Knapp, B. (1996): Rechtsgutachten zur Rechtsstellung der IV-Stellen, Genf, S. 13, 18.

Die kantonale Aufsichtsbehörde erhält lediglich den Bericht zur materiellen Geschäftsprüfung der IVST zur Kenntnisnahme. Die Produkte aller anderen Aufsichtsinstrumente gehen nicht zur Kenntnisnahme an die kantonale Behörde.

2338

Genügender Umsetzungsspielraum Der Gesetzgeber lässt dem BSV hinsichtlich der konkreten Aufsichtsinstrumente einen breiten Umsetzungsspielraum.18 Er definiert bezüglich der fachlichen Aufsicht, neben der Weisungsbefugnis und der Aufgabe der Schulung des Personals der IVST, lediglich die jährliche Überprüfung der Erfüllung der Aufgaben der IVST.

Wie das BSV diesen Auftrag umsetzt und welche Aufsichts- und Steuerungsinstrumente eingesetzt werden, liegt in der Kompetenz des BSV. Der Spielraum des BSV hinsichtlich der Ausgestaltung der Instrumente, der Aufsicht und der Art der Steuerung ist als gross zu beurteilen.

Klarheit der Schnittstellen zwischen IV und AHV sowie zwischen Bund und Kanton Die Intension des Bundesgesetzgebers war es, mit der 3. IVG-Revision eine organisatorische Entflechtung der IV und AHV zu erreichen und die IV eigenständiger zu strukturieren (Monioudis 2003).19 Die IVST sind von Bundesrechts wegen verfügungszuständig, partei- und prozessfähig und nehmen bezüglich Regressforderungen auch Gläubigerstellung ein. Bedingt durch die bundesrechtlichen Vorgaben ist es für die Durchführung der IV somit nicht von Bedeutung, ob eine IVST als selbstständige öffentlichrechtliche Anstalt errichtet, als kantonale Verwaltungseinheit ausgestaltet oder der kantonalen Ausgleichskasse angegliedert ist. Denn allen Arten IVST kommen von Bundesrechts wegen gegenüber Dritten, dem Bund und den Kantonen dieselben Rechte und Pflichten zu (Monioudis 2003).20 Eine direkte und unmittelbare Bundesaufsicht muss jedoch zusammen mit den allenfalls notwendigen Interventionsmöglichkeiten des Bundes gewährleistet sein.

Das oben aufgeführte Modell einer Sozialversicherungsanstalt, welches die kantonale Ausgleichskasse und die IVST zu einer einzigen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit zusammenfasst (Modell c2), entspricht dieser Forderung nicht. Auch das Modell b mit Personalunion von AHV und IV auf Führungsebene birgt gewisse Probleme im Zusammenhang mit der Ausübung der Aufsichtsfunktion durch den Bund. Die Vollzugsaufgaben der beiden Sozialversicherungen sind sehr verschieden. In der Konsequenz gibt dies auch einen anderen Fokus für die Aufsicht des Bundes. Auf Grund der Aufgaben, die sich im Vollzug der AHV stellen, ist die Aufsicht der AHV-Organe betriebswirtschaftlich ausgerichtet. Bei der IV stehen
komplexe Leistungsentscheide und Eingliederungsmassnahmen für die Versicherten im Zentrum. Damit schweizweit eine einheitliche Durchführung der IV sichergestellt werden kann, liegt der Schwerpunkt der Aufsicht bei der IV auf der fachlichen Aufsicht. Eine rein betriebswirtschaftliche, versicherungstechnische Revision würde hier zu kurz greifen. Bei einer Organisationsform, die der Entflechtung von AHV und IV ungenügend nachkommt (insbesondere Modell c2), sind im Zusammenhang mit der Bundesaufsicht Spannungsfelder angelegt, da auf dieselbe Organisation zwei verschiedene und auch unterschiedlich umfassende Arten der Bundesaufsicht zukommen.

18

19 20

Poledna, Th. (2004): Rechtsgutachten betreffend Auswirkungen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA) auf die Kompetenzzuteilung im Bereich der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV). Zürich. S. 41.

Monioudis 2003, S. 129.

Monioudis 2003, S. 103.

2339

6

Durchführung der Aufsicht in der IV durch das BSV

Die Bundesaufsicht in der IV ist das notwendige Korrelat zum dezentralen föderalistischen Vollzug des IVG. Die Bundesaufsicht muss insbesondere gewährleisten, dass die unabhängigen öffentlichrechtlichen Rechtssubjekte ­ wie sie die IVST darstellen ­ ihre im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe gesetzesgemäss und rechtsgleich wahrnehmen.21 In der Praxis wird die Aufsicht des Bundes durch das BSV wahrgenommen. In den folgenden Abschnitten 6.1 und 6.2 wird ausgeführt, wie das BSV seine Aufsichtsaufgabe konkretisiert und welche Instrumente es zur Aufgabenerfüllung einsetzt. Im Anschluss wird jeweils eine Beurteilung der einzelnen Instrumente auf Grund der Interviews und von Dokumenten vorgenommen. In Abschnitt 6.3 erfolgt die Beantwortung der Evaluationsfragen zum Vollzug und den Wirkungen der Aufsicht (vgl. Tabelle 1).

6.1

Fachliche Aufsicht

Die IVST prüfen und sprechen Versicherungsleistungen, die jährlich zu Ausgaben im Umfang von rund 10 Milliarden Franken führen. Mit der fachlichen Aufsicht muss das BSV die Gesetzmässigkeit und die Rechtsgleichheit der Entscheide sicherstellen. Auf Grund der grossen finanziellen Auswirkungen der Entscheide kommt der fachlichen Aufsicht somit ein zentraler Stellenwert im Rahmen der Aufsicht zu.

Abbildung 3 zeigt die Instrumente der fachlichen Aufsicht und ihre zeitliche Implementierung durch das BSV. Die eingesetzten Aufsichtsinstrumente lassen sich sowohl in präventive (z.B. Schulung des IVST-Personals) als auch retrospektive Aufsichtsmittel (z.B. materielle Geschäftsprüfung) einteilen. Nicht aufgeführt und nachfolgend auch nicht näher ausgeführt sind zwei Aufsichtsinstrumente, die gemäss den Befragten eine sekundäre Rolle spielen. Dies sind die Sonderprüfungen und die Möglichkeit der Überprüfung von Aufsichtsbeschwerden von Privatpersonen oder Institutionen.22

21

22

Mit der 4. IVG-Revision sind die regionalen ärztlichen Dienste (RAD) eingeführt worden.

Diese sollen die medizinischen Entscheidgrundlagen der IVST verbessern. Die RAD unterstehen der direkten fachlichen Aufsicht des BSV, sind aber in ihrem medizinischen Sachentscheid im Einzelfall unabhängig. Die Tätigkeit der RAD wird im Rahmen der fachlichen Aufsicht der IVST durch das BSV geprüft, zudem ist das BSV zur Zeit daran, ein weiterführendes Aufsichtskonzept für die RAD zu entwickeln.

In Absprache mit dem Auftraggeber.

2340

Abbildung 3 Fachliche Aufsicht: Zentrale Aufsichts- und Steuerungsmittel M onitoring, quartalsweise

Retrospektive M ittel

Wirksamkeit beruflicher M assnahmen, jährlich

Einführung 7 Prozessziele, jährlich

M onats- und Q uartalsreporting der IVST

M aterielle Geschäftsprüfung, Rhythmus 5 Jahre

1995

1998

1999

M aterielle Geschäftsprüfung, Rhythmus 3 Jahre

2000

2001

2002

2003

Rhythmus 2 Jahre

2004

In Planung jährlich

2005

Einführung kant. IVST

Präventive M ittel

Weisungen (Kreisschreiben) und Rundschreiben

Schulung IVST-Personal: Bildungszentrum IV in Vevey

Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht

Wie die Abbildung 3 zeigt, wurde bis ins Jahr 2000 lediglich die materielle Geschäftsprüfung als retrospektives Instrument zur Wahrnehmung der fachlichen Aufsicht eingesetzt. Seit 2000 sind die folgenden neuen Instrumente zur Wahrnehmung der fachlichen Aufsicht entwickelt und eingeführt worden: Monats- und Quartalsreporting, Prozessziele, Monitoring der Neurenten und Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen.

6.1.1

Materielle Geschäftsprüfung der IV

Beschreibung des Instruments Bis 2001 führte das BSV die Geschäftsprüfung der IVST im Rhythmus von fünf Jahren durch. Geprüft wurden jeweils pro Kanton rund 450 Leistungsgesuche (medizinische Massnahmen, berufliche Massnahmen, Hilfsmittel, Hilflosenentschädigung usw.) und je rund 100 Rentenentscheide. Ebenso umfasste die Prüfung die Organisation der IVST (interne Organisation, Personal, Aktenordnung und Aufbewahrung) und das Verfahren bei der Behandlung der Geschäfte (z.B. die fristgemässe Erledigung der Fälle, die Transparenz der Unterschriftenregelung, Begründung der Beschlüsse). Die Prüfung wurde vor Ort vorgenommen.

1999 liess das BSV das Verfahren der materiellen Geschäftsprüfung durch eine externe Expertise überprüfen.23 Die Expertise hat diverse Mängel des Instruments und der Durchführung festgestellt. Kritisiert wurden insbesondere:

23

Ernst & Young (2000): Konzeption eines Kontrollverfahrens zur Überprüfung der Rentenentscheide der kantonalen IVST durch das BSV. Bern, S. 13 ff.

2341

­

die Frequenz der Durchführung,

­

die Auswahl der Dossiers,

­

der Inhalt des Kontrollverfahrens (z.B. kein Zusammenhang zwischen Fehlentscheiden und Verfahren oder Organisation),

­

der Aufbau der Berichte (z.B. Unübersichtlichkeit),

­

die Effektivität der Prüfung (unklare Bewertungskriterien; Mangel an Vorgaben und Standards; an welchen sich die IVST ausrichten könnten; Mangel an Feedbackschlaufen; Fehlen von Verfahren zur Nachprüfung von festgestellten Mängeln).

Das BSV hat das Verfahren der materiellen Geschäftsprüfung auf Grund der Ergebnisse angepasst. Seit 2000 führt das BSV die Geschäftsprüfung nach dem neuen Konzept durch. Erstens hat es die Frequenz der Prüfungen auf drei Jahre verkürzt.

Zweitens prüft es nicht mehr das gesamte Arbeits- und Entscheidspektrum, sondern Risikobereiche. Dies bedeutet, dass tendenziell schwierige Arbeitsgebiete und Fragestellungen im Vordergrund einer Prüfung stehen.24 Bei den ausgewählten Kategorien werden rund 170 Stichproben von Versichertendossiers geprüft.

Schliesslich werden die Dossiers nicht mehr vor Ort, sondern im BSV analysiert.

Nach wie vor wird auf Grund der Versichertendossiers überprüft, ob die Entscheide gemäss den Kreisschreiben vollzogen wurden und nachvollziehbar sind. In Einzelfällen erteilt das BSV die Weisung zur Wiedererwägung von Entscheiden. Die aus der Überprüfung der Einzelfälle gewonnen Erkenntnisse werden in einem Bericht zusammengefasst und kommentiert. Der Bericht wird den IVST zur Kenntnisnahme zugestellt und falls gewünscht in einem Gespräch erläutert und diskutiert. In dieser Phase kann die IVST Stellung zu den Einwänden des BSV nehmen. Der endgültige Bericht wird schliesslich der kantonalen Aufsichtsbehörde zur Kenntnisnahme zugestellt.

Beurteilung Generell wird von allen Befragten die materielle Geschäftsprüfung als ein zentrales Aufsichtsinstrument betrachtet, weil es als Einziges die Qualität der Arbeit der IVST misst. Der kürzere Rhythmus der Prüfung (ab 2007 jährlich), wie sie die 4. IVGRevision vorsieht, wird sehr begrüsst. Dadurch wird es künftig auch möglich sein, das gesamte Tätigkeitsfeld der IVST in den Prüfzyklen kontinuierlich zu bearbeiten beziehungsweise zu prüfen, ob Verbesserungen bei vorgefundenen Mängeln stattgefunden haben (ein zentraler Kritikpunkt am alten Verfahren).

Auch das neue Konzept der materiellen Geschäftsprüfung wird von den IVST hinsichtlich einiger Punkte kritisch beurteilt. Erstens wird nach wie vor an der Prüfung bemängelt, dass die Bewertungskriterien unklar sind beziehungsweise es wird die Aussagekraft der Prüfung bezweifelt. Dazu werden die folgenden Probleme genannt: Ein Entscheid kann richtig oder falsch sein, unabhängig davon, ob er mittels Dossierprüfung nachvollziehbar ist. Es ist somit unklar, ob die Bewertung die Qualität der Dossierführung prüft oder die Qualität der Entscheide. Weiter steht den IVST ein Ermessensspielraum bei den Entscheidungen zu. Sofern kein Verstoss gegen das 24

In einem ersten Prüfzyklus sind die folgenden Leistungskategorien ausgewählt worden: die Zusprachen von beruflichen Massnahmen, die Ausrichtung von Taggeldern sowie die erstmaligen Rentenzusprachen bei Personen mit psychischen oder psychosomatischen Beeinträchtigungen oder Verletzungen an Knochen und Bewegungsorganen.

2342

IVG, die IVV und die Kreisschreiben vorliegt, ist der Entscheid einer IVST nicht falsch, auch wenn die Aufsichtsbehörde im entsprechenden Fall anders entschieden hätte. Beide Argumente machen deutlich, dass die Aussagekraft des Instruments gering ist, wenn es nur eine Rückmeldung zu Einzelfällen beinhaltet und keine Synthetisierung der Ergebnisse vornimmt. Dies ist denn auch ein zweiter wichtiger aktueller Kritikpunkt am Instrument. Erst mit der Synthetisierung der Einzelfälle zu allgemeinen Erkenntnissen in Bezug auf die Leistungsentscheide der IVST wird das Verbesserungspotenzial für künftige Entscheide sichtbar. Neben dieser Synthetisierung der Erkenntnisse wird von den IVST drittens kritisiert, dass dem Austausch im Nachgang der Prüfung zwischen Aufsichtsbehörde und IVST bis anhin zuwenig grosses Gewicht beigemessen wurde. Schliesslich wird die risikoorientierte Auswahl der Dossiers zwar generell für sinnvoll erachtet, es wird jedoch darauf hingewiesen, dass auf dieser Basis keine generellen Bewertungen zur Arbeitsweise einer IVST gemacht werden können.

6.1.2

Monats- und Quartalsreporting

Beschreibung des Instruments Die Leistungserfassung der IV erfolgt durch die Zentrale Ausgleichsstelle (ZAS) in Zusammenarbeit mit den IVST und den Ausgleichskassen. Die ZAS ist eine Hauptabteilung des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD) und somit Teil der Bundesverwaltung. Die ZAS führt die folgenden drei Zentralregister der AHV/IV: ­

das zentrale Versichertenregister (Art. 66 IVG i.V.m. Art. 71 Abs. 4 Bst. a AHVG),

­

das zentrale Register der laufenden Leistungen (ausgerichtete Renten und Hilflosenentschädigung) (Art. 66 IVG i.V.m. Art. 71 Abs. 4 Bst. a AHVG) und

­

das Register der Bezüger von Sachleistungen (medizinische und berufliche Massnahmen, Hilfsmittel und Sonderschulmassnahmen der IV) (Art. 66b Abs. 1 IVG).

Die Register wurden zur Führung der zentralen Buchhaltung und zur Überwachung des Abrechnungsverkehrs mit den Ausgleichskassen eingeführt. Die entsprechenden Versichertendaten werden der ZAS von den Ausgleichkassen und IVST zugestellt.

Auf der Basis dieser Register publiziert das BSV die jährliche IV-Statistik. Datenreihen zu Renten differenziert nach Gebrechen bestehen seit 1986.25 In den letzten Jahren wurden die Daten zunehmend auch für weiterführende statistische Auswertungen oder Analysen (z.B. Monitoring der Neurenten) genutzt. Der Datensatz der ZAS ist durch die Ausrichtung auf die Führung der zentralen Buchhaltung geprägt.

Aus diesem Grund werden monetäre Leistungen erfasst, während nicht-monetäre Leistungen der IVST und Prozessdaten nur eingeschränkt erhoben werden (z.B.

Neuanmeldungen, Ablehnungsentscheide, berufliche Massnahmen sofern sie keine monetären Leistungen auslösen wie beispielsweise Berufsberatung und Stellenvermittlung).

25

Daten zu den Renten ohne Differenzierung nach Gebrechen sind auch für die Jahr vor 1986 vorhanden.

2343

Parallel zur Datenerfassung für die ZAS haben die IVST in den Neunzigerjahren eigene EDV-Lösungen für die interne Datenerfassung des Geschäftsgangs implementiert. Mitte der Neunzigerjahre existierten 15 Einzellösungen auf den IVST. In einem jahrelangen Prozess forcierte das BSV den Zusammenschluss der IVST zu gemeinsamen EDV-Systemen. Mit dem Ziel, eine bessere Datenbasis zu nichtmonetären Leistungen und zum Verfahren zu erhalten. Die IVST haben sich seit 2000 zu drei Verbünden mit je einer anderen Software zusammengeschlossen. Die IVST führen jedoch ihre eigenen Datensätze vor Ort. Das BSV hat keinen direkten Zugriff auf diese Daten. Im Rahmen der Zusammenführung der Systeme wurden verbindliche Definitionen hinsichtlich der vielfältigen Leistungskategorien der IV und hinsichtlich der Erfassung der komplexen Abläufe im Endscheidprozess der IVST erarbeitet. Seit dem Jahr 2000 liefern die IVST dem BSV diverse statistische Kennzahlen zu Leistungen und Prozessen (Monats- und Quartalsreporting). Das BSV stellt die Zahlen zum Teil als Benchmarking unter den IVST im «Auswertungsbericht zur Geschäftstätigkeit der IV-Stellen» zusammen. Der Bericht erscheint seit 2001 jährlich.

Beurteilung Die Zusammenführung der Systeme und die Einführung des Monats- und Quartalsreporting erfolgte zum Teil gegen grosse Vorbehalte der IVST. Nicht zuletzt war auf Seite der IVST ein gewisses Misstrauen gegenüber der grösseren Transparenz vorhanden. Die befragten IVST schätzen heute jedoch die Daten als sinnvolle Unterstützung zur internen Steuerung. Man ist der Meinung, dass mit dem Monats- und Quartalsreporting wichtige und aussagekräftige Zahlen zum Vollzug und zu den Leistungen der IVST erfasst werden. Dadurch, dass die entsprechend programmierte Software auf den IVST eingerichtet ist, können die Zahlen jederzeit für eigene Zwecke abgerufen werden. Sie wurden teilweise für interne Bedürfnisse weiter entwickelt und werden auch zur Personalführung genutzt. Das Benchmarking der IVST, welches Bestandteil des jährlichen Berichts des BSV ist, wirkt gemäss der Befragten als horizontale Steuerung. Gewisse Kennzahlen können nun miteinander verglichen werden.

6.1.3

Prozessziele26

Beschreibung des Instruments Gemeinsam mit Vertretern von IVST hat das BSV sieben Mindeststandards für effiziente und kundenfreundliche Abläufe des Entscheidverfahrens auf den IVST entwickelt. Es wurden Vorgaben zu folgenden Kriterien festgelegt:

26

­

Dauer zwischen erstmaliger Anmeldung und Eingangsbestätigung durch die IVST

­

Dauer zwischen erstmaliger Anmeldung bis zum ersten Entscheid durch die IVST (Verfügung/Mitteilung für oder gegen individuelle Massnahmen oder Beschlussmitteilung bezüglich Renten, Hilflosenentschädigung)

Das BSV bezeichnet die Ziele als Leistungsziele. Im vorliegenden Text verwenden wir, um Missverständnisse zu vermeiden, die Bezeichnung Prozessziele, da sich die Ziele auf die Prozesse einer IVST bei der Entscheidfindung beziehen.

2344

­

Dauer der Rechnungsbearbeitung

­

Dauer zwischen Auftrag zur Prüfung einer beruflichen Massnahme und dem Beginn der Umsetzung (Erstgespräch, Antrag)

­

Dauer zwischen Auftrag zur Arbeitsvermittlung und dokumentiertem Eintrag über die entsprechenden Bemühungen

­

Dauer zwischen Auftrag für Abklärungen vor Ort und Abklärungsbericht

­

Anzahl pendenter Erstanmeldungen pro Vollzeitäquivalenz (VZÄ)

Basierend auf dem Quartalsreporting und zum Teil auf Daten der Register der ZAS wird die Überprüfung der Zielerreichung vorgenommen. Im bereits erwähnten jährlichen Auswertungsbericht des BSV zur Geschäftstätigkeit der IVST werden die Daten seit 2003 ebenfalls als Benchmarking der IVST dargestellt. Es sind keine Interventionen (Feedbackschlaufen) des BSV geplant, falls die Ziele nicht erreicht werden.

Beurteilung Die Prozessziele werden von allen Befragten als nützliche und sinnvolle Vorgaben eingeschätzt, um die Prozesse im Entscheidverfahren der IVST zu beschleunigen und kundenfreundlicher zu gestalten. Da die Datenerhebung ins Quartalsreporting integriert ist, können auch diese Zahlen jederzeit für interne Zwecke abgerufen werden. Dem Instrument wird eine Wirkung zugeschrieben, indem durch die Orientierung an den Zielen falsche Entwicklungen erkannt und korrigiert werden können.

Erreicht eine IVST jedoch die Ziele nicht, sind keine Feedbackschlaufen durch das BSV vorgesehen. Dies wird von Seiten der IVST als Mangel betrachtet.

6.1.4

Analyse der Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen

Beschreibung des Instruments 1999 hat die Sektion Statistik des BSV eine statistische Studie zur Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen der IV durchgeführt. Damit standen erstmals Zahlen zum Erfolg beruflicher Massnahmen zur Verfügung. Untersucht wurde die Wirksamkeit von erstmaliger beruflicher Ausbildung und Umschulung. Als wirksam wurde definiert, wenn einer Person ein Jahr nach Abschluss der beruflichen Massnahme keine oder weniger als eine ganze Rente ausgerichtet wurde. Die Analyse hat ergeben, dass bei zwei Dritteln aller Personen die berufliche Massnahme wirksam war.

Die Studie machte jedoch auch grosse Unterschiede unter den IVST sichtbar. Die Sektion Statistik aktualisierte in den Folgejahren die Analyse und differenzierte das statistische Berechnungsmodell. 2002 und 2003 wurden die aktuellen Zahlen zur Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen auch als Benchmarking der Kantone im jährlichen Geschäftsbericht aufgeführt. Zurzeit wird die Analyse nicht mehr durchgeführt, da mit der Einführung der Dreiviertelrente im Rahmen der 4. IVG-Revision das Berechnungsmodell grundsätzlich überarbeitet werden muss.

2345

Beurteilung Das Benchmarking zur Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen wirkt gemäss den Befragten als horizontale Steuerung, indem sich die IVST bezüglich der Wirkungen ihrer beruflichen Massnahmen nun miteinander vergleichen können. Ein Problem für die Aussagekraft des Benchmarkings sind die geringen Fallzahlen kleiner Kantone, die zu grossen Verzerrungen führen. Zudem weist das statistische Modell gewisse Schwachpunkte auf, welche die Aussagekraft des Instruments beschränken.

Erstens werden die Resultate der Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen nicht mit der Anzahl eingeleiteten beruflichen Massnahmen in Relation gesetzt. Zweitens gilt eine berufliche Massnahme gemäss dem Modell bereits dann als wirksam, wenn nach ihrem Abschluss anstatt einer Vollrente nur eine Teilrente ausgerichtet wird.

Schliesslich kann die angewandte Methode keinen Kausalbezug zwischen beruflicher Massnahme und (partieller) Wiedereingliederung nachweisen.

6.1.5

Monitoring der Neurenten

Beschreibung des Instruments Das im Jahr 2003 implementierte Monitoring der Neurenten dient dem BSV dazu, die Entwicklung der Neuberentungen in den einzelnen IVST zu verfolgen und nötigenfalls zu intervenieren. Das Monitoring weist die Summe der Neurenten quartalsweise pro IVST aus. Diese Ergebnisse werden mit festgelegten Quartalszielgrössen verglichen.27 Falls eine IVST die Zielgrösse nicht erreicht, sind zwei Massnahmenstufen eingeplant. In der Stufe «Beobachtung» ist die IVST verpflichtet, dem BSV über die Gründe für die Abweichung und die geplante Massnahmen zur Zielerreichung schriftlich Bericht zu erstatten. Weicht eine IVST zwei Quartale hintereinander um 20 Prozent vom Zielwert ab, wird die Stufe «Intervention» eingeleitet. Die betroffenen IVST müssen dann bis auf weiteres jedes entscheidungsreife Dossier im Bereich der Renten vorgängig der Verfügung dem BSV zur Prüfung unterbreiten.

Das BSV informiert auch die zuständige kantonale Aufsichtsbehörde über die Einleitung dieser Sofortmassnahme. Als zusätzliche Massnahmen bietet das BSV an, eine Analyse der Abläufe der betroffenen IVST im Rentenbereich vorzunehmen und auf dieser Basis die IVST hinsichtlich Verbesserungen zu beraten. Das Monitoring basiert auf Daten des Rentenregisters der ZAS.

Beurteilung Das Instrument wird grundsätzlich positiv beurteilt. Die Grenzen des Instruments werden in den folgenden drei Punkten gesehen. Erstens wird konstatiert, dass zusätzlich zur Quote der Neurenten die Ablehnungsquote von IV-Leistungen als Vergleichsgrösse wichtig wäre. Zweitens wird auf gewisse Fehlanreize des Instruments hingewiesen. Beispielsweise beeinflusst der Abbau von Pendenzen beziehungsweise das Aufschieben von Entscheiden die Anzahl Neurenten. Drittens wird auf das Problem hingewiesen, dass das Monitoring mit seinem engen Fokus auf die Neurenten implizit wenige oder keine Neurenten per se als positiv bewertet, unabhängig davon ob es sich um rechtskonforme Entscheide handelt.

27

Die Zielgrösse wird auf Grund der statistischen Daten beziehungsweise Erfahrungswerte zur Rentenentwicklung der Vorjahre festgelegt.

2346

Trotz der genannten Kritikpunkte wird das Monitoring als nützliches Instrument beurteilt, dessen Bedeutung aus den genannten Gründen jedoch nicht überbewertet werden darf. Insbesondere werden von den IVST das Festlegen von Zielvorgaben und die eingeplanten Feedbackschlaufen als nützlich und wirkungsorientiert geschätzt.

6.1.6

Weisungen

Beschreibung des Instruments Im Rahmen der fachlichen Aufsicht hat das BSV zahlreiche Weisungen in der Form von Kreisschreiben und Rundschreiben zum Vollzug des IVG und der IVV erlassen.

Mitte der Neunzigerjahre waren diese Weisungen gemäss der Befragten veraltet und boten den IVST keine aktuelle Orientierung für den Vollzug. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre hat das BSV die Kreisschreiben kontinuierlich aktualisiert. Die Überarbeitung hat sich auch im Zusammenhang mit der Einführung des ATSG und der 4. IVG-Revision aufgedrängt. Der Vollzug des IVG in Bezug auf die individuellen Leistungen wird in den folgenden Kreisschreiben geregelt: ­

Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV

­

Kreisschreiben über die Ausrichtung von Bau- und Einrichtungsbeiträgen

­

Kreisschreiben über die Vergütung der Reisekosten in der IV

­

Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der IV

­

Kreisschreiben über die Taggelder der IV

­

Kreisschreiben über das Verfahren in der IV

­

Kreisschreiben über die Eingliederungsmassnahmen

­

Kreisschreiben über das Verfahren zur Rentenfestsetzung in der AHV/IV (Bilaterale Abkommen Schweiz­EU)

Das BSV verfasst zusätzlich nach Bedarf Rundschreiben. Die Rundschreiben dienen der schnellen Information der IVST über Gerichtsentscheide oder Entscheide des BSV. Die Informationen der Rundschreiben werden bei der Aktualisierung der Kreisschreiben in diese integriert.

Beurteilung Die Weisungen werden als zentrale Richtlinien in der täglichen Arbeit der IVST verwendet. Die Befragten sind sich einig, dass die Weisungen heute auf einem aktualisierten Stand sind. Gleichzeitig wird festgehalten, dass dieser Stand auch zukünftig nur mit kontinuierlichem Aufwand erhalten werden kann. Kritisiert wird von den befragten IVST die unproportionale Regeldichte in den verschiedenen Leistungsbereichen. Insbesondere wird bemängelt, dass in Leistungsbereichen mit grossem Ermessensspielraum und auch grosser finanzieller Tragweite (insbesondere Rentenleistungen) vergleichbar wenige Weisungen vorhanden sind, während in anderen Bereichen mit geringeren finanziellen Folgen (z.B. Hilfsmittel) die Regeldichte sehr gross ist.

2347

6.1.7

Beschwerden an das Eidg. Versicherungsgericht

Beschreibung des Instruments Im Jahre 2003 wurden gesamtschweizerisch 2'919 kantonale Gerichtsentscheide im Bereich IV gefällt. Das BSV erhält alle kantonalen Urteile und kann diese kantonalen Entscheide mittels Beschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) weiterziehen. Zudem orientiert das Eidgenössische Versicherungsgericht das BSV über jeden Fall, der von einem anderen Beschwerdeführer (IVST, Versicherte, Dritte) ans EVG weiter gezogen wird. Das BSV entscheidet auf Grund dieser Information, ob es die Beschwerdeakten einsehen will, um zu prüfen, ob es dazu eine Stellungnahme abgeben will.

Das BSV erfasst seine Vernehmlassungs- und Beschwerdetätigkeit seit April 2004 systematisch. Tabelle 2 zeigt die Anzahl Entscheide des Eidgenössischen Versicherungsgerichts im Bereich IV seit 1997 und die Vernehmlassungs- und Beschwerdetätigkeit des BSV (ohne diejenigen des Ressorts Medizin). Von April bis Ende Dezember 2004 hat das BSV vom EVG 483 Fälle zur Einsicht zugestellt erhalten. In 44 Fällen hat das BSV eine Vernehmlassung eingereicht. Gegen 12 Entscheide kantonaler Gerichte hat es selber Beschwerde beim EVG eingereicht.

Tabelle 2 Entscheide des EVG, Vernehmlassungen und Beschwerden des BSV

Entscheide des Eidg. Versicherungsgerichts

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

516

599

676

682

724

772

1'016

806

Das BSV erfasst seine Beschwerdentätigkeit systematisch seit 1. April 2004* Vernehmlassun gsanfragen vom BSV geprüft Vernehmlassun gen durch BSV eingereicht Beschwerden vom BSV eingereicht

Mittlere Prozessdauer 8,9 Monate

Ab 1.4.2004 483

44

12

* Ohne Entscheide, die das Ressort Medizin des Geschäftsfeldes betreffen.

Durch die Möglichkeiten der Vernehmlassung oder der eigenen Beschwerde kann das BSV auf die Rechtssprechung einwirken. Von dieser Möglichkeit macht das BSV insbesondere dann Gebrauch, wenn es um Grundsatzentscheide des Eidgenössischen Versicherungsgerichts geht.

Beurteilung Alle Befragten sind sich einig, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein wichtiges Aufsichtsinstrument des BSV ist, um auf Grundsatzentscheide einzuwirken.

Gleichzeitig wird insbesondere von den befragten IVST konstatiert, dass das BSV in der Vergangenheit insbesondere aus Ressourcengründen von dieser Möglichkeit

2348

zuwenig Gebrauch gemacht hat. Als wichtig wird erachtet, dass die Urteile kontinuierlich in die Weisungen des BSV einfliessen.

6.1.8

Schulung des IVST-Personals

Beschreibung des Instruments 1998 war das offizielle Startjahr des Bildungszentrums IV in Vevey.28 Das Bildungszentrum konzipiert und organisiert im Auftrag des BSV ein gesamt-schweizerisches Weiterbildungsangebot für die verschiedenen Berufsgruppen der IVST.

Das Bildungszentrum ist administrativ der IVST Waadt angeschlossen und bietet sowohl ein Programm für die Westschweizer als auch für die Deutschweizer IVST an. Das Programm enthält IV-spezifische Weiterbildungsangebote für alle Berufsgruppen, Hierarchiestufen (Administration, Sachbearbeitung, Berufsberatung, medizinische Dienste, Kader) und Fragestellungen der IVST. Das Weiterbildungsangebot wird rege in Anspruch genommen. Beispielsweise wurden allein im Jahr 2004 139 ein- bis zweitägige Kurse durchgeführt, an welchen insgesamt 2039 Mitarbeitende von IVST teilnahmen.29 Die Arbeit des Bildungszentrums wird von einer Kommission begleitet. Diese wird vom BSV präsidiert und setzt sich aus Mitarbeitenden des BSV und IVST-Leitungen zusammen.

Beurteilung Das Schulungsangebot wird von allen Befragten als sehr wertvoll eingeschätzt. Das Aufgabenfeld der IV-Mitarbeitenden ist zu spezifisch, als dass es über bereits bestehende Weiterbildungsangebote abgedeckt werden könnte. Das Angebot wird als umfassend für alle Berufsgruppen der IV, aktuell und dynamisch beurteilt. Neue Problemfelder werden aufgenommen. Den Weiterbildungsaktivitäten wird insbesondere auch eine Wirkung hinsichtlich der horizontalen Vernetzung unter den IVST und hinsichtlich einer einheitlichen Rechtsauslegung zugeschrieben.

6.2

Instrumente der administrativen und finanziellen Aufsicht des BSV

Artikel 92bis IVV regelt die administrative und finanzielle Aufsicht. Der Gesetzgeber hält fest, dass das Bundesamt die administrative und finanzielle Aufsicht der IVST ausübt. Es hat einerseits die Stellenpläne mit der Endeinstufung des Personals und andererseits den Voranschlag und die Jahresrechnung der IVST in Bezug auf die administrativen Durchführungskosten zu genehmigen.

28

29

Vor diesem Zeitpunkt wurden punktuelle Weiterbildungsveranstaltungen von den IVST Bern/Luzern für die Deutschschweiz und von der IVST Vevey für die Westschweiz angeboten.

Als Vergleich: Im Jahre 2004 waren insgesamt auf allen IVST 1533 100 Prozent-Stellen besetzt.

2349

Beschreibung der Instrumente Im Folgenden wird ausgeführt, wie das BSV die Aufsicht in den genannten zwei Bereichen konkret ausführt: ­

Das BSV entwickelte in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gemeinsam mit Vertretern der IVST Modelle zur Berechnung der Personalressourcen pro IVST. Auf Grund von Unklarheiten über die Personalressourcen im Nachgang der Einführung der kantonalen IVST hat sich eine standardisierte transparente Berechnung aufgedrängt. Das heute praktizierte Modell berechnet die Anzahl Stellen angepasst an die allgemeine Geschäftsentwicklung der IV (erstmalige Neuanmeldungen, Bevölkerungszahlen und laufende Dossiers) Auf Grund des Personalressourcenmodells stehen heute allen IVST vergleichbare Stellenprozente zur Verfügung. Diese werden in Absprache je nach Bedarf untereinander verteilt. In den meisten Kantonen untersteht das Personal der IVST den kantonalen Personalreglementen und die Entlöhnung richtet sich nach dem kantonalen Lohnsystem. Die Lohnkosten werden vom Bund im Rahmen der Verwaltungskosten übernommen.

­

Die IVST reichen jährlich bis am 30. September den Voranschlag für die Verwaltungskosten für das nächstfolgende Jahr ein. Dies erfolgt über eine detaillierte Kostenaufstellung. Es werden beispielsweise im Bereich Sachaufwand über 15 Ausgabenkonten geführt (z.B. Porti/Telefongebühren, Büromaterial, usw.). Das BSV entscheidet im Einzelfall über die zu vergütenden Kosten.

Beurteilung Das Ressourcenmodell wird grundsätzlich von allen Befragten positiv beurteilt.

Insbesondere wird es als sinnvoll erachtet, dass gesamtschweizerisch die Relationen bezüglich Personalausstattung in etwa gleich sind. Allerdings wird zum Teil von den IVST darauf hingewiesen, dass für die interne Steuerung der IVST eine grössere Flexibilität hinsichtlich der Personalressourcen notwendig wäre und die IVST mehr Kompetenzen erhalten sollten. Zudem werden die Personalressourcen für die zu leistenden Aufgaben von Seiten der IVST eher als zu knapp beurteilt.

Die detaillierte Budgetierung wird von den IVST zwar in den meisten Fällen als problemlos eingeschätzt. Grundsätzlich würden alle Befragten die Einführung einer Pauschalbudgetierung begrüssen.

6.3

Beantwortung der Evaluationsfragen zu Vollzug und Wirkungen der Aufsicht

Im Folgenden wird auf der Basis der Analysen in den Abschnitten 6.1 und 6.2 die Beurteilung des Vollzugs und der Wirkungen anhand der Bewertungskriterien der Evaluation vorgenommen (vgl. Tabelle 1).

Aufsichtsinstrumente des BSV Die fachliche Aufsicht hat das BSV bis ins Jahr 2000 im Bereich der retrospektiven Mittel über die materielle Geschäftsprüfung wahrgenommen. Die IVST wurden damals im Rhythmus von fünf Jahren geprüft. Im Bereich der präventiven Auf-

2350

sichtsmittel hat das BSV von seiner Weisungsbefugnis und dem Beschwerderecht beim Eidgenössischen Versicherungsgericht Gebrauch gemacht.

Seit 2000 sind die folgenden neuen Instrumente zur Wahrnehmung der fachlichen Aufsicht entwickelt und eingeführt worden: das Monats- und Quartalsreporting, die Prozessziele, das Monitoring der Neurenten und die Analyse der Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen. Zusätzlich hat das BSV die Weisungen aktualisiert und ein breites Schulungsangebot für das IVST-Personal aufgebaut.

Im Rahmen der administrativen Aufsicht führte das BSV Ende der Neunzigerjahre ein Ressourcenmodell ein. Das Berechnungsmodell zur Personalausstattung der IVST ermöglicht gesamtschweizerisch gleiche Bedingungen, was die Personalressourcen für den Vollzug auf den IVST anbelangt. Die finanzielle Aufsicht nimmt das BSV wahr, indem es jährlich den Voranschlag der IVST für die Verwaltungskosten und die Kostenaufstellung überprüft.

Eignung, Vollständigkeit und Kohärenz der Aufsichtsstrategie Fachliche Aufsicht: Betrachtet man den zeitlichen Verlauf der Implementierung der Aufsichtsinstrumente, zeigt sich eine Phase vor und eine nach 2000. Die Beurteilung der beiden Phasen fällt unterschiedlich aus:

30

­

Bis ins Jahr 2000 nahm das BSV seine Aufsichtsfunktion in beschränktem Umfang wahr. Es führte lediglich alle fünf Jahre eine materielle Geschäftsprüfung durch. Auch über präventive Aufsichtsinstrumente fand die Sicherstellung des einheitlichen gesetzeskonformen Vollzugs nur beschränkt statt.

Die Weisungen entsprachen in dieser Phase nicht mehr dem aktuellen Stand der sehr rege in Anspruch genommenen Rechtssprechung. Erst Ende der Neunzigerjahre wurde das Schulungsangebot für das IVST-Personal in Vevey aufgebaut.

­

Auf Grund der verschiedenen durch das BSV seit 2000 eingeführten Aufsichtsinstrumente deckt die Aufsicht des BSV heute die zentralen Vollzugsaufgaben der IVST besser ab. Eine Stärkung der Aufsicht hat zudem durch die höhere Frequenz der materiellen Geschäftsprüfung stattgefunden.

Verschiedene Instrumente weisen jedoch nach wie vor Mängel auf, sodass ihre Aussagekraft eingeschränkt ist. Das Hauptproblem ist jedoch, dass keine Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Instrumenten bestehen und die einzelnen Aufsichtsergebnisse nicht zu einem Gesamtbild einer fachlichen Beurteilung einer IVST zusammengefügt werden. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die verschiedenen Instrumente nicht Produkte einer umfassenden fachlichen Aufsichtsstrategie des BSV sind. Die Instrumente wurden isoliert entwickelt und/oder zum Teil auf Grund aktuellen politischen Drucks eingeführt (z.B. Monitoring der Neurenten). In ihrem Gutachten zu einem wirkungsorientierten IV-Vollzug kommen Schedler, Proeller (2004) zum Schluss, dass die bisherige Ausgestaltung der Steuerung durch das BSV einer ergebnisorientierten, zeitgemässen Führung nicht entspricht.30 Die verschiedenen Aspekte, die mit den einzelnen bestehenden Instrumenten gemessen werden, basieren nicht auf einem Wirkungsmodell, welches die Wirkungen, die vom IV-Vollzug erwartet werden, abbildet.

Schedler, K., Proeller, I. (2004): Gutachten AHV/IV ­ Wirkungsorientierter IV-Vollzug, St. Gallen, S. 48.

2351

Wie lässt sich die ungenügende Aufsichtssituation in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre erklären? 1995 also zu Beginn des Untersuchungszeitraums war die Aufsicht innerhalb des BSV auf mindestens fünf Sektionen aufgeteilt. Rückblickend wird konstatiert, dass das BSV dadurch im Bereich Aufsicht nicht richtig funktionsfähig war. Diese ungünstige interne Organisation hat erst 2003 mit dem Aufbau einer Sektion Aufsicht eine strukturelle Lösung gefunden. Ebenso stand das BSV Mitte Neunzigerjahre vor der Situation, dass die vorhandenen Weisungen veraltet waren und dringend aktualisiert werden mussten. Zudem waren die damaligen EDVLösungen der IVST uneinheitlich. Es bestanden 15 verschiedene EDV-Systeme.

Dies schränkte die Datenbasis zur Prüfung der Geschäftstätigkeit der IVST massiv ein. Die damalige Leitung des BSV hat die Priorität auf die Aktualisierung der Weisungen, den Aufbau eines Schulungsangebots und die Verbesserung der Datensituation gelegt. Ebenso hat sie mit verschiedenen Expertisen die Möglichkeiten des BSV zur Stärkung der Aufsicht gegenüber den IVST untersuchen lassen.

Ende der Neunzigerjahre hat das BSV mit der Verbesserung der bestehenden und der Entwicklung neuer Aufsichtsinstrumente begonnen (Ressourcenmodell, Prozessziele, Quartals- und Monatsreporting). Die Bestrebung des BSV damit die Prozesse zu vereinheitlichen (z.B. Zusammenführung EDV, Prozessstandards) stiess bei den IVST auf Misstrauen und zum Teil auf Widerstand. Sie wurde als Eingriff in den föderalistischen Vollzug wahrgenommen. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass sich die Entwicklung und die Implementierung der Aufsichtsinstrumente verzögerten.

Das BSV befand sich in der paradoxen Situation, dass es einerseits auf Grund des Föderalismus nicht Einfluss nehmen konnte, solange keine gravierenden Mängel festgestellt werden konnten. Andererseits verfügte es zur Ermittlung allfälliger Mängel nicht über die geeigneten Instrumente. Diese Situation hätte allenfalls überwunden werden können, wenn das BSV den Aufsichtsfokus weniger auf den Vollzug (Qualität der Organisation und Prozesse im Entscheidprozess) und mehr auf die Wirkung des IV-Vollzugs (Wirkungsziele und Messung) gelegt hätte.

Finanzielle und administrative Aufsicht: Das Berechnungsmodell zur Personalausstattung der IVST ermöglicht gesamtschweizerisch gleiche
Bedingungen, was die Personalressourcen für den Vollzug auf den IVST anbelangt. Für die interne Steuerung der IVST fehlt dem Instrument jedoch eine gewisse Flexibilität. Diesem Bedürfnis kommen die einmal im Jahr zur Verfügung stehenden Poolstellen nur zum Teil entgegen. Grundsätzlich werden die Personalressourcen für die zu leistenden Aufgaben von den IVST als eher zu knapp beurteilt. Die Praxis, dass für die Genehmigung des Voranschlags und der Jahresrechnung von den IVST eine differenzierte Budgetierung der Verwaltungskosten gefordert wird, wird als wenig effizient und einer modernen Verwaltungsführung nicht entsprechend erachtet.

Wirkung der Aufsichtsaktivitäten des BSV Die Wirkung der Aufsichtstätigkeit des BSV wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung daran beurteilt, ob sie den einheitlichen Vollzug des IVG und gesetzeskonforme Leistungsentscheide gewährleistet und diesbezügliche IVST-interne Verbesserungsprozesse ausgelöst und unterstützt wurden. Da bis ins Jahr 2000 die fachliche Aufsichtsfunktion durch das BSV über den Vollzug der IV beschränkt wahrgenommen wurde, ist die Wirkung der Aufsicht in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre als gering zu beurteilen.

2352

Die verschiedenen Aufsichtsinstrumente, die das BSV seit 2000 eingeführt hat, liefern den IVST wichtige Daten zur internen Steuerung. Vor allem das Monats- und Quartalsreporting sowie das Instrument Prozessziele wurden von den IVST für die interne Steuerung und für die Personalführung weiterentwickelt und werden entsprechend genutzt. Das Benchmarking der IVST hinsichtlich verschiedener Vollzugsund Wirkungsindikatoren, welche das BSV erstellt, ermöglicht den IVST den horizontalen Vergleich und die Orientierung am schweizerischen Mittelwert. Die Wirkung dieses Vergleichs ist jedoch eingeschränkt, da vom BSV kaum Zielvorgaben festgelegt werden. Ebenso beeinträchtigen fehlende Synthetisierung und Kommentierung der einzelnen Aufsichtsdaten die Wirkung der Aufsichtstätigkeit des BSV.

Das BSV hat ein umfangreiches und gut frequentiertes Schulungsangebot für das IVST-Personal aufgebaut. Dem Schulungsangebot werden eine hohe Qualität und eine gute Wirkung hinsichtlich des fachspezifischen Wissensaufbaus der IV-Mitarbeitenden und in Bezug auf eine einheitliche Rechtsauslegung zugeschrieben. Die Weisungen sind auf dem aktuellen Stand und werden im Rahmen des Entscheidverfahrens für IV-Leistungen effektiv angewendet. Im Bereich der Rentenleistungen ist die Unterstützung durch entsprechende Weisungen jedoch eher gering.

7

Fazit

In Teil B befasst sich die Evaluation mit der Rolle des BSV in der Aufsicht über die IV. Im Folgenden werden die zentralen Erkenntnisse dieses Untersuchungsteils dargestellt: Wie sind die gesetzlichen Grundlagen zur Aufsicht des BSV über die IV zu beurteilen?

1.

Mit der fachlichen, der administrativen und der finanziellen Aufsicht sowie zusätzlich der Möglichkeit des Einsatzes repressiver Mittel hat der Gesetzgeber dem Bund in der IV eine umfassende Aufsichtkompetenz zugewiesen.

Die bundesrechtlichen Aufsichtskompetenzen gehen über eine ledigliche Kontrolle des Vollzugs durch die Kantone hinaus. Diese umfassende Kompetenzausstattung ist notwendig, da die Aufsicht über die IV gewährleisten muss, dass das komplexe Entscheidverfahren und die breite Leistungspalette der IV im föderalistischen Vollzug gesetzeskonform und einheitlich angewendet werden.

2.

Der Gesetzgeber lässt dem BSV einen grossen Handlungsspielraum bei der konkreten Umsetzung der Aufsicht. Neben der Weisungsbefugnis und der Aufgabe zur Schulung des Personals der IVST formuliert der Gesetzgeber lediglich, dass der Bund im Rahmen der fachlichen Aufsicht die Aufgabenerfüllung durch die IVST jährlich zu überprüfen hat. Das BSV verfügt somit über die Kompetenz, die konkrete Aufsichtsstrategie zu dieser Überprüfung festzulegen.

3.

Die Aufgabe der kantonalen Aufsichtsbehörde umfasst die Wahl der IVSTLeitung und Regelung der internen Organisation. Die Aufteilung der Aufsichtskompetenzen von Bund und Kantonen greifen somit ineinander. Das BSV ist durch diese Aufteilung darauf angewiesen, dass die kantonalen Aufsichtsbehörden ihre Aufsichtsfunktion aktiv wahrnehmen. Umgekehrt benötigen die kantonalen Aufsichtsbehörden qualifizierte und umfassende 2353

Erkenntnisse der fachlichen Aufsicht des BSV, um Einfluss auf die Führung und Organisation der IVST zu nehmen und Personal- oder Organisationsentscheide fällen zu können. In der Praxis zeigen sich diesbezüglich Schwierigkeiten. Einerseits werden die kantonalen Aufsichtsbehörden nicht mit allen Aufsichtsdaten, die zur Verfügung stehen, dokumentiert. Andererseits ist die Abgrenzung zwischen fachlicher Aufsicht (Bundeskompetenz) und organisatorischer Aufsicht (kantonale Kompetenz) in der Praxis oft unklar, was teilweise zu einem Aufsichtsvakuum führt.

4.

Mit der 3. IVG-Revision hat sich der Bund für das Modell des dezentralen Vollzugs der IV durch unabhängige, von den Kantonen einzurichtende IVST entschieden. Gleichzeitig war es die Intension des Bundesgesetzgebers, eine organisatorische Entflechtung der IV von der AHV zu erreichen. Die IV sollte eigenständiger strukturiert werden, da sich die Vollzugsaufgaben der beiden Sozialversicherungen auf der Leistungsseite klar unterscheiden. Kantonale Modelle, welche die kantonale Ausgleichskasse und die IVST zu einer einzigen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit zusammenfassen, laufen dieser Anforderung zuwider. Ebenso entsprechen Modelle mit Personalunion von AHV und IV auf der Führungsebene der vom Gesetzgeber intendierten Entflechtung der beiden Strukturen nicht.

Wie ist der Vollzug der Aufsicht durch das BSV zu beurteilen?

31

5.

Bis ins Jahr 2000 hat das BSV seine fachliche Aufsicht über den Vollzug der IV nur punktuell wahrgenommen. Im Bereich der retrospektiven Aufsichtsinstrumente verfügte das BSV lediglich über die alle fünf Jahre stattfindende materielle Geschäftsprüfung. Dem Instrument wurden zudem erheblich Mängel attestiert.31 Auch über präventive Aufsichtsinstrumente fand die Sicherstellung des einheitlichen und gesetzeskonformen Vollzugs nur teilweise statt. Die Weisungen waren in dieser Phase nicht aktualisiert. Erst Ende der Neunzigerjahre wurde das Schulungsangebot für das IVSTPersonal aufgebaut. Seit 2000 nimmt das BSV seine fachliche Aufsichtsfunktion verstärkt wahr. Es hat verschiedene neue Instrumente implementiert und bestehende verbessert. Einige Instrumente weisen jedoch nach wie vor Mängel auf, sodass ihre Aussagekraft eingeschränkt ist. Das zentrale Problem heute liegt jedoch darin, dass die einzelnen Instrumente nicht in eine Gesamtstrategie der fachlichen Aufsicht eingebettet sind. Entsprechend werden die einzelnen Aufsichtsergebnisse nicht zu einer fachlichen Gesamtbeurteilung des IV-Vollzugs durch eine IVST zusammengeführt.

6.

Im Rahmen der administrativen Aufsicht führte das BSV Ende der Neunzigerjahre ein Berechnungsmodell zur Personalausstattung der einzelnen IVST ein. Dieses so genannte Ressourcenmodell gewährleistet gesamtschweizerisch gleiche Bedingungen, was die Personalressourcen für den Vollzug auf den IVST anbelangt. Das Berechnungsmodell stellt unbestritten eine gute Grundlage für die proportionale Verteilung der Personenressourcen auf die kantonalen IVST dar.

7.

Die finanzielle Aufsicht nimmt das BSV wahr, indem es jährlich den Voranschlag der IVST für die Verwaltungskosten und die Jahresrechnung genehmigt. Diese Praxis der differenzierten Budgetierung der Verwaltungskosten

Ernst & Young 2000.

2354

ist wenig effizient. Sie entspricht auch kaum einer modernen Verwaltungsführung.

Wie sind die Wirkungen der Aufsicht des BSV zu beurteilen?

8.

Die Wirkung der Aufsicht des BSV wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung danach beurteilt, ob sie den einheitlichen Vollzug des IVG und gesetzeskonforme Leistungsentscheide gewährleistet. Da das BSV seine Funktion in der fachlichen Aufsicht über den Vollzug der IV bis ins Jahr 2000 nur sehr beschränkt wahrgenommen hat, ist die Wirkung der Aufsicht in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre entsprechend als gering zu beurteilen.

9.

Seit 2000 hat das BSV seine Aufsichtsfunktion verstärkt wahrgenommen.

Die Wirkung dieser Praxisänderungen sind jedoch auf Grund der unter Punkt fünf aufgeführten Mängel nicht optimal. Zudem ermöglichen die heute verfügbaren Aufsichtsdaten und das Benchmarking der IVST, welches das BSV erstellt, lediglich einen horizontalen Vergleich mit einer Orientierung am schweizerischen Mittelwert. Es fehlen quantifizierte Wirkungsziele.32 Die Aufsicht des BSV entspricht somit nicht den Vorgaben einer ergebnisorientierten Verwaltungssteuerung.

10. Mit dem umfangreichen und gut frequentierten Weiterbildungsangebot erfüllt das BSV den Auftrag zur Schulung der IV-Mitarbeitenden. Das Bundesamt erreicht damit eine gute Wirkung im präventiven Bereich. Das Weiterbildungsangebot gewährleistet den fachspezifischen Wissensaufbau der Mitarbeitenden. Es unterstützt eine gesetzeskonforme und einheitliche Entscheidpraxis. Die Weisungen sind heute auf einem aktuellen Stand und werden im Rahmen des Entscheidverfahrens für IV-Leistungen auf den IVST angewendet.

Zentrale Erkenntnisse dieses Untersuchungsteils sind somit:

32

­

Bis ins Jahr 2000 hatte die Aufsichtstätigkeit des BSV kaum eine Wirkung hinsichtlich eines einheitlichen Vollzugs der IV und gesetzeskonformer Leistungsentscheide.

­

Trotz verstärkter Aufsichtstätigkeit des BSV seit 2000 ist die Wirkung nicht optimal. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass die einzelnen Aufsichtsinstrumente des BSV nicht in eine Gesamtstrategie zur Aufsicht über den IV-Vollzug eingebettet sind. Andererseits verfügt das BSV über keine Wirkungsziele betreffend die Tätigkeiten der IVST, so dass keine ergebnisorientierte Aufsichtstätigkeit möglich ist.

­

Die Aufteilung zwischen Bund und Kantonen in der Aufsicht über den IV-Vollzug ist nicht in allen Teilen ausreichend geregelt und die Kooperation ist ungenügend.

Eine Ausnahme ist das Instrument «Prozessziele».

2355

Teil C: Gesetzgebungsprozess 8

Ausgangslage und Evaluationskonzept

Angesichts der Tatsache, dass sich in den medizinischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontextbedingungen der IV seit längerem Veränderungen abzeichnen und das Phänomen des Rentenanstiegs seit geraumer Zeit bekannt ist, geht die Evaluation in Teil C der Frage nach, wie das BSV seine Aufgabe der Weiterentwicklung der IV-Gesetzgebung im Rahmen der 4. und 5. IVG-Revision erfüllt und genutzt hat. Tabelle 3 zeigt die zwei Fragebereiche, die im Zentrum der Untersuchung stehen: Tabelle 3 Evaluationsgegenstände, Fragen und Bewertungskriterien Strategien und Aktivitäten der Weiterentwicklung durch das BSV Fragen (Kapitel 10) Bewertungskriterien Datenbasis Wie nimmt das BSV seinen Beschreibung Interviews, Handlungsspielraum bei der Gestaltung Dokumente von Gesetzesrevisionen wahr?

Wie ist die Zusammenarbeit des BSV Systematik der mit den BSV-externen Akteuren Zusammenarbeit, Zeitpunkt zu beurteilen?

Auf welcher Datenbasis nimmt das BSV Beschreibung Weiterentwicklungen vor? Verfügt es über die dazu notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen?

Inhaltliche Schwerpunktsetzung durch das BSV Frage (Kapitel 11) Bewertungskriterien Inwiefern reagierte das BSV inhaltlich Faktoren des auf wichtige Entwicklungen der IV, Rentenwachstums PVK insbesondere auf die Zunahme der Anzahl IV-Rentenbezüger/-innen?

9

Datenbasis Dokumente

IV-Gesetzgebung und gesetzliche Grundlage

Einleitend liefern wir einen groben Überblick über die Eckdaten zur 3., 4. und 5.

IVG-Revision und zeigen auf, welche Aufgaben dem BSV im Gesetzgebungsprozess zukommen: ­

2356

Die 3. IVG-Revision, die am 1. Januar 1992 in Kraft trat, war Bestandteil eines umfassenden Gesetzgebungsprojekts mit dem Titel «zweites Paket von Massnahmen zu Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen». Es ging damals in erster Linie um die Einführung der heutigen Organisation der IV-Durchführung in kantonale IV-Stellen. Für die Eröffnung und Durchführung der Vernehmlassung zu diesem Gesetzgebungspaket war das

Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und nicht das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) verantwortlich.33 ­

Die 4. IVG-Revision sollte ursprünglich in zwei Etappen verwirklicht werden. Die Revisionsarbeit im BSV wurde 1995 aufgenommen, die Botschaft zuhanden des Parlaments im Juni 1997 verabschiedet. Nachdem der erste Teil in der Volksabstimmung34 vom Juni 1999 abgelehnt worden war, beschloss der Bundesrat sämtliche Massnahmen des abgelehnten ersten Teils ­ mit Ausnahme der Aufhebung der Viertelrente ­ wieder aufzugreifen und mit den für den zweiten Teil vorgesehenen Revisionspunkten in einer einzigen Vorlage zusammenzufassen. Die Botschaft zuhanden des Parlaments wurde im Februar 2001 verabschiedet. Die Revision trat am 1. Januar 2004 in Kraft.

­

Die erste öffentliche Ankündigung der 5. IVG-Revision ist datiert vom 26. Mai 2003.35 Ende September 2004 wurde die Vernehmlassung eröffnet.

Momentan ist die Erarbeitung der definitiven Fassung der Botschaft im Gang. Der früheste Termin für das In-Kraft-Treten ist der 1. Januar 2007.36

Gemäss Artikel 11 der Organisationsverordnung des Eidgenössischen Departements des Innern (OV-EDI) hat das BSV unter anderem die Aufgabe, die Gesetzgebung im Bereich der IV weiterzuentwickeln. Die Verordnungsgrundlagen halten folgende Aufgaben des BSV im Gesetzgebungsprozess fest:

10

­

Vorbereitung von Entscheidungen für eine kohärente Politik der Sozialversicherungen, welche im Verantwortungsgebiet des BSV liegen

­

Bereitstellung von Entscheidgrundlagen für die Politik und Dokumentationen über die soziale Sicherheit

­

Förderung von Forschung in diesem Bereich

­

Information und Beratung im Bereich der Sozialversicherungen

­

Förderung der Zusammenarbeit im Bereich der Sozialversicherungen zwischen den interessierten Kreisen

­

Koordination und Harmonisierung der verschiedenen Massnahmen sowohl innerhalb des Zuständigkeitsbereiches des BSV als auch mit weiteren sozialpolitischen Massnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden.

Strategien und Aktivitäten im Bereich Gesetzgebung

In diesem Abschnitt zeigen wir auf, mittels welcher Strategien das BSV seine gesetzgeberische Aufgabe in den letzten Jahren wahrgenommen hat. Gefragt wird nach der BSV-internen Organisation der Zuständigkeit, dem Auslöser und dem Ablauf der Gesetzesrevisionen, dem Einbezug externer Akteure sowie den in die 33 34 35 36

In den nachfolgenden Kapiteln wird daher nur auf die 4. und die 5. IVG-Revision eingegangen.

Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung und der Schweizerische Invalidenverband hatten zuvor das Referendum «Gegen die Abschaffung der IV-Viertelrente» eingereicht.

EDI/BSV: Die Invalidenversicherung im Lichte der zunehmenden Invalidisierung, Dokumentation Mediengespräch 26. Mai 2003 (St. Petersinsel).

Soziale Sicherheit 5/2004, S. 272.

2357

Weiterentwicklung einbezogenen (wissenschaftlichen) Grundlagen. Die Ausführungen in dieser Ziffer basieren neben dem Einbezug von Dokumenten auf den Expertengesprächen. Die Liste der befragten Personen befindet sich im Anhang.

10.1

Organisation der Zuständigkeit

Initiativberechtigt für den Erlass, die Änderung oder Aufhebung von Rechtsnormen der Gesetzesstufe sind gemäss Artikel 160 Absatz 1 BV und Artikel 181 BV i.V.m.

Artikel 6 ParlG und Artikel 62 ParlG die parlamentarischen Ratsmitglieder und Kommissionen, die Fraktionen, der Bundesrat und die Kantone (Standesinitiative).

An der Gestaltung der Gesetze hat die Exekutive im Rahmen des Vorverfahrens der Gesetzgebung massgeblichen Anteil. Der Bundesrat leitet das Vorverfahren und unterbreitet der Bundesversammlung Gesetzesentwürfe. Die Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe erfolgt in der Regel entweder durch Fachpersonen in der Verwaltung oder durch Expertenkommissionen, die im Allgemeinen vom zuständigen Departementvorsteher eingesetzt werden.37 Im Departement des Inneren (EDI) hat das BSV im Bereich der sozialen Sicherheit gemäss Artikel 11 OV-EDI unter anderem die Federführung für das IVG. Die OV-EDI trat am 1. Januar 2000 in Kraft. Amtsintern übernimmt seit 1999 der Dienst Projekte und Spezialaufgaben des Geschäftsfelds IV neben anderen Aufgaben die Führung von IV-Gesetzgebungsprojekten. Zuvor bestand keine eigens für den Bereich Gesetzgebung definierte Organisationseinheit. Schon vor Einführung der OV-EDI war aber eine Mitarbeiterin im Geschäftsfeld IV mit der Aufgabe der Vorbereitung von Erlassen betraut. Materiell arbeiten weitere Personen der verschiedenen Bereiche des Geschäftsfelds IV an der Gesetzgebung mit. Dasselbe Personal, welches die Aufgabe hat die Umsetzung der Revisionen sicherzustellen und den Vollzug zu beaufsichtigen, kümmert sich zugleich um die Weiterentwicklung der Gesetzgebung. Zudem verfügt das BSV über ein Kompetenzzentrum Grundlagen mit den Bereichen Forschung und Entwicklung, Statistik sowie Mathematik (vgl. 10.4). Die Ausarbeitung der Gesetzesrevisionen erfolgt in enger Absprache mit der Leitung des Geschäftsfelds IV und der Direktion des BSV.

Als beratendes Gremium steht dem Bundesrat eine ausserparlamentarische Kommission zur Seite. Er ernennt die Eidgenössische Kommission für die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV-Kommission) (Art. 73 Abs. 1 AHVG).

Der Kommission obliegt in erster Linie die Aufgabe der Begutachtung von Fragen über die Durchführung und Weiterentwicklung der AHV und der IV zuhanden des Bundesrates (Art. 73 Abs. 2 AHVG). Gemäss Artikel
73 AHVG und Artikel 65 IVG müssen darin die Versicherten, die schweizerischen Wirtschaftsverbände, die Versicherungseinrichtungen, Vertreter der Behinderten und der Invalidenhilfe, der Bund und die Kantone angemessen vertreten sein. Die Kommission kann zur Behandlung besonderer Geschäfte Ausschüsse bilden. Im Bereich der IV ist dies der IV-Ausschuss.

Das Vorverfahren der Gesetzgebung läuft wie folgt ab: Das BSV erarbeitet einen Vernehmlassungsentwurf. Dieser durchläuft in der Regel die Instanzen IVAusschuss, AHV/IV-Kommission und die Ämterkonsultation. Schliesslich wird der Vernehmlassungsentwurf vom Departement dem Bundesrat vorgelegt, mit Antrag 37

Häfelin U.; Haller, W. (2001): Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich, S. 526 ff.

2358

das EDI zu ermächtigen, die Vernehmlassung zu eröffnen. Nach Abschluss der Vernehmlassung erfolgt die Erarbeitung der definitiven Fassung der Botschaft.

Diese durchläuft üblicherweise dieselben Instanzen wie zuvor der Entwurf, bevor der Bundesrat die Botschaft zuhanden des Parlaments verabschieden und damit das Vorverfahren der Gesetzgebung abschliessen kann.38

10.2

Auslöser und Ablauf der IVG-Revisionen

Revisionswünsche für die 4. IVG-Revision kamen primär vonseiten der Behindertenorganisationen sowie aus den Reihen des Parlaments. Mit der Motion der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 28. September 1994 (94.3377) wurde der Bundesrat aufgefordert, dem Parlament Massnahmen zur Konsolidierung und Vereinheitlichung des Vollzugs der IV vorzuschlagen. Der Fokus lag dabei in erster Linie auf Aspekten in Bezug auf das Verfahren und die Organisation der IV. Schon 1992 hatte die Dachorganisationskonferenz der Privaten Behindertenhilfe (DOK) ein Papier zuhanden des BSV verfasst, welches 20 Vorschläge zu einer grundlegenden IVG-Revision im Bereich der individuellen Leistungen enthielt.39 Der geringe Zeitdruck ermöglichte es dem BSV, die Anliegen eingehend zu prüfen und weiterzuentwickeln. Ende 1995 beschloss das EDI einen Bericht über die Grundzüge und vorgesehenen Massnahmen der 4. IVG-Revision zuhanden des Bundesrates durch das BSV ausarbeiten zu lassen. Im Bericht wird die Strategie vorgeschlagen, die Revision in zwei Teilen anzugehen.40 Das Scheitern des ersten Teils der Revision in der Volksabstimmung 1999 führte zu einem langwierigen Gesetzgebungsprozess. Zwischen der Aufnahme erster Arbeiten für die 4. IVGRevision Ende 1995 bis In-Kraft-Treten des revidierten IVG Anfang 2004 vergingen schliesslich mehr als acht Jahre.

Noch während der parlamentarischen Beratungen zur 4. IVG-Revision, reichten die Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit der beiden Räte Ende 2002 und Anfang 2003 Motionen ein, in denen der Bundesrat verpflichtet werden sollte, die Wirksamkeit der in der 4. IVG-Revision getroffenen Massnahmen zu evaluieren und einem anhaltenden Anstieg der Rentenquote mit Massnahmen im Rahmen einer nächsten Revision zu begegnen.41 Gleichzeitig wuchs der politische Druck auf das EDI. Die rechtsbürgerlichen Parteien forderten vom EDI rasch eine 5. IVG-Revision in die Vernehmlassung zu geben. Deren Ziel sollte eine straffere Kontrolle der erbrachten Leistungen und die Bekämpfung von Missbräuchen sein.42 Die Diskussion über das Thema Scheininvalide rückte ins Zentrum. Der Bundesrat erteilte dem EDI am 21. Mai 2003 den Auftrag, unverzüglich die Vorarbeiten zur 5. IVGRevision einzuleiten und einen Vernehmlassungsentwurf zu unterbreiten. Im Rahmen des Mediengesprächs auf der St. Petersinsel orientierte Bundesrat Couchepin 38 39

40 41

42

Soziale Sicherheit 5/2004.

Dachorganisationskonferenz der privaten Behindertenhilfe DOK (1992): 4. IVGRevision. Vorschläge einer DOK-Arbeitsgruppe zu einer grundlegenden IV-Revision, Bern.

Auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung wird in Abschnitt 11 explizit eingegangen.

Motion Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 4. November 2002 (02.3639) und Motion für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 20. Februar 2003 (03.3011).

Vgl. insbesondere die Motion der Fraktion der Schweizerischen Volkspartei «Bekämpfung der Scheininvalidität» vom 20. Juni 2003 (03.3412).

2359

am 26. Mai 2003 erstmals die Öffentlichkeit über die 5. IVG-Revision. Zuvor wurde BSV-intern eine fünfköpfige Task Force gebildet, um in kurzer Zeit die Leitthemen für diese Revision zu erarbeiten. Die Task Force orientierte sich an der Vorgabe des Departementvorstehers, der die Leitthemen festlegte. Im Gegensatz zur 4. IVGRevision war der Gestaltungsfreiraum des BSV bei der Ausarbeitung der Vorlage zur 5. IVG-Revision sehr eingeschränkt. Das Vorverfahren der laufenden Revision musste auf Grund des zeitlichen Drucks adaptiert werden. Nach Abschluss der Vernehmlassung setzte das BSV drei Arbeitsgruppen mit amtsinternen und externen Fachpersonen ein. Diese sollen die konzeptionelle Vorarbeit für die entsprechenden Botschaftsinhalte leisten. Da der Bundesrat die Botschaft zur 5. IVG-Revision noch vor der Sommerpause 2005 verabschieden will, wird die Zeit voraussichtlich nicht ausreichen, den Botschaftsentwurf nochmals dem IV-Ausschuss vorzulegen.

10.3

Einbezug externer Akteurgruppen

Der Einbezug externer Akteure in die Weiterentwicklung der Gesetzgebung erfolgt primär über die Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der AHV/IV-Kommission sowie über das Vernehmlassungsverfahren. Nach Ansicht BSV-interner und externer Akteure nimmt die AHV/IV-Kommission ihre Rolle jedoch nicht im Sinne eines Strategieorgans wahr und trägt kaum zur Initiierung von Themen bei. Die gesetzliche Grundlage gemäss Artikel 73 AHVG Absatz 2 würde ihr grundsätzlich eine aktivere Rolle hinsichtlich der Initiierung ermöglichen. Primär weist ihr Artikel 73 AHVG Absatz 2 aber die Aufgabe der Begutachtung von Fragen über die Durchführung und Weiterentwicklung der Invalidenversicherung zu.

Zur Entwicklung der Themen der 4. IVG-Revision wurden in einer frühen Phase Arbeitsgruppen mit externen Akteuren eingesetzt. In der 5. IVG-Revision erfolgt die Erarbeitung der Vernehmlassungsvorlage ohne Einbezug externer Akteure. Erst im Anschluss an die Vernehmlassung wurden Arbeitsgruppen zur Erarbeitung der Botschaft gebildet. Dieses Vorgehen soll eine breite Abstützung der erarbeiteten Themen ermöglichen, bevor sie zur Behandlung im Parlament verabschiedet werden.

Die Behindertenorganisationen schätzen den Einbezug innerhalb der bestehenden Organe AHV/IV-Kommission und IV-Ausschuss als recht gut ein. Die Delegation der Behindertenorganisationen im IV-Ausschuss betreibt jeweils sehr viel Aufwand für die Bearbeitung der Vorlagen. Diese Arbeit wird auch vom BSV sehr geschätzt und als wertvoller Bestandteil des Vorverfahrens erachtet. Ausserhalb der bestehenden Organe kritisieren die Behindertenorganisationen, dass der Einbezug zu wenig systematisch und daher auch zu wenig transparent erfolgt. Was nach Ansicht der Behindertenorganisationen fehlt, ist ein systematisch eingesetztes Strategieorgan mit externen Akteurgruppen, welches das BSV bei seiner vorbereitenden Arbeit unterstützt, indem es kontinuierlich die Entwicklung der IV beobachtet und frühzeitig prospektive Lösungsansätze vorschlägt.

Die IVST wurden bis vor kurzem kaum in den Gesetzgebungsprozess einbezogen.

Persönliche und sachliche Differenzen hatten die Kommunikation zwischen den IVST und dem BSV gegen Ende der Neunzigerjahre derart verschlechtert, dass dies eine Zusammenarbeit im Gesetzgebungsprozess zur 4. IVG-Revision verunmöglichte. Dadurch konnte relevantes Praxiswissen der Vollzugsstellen nicht in die Weiterentwicklung der Gesetzgebung einbezogen werden. Seit dem personellen Wechsel 2360

an der Spitze des Geschäftsfelds IV hat sich die Beziehung wesentlich entspannt und verbessert. Die IVST wurden in der 5. IVG-Revision ebenfalls in die Arbeitsgruppen des BSV eingebunden.

10.4

Einbezug (wissenschaftlicher) Grundlagen

Das BSV verfügt seit rund fünf Jahren über ein Kompetenzzentrum Grundlagen mit den Bereichen Forschung und Entwicklung, Statistik sowie Mathematik. Der Bereich Forschung und Entwicklung, der seit 1995 besteht, wurde damals ins Kompetenzzentrum integriert. Das Kompetenzzentrum hat zur Aufgabe zukunftsweisend und kontinuierlich Grundlagen für die Weiterentwicklung der Sozialversicherungen zu beschaffen und zu analysieren. Es erstellt Statistiken und Modelle und entwickelt ferner Methoden und Szenarien. Das Kompetenzzentrum stellt eine BSV-interne Ressource für die anderen Geschäftsfelder dar. Die konkreten Aufgaben des Bereichs Forschung und Entwicklung sind zum einen die Planung, Vergabe und Verarbeitung von externen Aufträgen in den Aktionsfeldern des BSV, sowie die Bearbeitung von generellen sozialpolitischen Fragestellungen. Das Geschäftsfeld IV kann zusätzlich eigene Expertisen und Studien in Auftrag geben. Eine weitere wissenschaftliche Grundlage bildete das Nationale Forschungsprogramm (NFP) zum Thema Probleme des Sozialstaates, welches 1998 vom Bundesrat beauftragt wurde.

Der Leiter des Bereichs Forschung und Entwicklung des BSV stand der Leitungsgruppe des Programms vor. Das Programm, für welches insgesamt 10 Millionen Franken zur Verfügung standen, beinhaltete unter anderem ein Modul Behinderung/Invalidität. Die Forschungsprojekte starteten 2000/2001 und wurden 2003/2004 beendet.

Im Vergleich zu anderen Versicherungen, wie etwa der Krankenversicherung oder der Altersversicherung hat das BSV im Bereich IV und Behinderung nur wenige Studien in Auftrag gegeben. Im Auftrag des Bereichs Forschung und Entwicklung sind seit 1999 elf Studien erstellt worden.43 Diese Arbeiten betrachten das Thema IV aus einer umfassenden gesellschaftspolitischen Perspektive. Vor 1999 wurden zu den Themen Behinderung und Invalidität im Bereich Forschung und Entwicklung keine Forschungsprojekte durchgeführt.

Das Geschäftsfeld IV hat die internen Forschungsressourcen des Bereichs Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren wenig genutzt. Auch im NFP 45 brachte das Geschäftsfeld IV keine Vorschläge und Themen für Forschungsprojekte ein. Hingegen hat das Geschäftsfeld IV seit 1996 mehrere Expertisen in Auftrag gegeben.

Diese befassen sich in erster Linie mit spezifischen verfahrens- und organisationstechnischen
Fragen in der IV.

Auf Grund der geschilderten Ausgangslage wurden wissenschaftliche Grundlagen nur geringfügig in die Weiterentwicklung der Gesetzgebung einbezogen. Wissenschaftliche Studien werden in der Vernehmlassungsvorlage zur 4. IVG-Revision nur am Rande erwähnt.44 Differenzierte Prozessdaten zur Geschäftsabwicklung der 43

44

Im gleichen Zeitraum wurden beispielsweise zum Thema Krankenversicherung rund 50 Studien verfasst. Die Publikationen des BSV-internen Bereichs Forschung und Entwicklung sind unter: http://www.bsv.admin.ch/forschung/publikationen/d/index.htm.

aufgelistet.

Bundesrat 2000, S. 15 ff.

2361

IVST konnten ebenfalls nicht berücksichtigt werden, da diese bis ins Jahr 2000 nicht systematisch erhoben wurden (vgl. Abschnitt 6.1.2). Was die Grundlagen betrifft, beziehen sich die Revisionsentwürfe zur 4. IVG-Revision in erster Linie auf BSVStatistiken zur Kostenentwicklung.45 Bei der Erarbeitung der 5. IVG-Revision wurden vor allem differenzierte statistische Daten zur IV als Grundlage verwendet.

Zudem wurden im Vergleich zur 4. IVG-Revision vermehrt wissenschaftliche Grundlagen einbezogen.46 Der Vernehmlassungsentwurf führt mehrere Studien auf, die zur Erklärung des Problems des Rentenwachstums einbezogen wurden.

11

Inhaltliche Weiterentwicklung der Gesetzgebung

In diesem Abschnitt gehen wir auf den inhaltlichen Beitrag des BSV bei der Weiterentwicklung der IV-Gesetzgebung ein. Im Zentrum steht die Beantwortung der Frage, wie das BSV in den letzten Jahren auf wichtige Entwicklungen der IV reagiert hat. Da der grösste Anteil der IV-Ausgaben ­ rund 60 Prozent ­ auf die Renten entfallen, richten wir den Fokus auf die Problematik des Rentenwachstums.47 Die steigende Zahl von IV-Rentenbezüger/-innen ist ein Phänomen, welches schon seit längerer Zeit bekannt ist.

In Abschnitt 11.1 zeigen wir einleitend auf, welchen generellen Stellenwert der Thematik Rentenwachstum im Laufe der Entwicklung der Gesetzgebung vom BSV beigemessen wurde. In Abschnitt 11.2 legen wir dar, mittels welcher Massnahmen das BSV in der Erarbeitung der 4. und 5. IVG-Revision auf einzelne Problemdimensionen des Rentenwachstums reagiert hat.

11.1

Genereller Stellenwert der Thematik «Rentenwachstum» in den IVG-Revisionen

Obschon bereits Mitte der Neunzigerjahre die Daten zum Rentenwachstum bekannt waren, wurde das Thema in der 4. IVG-Revision vom BSV nur am Rande ­ ohne Entwicklung einer grundsätzlichen Strategie ­ aufgegriffen. Der Bericht zu den Grundzügen und Hauptpunkten des ersten Teils der 4. IVG-Revision vom November 1996 ging nicht auf das Problem des Rentenwachstums ein. Das BSV wollte die finanziellen Probleme primär mittels Massnahmen auf der Einnahmeseite (Kapitalund Beitragsverlagerung von der EO in die IV), Sparmassnahmen (Aufhebung der Viertels- und der Zusatzrenten) und ersten Massnahmen im Bereich der Kostensteuerung angehen. Weitere Massnahmen, vor allem hinsichtlich des individuellen Leistungsbereichs, wurden als weniger dringlich erachtet und sollten daher erst im zweiten Teil der 4. IVG-Revision aufgegriffen werden.

Nachdem die erste Vorlage 1999 in der Volksabstimmung gescheitert war, wurden sämtliche Themen des ersten Teils ­ ausser die Streichung der Viertelrente ­ wieder aufgegriffen und zusammen mit den ursprünglich für den zweiten Teil der 4. IVGRevision vorgesehenen Themen zu einer Vorlage vereint. In der Vernehmlassungsvorlage von Mitte 2000 wurde das Thema Rentenwachstum am Rande erwähnt. Der 45 46 47

Bundesrat 1996; Bundesrat 2000.

Vgl. Bundesrat 2004, S. 17 ff.

BSV 2004.

2362

Bericht enthält ein kurzes Kapitel zur Entwicklung der Ausgaben im Bereich der Renten und mögliche Ursachen für das Ausgabenwachstum. Gemäss BSV trugen die damals bei der Erarbeitung der 4. IVG-Revision vorhanden Daten und Erklärungsansätze nur zu einer begrenzten Erklärung des Phänomens der Zunahme der IV-Rentenbezüger/-innen bei. Das BSV wollte auf spekulative Aussagen oder Vermutungen bewusst verzichten und erachtete zur Klärung offener Fragen weitere vertiefende Studien als notwendig.48 Um die finanziellen Probleme der IV in den Griff zu bekommen, setzte das BSV weiterhin einseitig auf Massnahmen, welche auf der Ausgabeseite entlastend wirken (z.B. Aufhebung der Zusatz- und Härtefallrenten, Bedarfsplanung bei Behinderteninstitutionen) respektive zu Verbesserung der Struktur und des Verfahrens der IV beitragen sollten (z.B. Einführung RAD). Hinsichtlich eines gezielten Leistungsausbaus wurde die Priorität auf die Einführung einer Assistenzentschädigung gesetzt.

Auf einen Ausbau der Massnahmen zur gezielten Verbesserung der beruflichen Eingliederung behinderter Menschen wurde weitgehend verzichtet. Schon damals wiesen externe Akteure, wie die IVSK und die DOK in ihren Stellungnahmen zur Vernehmlassung auf die beunruhigende Zunahme der IV-Renten hin und erachteten es als zwingend, Strategien gegen den Trend zur beruflichen Ausgrenzung zu entwickeln.49 Auch das Staatssekretariat für Wirtschaft seco regte im Rahmen der Ämterkonsultation an, das Problem der Neuzugänge von IV-Rentner/-innen stärker zu thematisieren und kohärente Gegenstrategien zu formulieren.50 Erst in der 5. IVG-Revision wurde das Problem des Rentenwachstums ausführlich thematisiert. Die Dämpfung der Zunahme von Neurenten um zehn Prozent, wurde zur übergeordneten Zielsetzung der Vorlage. In seiner Ankündigung der 5. IVGRevision im Mai 2003 griff Bundesrat Couchepin die steigende Zahl von IV-Rentner/-innen erstmals als Hauptthema auf. Dementsprechend rückt die Thematik ins Zentrum. Der Fokus der angekündigten Massnahmen verschob sich im Gegensatz zur 4. IVG-Revision in Richtung gezielter Leistungsoptimierung zur frühzeitigen Integration von Behinderten.

11.2

Reaktion auf einzelne Problemdimensionen

Gestützt auf eine Literaturanalyse hat die PVK in ihrem Bericht die wichtigsten Faktoren des Rentenwachstums in der IV zusammengetragen.51 Dabei wird zwischen exogenen, im sozio-ökonomischen Umfeld der IV liegenden, und endogenen, vom Versicherungssystem beeinflussbaren Faktoren des Rentenwachstums unterschieden. Der Bericht benennt fünf Problemdimensionen, davon vier endogene: Langwieriges Abklärungsverfahren, zusätzliche Probleme in der beruflichen Eingliederung, kantonaler Vollzug unter Aufsicht des Bundes und weit reichendes Leistungs- und Adressatenspektrum der IV. Diesen vier endogenen Problemdimensionen wurden insgesamt 23 Faktoren des Rentenwachstums zugeordnet.

48 49

50 51

Antrag des EDI an den Bundesrat vom 13. Juni 2003: Begleitschreiben zum erläuternden Bericht und Entwurf zur 4. IV-Revision.

Dachorganisationskonferenz der privaten Behindertenhilfe DOK (2000): Vernehmlassung zur 4. IVG-Revision, 10 f; IV-Stellen-Konferenz IVSK (2000): 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, Stans, S. 11 f.

Antrag des EDI an den Bundesrat vom 13. Juni 2003.

PVK 2005.

2363

Ausgehend von den im Bericht PVK identifizierten Faktoren stellen wir nun für jede Problemdimension dar, welche Massnahmen das BSV diesbezüglich in der Erarbeitung der 4. und 5. IVG-Revision ergriffen hat.52 Grundlage für diese Analyse bildeten die Vernehmlassungsentwürfe zur 4. (erster und zweiter Teil) und 5. IVGRevision. Diese zeigen im Wesentlichen den Input des BSV bei der Weiterentwicklung der Gesetzgebung auf. Um darzulegen, welche gesetzlichen Massnahmen schliesslich vom Parlament verabschiedet wurden, wurde das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (Änderungen vom 21. März 2003) als Grundlage beigezogen.53 Nicht alle Massnahmen haben vom Umfang her denselben Stellenwert. In einigen Fällen handelt es sich lediglich um eine kurze Thematisierung eines Problemfaktors, in andern Fällen um umfassende Vorhaben. Im Anschluss an die jeweilige Auflistung der Massnahmen zeigen wir daher kurz auf, welchen Massnahmen in den Revisionen prioritäre Bedeutung zukam.

11.2.1

Problemdimension 1: Langwieriges Abklärungsverfahren

Eine erste Problemdimension, welche im Bericht der PVK beschrieben wird, betrifft Schwachstellen im Abklärungsverfahren der IV. Diese erschweren die berufliche Eingliederung und fördern die Tendenz zur Rente. Gemäss PVK lassen sich dieser Problemdimension sechs Faktoren zuordnen. Diese sind in der Tabelle 4 aufgelistet.

Tabelle 4 Problemdimension 1 und entsprechende Massnahmen in den Revisionen Problemdimension 1: Langwieriges Abklärungsverfahren Faktoren

A: Späte Anmeldung bei der IV B: Lange Verfahrensdauer C: Koordinationsprobleme mit anderen Versicherungsträgern D: Medizinalisierung von Versicherungsfällen mit unklarer Kausalität E: Weit reichender Rechtsschutz der Versicherten F: Weite Ermessensspielräume für die Vollzugsakteure

Massnahmen 4. IVG-Revision Vernehmlassungsvorlagen (Input BSV) x x (ALV, SH) x

5. IVGRevision BundesVernehmlassu gesetz über ngsvorlage die IV (Input BSV) x x x x (ALV, SH) x (UV, KTGV) x

x x

x x

x

ALV: Arbeitslosenversicherung, SH: Sozialhilfe, UV: Unfallversicherung, KTVG: Krankentaggeldversicherung Die hervorgehobenen Kreuze geben an, in welchen Bereichen schwerpunktmässig Massnahmen getroffen wurden

52 53

Auf die Problemdimensionen und einzelne Faktoren wird an dieser Stellen nicht vertieft eingegangen, da diese im Bericht der PVK ausführlich dokumentiert sind.

Bundesrat 1996; Bundesrat 2000; Bundesrat 2004.

2364

Die Tabelle zeigt auf, zu welchen Faktoren in den Revisionen Massnahmen formuliert wurden. Die Spalten zu den Vernehmlassungsvorlagen zeigen den spezifischen Input des BSV auf. Die Massnahmen werden nachfolgend explizit aufgeführt, wobei jeweils in Klammer angegeben wird, auf welche Faktoren sie Bezug nehmen.

Abschliessend halten wir fest, in welchen Bereichen das BSV in den Revisionen den Schwerpunkt der Massnahmen legte.

In den Revisionen vorgesehene Massnahmen Die Massnahmen, welche das BSV hinsichtlich der Problemdimension langwieriges Abklärungsverfahren in den Vernehmlassungsvorlagen zur 4. IVG-Revision vorsah, werden nachfolgend aufgelistet. Sämtliche Massnahmen wurden schliesslich auch im Bundesgesetz aufgenommen: ­

Per Anfang 2005 erfolgt die Einrichtung von regionalen ärztlichen Diensten (RAD). Diese haben die Aufgabe, die IVST bei der Beurteilung der medizinischen Anspruchsvoraussetzungen für Eingliederungsmassnahmen und Renten zu unterstützen. Bei Bedarf dürfen die RAD die versicherten Personen auch selber untersuchen. Die RAD sollen eine einheitliche Praxis bei den medizinischen Abklärungen sowie eine qualitativ verbesserte und speditive Beurteilung der Leistungsgesuche sicherstellen. Der Vernehmlassungsentwurf sah ursprünglich vor, die bestehenden ärztlichen Dienste der IV aufzulösen und einen vom Bund organisierten ärztlichen Dienst aufzubauen. Im IVG Artikel 59 i.V.m. Artikel 47 Absatz 3 IVV wurde schliesslich die Regelung verankert, dass die IVST die RAD einrichten, welche unter der fachlichen Aufsicht des BSV stehen. (Faktoren B, D, F)

­

In allen Kantonen wurden gemäss Artikel 68bis Absatz 1 IVG Gremien für eine interinstitutionelle Zusammenarbeit zwischen der IV, der ALV und der Sozialhilfe geschaffen. Diese Massnahme hatte zum Ziel, die Restarbeitsfähigkeit von Personen mit Schnittstellenzuständigkeiten zu erhalten und zu fördern. In Artikel 68bis Absatz 2 ff. IVG wurde zudem eine bundesgesetzliche Grundlage für den verbesserten Datenaustausch innerhalb der Sozialversicherungen geschaffen. (Faktoren C, B)

­

Zur Verbesserung des verwaltungsinternen Rechtsschutzes wurde das Anhörungsverfahren neu durch ein Einspracheverfahren ersetzt. Für die gerichtlichen Behörden ­ insbesondere für die kantonalen Rekursbehörden ­ soll das Einspracheverfahren eine entlastende Wirkung entfalten, indem dadurch eine bedeutende Anzahl der Fälle bereits auf Verwaltungsebene einer Lösung zugeführt werden kann, ohne dass die gerichtliche Instanz angerufen werden muss. Diese Massnahme war im Vernehmlassungsentwurf zur 4. IVG-Revision noch enthalten, wurde jedoch im Rahmen der Einführung des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts umgesetzt (Art. 52 ATSG) und daher in der 4. IVG-Revision nicht mehr aufgeführt. (Faktoren B, E)

In der Vernehmlassungsvorlage zur 5. IVG-Revision beziehungsweise in der separaten Teilvorlage «IV-Verfahren» werden im Bezug auf Probleme im Abklärungsverfahren folgende Neuerungen vom BSV vorgeschlagen: ­

Es sollen Pilotprojekte für ein System der Früherkennung und Begleitung (FEB) von Personen, die krankheitsbedingt in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind, gestartet werden. Diese Massnahmen dienen primär der 2365

Arbeitsplatzerhaltung sowie ­ falls diese nicht möglich ist ­ der zweckmässigen Zuweisung der Betroffenen zum passenden Leistungssystem. (Faktoren A, C) ­

Die Versicherten sollen in Zukunft grundsätzlich nur noch IV-Leistungen vom Zeitpunkt der Anmeldung bei der IV und nicht mehr rückwirkend auf den oftmals lange zurückliegenden Eintretenszeitpunkt der Erwerbsunfähigkeit erhalten. Damit soll der Anreiz bei den Versicherten verstärkt werden, sich bei länger dauernder Krankheit möglichst frühzeitig bei der IV anzumelden. (Faktor A)

­

Die medizinische Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit soll künftig nur noch durch die ärztlichen Dienste der IV (RAD) erfolgen. Damit sollen die Zuständigkeiten der behandelnden Ärzte konsequent von jenen der Sozialversicherung getrennt werden. Diese Neuerung soll nicht nur eine objektivere Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit, sondern auch eine Beschleunigung der Verfahren gewährleisten. (Faktoren B, D)

­

Die hohe Zahl der im Jahr 2003 eingegangenen Einsprachen zeigte, dass die Akzeptanz der IV-Entscheide durch die Aufhebung des Vorbescheidverfahrens nicht verbessert wurde. Das heutige Einspracheverfahren soll wieder durch das vormalige Vorbescheidverfahren ersetzt werden. Für IV-Leistungsstreitigkeiten soll eine moderate Kostenpflicht eingeführt werden.

Dieses Verfahren soll dazu beitragen, dass negative Entscheide von den Versicherten besser akzeptiert werden. (Faktoren B, E)

Schwerpunktsetzung in den beiden Revisionen Hinsichtlich der Problemdimension langwieriges Abklärungsverfahren setzte das BSV in der 4. IVG-Revision den Schwerpunkt auf Massnahmen zur Optimierung des Abklärungsverfahrens für IV-Leistungen. Das Kernstück, das vom BSV eingebracht wurde, ist die Einführung der RAD.

In der 5. IVG-Revision verschob sich der Fokus auf Prozesse vor dem Eintritt ins IV-System. Das Kernstück der Vorlage ist die Früherkennung und Begleitung von Personen, die krankheitsbedingt in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind.

Gegenüber dem Vernehmlassungsentwurf zur 5. IVG-Revision will der Bundesrat diese Stossrichtung nun noch stärker betonen, indem das System nicht nur mit Pilotversuchen in verschiedenen Wirtschaftsregionen, sondern flächendeckend eingeführt werden soll.54 Zur Ausarbeitung dieser Thematik, hatte das BSV im Anschluss an die Vernehmlassung eine Arbeitsgruppe mit externen Fachpersonen gebildet. Diese Schwerpunktsetzung stösst auf breite Anerkennung.

54

EDI Presse- und Informationsdienst, Medienmitteilung vom 13. April 2005: Aussprache des Bundesrates über die 5. IV-Revision.

2366

11.2.2

Problemdimension 2: Zusätzliche Probleme in der beruflichen Eingliederung

Schwächen in der Konzeption und im Vollzug der Eingliederungsmassnahmen erschweren gemäss dem Bericht der PVK die berufliche Reintegration und verstärken dadurch die Tendenz zur Rente. Die nachfolgende Tabelleführt die relevanten Faktoren auf.

Tabelle 5 Problemdimension 2 und entsprechende Massnahmen in den Revisionen Problemdimension 2: Zusätzliche Probleme bei der beruflichen Eingliederung Faktoren A: Fehlende Anreize für die Beschäftigung Behinderter B: Mangelnde Unterstützung durch die Vermittlungsinstitutionen C: Mangelnde Wirksamkeit der beruflichen Massnahmen D: Hohe Zugangshürden zu den beruflichen Massnahmen E: Fehlender Anreiz für erhöhte Erwerbstätigkeit

Massnahmen 4. IVG-Revision Vernehmlassungsvorlagen (Input BSV) x

Bundesgesetz über die IV x

5. IVGRevision Vernehmlassungsvorlage (Input BSV) x

x x x

x x

Die hervorgehobenen Kreuze geben an, in welchen Bereichen schwerpunktmässig Massnahmen getroffen wurden.

Nachfolgend erläutern wir die in den Revisionen diskutierten Massnahmen und verweisen jeweils in Klammer, auf welche Faktoren die Massnahmen Bezug nehmen. Abschliessend zeigen wir die thematische Schwerpunktsetzung des BSV in diesem Bereich auf.

In den Revisionen vorgesehene Massnahmen Der Vernehmlassungsentwurf zur 4. IVG-Revision (2000) beinhaltete zur Optimierung der beruflichen Eingliederung nur gerade eine Neuerung: ­

Artikel 68ter IVG schafft eine gesetzliche Grundlage für die gesamtschweizerische Informationstätigkeit seitens des Bundes über die Versicherungsleistungen. Diese soll insbesondere für eine gezielte Sensibilisierung relevanter Akteurgruppen (Arbeitgeberschaft und Ärzteschaft) hinsichtlich der Thematik der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten genutzt werden.

(Faktor A)

Folgende Änderungen waren in den Vernehmlassungsvorlagen des BSV noch nicht enthalten und wurden ­ initiiert durch BSV-externe Akteure ­ erst in einer späteren Fassung in die 4. IVG-Revision aufgenommen:

2367

­

Artikel 68quarter IVG ermöglicht zeitlich befristete, vom Gesetz abweichende Pilotversuche zur Anstellung Behinderter. Ziel ist es, Erfahrungen mit Massnahmen zu sammeln, die Anreize für die vermehrte Beschäftigung eingliederungsfähiger Behinderter schaffen. (Faktor A)

­

Versicherte haben gemäss dem revidierten Artikel 18 Absatz 1 IVG einen Rechtsanspruch auf aktive Unterstützung bei der Suche eines geeigneten Arbeitsplatzes sowie auf begleitende Beratung im Hinblick auf die Aufrechterhaltung eines bestehenden Arbeitsplatzes. Dies soll in Bezug auf die Suche neuer oder die Erhaltung bestehender Arbeitsverhältnisse eine Gleichstellung Behinderter mit Nichtbehinderten ermöglichen. (Faktor B)

­

Unter bestimmten Bedingungen finanziert die IV die Kosten für eine berufliche Weiterausbildung im bisherigen oder neuen Berufsumfeld (Art. 16 Abs. 2 Bst. c IVG). Daraus folgen die Ausweitung der Übernahme von invaliditätsbedingten Mehrkosten im Bereich der beruflichen Weiterausbildung und eine Gleichbehandlung der verschiedenen Weiterausbildungen. (Faktor D)

In der 5. IVG-Revision sind gemäss Vernehmlassungsentwurf folgende Massnahmen geplant: ­

In Ergänzung zu dem bereits bestehenden Instrumentarium sollen insbesondere für die Gruppe der psychisch Kranken und der beruflich schlecht Qualifizierten zusätzliche Integrationsmassnahmen angeboten werden. Diese bestehen in Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen und Massnahmen zur sozialberuflichen Rehabilitation. Ziel dieser Massnahmen ist es, die Erwerbsfähigkeit der Versicherten wieder herzustellen, zu erhalten oder zu verbessern, die Möglichkeit einer vorübergehenden Beschäftigung zu bieten respektive die Voraussetzungen für Massnahmen beruflicher Art zu schaffen (Art. 14a nIVG ). ( Faktoren C, D)

­

Die Versicherten werden gemäss Artikel 6a nIVG zu einer aktiven Mitwirkung bei der Wiedereingliederung verpflichtet. (Faktor C)

­

Das Taggeld während Anlernzeiten (Art. 20 IVV) soll neu durch einen Anspruch auf Einarbeitungszuschüsse (Art. 18a Abs. 3 nIVG) ersetzt werden. Die Gewährung dieser Leistung soll zudem nicht nur möglich sein, wenn die IV-Stelle selber eine Arbeitsstelle vermittelt hat, sondern allgemeiner, wenn im Rahmen der Arbeitsvermittlung ein Arbeitsplatz gefunden worden ist. (Faktor D)

­

Gemäss Artikel 18a Absatz 4 nIVG kann der Bundesrat vorsehen, dass die Versicherung krankheits- oder invaliditätsbedingte Beitragserhöhungen der beruflichen Vorsorge und der Krankentaggeldversicherung an einem im Rahmen der Arbeitsvermittlung gefundenen Arbeitsplatz während einer bestimmten Zeit übernimmt. (Faktor A)

­

Die Fehlanreize hinsichtlich der Nutzung der Resterwerbsfähigkeit sollen behoben werden. Wenn ein wachsendes Erwerbseinkommen eines IVBezügers zu einem geringeren Invaliditätsgrad führt, soll die Rente zwar weiterhin reduziert werden. Der damit verbundene Einkommensverlust soll indessen gemäss Artikel 31 nIVG durch eine Ausgleichszahlung aufgefangen werden. (Faktor E)

2368

Schwerpunktsetzung in den beiden Revisionen Das BSV ergriff in der Erarbeitung der Vernehmlassungsvorlage zur 4. IVGRevision kaum Massnahmen zur Optimierung der beruflichen Eingliederung. Der Entwurf beinhaltete nur eine generell formulierte Massnahme ­ die Verbesserung der allgemeinen Informationstätigkeit ­ um Probleme in diesem Bereich anzugehen.

Weitere Massnahmen, insbesondere die aktive Arbeitsvermittlung, wurden erst später in die Vorlage zur 4. IVG-Revision aufgenommen. Die IVSK und vor allem die DOK kritisierten in der Vernehmlassung zur 4. IVG-Revision im Jahr 2000 nachdrücklich, dass angesichts der starken Zunahme der Rentner/-innen die Förderung der beruflichen Eingliederung vom BSV nicht angegangen wurde. Die DOK hatte schon 1992 in ihrem Grundlagenpapier, das Vorschläge für eine 4. IVGRevision skizzierte, explizit auf Lücken bei den Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung hingewiesen.55 Erst in der 5. IVG-Revision rückte das BSV die Optimierung der beruflichen Eingliederung ins Zentrum. Neben dem Thema Früherkennung (vgl. Abschnitt 11.2.1) bilden insbesondere die geplanten Integrationsmassnahmen eines der Kernstücke der Vorlage. In Anpassung der Vernehmlassungsvorlage sollen diese Massnahmen auf Grund der Vernehmlassungsergebnisse nun noch gezielter im Rahmen eines individuellen Eingliederungsplans mit konkreten individuellen Zielsetzungen angeordnet werden.56 Wie im Bereich Früherkennung bildete das BSV zur Ausarbeitung dieses Themenbereichs im Anschluss an die Vernehmlassung eine Arbeitsgruppe mit externen Fachpersonen. Diese Stossrichtung stiess auf breite Anerkennung. Die IVSK und die DOK kritisierten jedoch in ihren Stellungnahmen zur 5. IVGRevision, dass das Thema der sozialen Verantwortung der Arbeitgeberschaft nach wie vor konsequent ausgeklammert wird57 und im Bereich «Anreize für Arbeitgeber für die Beschäftigung von Behinderten» wenig bis keine Massnahmen vorliegen.58 Beide Akteure hatten schon in der 4. IVG-Revision auf die Wichtigkeit dieser Thematik hingewiesen.59 Diesbezügliche Massnahmen wurden zwar in der Botschaft zum ersten Teil der 4. IVG-Revision zur Prüfung angekündigt, jedoch im Anschluss nicht mehr aufgegriffen.60

11.2.3

Problemdimension 3: Kantonaler Vollzug unter Aufsicht des Bundes

Eine dritte Problemdimension, die sich gemäss dem Bericht der PVK auf die Entwicklung der Rentenbestände ungünstig auswirken kann, sind weite Ermessensspielräume auf Grund des dezentralen Vollzugs der IV sowie Mängel bei der Bundesaufsicht über die IV-Stellen. Die einzelnen Faktoren und entsprechende Massnahmen in den Gesetzesrevisionen sind in der nachfolgenden Tabelle aufgeführt.

55 56 57 58 59 60

DOK 1992, S. 12 ff.

EDI Presse- und Informationsdienst, Medienmitteilung vom 13. April 2005.

IV-Stellen-Konferenz IVSK (20049): Vernehmlassung der IVSK zur 5. IV-Revision, Stans, S. 12.

Dachorganisationskonferenz der privaten Behindertenhilfe DOK (2004): Vernehmlassung der DOK zur 5. IVG-Revision, S. 6.

IVSK 2000, 12.; DOK 2000, S. 10 f.

Bundesrat 2000, S. 60.

2369

Tabelle 6 Problemdimension 3 und entsprechende Massnahmen in den Revisionen Problemdimension 3: Kantonaler Vollzug unter Aufsicht des Bundes Faktoren A: Lücken bei der Bundesaufsicht über die IV-Stellen B: Mangelnde Aufsichtskompetenzen und Mehrfachrolle des BSV C: Unzweckmässige Steuerungsmittel des Bundes

Massnahmen 4. IVG-Revision Vernehmlassungs-vorlagen (Input BSV) x

Bundesgesetz über die IV x

5. IVGRevision Vernehmlassungsvorlage (Input BSV) x x

x

x

x

Die hervorgehobenen Kreuze geben an, in welchen Bereichen schwerpunktmässig Massnahmen getroffen wurden.

Wiederum erläutern wir im Anschluss die einzelnen Massnahmen und ordnen diese den entsprechenden Faktoren zu. Abschliessend zeigen wir zusammenfassend auf, welchen Stellenwert das BSV dieser Problemdimension in den Revisionen beigemessen hat.

In den Revisionen vorgesehene Massnahmen In der der 4. IVG-Revision wurden vom BSV folgende Massnahmen mit Relevanz für den kantonalen Vollzug unter Aufsicht des Bundes geplant und umgesetzt.

­

Die Frequenz der bisher alle drei Jahre stattfindenden Kontrollen der kantonalen IVST durch das BSV wird ab 2006 auf einmal pro Jahr erhöht. (Faktor A)

­

Mit Artikel 68 IVG wurde eine gesetzliche Grundlage für die Finanzierung statistischer Erhebungen und Wirkungsanalysen geschaffen. Diese erlaubt die Durchführung von Untersuchungen für die Entwicklung von Steuerungsinstrumenten in der IV mit Mitteln der Versicherung. Die Erstellung wissenschaftlicher Auswertungen soll die Anwendung des Gesetzes überwachen und evaluieren, dessen Vollzug verbessern, dessen Wirksamkeit fördern und Gesetzesanpassungen vorschlagen. (Faktor C)

Im Vernehmlassungsentwurf zur 5. IVG-Revision sind folgende Neuerungen zur Harmonisierung der Praxis aufgeführt: ­

Die Bundeszuständigkeit soll auf die Organisation der IVST ausgeweitet werden. Der Bund kann gemäss Artikel 54 nIVG nach Anhörung der Kantone die Einrichtung von (regionalen) IVST und deren Standort bestimmen.

(Faktor A)

­

Es soll eine Aufsichtskommission geschaffen werden, in der die Partner, welche die IV mitfinanzieren, angemessen vertreten sind; in der Kommission sollen neben Bund und Kantonen insbesondere auch die Sozialpartner vertreten sein. Dadurch soll die Aufsicht verstärkt und die Kumulation von Aufgaben beim BSV vermieden werden. Zukünftig soll das BSV weiterhin

2370

die materielle Aufsicht über die von den IV-Stellen zugesprochenen Leistungen übernehmen, während der Aufsichtskommission neben anderen Aufgaben gemäss Artikel 64b nIVG insbesondere die finanzielle und administrative Aufsicht über die IV-Stellen zukommt. (Faktor B) ­

Die Bundesaufsicht über die Durchführung der IV soll gestärkt werden. Der Bund soll die IVST künftig über Wirkungsziele steuern und finanzieren können. Er kann mit den IVST Leistungsvereinbarungen abschliessen und ihnen Mindestvorgaben in Bezug auf ihre Organisation, Arbeitsabläufe und die Qualifikation ihres Personals machen. Zudem ist der Bund befugt, die Geschäftsführung der IV-Stellen zu prüfen und soll Massnahmen ergreifen können, wenn er Mängel bei der Führung der IV-Stellen feststellt. (Faktor C)

Schwerpunktsetzung in den beiden Revisionen Das Thema Aufsicht hatte in der 4. IVG-Revision nur einen geringen Stellenwert.

Der Vernehmlassungsentwurf zur 5. IVG-Revision gewichtet ursprünglich unter dem Stichwort Harmonisierung der Praxis Massnahmen zur Optimierung der Aufsicht und der Steuerung stark. Seit dem Wechsel an der Spitze des BSV und im Geschäftsfeld IV wird diesen Massnahmen jedoch etwas weniger Relevanz beigemessen. Im Botschaftsentwurf zur 5. IVG-Revision vom Juni 2005 sind die Massnahmen zur Harmonisierung der Praxis, wie sie im Vernehmlassungsentwurf noch enthalten waren, in abgeschwächter Form aufgeführt.61

11.2.4

Problemdimension 4: Weit reichendes Leistungs- und Adressatenspektrum der IV

Schliesslich wird im Bericht der PVK die Hypothese aufgestellt, dass der im Vergleich zu ausländischen Systemen grosse Adressatenkreis und die weit reichenden Leistungen der IV einen Einfluss auf die hohen IV-Rentenbestände ausübe.62 In der Tabelle 7 sind diesbezüglich die einzelnen Faktoren aufgeführt.

61 62

Bundesrat (2005): Botschaft über die 5. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, Bern, S. 80 ff. (Entwurf zuhanden der Ämterkonsultation).

PVK 2005, S. 18.

2371

Tabelle 7 Problemdimension 4 und entsprechende Massnahmen in den Revisionen Problemdimension 4: Weit reichendes Leistungs- und Adressatenspektrum Faktoren A: Leistungsgewährung ohne Beitragszahlung B: Kurze Mindestdauer der Versicherungsunterstellung C: Karrierezuschlag für Junginvalide D: Teilrenten E: Dauerhafte Renten F: Asymmetrien bei der Berechnung des IV-Grades G: Negativer Anreiz des IV-Taggeldsystems H: Zusatzrenten, Härtefallrente I: Internationale Verpflichtungen

Massnahmen 4. IVG-Revision VernehmlasBundesgesetz sungsvorlagen über die IV (Input BSV)

5. IVG-Revision Vernehmlassungsvorlage (Input BSV)

x x x (Abschaffung ¼-Rente)

x (Einführung ¾-Rente)

x

x

x

x

x

x

Nachfolgend erläutern wir die in den Revisionen diskutierten Massnahmen und verweisen jeweils in Klammer, auf welche Faktoren die Massnahmen Bezug nehmen. Abschliessend zeigen wir auch innerhalb dieser Problemdimension die thematische Schwerpunktsetzung des BSV auf.

In den Revisionen vorgesehene Massnahmen Die 4. IVG-Revision beinhaltete im Zusammenhang mit dem Leistungs- und Adressatenspektrum der Versicherung namentlich folgende geplante und umgesetzte Neuerungen: ­

Der erste Teil der 4. IVG-Revision sah die Abschaffung der Viertelrente vor, was schliesslich zur Ablehnung der Vorlage in der Volksabstimmung führte.

Die Einführung der Dreiviertelrente bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 60 Prozent war in der Vernehmlassungsvorlage zum zweiten Teil der IVG-Revision noch nicht enthalten und wurde erst im Rahmen der parlamentarischen Beratung in das Gesetz aufgenommen. (Faktor D)

­

Das IV-Taggeldsystem wurde in Anlehnung an jenes der obligatorischen Unfallversicherung angepasst. (Faktor G)

­

Die Zusatzrenten für Ehepartner von Neurentnern wurden analog zur entsprechenden Regelung bei der Altersvorsorge im Rahmen der 10. AHVRevision aufgehoben. Nicht betroffen von dieser Aufhebung waren Zusatzrenten, welche bei In-Kraft-Treten der 4. IVG-Revision bereits liefen.

(Faktor H)

2372

­

Die Härtefallrente in bestimmten Fällen wurde aufgehoben; gleichzeitig wurde für Bezüger einer Viertelrente ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen geschaffen. (Faktor H)

Die Vernehmlassungsvorlage zur 5. IVG-Revision sieht im Leistungsbereich der IV folgende Neuerungen vor: ­

Die Mindestbeitragsdauer, die zum Bezug einer ordentlichen IV-Rente notwendig ist, soll von gegenwärtig einem auf neu drei Jahre erhöht werden.

Damit soll eine vorsorgliche Anmeldung bei der IV nach nur gerade einem Jahr Aufenthalt in der Schweiz vermieden werden. (Faktor B)

­

Der Karrierezuschlag für Junginvalide soll aufgehoben werden. Die Renten sollen neu auf der Grundlage des zuletzt ohne Gesundheitsschaden erzielten Einkommens berechnet werden. (Faktor C)

­

Das erste vom BSV erarbeitete Dokument, in welchem die 5. IVG-Revision angekündigt wurde, sah die Einführung eines Rentensystems vor, wonach Renten insbesondere in den ersten Jahren nur befristet ­ und dies abgestuft ­ zugesprochen werden sollten. Dieses Vorhaben wurde im Anschluss nicht mehr aufgegriffen.63 (Faktor D)

­

Das IV-Taggeldsystem soll an jenes der Arbeitslosenversicherung angepasst werden. Gewisse Ausnahmen vorbehalten, soll in Anlehnung an die ALV und die Unfallversicherung (UV) auch die Mindestgarantie beim IV-Taggeld für Personen mit kleinem Einkommen und für Nichterwerbstätige aufgehoben werden. (Faktor G)

­

Die laufenden Zusatzrenten, die von der entsprechenden Neuregelung im Rahmen der 4. IVG-Revision nicht berührt waren, sollen aufgehoben werden. (Faktor H)

Schwerpunktsetzung in den beiden Revisionen Bei den in Bezug auf die Problemdimension weit reichendes Leistungs- und Adressatenspektrum der IV aufgeführten Massnahmen handelt es sich in erster Linie um gezielte Sparvorschläge zur Verminderung der Ausgaben der IV. Sie fokussieren primär die Konsolidierung der finanziellen Situation der IV und sind weniger als explizite Reaktion auf das Phänomen der steigenden Anzahl Neurentner/-innen zu bezeichnen.

Nach der Vernehmlassung zur 5. IVG-Revision, nahm das BSV innerhalb dieser Problemdimension schwerpunktmässig eine Massnahme auf, welche im Vernehmlassungsentwurf noch nicht enthalten war. In einer vom BSV eingesetzten Arbeitsgruppe wurde das Thema strengere Definition des Invaliditätsbegriffs für den Anspruch auf IV-Rente diskutiert und einen Vorschlag für die Botschaft erarbeitet.

Demnach soll der Zugang zur IV-Rente erschwert werden, indem die gesetzliche Definition des Invaliditätsbegriffs restriktiver und der Anspruch auf eine Rente eingeschränkt wird. Eine Rente soll grundsätzlich nur zugesprochen werden, wenn Eingliederungsmassnahmen von vornherein als erfolglos beurteilt werden oder solche Massnahmen trotz Bemühen der versicherten Person nicht zum angestrebten Ziel führen.64 63 64

EDI/BSV 2003, S. 6.

EDI Presse- und Informationsdienst, Medienmitteilung vom 13. April 2005.

2373

12

Fazit

In Teil C ging die Evaluation auf die Frage ein, wie das BSV seine Aufgabe der Weiterentwicklung der Gesetzgebung im Rahmen der 4. und 5. IVG-Revision erfüllt hat. Abschliessend halten wir die wichtigsten Erkenntnisse fest.

Nahm das BSV seinen Handlungsspielraum bei der Gestaltung von Gesetzesrevisionen im Bereich IV wahr?

1.

Das BSV reagierte bei der Gestaltung von Gesetzesrevisionen primär auf Themen, welche verwaltungsextern oder vom Departement eingebracht wurden. Insgesamt muss die Strategie des BSV bei der Gestaltung von Gesetzesrevisionen im Bereich der IV als passiv bezeichnet werden. In der 4. IVG-Revision nahm das BSV primär die Anliegen der Behindertenorganisationen auf und entwickelte diese weiter. Die 5. IVG-Revision wurde vom Departementvorsteher ausgelöst. Die Themen wurden vom Departement vorgegeben und mussten in kurzer Zeit vom BSV ausgearbeitet werden. Der Prozess verlief wenig koordiniert und der grosse politische Druck schränkte den Gestaltungsfreiraum des BSV ein. Das BSV handelte vorwiegend reaktiv.

2.

Zur reaktiven Vorgehensweise trägt die BSV-interne Organisation der Zuständigkeiten bei. Bis 1999 gab es keine eigenständige Einheit, die sich explizit um die gesetzgeberischen Aufgaben kümmerte und auch heute ist im BSV dasselbe Personal, das Aufgaben im Bereich Aufsicht sowie eigene Vollzugsaufgaben in der IV wahrnimmt, mit der Aufgabe der Weiterentwicklung der Gesetzgebung betraut. Die fehlende funktionale Differenzierung zwischen gesetzgeberischen Aufgaben sowie Vollzugs- und Aufsichtsaufgaben haben vor dem Hintergrund knapper Ressourcen dazu beigetragen, dass das BSV die allgemeinen Interessen in Sachen Gesetzgebung nur zweitrangig verfolgte.

3.

Zur Erklärung der reaktiven Vorgehensweise, welche das BSV im Gesetzgebungsprozess wahrgenommen hat, ist jedoch der Umstand am wichtigsten, dass das Amt seine zentrale Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung in der Konkretisierung der Anliegen sieht, welche vom Parlament, vom Departement oder von wichtigen Akteurgruppen aufgegriffen werden. Ein AgendaSetting des BSV auf Grund spezifischer Sachkompetenz in der IV-Thematik wird dagegen nicht als vordringliche Aufgabe des Amtes erachtet.

Erfolgte eine Zusammenarbeit des BSV mit den BSV-externen Akteuren?

4.

2374

Der Einbezug externer Akteure ist primär über die vom Bundesrat eingesetzte AHV/IV-Kommission geregelt. Die AHV/IV-Kommission nimmt ihre Rolle jedoch nicht im Sinne eines Strategieorgans wahr. Sie berät in erster Linie über Vorlagen. Die Zusammenarbeit des BSV mit weiteren externen Akteurgruppen zur inhaltlichen Entwicklung der Gesetzgebung erfolgte in beiden Revisionen nicht systematisch und bei der 5. IVG-Revision sehr spät.

In der 4. IVG-Revision zog das BSV in einer frühen Phase externe Akteure zur Entwicklung der Themen bei. In der 5. IVG-Revision gab es in der ersten Phase der Erarbeitung der Revision auch auf Grund des Zeitdrucks keinen Einbezug von verwaltungsexternen Akteurgruppen. Erst nachdem die

Vernehmlassung durchgeführt worden war, wurden Arbeitsgruppen zur Erarbeitung der definitiven Botschaftsinhalte gebildet.

5.

Die Zusammenarbeit zwischen dem BSV und den IVST war in den letzten Jahren blockiert. Inhaltliche Differenzen und der Kommunikationsstil gegenüber den IVST trugen dazu bei, dass lange Zeit keine fruchtbare Kooperation zwischen diesen beiden Akteuren möglich war. Die IVST wurden daher bis vor kurzem nicht in die Entwicklung der IV-Gesetzgebung einbezogen. Relevantes Praxiswissen der Vollzugsverantwortlichen wurde dadurch bei der Bearbeitung der Vorlagen nicht berücksichtigt. Diese Situation hat sich nicht zuletzt auf Grund des personellen Wechsels an der Spitze des Geschäftsfelds IV in den letzten Monaten deutlich entspannt.

Verfügte das BSV über die notwendigen (wissenschaftlichen) Grundlagen zur Weiterentwicklung der Gesetzgebung?

6.

Das BSV verfügte bis 1999 nur über wenige wissenschaftliche Grundlagen zur Weiterentwicklung der IV-Gesetzgebung. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Invalidität und Behinderung keine BSV-internen Forschungsthemen.

Das BSV schöpfte die internen Forschungsressourcen nicht aus und verpasste es, angesichts der alarmierenden Entwicklung der IV, frühzeitig relevante Themenfelder zu bestimmen und für die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen zu sorgen. Es stützte sich daher bei der Ausarbeitung der 4. IVG-Revision nur zu einem kleinen Teil auf wissenschaftliche Grundlagen ab. Für die Ausarbeitung der Vernehmlassungsvorlage zur 5. IVGRevision wurden vermehrt Forschungsergebnisse ­ insbesondere zum Thema Rentenwachstum ­ berücksichtigt. Seit 2001 verfügt das BSV zudem über differenzierte Prozessdaten zur Geschäftsabwicklung der IVST. Die Forschung spielt innerhalb des BSV bis heute aber eine untergeordnete Rolle für die Weiterentwicklung der Gesetzgebung. Nach wie vor wird der BSVinterne Forschungsbereich nicht systematisch in die gesetzgeberische Arbeit des BSV einbezogen.

Reagierte das BSV inhaltlich auf das Problem des Rentenwachstums im Sinne einer Früherkennung?

7.

Das BSV nahm die Problematik des Rentenwachstums zwar wahr, erkannte deren Dringlichkeit jedoch erst spät. Die fehlende Sensibilisierung für die Dringlichkeit des Problems wurde dadurch begünstigt, dass die Thematik bis vor kurzem nur am Rande Gegenstand der politischen Diskussion war.

Weder das Parlament noch der Bundesrat griffen das Thema in dieser Zeit auf. Vor diesem Hintergrund verpasste es das BSV, in der 4. IVG-Revision eine grundsätzliche Strategie zur Eindämmung des Rentenwachstums zu entwickeln. Ausdruck der ungenügenden Sensibilisierung ist auch, dass sich das BSV bis Ende der Neunzigerjahre nur ungenügend um wissenschaftliche Grundlagen zur Erklärung des Phänomens des Rentenwachstums sorgte

8.

Das BSV wollte der Problematik des Rentenwachstums lange Zeit primär mit organisatorischen und verfahrenstechnischen Optimierungen begegnen.

Ziel war vor allem die einheitlichere und striktere Anwendung bestehender Kriterien im Vollzug der IV. Daneben sollten gezielte Sparmassnahmen zur Entlastung der IV beitragen. Das leitende Motiv der 4. IVG-Revision bestand in erster Linie in der längerfristigen Eindämmung des Ausgabeüber2375

hangs und nicht in der expliziten Bekämpfung der steigenden Anzahl IV-Rentenbezüger/-innen. Relevante Probleme des Rentenwachstums, insbesondere im Bereich der beruflichen Eingliederung, wurden kaum wahrgenommen, obschon seitens wichtiger externer Akteure schon früh auf diesbezügliche Schwachstellen hingewiesen worden war. Erst in der 5. IVGRevision rückte das Thema Rentenwachstum explizit ins Zentrum und es wurden Massnahmen erarbeitet, welche die Problematik auf mehreren Ebenen angehen.

Erfüllt das BSV seine Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung auf effiziente Weise?

9.

Das BSV erfüllte seine Aufgaben im Bereich der Gesetzgebung wenig effizient, da es vorhandene Ressourcen nicht optimal nutzte. Insbesondere die mangelhafte BSV-interne Zusammenarbeit im Bereich der Forschung sowie der unsystematische und zum Teil späte Einbezug externer Akteure trugen dazu bei. Die fehlende Zusammenarbeit zwischen dem BSV und den IVST blockierte eine effiziente Weiterentwicklung der Gesetzgebung zusätzlich und in besonderem Masse.

Zentrale Erkenntnisse dieses Untersuchungsteils sind somit: ­

Das BSV sieht seine zentrale Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung in der Konkretisierung der Anliegen, welche extern aufgegriffen werden und nicht in einem aktiven Agenda-Setting auf Grund spezifischer Sachkompetenz.

­

Bei der Weiterentwicklung der Gesetzgebung erfolgten der Einbezug externer Akteure und der Rückgriff auf interne Kompetenzen nicht systematisch.

Insbesondere nutzt das BSV seine internen Forschungs- und Statistikressourcen kaum. Spannungen blockierten zudem bis vor kurzem die Integration der IVST in den Gesetzgebungsprozess.

­

Das BSV erkannte die Dringlichkeit der Problematik des Rentenwachstums erst spät. Das Amt verpasste es, frühzeitig eine grundsätzliche Strategie zur Eindämmung des Rentenwachstums zu erarbeiten.

­

Das BSV hat seinen Auftrag im Bereich der Entwicklung der Gesetzgebung gemäss Artikel 11 der Organisationsverordnung des EDI (OV-EDI) nur beschränkt wahrgenommen.

2376

Literatur Grundlagen der Dokumentenanalyse Berichte zur Geschäftstätigkeit der IVST erstellt durch das BSV (Jahre 2000­2003).

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Münger, H.-P. (1997): Bundesamt für Sozialversicherung. Überprüfung des Verfahrens zur Ausrichtung von individuellen Leistungen der IV, Bern.

2378

Anhang Mit folgenden Personen wurden leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt: BSV, Direktor: Herr Yves Rossier BSV, Geschäftsfeld IV, Leitung: Herr Alard du Bois-Reymond BSV, Geschäftsfeld IV, ehemalige Leitung: Frau Beatrice Breitenmoser BSV, Geschäftsfeld IV, Bereich Grundlagen : Herr Benno Schnyder BSV, Geschäftsfeld IV, Bereich Aufsicht: Herr Ralf Kocher BSV, Geschäftsfeld IV, Bereich Spezialaufgaben: Frau Daniela Foffa BSV, Abteilung Forschung und Entwicklung, Leitung: Herr Ludwig Gärtner IVST: Leiter der IVST BE, LU, NW, SO, VD, SZ, SH, BL IVSK, Präsident: Herr Andreas Dummermuth Pro Infirmis Schweiz, Leitung Sozialpolitik: Herr Urs Dettling AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz, Bereichsleitung Sozialpolitik und Mitglied AHV/IV-Kommission: Frau Ursula Schaffner SAEB Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter, stv Zentralsekretär und Mitglied AHV/IV-Kommission: Herr Georges Pestalozzi-Seger seco, Direktion für Arbeit, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, Leitung: Herr Dominique Babey, seco, Leitung Sektion AVAM/RAV/LAM: Herr Florian Imstepf Universität Freiburg, Professur für Sozialversicherungsrecht: Herr Erwin Murer

Impressum Projektbearbeitung Ruth Bachmann, lic. phil. I, Interface (Projektleitung) Franziska Müller, lic. rer soc., Interface Adrian Vatter, Prof. Dr. rer. pol. ,Universität Konstanz Andreas Balthasar, Dr. rer. pol. (Evaluationswissenschaftliche Qualitätssicherung) Helen Monioudis, Dr. iur. (externe juristische Beratung) Weitere informationen Institut für Politikstudien Seidenhofstr. 12 CH-6003 Luzern Tel. +41 (0)41 412 07 12 Fax +41 (0)41 410 51 82 www.interface-politikstudien.ch Projektreferenz Luzern, 1. Juni 2005 Projektnummer: P04-40

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