Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen über Massnahmen zur Qualitätssicherung bei der brieflichen Stimmabgabe vom 31. Mai 2006

Sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte Umfragen der Bundeskanzlei zur Stimmabgabe bei eidgenössischen Volksabstimmungen von 1997 und 2005 haben gezeigt, dass die 1994 liberalisierte briefliche Stimmabgabe zunehmend stärker zur bevorzugten Form der Teilnahme an Urnengängen geworden ist. Dies betrifft zwar nicht alle Kantone in gleichem Masse. In Kantonen mit Stimmzwang oder Landsgemeinde scheint die Bevölkerung zumindest bisher stärker am eigentlichen Gang zur Urne festzuhalten. In den meisten übrigen Kantonen hingegen geben mittlerweile über 80 Prozent der Stimmenden ihre Stimme brieflich ab.

Erfreulicherweise ist seit der Einführung der voraussetzungslosen brieflichen Stimmabgabe auch die durchschnittliche Stimmbeteiligung leicht angestiegen. Dabei sticht die deutliche Zunahme der Stimmbeteiligung in den französischsprachigen Gebieten ins Auge. Sie bildet den besten Garanten gegen eine Majorisierung der welschen Stände und dient so auch dem tiefen Zusammenhalt der Eidgenossenschaft.

Mit der voraussetzungslos zulässigen brieflichen Stimmabgabe geht die Schweiz weit über das hinaus, was in jenen Staaten zugelassen wird, welche die briefliche Stimmabgabe auf nationaler Ebene kennen. Zum Instrumentarium der halbdirekten Demokratie muss die Schweiz ganz besondere Sorge tragen: Derweil periodische Wahlen in den meisten Staaten der Welt heute Standard sind, hat die Schweiz seit der Französischen Revolution mehr als einen Drittel sämtlicher Sachabstimmungen des Volkes auf gesamtstaatlicher Ebene rund um den Erdball durchgeführt. Die Schweizer Stimmberechtigten sind mindestens zehnmal öfter zur Urne gerufen als Stimmbürger irgendeines andern Staates.

Dabei spielt auch die föderalistische Vielfalt der Schweiz eine grosse Rolle. Es sind die Kantone, welche sowohl die Nationalratswahlen als auch eidgenössische Volksabstimmungen auf ihrem Gebiet durchführen, und für viele Verfahrensfragen ist dabei kantonales Recht massgebend. Aus diesem Grunde gestatten wir uns, mit einigen Anliegen zur brieflichen Stimmabgabe an Sie zu gelangen, nachdem uns von da und dort Bedenken zu Risiken brieflicher Stimmabgabe zur Kenntnis gekommen sind und verschiedenen Orts auch Missbräuche der nachstehend abgehandelten Art bekannt geworden sind.

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Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen über Massnahmen zur Qualitätssicherung bei der brieflichen Stimmabgabe

1.

Generell scheint es uns angebracht, aufgrund der veränderten Stimmgewohnheiten das gesamte Wahl- und Abstimmungsprozedere zur Stärkung des Vertrauens der Stimmberechtigten sämtlicher Kantone etwas mehr zu formalisieren, zumal die frühere Eidesleistung manchenorts als sichernde Massnahme ausser Übung geraten ist.

Anordnungen a. Im Zusammenhang mit dem Einsammeln, Aufbewahren und Auswerten der Stimmen zu eidgenössischen Urnengängen darf keine Amtshandlung durch eine einzige Person und ohne Protokollierung vorgenommen werden.

2.

Missbrauchsgefahren können beim Sammeln und Aufbewahren eintreffender Couverts bei den Gemeinden entstehen.

Problem Jeder Stimmberechtigte und jede Stimmberechtigte hat einen durch die Verfassung geschützten Anspruch auf ein Abstimmungs- oder Wahlergebnis, das den Willen der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (Art. 34 Abs. 2 BV). Werden mangels Aufsicht briefliche Stimmabgaben beiseite geschafft, so wird das Stimmrecht der betroffenen Personen verletzt. Dies darf kein Gemeinwesen zulassen oder ermöglichen. Das Vertrauen aller Stimmberechtigten bleibt Grundvoraussetzung jeder Funktionstüchtigkeit der halbdirekten Demokratie.

Sorgfaltsmassnahmen und Verfahrensweisen müssen daher jeglichen Diebstahl und jede Veränderung ausgefüllten und abgegebenen Stimm- oder Wahlmaterials verunmöglichen. Auch bei der Ermöglichung vorzeitiger Stimmabgabe in einen Gemeindebriefkasten bleibt die Gemeindeverwaltung verantwortlich für die korrekte Abwicklung des Urnengangs.

Anordnungen Gestützt auf die Artikel 7 Absatz 4 und 8 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1) müssen die Kantone dafür sorgen, dass in sämtlichen Gemeinden folgende Massnahmen umgesetzt werden: b. Alle vorzeitig oder brieflich eingehenden Stimmen müssen umgehend in versiegelte und kontrollierte Urnen geworfen werden, die erst bei der Ermittlung der Ergebnisse und im Beisein mehrerer Personen geöffnet werden dürfen.

c. Vorzeitig bei einer Amtsstelle abgegebene Stimmen müssen protokolliert werden.

d. Die amtlichen Rücksendecouverts der Stimmberechtigten müssen so beschaffen sein, dass Unbefugte nicht erkennen können, wer im zurück gesandten Couvert seine Stimme abgibt.

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3.

Der spezielle Gemeindebriefkasten bietet eine besonders bürgerfreundliche und Kosten sparende Möglichkeit der brieflichen Stimmabgabe und erfreut sich daher zunehmender Verbreitung und Beliebtheit, ermöglicht er doch den ortsansässigen Stimmberechtigten die Stimmabgabe während der gesamten Zeit von der Verteilung des Stimmmaterials an die Stimmberechtigten bis kurz vor Urnenschluss rund um die Uhr und portofrei.

Problem Jeder Stimmberechtigte und jede Stimmberechtigte hat einen durch die Verfassung geschützten Anspruch auf ein Abstimmungs- oder Wahlergebnis, das den Willen der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (Art. 34 Abs. 2 BV). Durch die Entwendung der brieflichen Stimmabgaben aus dem Gemeindebriefkasten wird das Stimmrecht der betroffenen Personen verletzt.

Auch bei der Ermöglichung vorzeitiger Stimmabgabe in einen Gemeindebriefkasten bleibt die Gemeindeverwaltung verantwortlich für die korrekte Abwicklung des Urnengangs. Mangelnde Kapazität des Gemeindebriefkastens kann keine Rechtfertigung sein für Zustände, welche den Diebstahl ausgefüllten und abgegebenen Wahlmaterials ermöglichen.

Anordnungen Gestützt auf die Artikel 5­8 BPR müssen die Kantone dafür sorgen, dass in sämtlichen Gemeinden folgende Massnahmen umgesetzt werden: e. Gemeindebriefkasten zur Ermöglichung vorzeitiger Stimmabgabe müssen gross genug konzipiert werden und regelmässig und im Beisein mehrerer Personen geleert werden. Ihr Inhalt ist in eine versiegelte Urne zu legen.

4.

In den letzten Jahren sind mehrere Fälle ruchbar geworden, in denen weggeworfene Stimmrechtsausweise von unbefugten Personen beispielsweise aus Abfallcontainern behändigt und für die Abgabe zusätzlicher Stimmen missbraucht wurden (vgl. BGE 121 I 187­195).

Problem In den vergangenen Jahrzehnten mussten mehrere kommunale Urnengänge wiederholt werden, deren Ergebnisse infolge solcher Machenschaften der nötigen Glaubwürdigkeit ermangelten. Solche Szenarien müssen für eidgenössische Urnengänge vermieden werden.

Anordnungen f. Auf den Couverts, in denen die Gemeinwesen den Stimmberechtigten ihr Stimmmaterial zustellen, ist ausdrücklich und gut sichtbar zu vermerken: «Wer sein Stimmrecht nicht ausüben will, hat den Stimmausweis vor der Entsorgung zu zerreissen!»

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Wir sind uns bewusst, dass in unserem föderalistischen Staat und bei der Vielfalt der kantonalen Regelungen nicht jede dieser Anordnungen überall umgehend umgesetzt werden kann. Einführungs- und Informationstage mit den Gemeinden, bauliche Massnahmen an Gemeindebriefkasten und wo nötig der Neudruck von Abstimmungscouverts sowie unter Umständen auch die bauliche Anpassung von Gemeindebriefkasten und die Beschaffung neuer Urnen erfordern Zeit. Artikel 91 BPR räumt den Kantonen für den Erlass kantonaler Ausführungsbestimmungen eine Frist von 18 Monaten ein. Es scheint uns angemessen, auch für die Umsetzung dieser Anordnungen eine solche Übergangsfrist einzuräumen.

Dürfen wir Sie höflich darum ersuchen, umgehend die nötigen Massnahmen in die Wege zu leiten, um die vorstehenden Anordnungen umzusetzen, damit auch künftig alle eidgenössischen Volksabstimmungen in gesetzlicher Weise vor sich gehen können.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte, unserer vorzüglichen Hochachtung.

31. Mai 2006

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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