05.081 Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13. Dezember 2002 (Umsetzung von Artikel 123a der Bundesverfassung über die lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter) vom 23. November 2005

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13. Dezember 2002 zwecks Konkretisierung von Artikel 123a der Bundesverfassung über die lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

23. November 2005

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Samuel Schmid Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2005-0131

889

Übersicht Am 8. Februar 2004 haben Volk und Stände die «Verwahrungsinitiative» und damit den neuen Artikel 123a der Bundesverfassung (BV) gutgeheissen. Danach sind Sexual- und Gewaltstraftäter, die als extrem gefährlich und untherapierbar eingestuft werden, lebenslänglich zu verwahren, und es ist ihnen kein Hafturlaub zu gewähren. Ihre Entlassung darf nur geprüft werden, wenn auf Grund neuer, wissenschaftlicher Erkenntnisse die Heilbarkeit des Täters und damit seine künftige Ungefährlichkeit in Aussicht stehen. Gutachten zur Beurteilung solcher Täter müssen immer von zwei voneinander unabhängigen Experten erstellt werden. Für Rückfälle von Personen, die aus der lebenslänglichen Verwahrung entlassen werden, soll die Behörde haften, welche die lebenslängliche Verwahrung aufgehoben hat.

Artikel 123a BV ist in zahlreichen Punkten interpretationsbedürftig. Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf schlägt der Bundesrat deshalb Ausführungsbestimmungen zur neuen Verfassungsbestimmung vor, welche die von den Eidgenössischen Räten im Dezember 2002 verabschiedete Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches ergänzen sollen. Eigentlicher Schwerpunkt bildet eine Regelung der Voraussetzungen und des Verfahrens zur Prüfung der Frage, ob die Fortdauer der lebenslänglichen Verwahrung in konkreten Anwendungsfällen noch berechtigt ist.

890

Inhaltsverzeichnis Übersicht

890

1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Die Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» 1.1.2 Die Verwahrung nach der Revision des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002 1.1.3 Bericht der Arbeitsgruppe «Verwahrung» 1.2 Vernehmlassungsverfahren 1.2.1 Vernehmlassungsentwurf 1.2.2 Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahren 1.3 Grundsatzfragen 1.3.1 Notwendigkeit einer Ausführungsgesetzgebung zur Umsetzung von Artikel 123a BV 1.3.2 Die Regelungen über die lebenslängliche Verwahrung als Ergänzungen der Revision des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002 1.3.3 Zur Tragweite von Artikel 5 EMRK

893 893

2 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen 2.1 Begutachtung durch zwei unabhängige Sachverständige (Art. 56 Abs. 4bis und 64c Abs. 5) 2.2 Die Voraussetzungen für die Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 64 Abs. 1bis) 2.2.1 Einleitung 2.2.2 Sexual- und Gewaltstraftäter 2.2.3 Extrem gefährlich (Bst. a) 2.2.4 Nicht therapierbar (Bst. b) 2.3 Ergänzung von Artikel 64a Absatz 1 2.4 Die Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 64c) 2.4.1 Einleitung 2.4.2 Prüfung durch die Eidgenössische Fachkommission in Zusammenarbeit mit der kantonalen Vollzugsbehörde 2.4.3 Neue, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Therapierbarkeit 2.4.4 Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung durch das Gericht 2.4.5 Überprüfung während des vorausgehenden Strafvollzuges 2.5 Ergänzung von Artikel 65 2.6 Der Ausschluss von Hafturlaub und anderen Vollzugsöffnungen (Art. 84 Abs. 6bis, Art. 90 Abs. 4ter) 2.7 Die Haftung für Rückfalltaten lebenslänglich Verwahrter (Art. 380bis) 3 Nicht berücksichtigte Vorschläge des Vorentwurfs 3.1 Therapeutische Behandlung psychisch nicht gestörter Täter (Art. 59 Abs. 1 und 63 Abs. 1)

893 894 894 894 894 897 897 897 898 898 900 900 902 902 902 902 903 904 904 904 905 906 907 908 909 909 910 913 913

891

3.2 Nachträgliche Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 65 Abs. 2) 3.3 Lebenslängliche Verwahrung und Revision (Art. 385 Abs. 2)

914 915

4 Militärstrafgesetz

915

5 Auswirkungen 5.1 Auswirkungen auf den Bund 5.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

916 916 916

6 Verhältnis zur Legislaturplanung

916

7 Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

917 917 917

Schweizerisches Strafgesetzbuch (Lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter) (Entwurf)

919

892

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Die Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter»

Am 8. Februar 2004 stimmten Volk und Stände mit deutlicher Mehrheit1 der Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» vom 3. Mai 20002 und damit einem neuen Artikel 123a der Bundesverfassung (BV; SR 101) zu. Dieser trat unverzüglich in Kraft3 und hat folgenden Wortlaut: Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erachtet und nicht therapierbar eingestuft, so ist er wegen des hohen Rückfallrisikos bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Hafturlaub sind ausgeschlossen.

1

Nur wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass der Täter geheilt werden kann und somit keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, können neue Gutachten erstellt werden. Sollte auf Grund dieser neuen Gutachten die Verwahrung aufgehoben werden, so muss die Haftung für einen Rückfall des Täters von der Behörde übernommen werden, die die Verwahrung aufgehoben hat.

2

Alle Gutachten zur Beurteilung der Sexual- und Gewaltstraftäter sind von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen.

3

Bundesrat und Parlament hatten die Initiative bekämpft und zur Ablehnung empfohlen. Sie begründeten dies im Wesentlichen damit, dass die vom Parlament am 13. Dezember 2002 verabschiedeten Änderungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches (nStGB)4 die Gesellschaft umfassender und besser vor gefährlichen Straftätern schützen würden als die von der Initiative vorgeschlagene Regelung5.

1 2 3 4

5

Stimmbeteiligung: 46 %; Ja-Stimmen: 56,2 %; Nein-Stimmen: 43,8 %; Annehmende Stände 19 5/2; Verwerfende Stände 1 1/2 (BBl 2004 2199).

Vgl. BB vom 20. Juni 2003 betr. Gültigerklärung und Abstimmungsempfehlung (BBl 2003 4434).

Vgl. Art. 195 BV.

BBl 2002 8240; in der vorliegenden Botschaft wird das Strafgesetzbuch in der Fassung vom 13.12.2002 mit nStGB, das bis zu deren Inkrafttreten geltende Strafgesetzbuch mit StGB abgekürzt.

Vgl. Botschaft des Bundesrates (BBl 2001 3433); Nationalrat: AB 2003 N 277 296 und 1244; Ständerat: AB 2003 S 579 und 716.

893

1.1.2

Die Verwahrung nach der Revision des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002

Im revidierten Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002 (nStGB) sind die Voraussetzungen zur Verwahrung gefährlicher Straftäter in Artikel 64 sowie die Prüfung und das Verfahren einer allfälligen bedingten Entlassung der Verwahrten in den Artikeln 64a und 64b geregelt. Diese Bestimmungen sollen die Artikel 42 und 43 des geltenden StGB ersetzen.

Mit seiner Botschaft vom 29. Juni 20056 schlägt der Bundesrat nachträgliche Änderung dieser Bestimmungen vor. Namentlich soll Artikel 64 Absatz 1 nStGB dahingehend verschärft werden, dass als Anlasstat für eine Verwahrung ein mit einer Höchststrafe von mindestens fünf Jahren (anstatt zehn Jahren) bedrohtes Verbrechen genügen soll.

1.1.3

Bericht der Arbeitsgruppe «Verwahrung»

Zur Konkretisierung des in der Volksabstimmung vom 8. Februar 2004 gutgeheissenen neuen Artikels 123a der Bundesverfassung (BV) über die lebenslängliche Verwahrung gefährlicher Gewalt- und Sexualstraftäter (vgl. Ziff. 1.1.1) setzte der Vorsteher des EJPD Anfang Mai 2004 eine Arbeitsgruppe (Arbeitsgruppe «Verwahrung») ein. Diese hatte in erster Linie den Auftrag, die notwendigen gesetzlichen Ausführungsbestimmungen zum neuen Verfassungsartikel zu erarbeiten und bis zum Sommer 2004 einen entsprechenden Vorentwurf und Bericht7 vorzulegen. Dieser Entwurf für eine Änderung des Strafgesetzbuches sollte im Wesentlichen dem Wortlaut der neuen Verfassungsbestimmung gerecht werden und gleichzeitig mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sein.

1.2

Vernehmlassungsverfahren

1.2.1

Vernehmlassungsentwurf

Zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe «Verwahrung» (vgl. Ziff. 1.1.3) wurde von Mitte September bis Ende Dezember 2004 ein ordentliches Vernehmlassungsverfahren bei den Kantonen, den politischen Parteien und den interessierten Organisationen durchgeführt.

Der Vorentwurf enthielt zwecks Konkretisierung von Artikel 123a BV über die lebenslängliche Verwahrung folgende Vorschläge zur Ergänzung des revidierten Strafgesetzbuches:

6 7

894

BBl 2005 4689 Bericht der Arbeitsgruppe «Verwahrung» vom 15. Juli 2004 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13.12.2002 betreffend die Umsetzung von Artikel 123a BV über die lebenslängliche Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter und einzelne nachträgliche Korrekturen am neuen Massnahmenrecht (Bezugsquelle: Bundesamt für Justiz, Sektion Strafrecht, 3003 Bern).

Art. 56 Abs. 4bis 4bis Kommt die Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1ter in Betracht, so wird von zwei erfahrenen und voneinander unabhängigen Sachverständigen je ein Gutachten erstellt.

Art. 64 Abs. 1ter 1ter Das

Gericht ordnet die lebenslängliche Verwahrung an, wenn der Täter einen Mord, eine vorsätzliche Tötung, eine schwere Körperverletzung, eine Vergewaltigung, einen Raub, eine Geiselnahme, eine Brandstiftung oder ein anderes Verbrechen begangen hat, durch das er die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen Person schwer beeinträchtigt hat oder beeinträchtigen wollte, und: a.

beim Täter im Vergleich zu anderen Tätern solcher Delikte eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er ein weiteres Verbrechen dieser Art begeht, und;

b.

der Täter aufgrund besonderer Persönlichkeitsmerkmale als dauerhaft nicht therapierbar eingestuft wird, weil die Behandlung langfristig keinen ausreichenden Erfolg verspricht.

Art. 64c

(Prüfung der Entlassung aus der lebenslänglichen Verwahrung)

Bei lebenslänglicher Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1ter prüft die zuständige Behörde auf Gesuch hin, ob neue, wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass der Täter so behandelt werden kann, dass er keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt. Sie entscheidet gestützt auf den Bericht der Eidgenössischen Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich Verwahrter.

1

Kommt die zuständige Behörde zum Schluss, der Täter könne behandelt werden, so bietet sie ihm eine Behandlung an. Diese wird in einer geschlossenen Einrichtung vorgenommen. Bis zur Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung nach Absatz 3 bleiben die Bestimmungen über den Vollzug der lebenslänglichen Verwahrung anwendbar.

2

Zeigt die Behandlung, dass sich die Gefährlichkeit des Täters erheblich verringert hat und so weit verringern lässt, dass er keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt, so hebt das Gericht die lebenslängliche Verwahrung auf und ordnet die Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 oder eine stationäre therapeutische Massnahme nach den Artikeln 59­61 an.

3

Das Gericht kann den Täter aus der lebenslänglichen Verwahrung bedingt entlassen, wenn er infolge andauernder Invalidität, hohen Alters oder schwerer Krankheit keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt. Die bedingte Entlassung richtet sich nach Artikel 64a.

4

Zuständig ist das Gericht, das die lebenslängliche Verwahrung angeordnet hat. Es entscheidet gestützt auf die Gutachten von zwei erfahrenen und voneinander unabhängigen Sachverständigen, die den Täter weder behandelt noch in anderer Weise betreut haben.

5

895

Die Absätze 1 und 2 gelten auch während des Vollzugs der Freiheitsstrafe, welcher der lebenslänglichen Verwahrung vorausgeht. Die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung nach Absatz 3 erfolgt frühestens auf den Zeitpunkt hin, an welchem der Täter zwei Drittel der Strafe oder 15 Jahre der lebenslänglichen Strafe verbüsst hat.

6

Art. 65 Abs. 2 Erweist sich bei einem Verurteilten während des Vollzuges der Freiheitsstrafe, dass die Voraussetzungen der Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 oder der lebenslänglichen Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1ter gegeben sind und im Zeitpunkt der Verurteilung bereits bestanden haben, so kann das Gericht diese Massnahmen nachträglich anordnen. Unter denselben Voraussetzungen kann das Gericht während des Vollzugs der Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 die lebenslängliche Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1ter anordnen. Die Zuständigkeit bestimmt sich nach den Regeln, die für die Wiederaufnahme gelten.

2

Art. 90 Abs. 4ter Während der lebenslänglichen Verwahrung und des vorausgehenden Strafvollzuges werden keine Urlaube oder andere Vollzugsöffnungen bewilligt.

4ter

Art. 380bis

(6. Haftung bei Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung)

Wird eine lebenslänglich verwahrte Person bedingt entlassen oder ihre Verwahrung aufgehoben und begeht diese Person erneut ein Verbrechen gemäss Artikel 64 Absatz 1ter, haftet das zuständige Gemeinwesen für den daraus entstandenen Schaden.

1

Für den Rückgriff auf den Täter und die Verjährung des Anspruchs auf Schadenersatz oder Genugtuung gelten die Bestimmungen des Obligationenrechts über die unerlaubten Handlungen.

2

Für den Rückgriff auf die Mitglieder der anordnenden Behörde ist das kantonale Recht beziehungsweise das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes massgebend.

3

Art. 385 Abs. 2 Keinen Grund für eine Wiederaufnahme bilden Tatsachen und Beweismittel betreffend die Therapierbarkeit eines lebenslänglich Verwahrten, die sich auf nachträglich aus dem Verlauf des Strafvollzugs gewonnene Erkenntnisse abstützen. Das zuständige Gericht entscheidet darüber aufgrund des Berichtes der Eidgenössischen Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich Verwahrter.

2

896

1.2.2

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahren8

Von 117 zur Vernehmlassung eingeladenen Adressaten gingen 67 Antworten ein, nämlich von 3 eidgenössischen Gerichten, 26 Kantonen, 9 (von 15 eingeladenen) Parteien (inklusive alle Bundesratsparteien) und 29 (von 73 eingeladenen) Organisationen. In 11 Antworten wurde ausdrücklich auf eine inhaltliche Stellungnahme verzichtet (2 Gerichte, 3 Kantone, 6 Organisationen).

Die Stellungnahmen zu den in Ziffer 1.2.1 dargestellten Vorschlägen zur Umsetzung von Artikel 123a BV fielen kontrovers aus. Namentlich die grosse Mehrheit der Kantone und kantonale Behördenorganisationen stimmten den Vorschlägen zu.

Hingegen äusserten sich die Bundesratsparteien mit Ausnahme der SVP skeptisch bis ablehnend, während sich bei den kleineren politischen Parteien Zustimmung und Ablehnung etwa die Waage halten. Abgelehnt wurden die Vorschläge auch von vielen wichtigen Organisationen wie Ärzte- und Juristenverbänden, Universitäten, Menschenrechtsorganisationen und der Bischofskonferenz. Rein zahlenmässig betrachtet beträgt das Verhältnis von zustimmenden und ablehnenden Vernehmlassungen ca. 60 : 40 Prozent. Für weitere Ausführungen zu den Vernehmlassungsergebnissen sei auf die Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen (Ziff. 2) verwiesen.

1.3

Grundsatzfragen

1.3.1

Notwendigkeit einer Ausführungsgesetzgebung zur Umsetzung von Artikel 123a BV

Der Bundesrat liess schon während der Abstimmungskampagne zur Initiative durchblicken, dass es im Falle der Annahme der Initiative wahrscheinlich unumgänglich sein werde, die neue Verfassungsbestimmung auf Gesetzesebene zu konkretisieren.

Es gab indessen auch Stimmen, die dafür plädierten, die Auslegung der neuen Verfassungsbestimmung gänzlich der Lehre und der Rechtsprechung zu überlassen9.

Der Bundesrat teilt diese Meinung nach wie vor nicht, weil Artikel 123a BV seiner unbestimmten Rechtsbegriffe wegen ohne Ausführungsgesetzgebung zu viele Fragen offen liesse. Nicht zuletzt die Praktiker und die Praktikerinnen des Straf- und Massnahmenvollzugs erwarten Antworten zur Kernfrage, wie Absatz 2 der neuen Verfassungsbestimmung zu verstehen sei, d.h. unter welchen Voraussetzungen auch die lebenslängliche Verwahrung auf ihre weitere Berechtigung hin überprüft werden darf und muss. Nach dem kontrovers geführten Abstimmungskampf wünschten sich auch die Initiantinnen die Klärung verschiedener strittiger Auslegungsfragen zum neuen Verfassungstext.

Nur wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Vernehmlassungsverfahren äusserten sich ausdrücklich zu dieser Frage. Vereinzelte Gegnerinnen und Gegner der vorgeschlagenen Ausführungsbestimmungen liessen durchblicken, dass für sie der gänzliche Verzicht auf solche Bestimmungen die bessere Lösung wäre.

8

9

Vgl. dazu auch Ziff. 1.2.2.1 der Botschaft des Bundesrates vom 29. Juni 2005 zur Änderung des StGB in der Fassung vom 13.12.2002 und des MStG in der Fassung vom 21.3.2003 (BBl 2005 4689).

Z.B. Prof. Yvo Hangartner im St. Galler Tagblatt vom 13. Februar 2004.

897

1.3.2

Die Regelungen über die lebenslängliche Verwahrung als Ergänzungen der Revision des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002

Mit Blick darauf, dass die vom Parlament am 13. Dezember 2002 verabschiedeten Änderungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches voraussichtlich am 1. Januar 2007 in Kraft gesetzt werden, drängt es sich auf, die Regelungen über die lebenslängliche Verwahrung als Ergänzung dieser revidierten Bestimmungen zu konzipieren und möglichst nahtlos in diese einzufügen. Sofern die Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf die Frage eingingen, stimmten sie diesem Vorgehen durchwegs zu.

Es ist indessen nicht zwingend, diese Ergänzungen gleichzeitig mit den Änderungen vom 13. Dezember 2002 und deren Nachbesserungen im Sinne der Botschaft vom 29. Juni 200510 in Kraft zu setzen. Wie schon erwähnt (vgl. Ziff. 1.1.1) trat Artikel 123a BV mit seiner Annahme am 8. Februar 2004 sofort in Kraft und könnte bei Bedarf, wenn auch verbunden mit erheblichen Auslegungsproblemen, unmittelbar angewendet werden.

1.3.3

Zur Tragweite von Artikel 5 EMRK11

Artikel 5 EMRK garantiert jedermann das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

Geschützt wird die körperliche Bewegungsfreiheit im Sinne der Freiheit vor Festnahme und Haft. Die lebenslängliche Verwahrung einer Person stellt einen Freiheitsentzug gemäss Artikel 5 Absatz 1 EMRK dar. Für die Verwahrung nach Artikel 123a BV kommen in erster Linie die Haftgründe von Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a und e in Frage. Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a EMRK deckt nicht nur die Strafhaft ab, sondern auch andere Formen von Freiheitsentzug, die wegen eines straf- oder disziplinarrechtlichen Tatbestandes von einem Gericht zur Besserung und Sicherung angeordnet werden.12 Gerichtlich angeordnete Sicherungsverwahrung fällt diesfalls nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Gerichtshof) unter Buchstabe a, allenfalls zusätzlich unter Buchstabe e. Nur im Ausnahmefall, dann nämlich wenn ein zu verwahrender Täter vollkommen schuldunfähig ist und deshalb eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausser Betracht fällt, ist allein Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe e EMRK anwendbar.

Artikel 5 EMRK bietet keine Grundlage für präventiv-polizeiliche Freiheitsentziehungen zur Abwehr künftiger Gefahren. Dies gilt insbesondere für die nachträgliche Verwahrung, die in einem gesonderten Verfahren angeordnet werden kann, wenn die im Strafurteil verhängte Freiheitsstrafe verbüsst worden ist. Sie kann nicht gestützt auf Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a EMRK angeordnet werden, weil die

10 11 12

898

BBl 2005 4689 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten; SR 0.101 Guzzardi gegen Italien, Ser. A Nr. 39, Ziff. 100; Joachim Renzikowski, in: Heribert Golsong et al. (Hrsg), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Köln/Berlin/ München, 7. Ergänzungslieferung - Juni 2004, ad Art. 5, N 132; Stefan Trechsel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 200

kausale Verbindung zum ursprünglichen Urteil unterbrochen ist, wenn die Gründe für die Inhaftierung erst nachträglich entstanden sind.

Artikel 5 Absatz 4 EMRK garantiert jeder inhaftierten Person «das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist». Den Nachweis, dass die Voraussetzungen für einen Freiheitsentzug gegeben sind, haben die staatlichen Behörden zu erbringen.13 Dieser Anspruch auf gerichtliche Haftprüfung ist weit gefasst: Er gilt grundsätzlich für alle in Artikel 5 Absatz 1 EMRK vorgesehenen Formen der Haft und erlischt erst nach unbedingter Freilassung. Wenn die Inhaftierung ihre Grundlage in einem Gerichtsurteil hat, ist eine weitere Kontrolle der Rechtmässigkeit der Haft in der Regel nicht mehr nötig, da den durch Absatz 4 geforderten Garantien bereits durch den Anordnungsentscheid Genüge getan wurde.14 Wenn der Freiheitsentzug aber von persönlichen Eigenschaften abhängt, so besteht ein Recht, in angemessenen Zeitabständen die Rechtmässigkeit der Unterbringung überprüfen zu lassen. Dabei ist zu überprüfen, ob das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit weiterhin den Freiheitsanspruch der inhaftierten Person überwiegt. Als persönliche Eigenschaften gelten beispielsweise Geisteskrankheit, psychische Instabilität oder ganz allgemein gemeingefährliche Persönlichkeitsstörungen. Der Gerichtshof geht davon aus, dass diese persönlichen Eigenschaften sich im Verlaufe der Zeit verändern können. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entwicklung teilweise als gering erscheinen mag, bestehe in jedem Einzelfall eine Möglichkeit, dass die in der Person des Inhaftierten liegenden, den Freiheitsentzug rechtfertigenden Gründe nachträglich wegfallen könnten,15 so dass die Fortdauer des Freiheitsentzuges konventionswidrig wäre. Das Recht auf regelmässige Haftprüfung besteht mithin, weil die Gründe, die eine Unterbringung oder Verwahrung anfangs erforderlich machten, später wegfallen können.

Die erstmalige Anordnung des Freiheitsentzuges respektive allfällige spätere Überprüfungen desselben sollen nicht unverzüglich, sondern erst nach einer angemessenen Zeitspanne erneut überprüft werden können. Dies ist aus prozessökonomischen Gründen sinnvoll. Eine
Überprüfung der Rechtmässigkeit der Haft soll erst dann wieder durchgeführt werden, wenn sich entweder die persönlichen Verhältnisse des Täters derart geändert haben oder wenn doch zumindest die Möglichkeit besteht, dass eine weitere Inhaftierung nicht mehr notwendig ist. In mehreren Fällen hat der Gerichtshof seine Praxis zum Begriff der «angemessenen Abstände» konkretisiert; Zeitspannen von mehr als einem Jahr verletzen danach Artikel 5 Absatz 4 EMRK.16 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist es mit der Konvention vereinbar, wenn die Anordnung von längeren oder auf unbestimmte Zeit ausgesprochene Verwahrungen nur auf Gesuch hin auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden.17 Auch ein «gemischtes System», d.h. eine Verbindung von periodischen Überprüfungen von Amtes wegen und von Haftprüfungen nur auf Antrag hin, ist mit der Konvention vereinbar.

13 14 15 16 17

Hutchison Reid gegen Vereinigtes Königreich, Rep 2003 IV, Ziff. 70 f.

De Wilde u.a. gegen Belgien, Ser. A. Nr. 12, Ziff. 79.

Statt vieler Thynne, Wilson und Gunnell gegen Vereinigtes Königreich, Ser. A Nr. 190-A, Ziff. 76; Oldham gegen Vereinigtes Königreich, Rep 2000 V, Ziff. 34.

Zusammenfassung der Praxis in Oldham gegen Vereinigtes Königreich, Rep 2000 V, Ziff. 32 (mit weiteren Hinweisen).

Vgl. Megyeri gegen Deutschland, Ser. A Nr. 237-A, Ziff. 22 lit. a.

899

2

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

2.1

Begutachtung durch zwei unabhängige Sachverständige (Art. 56 Abs. 4bis und 64c Abs. 5)

Artikel 123a Absatz 3 BV verlangt, dass alle Gutachten zur Beurteilung der Sexualund Gewaltstraftäter von mindestens zwei voneinander unabhängigen, erfahrenen Fachleuten unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu erstellen seien. Diese Vorschrift soll als neuer Absatz 4bis in Artikel 56 nStGB eingefügt werden, allerdings klar beschränkt auf die Fälle lebenslänglicher Verwahrung. Es wurde von einer allzu detaillierten Regelung im Gesetz abgesehen, um die Freiheit des Gerichts bei der Auswahl der Beweismittel nicht zu schmälern. Es ist selbstverständlich, dass die Sachverständigen alle für die Beurteilung wichtigen Grundlagen zu berücksichtigen haben, weshalb diese in Artikel 123a BV enthaltene Vorschrift im Gesetzestext nicht ausdrücklich wiederholt werden soll.

Der Wortlaut von Artikel 56 Absatz 4bis stellt klar, dass mindestens zwei Gutachten vorliegen müssen. Es genügt nicht, dass zwei Sachverständige gemeinsam ein Gutachten erstellen, weil sie in diesem Fall nicht mehr als «voneinander unabhängig» gelten können, wie dies die neue Verfassungsbestimmung verlangt.

Verschiedene Vernehmlasserinnen und Vernehmlasser verlangten eine Klarstellung darüber, ob die beiden Gutachten zum gleichen Schluss gelangen müssen. Einige möchten, dass die lebenslänglicheVerwahrung ausgeschlossen wird, wenn sie nicht von beiden Gutachten befürwortet wird. Diesem Anliegen wurde mit einer redaktionellen Angleichung von Artikel 56 Absatz 4bis an die Formulierung von Artikel 64c Absatz 5 bis zu einem gewissen Grad Rechnung getragen. Danach stützt sich das Gericht beim Entscheid über die lebenslängliche Verwahrung auf beide Gutachten, woraus zu schliessen ist, dass die Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung nicht in Frage kommen dürfte, wenn sich betreffend deren Voraussetzungen und Notwendigkeit die beiden Gutachten grundsätzlich widersprechen. Artikel 123a Absatz 1 BV ist kaum anders interpretierbar. In solchen Fällen ist es dem Gericht indessen unbenommen, zu den strittigen Fragen ein drittes Gutachten einzuholen, gehen doch Artikel 123a Absatz 3 BV und Artikel 56 Absatz 4bis davon aus, dass das Gericht mindestens zwei voneinander unabhängige Sachverständige beizieht.

Andererseits müssen für die Anordnung einer lebenslänglichen Verwahrung im Sinne von Artikel 64 Absatz 1bis nicht zwei
in allen Fragen übereinstimmende Gutachten vorliegen. Es kann nicht darum gehen dass das Gericht so lange Gutachten einholt, bis zwei der Gutachten in allen Punkten miteinander übereinstimmen.

Das Gericht stützt sich nicht auf die Anzahl der Gutachten, sondern auf die Befunde und Argumente, die sie enthalten.

Analoges hat für die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung nach Artikel 64c Absatz 5 in Verbindung mit den Absätzen 3 und 4 zu gelten.

Die Arbeitsgruppe «Verwahrung» entschied sich mehrheitlich dagegen, die fachlichen Anforderungen an die begutachtenden Sachverständigen im Gesetz zu konkretisieren, weil dadurch die Auswahlmöglichkeiten und der Spielraum unnötig eingeschränkt würden. Es genüge, die Anforderungen in der Botschaft zu umschreiben.

Der Bundesrat schliesst sich dieser Meinung an, zumal sie auch im Vernehmlassungsverfahren fast ausnahmslos Unterstützung fand, soweit auf die Frage eingegangen wurde. Einige Vernehmlasserinnen und Vernehmlasser unterstrichen, die 900

von der Arbeitsgruppe umschriebenen hohen Anforderungen seien zwar wünschbar, dürften aber nicht zwingend vorausgesetzt werden. Es werde ohnehin schwierig, stets genügend kompetente Sachverständige zu finden. Diese Befürchtung ist begründet, nicht zuletzt mit Blick darauf, dass nach Artikel 123a BV stets die Beurteilungen von mindestens zwei Sachverständigen einzuholen ist. Der Bundesrat hat sich in diesem Sinne schon in der Botschaft zur Verwahrungsinitiative geäussert.18 Aus Fachkreisen wurde die Befürchtung kürzlich deutlich untermauert.19 Es muss also damit gerechnet werden, dass in Fällen, in denen die lebenslängliche Verwahrung erwogen wird, für unbestimmte Zeit nicht zwei qualifizierte Sachverständigen verfügbar sind und die Strafverfahren dementsprechend verlängert werden. Indessen besteht kein Spielraum, das klare Verfassungsgebot, mindestens zwei Sachverständigen zu konsultieren, auf Gesetzesebene zu ändern. Gleichzeitig darf die Lösung des Problems nicht darin bestehen, weniger hohe Anforderungen an die Sachverständigen zu stellen, als sie aus fachlicher Sicht notwendig sind. Abhilfe können hier nur Massnahmen schaffen, die eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wie die von den psychiatrischen Fachgesellschaften eingeleitete Verbesserung der Ausbildung von Sachverständigen.20 Somit bleibt es dabei, dass die Sachverständigen ausgewiesene forensisch psychiatrische Expertinnen und Experten für die legalprognostische Beurteilung und für die Behandlung von Gewalt- und Sexualstraftätern sein müssen. Sie sollten daher

18 19

20

­

über eine langjährige Erfahrung in der intensiven rückfallpräventiven Therapie sowohl von Sexual- als auch von Gewaltstraftätern verfügen;

­

prognostische Stellungnahmen oder Gutachten zu Vollzugsentscheiden verfasst haben;

­

über fundierte Strafvollzugskenntnisse verfügen und während einigen Jahren regelmässig als Sachverständigen bei komplexen Fällen von Gewalt- und Sexualkriminalität tätig gewesen sein;

­

bereits in einem oder mehreren Fällen, in denen das Gericht eine Verwahrung anordnete, strafrechtliche Gutachten erstellt haben, auf die der Gerichtsentscheid abgestützt wurde;

­

aufgrund der Qualität ihrer bisherigen prognostischen Arbeit und ihrer fachlichen Positionierung Gewähr dafür bieten, sowohl den hohen fachlichen Anforderungen als auch dem Erfordernis zu ausgeprägter Übernahme von Verantwortung entsprechen zu können.

BBl 2001 3453 (Ziff. 3.6.3) G. Ebner / V. Dittman / U. Steiner-König / H. Kurt, Verwahrung gefährlicher Straftäter: Kluft zwischen politischen Forderungen und medizinisch-wissenschaftlicher Machbarkeit, in: Schweizerische Ärztezeitung 2005; 86: Nr 22, S. 1346 sowie Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie (SZK), Heft 2/05, S. 71 f.

Vgl. Fussnote 18

901

2.2

Die Voraussetzungen für die Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 64 Abs. 1bis)

2.2.1

Einleitung

Nach Artikel 123a Absatz 1 BV ist ein Sexual- oder Gewaltstraftäter bis an sein Lebensende zu verwahren, wenn er in den für das Urteil massgebenden Gutachten als extrem gefährlich und nicht therapierbar eingestuft wird. Damit werden die Voraussetzungen für die lebenslängliche Verwahrung mit vier mehr oder weniger unbestimmten Rechtsbegriffen umschrieben, so dass der erfasste Täterkreis keine klaren Konturen hat. Im Abstimmungskampf zur Initiative hat denn auch die Frage, was extrem gefährliche, nicht therapierbare Sexual- oder Gewaltstraftäter seien, bekanntlich zu kontroversen Diskussionen geführt. Es besteht hier erheblicher Auslegungsbedarf. Entsprechend dem Vorschlag der Arbeitsgruppe erscheint es sinnvoll, die unbestimmten Begriffe im Gesetz zu konkretisieren und zu diesem Zweck Artikel 64 nStGB mit einem neuen Absatz 1bis zu ergänzen.

2.2.2

Sexual- und Gewaltstraftäter

Der Doppelbegriff «Sexual- und Gewaltstraftäter» soll mit einem Anlasstatenkatalog konkretisiert werden: Die lebenslängliche Verwahrung kommt danach für Täter in Frage, die einen Mord, eine vorsätzliche Tötung, eine schwere Körperverletzung, einen Raub, eine Vergewaltigung, eine sexuelle Nötigung, eine Freiheitsberaubung oder Entführung, eine Geiselnahme, Menschenhandel, Völkermord oder eine Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte nach den Artikeln 108­113 des Militärstrafgesetzes begangen haben, sofern sie dadurch die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer andern Person besonders schwer beeinträchtigt haben oder beeinträchtigen wollten. Diese Qualifizierung, die sich an die Formulierung des Geltungsbereichs des Opferhilfegesetzes anlehnt, macht deutlich, dass nur schwere Formen der aufgezählten Verbrechen als Anlasstaten für die lebenslängliche Verwahrung genügen.

Das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern dieser Bestimmung unter den Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmern betrug etwa 60 : 40 Prozent. Der Vorentwurf enthielt indessen noch keinen abschliessenden Anlasstatenkatalog, sondern einen, der mit einem Auffangtatbestand ergänzt war. Die hauptsächliche Kritik der Gegnerinnen und Gegner dieses Vorschlags lautete denn auch, der Anwendungsbereich für die lebenslängliche Verwahrung werde noch weiter gefasst als Artikel 123a BV verlangt. Es wurde deshalb eine Beschränkung der Anlasstaten auf die schwersten Delikte verlange, etwa durch die Streichung des Auffangtatbestandes. Dieser Kritik wurde, wie aus den einleitenden Erörterungen hervorgeht, vollumfänglich Rechnung getragen.

2.2.3

Extrem gefährlich (Bst. a)

Die Psychiatrie arbeitet nicht mit dem Begriff der extremen Gefährlichkeit. Er wird daher im vorgeschlagenen Gesetzestext als solcher nicht verwendet. Extrem gefährliche Täter sind gemäss Artikel 64 Absatz 1bis Buchstabe a des Entwurfs Personen,

902

bei denen die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass sie weitere Verbrechen jener Art begehen werden, wie sie im Anlasstatenkatalog aufgezählt sind.

Im Vernehmlassungsverfahren stiess in erster Linie die Formulierung des Vorentwurfs auf Kritik, wonach die sehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls des Täters durch den Vergleich mit andern Tätern, die ähnlich schwere Verbrechen begangen haben, festgestellt werden sollte. Der Vergleich schade mehr als er nütze oder er sei theoretisch und für die Praxis untauglich. Dem Einwand wurde mit der Streichung der kritisierten Textpassage Rechnung getragen.

2.2.4

Nicht therapierbar (Bst. b)

Der Begriff therapierbar bzw. untherapierbar führte im Vorfeld der Abstimmung über die Volksinitiative zu besonders kontroversen Diskussionen. Er beschäftigte auch die Arbeitsgruppe längere Zeit.

Die von ihr vorgeschlagene Umschreibung, wonach der betreffende Täter «aufgrund besonderer Persönlichkeitsmerkmale als dauerhaft nicht therapierbar eingestuft wird, weil die Behandlung langfristig keinen ausreichenden Erfolg verspricht» ist nur von wenigen Vernehmlasserinnen und Vernehmlassern ausdrücklich und vorbehaltlos gutgeheissen worden.

Die Kritik der Gegnerinnen und Gegner, die verschiedentlich auf den Standpunkt der Minderheit der Arbeitsgruppe verweisen, geht dahin, dass die Definition gegen berufsethische Regeln der Psychiatrie verstosse, wissenschaftlich nicht fundiert, zu unbestimmt und für die Praxis nicht brauchbar sei. Insbesondere dürfe die Therapierbarkeit nicht allein von Persönlichkeitsmerkmalen abhängig gemacht werden.

Dies erwecke den falschen Eindruck, es gebe typische psychische Verbrechensstrukturen.

Die Hauptkritik, wonach weder die Untherapierbarkeit noch die Wirksamkeit der Therapie auf lange Frist vorausgesagt werden können, richtet sich nicht so sehr gegen die vorgeschlagene Bestimmung des Strafgesetzbuches als vielmehr gegen den neuen Verfassungsartikel. Damit wird jedoch auch das Kernproblem angesprochen: Es gilt einen Begriff bzw. eine Regelung der Verfassung zu konkretisieren, welche von breiten Kreisen der Wissenschaft und der Praxis abgelehnt wird.

Der Bundesrat schlägt eine überarbeitete Definition vor, welche sich an die bereits bestehende Umschreibung in Artikel 64 Absatz 1 Buchstabe b nStGB (Anordnung der ordentlichen Verwahrung) anlehnt.

Die Formulierung «dauerhaft nicht therapierbar» soll verdeutlichen, dass potentiell veränderbare Kriterien (wie etwa die fehlende Motivation des Täters, ein fehlendes rationales Tatgeständnis, medikamentös beeinflussbare Symptome oder die mangelnde Verfügbarkeit einer geeigneten Einrichtung zu seiner Behandlung) keine Rolle spielen und nur strukturelle, eng und dauerhaft mit der Persönlichkeit des Täters verbundene Kriterien massgebend sind. Die Wendung «langfristig keinen Erfolg verspricht» soll die Nachhaltigkeit der Untherapierbarkeit unterstreichen.

Man könnte auch von chronischer Untherapierbarkeit sprechen. Dabei stellt
die langfristige Unbehandelbarkeit letztlich eine Wahrscheinlichkeitsrelation dar, bei der einem ausserordentlich hohen Risiko für die erneute Begehung schwerster Straftaten eine ausserordentlich geringe Wahrscheinlichkeit für risikomindernde Veränderungen gegenüber steht. Es soll damit ein Personenkreis erfasst werden, der 903

dauerhaft höchste, nicht ausreichend verminderbare Risiken für die öffentliche Sicherheit repräsentiert.

Ziel der Therapie ist nicht nur die Heilung oder Verringerung der psychischen Störung des Täters, sondern in erster Linie die Beseitigung der damit verbundenen Gefährlichkeit. Eine Behandlung ist somit erfolgversprechend, wenn sie dazu führt, dass der Täter keine schweren Delikte mehr begeht.

Die vorgeschlagene Bestimmung bezieht sich sowohl auf psychisch gestörte als auch auf psychisch nicht gestörte Täter (vgl. dazu auch Ziff. 3.1). Dies ist zu unterstreichen, weil im Abstimmungskampf zur Verwahrungsinitiative die Auslegung von Artikel 123a BV diesbezüglich umstritten war. Aus den im Verfassungstext verwendeten Begriffen «nicht therapierbar» und «heilbar» schloss der Bundesrat in seiner Botschaft zur Verwahrungsinitiative, dass nur psychisch gestörte Täter erfasst seien.

2.3

Ergänzung von Artikel 64a Absatz 1

Mit der Ergänzung des ersten Satzes von Artikel 64a Absatz 1 nStGB wird klargestellt, dass diese Bestimmung nur für die Überprüfung der Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 und nicht für die lebenslängliche Verwahrung anwendbar ist (vgl. dazu Ziff. 2.4.1).

2.4

Die Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 64c)

2.4.1

Einleitung

Zentrales und im Abstimmungskampf zur Verwahrungsinitiative am meisten diskutiertes Element des neuen Artikels 123a BV ist ohne Zweifel dessen zweiter Absatz: die eingeschränkte Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung. Danach dürfen neue Gutachten über einen lebenslänglich verwahrten Täter erst erstellt werden, wenn durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erwiesen wird, dass dieser geheilt werden kann und infolgedessen keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt.

Von der Art und Weise, wie diese Bestimmung konkretisiert wird, hängt es entscheidend ab, ob sie in einem Beschwerdefall vor Artikel 5 Absatz 4 EMRK standhält (vgl. Ziff. 1.3.3 hiervor). Für die Regelung dieser Frage wird ein neuer, separater Artikel 64c nStGB vorgeschlagen21.

21

904

Mit entsprechenden Ergänzungen in Art. 64a Abs. 1 und 65 Abs. 1 nStGB wird klargestellt, dass diese Bestimmungen für die Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung nicht anwendbar sind.

2.4.2

Prüfung durch die Eidgenössische Fachkommission in Zusammenarbeit mit der kantonalen Vollzugsbehörde

Die Prüfung, ob neue, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Therapierbarkeit des Täters im Sinne von Artikel 123a BV gegeben sind, soll nach Artikel 64c Absatz 1 die spezielle, vom Bundesrat einzusetzende Eidgenössische Fachkommission vornehmen. Diese Zentralisierung der Prüfung soll nicht zuletzt eine einheitliche Praxis sicherstellen. Der Auftrag für die Prüfung wird der Fachkommission von der zuständigen kantonalen Vollzugsbehörde erteilt, bei der seitens der Betroffenen die Gesuche zur Überprüfung einzureichen sind. Die Vollzugsbehörde kann die Prüfung auch von Amtes wegen veranlassen. Sie entscheidet gestützt auf den Bericht der Fachkommission, ob dem Täter eine Behandlung angeboten werden soll. Der Täter kann nicht gezwungen werden, sich behandeln zu lassen, sich beispielsweise einer Hirnoperation zu unterziehen oder ein neues Medikament einzunehmen. Nur wenn sich der Täter der Behandlung unterzieht, kann konkret festgestellt werden, ob damit seine Gefährlichkeit entscheidend reduziert werden kann. Führt die Behandlung tatsächlich zu diesem Resultat, wird das Gericht die ursprünglich angeordnete lebenslängliche Verwahrung in eine stationäre Behandlung umwandeln (Abs. 3).

Nach dem Vorentwurf hätte die lebenslängliche Verwahrung auch bloss in eine ordentliche Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 nStGB umgewandelt werden können. Diese Möglichkeit wurde fallen gelassen und damit der im Vernehmlassungsverfahren von verschiedener Seite vorgebrachten Kritik Rechnung getragen, wonach eine blosse Versetzung in die ordentliche Verwahrung gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstosse, weil die begonnene Behandlung nach Absatz 3 ja erwarten lasse, dass der Täter keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstelle.

Das Vorliegen neuer, wissenschaftlicher Erkenntnisse einerseits und deren Anwendbarkeit auf den Einzelfall anderseits soll nicht getrennt beurteilt werden. Die Eidgenössische Fachkommission muss deshalb die Kompetenz haben, beides zu prüfen.

So werden allfällige Doppelspurigkeiten mit den nachfolgenden psychiatrischen Gutachten vermieden.

Die Bestimmung sieht im Übrigen aber eine klare Rollentrennung vor zwischen den kantonalen Vollzugsbehörden, die das Verfahren leiten, und der Eidgenössischen Fachkommission, der ausschliesslich eine beratende Funktion zukommen soll. Sie äussert sich
zur Möglichkeit der Therapierbarkeit. Die Vollzugsbehörde hat auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob die Behandlung angeboten wird, ob also mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist, dass die Gefährlichkeit des Täters beseitigt werden könne.

Die Entscheide der Vollzugsbehörden müssen bei einem Gericht anfechtbar sein; dieses muss sich auch über die Gefährlichkeit des Täters aussprechen und gegebenenfalls dessen Freilassung verfügen können. Nicht direkt anfechtbar sind dagegen die Beurteilungen der Eidgenössischen Fachkommission oder die psychiatrischen Gutachten. Dass ein Gericht innert kurzer Frist über die andauernde Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet (Art. 5 Abs. 4 EMRK), ist durch entsprechende Vorkehren sicherzustellen.

Die Ernennung und Zusammensetzung sowie die Vorgehensweise der Eidgenössischen Fachkommission will der Bundesrat in einer Verordnung regeln, wenn das Parlament einer solchen Kommission im Grundsatz zustimmt. Mit Artikel 387 Absatz 1bis nStGB wird die gesetzliche Grundlage für diese Verordnungskompetenz 905

des Bundesrates vorgeschlagen. Die Arbeitsgruppe «Verwahrung» machte sich zum Inhalt der Verordnung bereits gewisse Überlegungen, denen sich der Bundesrat grundsätzlich anschliesst: Die Kommission soll sich aus etwa fünf bis sieben Mitgliedern zusammensetzen, die vom Bundesrat gewählt werden. Die Frage, ob die Kommission rein wissenschaftlich ausgerichtet sein soll und demnach nur aus erfahrenen forensischen Psychiaterinnen und Psychiatern, Therapieevaluatorinnen und -evaluatoren sowie Ethikerinnen und Ethikern bestehen wird, oder ob sie politisch breiter abgestützt wird, indem auch Opfervertreterinnen und -vertreter, Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und -anwälte, Verteidigerinnen und Verteidiger etc.

einbezogen werden, ist erst bei der Erarbeitung der Verordnung definitiv zu entscheiden. Der Idee einer eigentlichen Fachkommission entspricht allerdings die rein wissenschaftliche Ausrichtung besser. In diesem Sinne äusserten sich auch verschiedene Vernehmlasserinnen und Vernehmlasser. Die Kommission sollte aus heutiger Sicht etwa zweimal jährlich zusammentreten, um diejenigen Fälle zu beurteilen, die ihr ­ auf Antrag der Vollzugsbehörde ­ rechtzeitig vor Sitzungstermin vollständig dokumentiert zugeleitet werden. Kommissionsmitglieder, die zuvor mit der zu beurteilenden lebenslänglich verwahrten Person in einer direkt betreuerischen oder therapeutischen Funktion befasst waren, müssten ­ analog den Sachverständigen ­ jeweils in den Ausstand treten. Die Kommission wird nach Prüfung des Falles Empfehlungen zuhanden der zuständigen Vollzugsbehörde abgeben, worin sie sich zur Frage äussert, ob gemäss neuer und fundierter, aussagekräftiger und empirisch dokumentierter, wissenschaftlicher Erkenntnisse ­ in Abweichung zum Urteilsspruch ­ bei einem bestimmten Behandlungsversuch die Aussicht auf einen relevanten risikomindernden Effekt in Bezug auf die Begehung schwerer Delikte besteht.

Die Kommission wird zu diesem Zweck weitere Abklärungen (Untersuchungen, Gutachten) veranlassen können.

Verschiedene Vernehmlasserinnen und Vernehmlasser opponierten, wie bereits eine Minderheit der Arbeitsgruppe «Verwahrung», gegen den vorgeschlagenen Absatz 1 mit der Begründung, dass es gegen wissenschaftliche und berufsethische Regeln verstosse und daher nicht vertretbar sei, nur dann eine psychiatrische
Neubeurteilung einer Person vorzunehmen, wenn neue, wissenschaftliche Erkenntnisse vorlägen.

Eine solche Regelung negiere die grundlegende klinische Erkenntnis, dass der Mensch als biologische Einheit sich im Verlaufe der Zeit ändern könne. Es sei daher angezeigt, diese Veränderungen regelmässig zu beurteilen oder sichtbar zu machen.

Zwar ist diese Argumentation durchaus nachvollziehbar. Sie ist aber weitgehend unbehelflich, weil sie sich im Kern gegen den von Volk und Ständen gutgeheissenen Artikel 123a Absatz 2 BV richtet.

2.4.3

Neue, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Therapierbarkeit

Wie im Abstimmungskampf zur Verwahrungsinitiative gab der Begriff «neue, wissenschaftliche Erkenntnisse» auch in der Arbeitsgruppe «Verwahrung» Anlass zu kontroversen Diskussionen.

Klar ist, dass man dem Täter nicht das Recht nehmen darf, sich zu verändern. Die blosse, nicht durch aussagekräftige empirische Befunde gestützte Annahme, eine Veränderung des Täters durch eine neue Therapie sei möglich, ist indessen kein durch neue, wissenschaftliche Erkenntnisse erbrachter Nachweis der Heilungschan906

ce und rechtfertigt eine Überprüfung daher nicht. Weil es anderseits in der Wissenschaft nie eine hundertprozentige Sicherheit gibt, muss eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Beseitigung der Gefährlichkeit genügen, sofern sich diese aus aussagekräftigen empirischen Studien ableiten lässt.

Unbestritten ist, dass sich die neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse auf jede Form von Therapie beziehen können, auf invasive und nicht invasive. In der Frage, ob sich mit Blick auf den Verfassungstext neue Therapiemethoden unabhängig von der Person ergeben können, blieben die Meinungen in der Arbeitsgruppe «Verwahrung» geteilt und man legte sich daher nicht fest. Dies wurde im Vernehmlassungsverfahren verschiedentlich kritisiert und eine Klärung wurde verlangt. Während namentlich die Initiantinnen die neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse im objektiven Sinne als neue Therapiemethoden verstanden haben wollen, wurde von einem Teil der Arbeitsgruppe und von vielen Vernehmlasserinnen und Vernehmlassern anderseits verlangt, dass auch Veränderungen im subjektiven Sinn (in der Person des Täters) erfasst sein müssten, weil sonst die EMRK-Konformität nicht gegeben sei.

Der Bundesrat teilt diese Meinung, die er bereits in seiner Botschaft zur Verwahrungsinitiative zum Ausdruck brachte. Er hielt damals auch fest, unter neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen seien letztlich alle neuen, durch methodisches Vorgehen erlangten Erkenntnisse betreffend die Therapierbarkeit des lebenslänglich verwahrten Täters zu verstehen. Diese Interpretation von Artikel 123a Absatz 2 BV war und ist für den Bundesrat ein wesentlicher Grund für seine Haltung, dass der neue Verfassungsartikel mit Artikel 5 Absatz 4 EMRK vereinbart werden kann22.

Der Bundesrat ist anderseits überzeugt, dass mit der zentralen Rolle, die der aus qualifizierten Sachverständigen zusammengesetzten Eidgenössischen Fachkommission bei der Überprüfung zugedacht ist, in jedem Fall eine Garantie für die Wissenschaftlichkeit neuer Erkenntnisse über die Therapierbarkeit der beurteilten Täter besteht.

2.4.4

Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung durch das Gericht

Über die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung und ihre Ablösung durch eine stationäre therapeutische Behandlung des Täters (Abs. 3) oder dessen bedingte Entlassung ohne vorherige (weitere) Behandlung des Täters (Abs. 4) entscheidet stets das Gericht, das die lebenslängliche Verwahrung angeordnet hat (Abs. 5).

Im Regelfall kommt die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung nur in Kombination mit der Versetzung in eine therapeutische Behandlung nach den Artikeln 59­61 nStGB in Frage, nachdem sich der Täter einer längeren probeweisen Behandlung unterzogen hat mit dem Resultat, dass von der Weiterbehandlung des Täters die Beseitigung seiner Gefährlichkeit erwartet werden kann (Abs. 3). Die Behandlung nach Absatz 2 sowie die Behandlung nach Absatz 3 werden in einer geschlossenen Einrichtung vorgenommen.

Das Gericht hebt die lebenslängliche Verwahrung ferner aber auch ohne vorherige Behandlung des Täters auf, wenn dieser wegen hohen Alters oder schwerer Krankheit keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt und daher bedingt entlassen wird (Abs. 4). Diese schon im Vorentwurf der Arbeitsgruppe vorgesehene und von 22

Vgl. BBl 2001 3451 f. und 3456 Ziff. 3.9.1

907

den Initiantinnen gebilligte Entlassungsmöglichkeit wurde von vielen Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmern ausdrücklich begrüsst.

Im Vernehmlassungsverfahren wurde anderseits vielfach bemängelt, dass der Vorentwurf die bedingte Entlassung ohne vorherige Behandlung nicht auch für Fälle vorsehe, in denen der Täter aus andern als den oben genannten Gründen ungefährlich geworden sei. Dies sei namentlich mit Artikel 5 Absatz 4 EMRK nicht zu vereinbaren. Dieser Kritik ist mit der Ergänzung von Absatz 4 Rechnung getragen worden. Demnach kann das Gericht den Täter auch «aus anderen Gründen» aus der lebenslänglichen Verwahrung entlassen. So kann z.B. die zuständige Behörde dem Gericht die bedingte Entlassung beantragen, wenn sie gestützt auf den entsprechenden Bericht der Eidgenössischen Fachkommission nach Absatz 1 ohne vorherige Behandlung oder nach der «probeweisen» Behandlung im Sinne von Absatz 2 zum Schluss kommt, dass der Täter keine Gefahr mehr darstellt für die Öffentlichkeit.

Dies ist vereinbar mit Artikel 123a Absatz 2 BV, der die Überprüfung der Verwahrung zulässt, sofern sich aus neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen die «blosse» Aussicht auf eine Heilung und damit auf die künftige Ungefährlichkeit ergibt. Umso mehr muss die Überprüfung zulässig sein, wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf schliessen lassen, dass die Ungefährlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits eingetreten ist und eine Behandlung des Täters unnötig ist. Andernfalls dürften ja auch Invalidität, hohes Alter oder schwere Krankheit des Täters kein Grund zur Überprüfung bzw. Entlassung sein.

Artikel 123a Absatz 3 BV entsprechend stützt sich das Gericht nicht nur bei der Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung (vgl. Art. 56 Abs. 4bis, Ziff. 2.1), sondern auch bei deren Aufhebung stets auf die Gutachten von mindestens zwei erfahrenen und voneinander unabhängigen Sachverständigen, die den Täter weder behandelt noch in anderer Weise betreut haben (Abs. 5). Für weitere Kommentare zu dieser Vorschrift sei auf Ziffer 2.1 verwiesen.

2.4.5

Überprüfung während des vorausgehenden Strafvollzuges

Artikel 64 Absatz 2 nStGB, wonach der Vollzug der Freiheitsstrafe der Verwahrung vorausgeht, soll auch bezüglich der lebenslänglichen Verwahrung gelten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob beim Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung sowie die folgenden Schritte nach dem vorgeschlagenen Artikel 64c bereits während des vorausgehenden Strafvollzugs oder erst nach dem Übertritt in die lebenslängliche Verwahrung erfolgen könnten.

Für eine Überprüfung schon während des Strafvollzugs sprechen folgende Gründe: Die Verwahrung ist eine präventive Massnahme, die bei Wegfall der Gefährlichkeit des Täters aufgehoben werden muss. Der Überprüfungsmechanismus soll daher bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen sofort greifen können und nicht erst dann, wenn der Täter seine Strafe vollständig abgesessen hat. Die Strafe wird trotz erfolgter Überprüfung der lebenslänglichen Verwahrung vollzogen, mindestens bis zum Zeitpunkt, in dem der Verurteilte frühestens bedingt entlassen werden kann. In ähnlicher Richtung geht das geltende Recht, nach welchem die Verwahrung an die Stelle der Strafe tritt oder dem Strafvollzug vorgeht (vgl. Art. 42 Ziff. 4 und 43 Ziff. 5 StGB). Den Verurteilten die ganze Strafe absitzen zu lassen, obwohl feststeht, dass er nicht mehr gefährlich ist, widerspricht auch der Bundesgerichtspraxis, 908

wonach die Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe die Regel sein soll. Aus Sicht der EMRK bestehen grundsätzlich keine Probleme, solange es um die Verbüssung der schuldangemessenen Strafe geht. Für die Zeit danach gilt hingegen, dass der Freiheitsentzug zu beenden ist, wenn der Haftgrund, in casu die besondere Gefährlichkeit, im Zeitpunkt des Antritts der lebenslänglichen Verwahrung nicht mehr besteht.

Aus diesen Gründen soll die Prüfung, ob neue, wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die eine erfolgreiche Behandlung eines bestimmten Verurteilten versprechen oder auf dessen bereits eingetretene Ungefährlichkeit schliessen lassen, schon während des Strafvollzuges möglich sein; ebenso die allfällige versuchsweise Behandlung. Die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung und deren Ablösung durch die stationäre therapeutische Behandlung (Art. 59 nStGB) bzw. die bedingte Entlassung dürfen hingegen frühestens auf den Zeitpunkt hin angeordnet werden, an dem der Verurteilte zwei Drittel der Strafe oder 15 Jahre einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verbüsst hat (Abs. 6).

2.5

Ergänzung von Artikel 65

Mit der Ergänzung des Einleitungssatzes wird klargestellt, dass diese Bestimmung nur für die Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 und nicht für die lebenslängliche Verwahrung anwendbar ist (vgl. dazu Ziff. 2.4.1).

2.6

Der Ausschluss von Hafturlaub und anderen Vollzugsöffnungen (Art. 84 Abs. 6bis, Art. 90 Abs. 4ter)

Artikel 123a Absatz 1 schliesst jeglichen Hafturlaub für lebenslänglich verwahrte Personen aus. Dieses Verbot soll im Strafgesetzbuch zum einen mit einem neuen Absatz 4ter in Artikel 90 nStGB wiederholt werden23. Mit einer analogen Ergänzung von Artikel 84 nStGB (Abs. 6bis) wird auch klargestellt, dass das Verbot folgerichtig nicht erst während des Vollzuges der lebenslänglichen Verwahrung, sondern schon während des ihr vorausgehenden Strafvollzugs zu gelten hat. Diese Regelungen machen nur Sinn, wenn neben dem Urlaub auch alle andern Vollzugsöffnungen während des Vollzugs der lebenslänglichen Verwahrung ausgeschlossen werden.

Die aus systematischen Gründen nun als neuer Absatz 6bis von Artikel 84 vorgeschlagene Bestimmung war im Vorentwurf noch Teil von Artikel 90 Absatz 4ter nStGB. Im Vernehmlassungsverfahren wurde gegen diesen Vorschlag inhaltlich nicht opponiert. Allerdings nahmen dazu nur sechs Kantone, die zwei Strafvollzugskonkordate der deutschen Schweiz und die Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren der Romandie und des Tessins ausdrücklich Stellung, alle in zustimmendem Sinne. Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, mit einer redaktionellen Änderung («... und des ihr vorausgehenden Strafvollzuges ...») klarzustellen, dass Vollzugsöffnungen nur während des Strafvollzuges, der den lebenslänglichen Verwahrungen 23

Im Rahmen der Botschaft vom 29. Juni 2005 zur Änderung des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13. Dezember 2002 und des Militärstrafgesetzes in der Fassung vom 21. März 2003 (BBl 2005 4689) wird die Schaffung eines neuen Absatz 4bis vorgeschlagen.

909

vorausgeht, in so absoluter Form ausgeschlossen sind. Diesem Anliegen wird durch die separate Normierung des Grundsatzes für die Phase des Strafvollzuges in Artikel 84 Absatz 6bis Rechnung getragen.

2.7

Die Haftung für Rückfalltaten lebenslänglich Verwahrter (Art. 380bis)

Artikel 123a Absatz 2 Satz 2 BV bestimmt, dass die Haftung für den Rückfall eines Täters, dessen lebenslängliche Verwahrung zuvor aufgehoben worden ist, von der Behörde übernommen werden muss, welche die Verwahrung aufgehoben hat.

In der Arbeitsgruppe «Verwahrung» machten die Initiantinnen betreffend den Begriff der Haftung geltend, der Initiativtext sehe klar vor, dass die Behörde haften müsse. Es gehe dabei nicht in erster Linie um finanzielle Entschädigungen, sondern darum, dass die für die Entlassung des Täters verantwortlichen Entscheidträger die Konsequenzen tragen müssten.

Wie indessen bereits die grosse Mehrheit der Arbeitsgruppe richtigerweise festhielt, ist der Begriff «Haftung» juristisch klar belegt und darf nur als «Leistung von Schadenersatz für die vermögensrechtlichen Folgen» verstanden werden. Kausal, d.h.

verschuldensunabhängig haftet immer nur das Gemeinwesen und nicht die einzelne Behörde, die ja selber ­ als Teil des Staatsgebildes ­ nicht über «eigenes Geld» verfügt. Die geschädigte Person muss sich somit nicht mit Beweisfragen herumschlagen. Soweit es um die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen Entscheidungsträgers oder der einzelnen Entscheidungsträgerin geht, darf nicht vom Verschuldensprinzip abgewichen werden. Ein Rückgriff auf die Individualperson ist nur denkbar, wenn diese schuldhaft gegen Pflichten verstossen hat. Sämtliche Formen individueller Verantwortlichkeit ­ seien sie nun strafrechtlich, zivilrechtlich oder disziplinarisch ­ verlangen zwingend den Nachweis eines vorwerfbaren Fehlverhaltens, das heisst eines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens.

Auf diesen Prinzipien beruht der schon im Vernehmlassungsentwurf vorgeschlagene neue Artikel 380bis, den der Bundesrat unverändert übernimmt. Zwar waren die Meinungen bei den sechzehn Vernehmlasserinnen und Vernehmlassern, die sich zu dieser Bestimmung äusserten, geteilt. Vier Kantone, eine Partei und vier Organisationen lehnen eine derartige Kausalhaftung des Gemeinwesens ausdrücklich ab.

Indessen handelt es sich dabei um eine kleinere Minderheit der Vernehmlassungsteilnehmerinnen -teilnehmer. Aus diesem und den nachfolgend erläuterten materiellen Gründen hält der Bundesrat an der Bestimmung fest.

Die mit Absatz 1 vorgeschlagene Haftungsregelung geht weiter als diejenige des Bundesgesetzes vom
14. März 195824 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz; VG) oder der kantonalen Staatshaftungsgesetze. Sie sieht als einzige Haftungsvoraussetzung den Rückfall einer Person vor, der gegenüber die lebenslängliche Verwahrung angeordnet worden war. Die Haftung tritt mithin unabhängig davon ein, ob der Entscheid, die lebenslange Verwahrung aufzuheben, fehlerhaft oder rechtswidrig war, und wann nach der Aufhebung der Täter rückfällig wird. Das Verantwortlichkeitsgesetz und die angesprochenen kantonalen Staatshaftungsgesetze können in ihrer heutigen 24

910

SR 170.32

Fassung Artikel 123 Absatz 2 Satz 2 BV aus folgenden Gründen nicht befriedigend konkretisieren: 1.

Zunächst kennen zwar die kantonalen Staatshaftungsgesetze heute grossmehrheitlich eine Kausalhaftung des Kantons (er haftet mithin unabhängig von einem Fehlverhalten der oder des Bediensteten). Indes folgen wenige Kantone (Luzern, Appenzell Innerrhoden, Graubünden, Genf) noch immer dem Prinzip der Verschuldenshaftung, setzen mithin ein ­ vermutetes oder zu beweisendes ­ schuldhaftes Verhalten der oder des Bediensteten voraus.25

2.

Des Weiteren setzen das Verantwortlichkeitsgesetz und die Mehrzahl der kantonalen Staatshaftungsgesetze widerrechtliche Schadensverursachung voraus. Ein behördlicher Entscheid, der einen Schaden verursacht hat ­ wie beim Rückfall nach Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung ­, ist indessen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur rechtswidrig, sofern der entscheidenden Behörde ein schwerer, offensichtlicher Fehler unterlaufen ist oder diese eine wesentliche Amtspflicht verletzt hat. Widerrechtlichkeit liegt demnach nicht allein deshalb vor, weil die Entscheidung sich nachträglich als falsch herausstellt.26 Damit wird die Kausalhaftung in der Praxis meist zu einer blossen Haftung für grobes Verschulden. Eine derart begrenzte Haftung wird dem Anliegen der Verwahrungsinitiative nicht gerecht.

3.

Gemäss dem Verantwortlichkeitsgesetz (Art. 12) und zahlreichen kantonalen Staatshaftungsgesetzen kann die Rechtmässigkeit rechtskräftiger Entscheidungen in einem Staatshaftungsprozess nicht überprüft werden. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen stünde Personen, die infolge rechtskräftiger Aufhebung der Verwahrung geschädigt sind, kein Ersatzanspruch zu.

Die Behörde, welche die Aufhebung der Verwahrung angeordnet hat, hat keine eigene Rechtspersönlichkeit. Daher haftet sie beim Eintritt des Rückfalls nicht selber für den verursachten Schaden. Deshalb liegt gemäss Artikel 380bis nStGB die Verantwortlichkeit beim Gemeinwesen, zu dem diese Behörde gehört. Grundsätzlich ist dies der Kanton, weil der Entscheid, die lebenslängliche Verwahrung aufzuheben, in der Regel von einer kantonalen Behörde getroffen wird. Ausnahmsweise kann es sich auch um den Bund handeln, z.B. bei schweren Fällen organisierter Kriminalität oder wenn das Bundesgericht auf Beschwerde hin die lebenslängliche Verwahrung aufhebt, nicht hingegen wenn es die Sache zu neuer Entscheidung an die [kantonale] Vorinstanz zurückweist. Auch die Erkenntnisse der Eidgenössischen Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich Verwahrter (Art. 64c Abs. 1) können nie eine Haftung des Bundes auslösen, weil diese Kommission «nur» beratende Funktion hat (vgl. Ziff. 2.4.2 hiervor).

Der vorgeschlagene Deliktskatalog deckt sich mit jenem des Artikels 64 Absatz 1bis nStGB. Die Haftung nach der vorliegenden Bestimmung tritt folglich nur ein, wenn der Rückfall in einem Verbrechen besteht, durch das der Täter die physische, psychische oder sexuelle Integrität des Opfers besonders schwer beeinträchtigt. Diese Lösung erklärt sich daraus, dass eine Parallelität von haftungsauslösenden Delikten 25 26

Vgl. im Einzelnen Jost Gross, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, 2. A., Bern 2001, S. 56 ff.

Vgl. BGE 123 II 582, 120 Ib 249, 112 II 234 f.

911

und Verbrechen, die die lebenslange Verwahrung rechtfertigen, unerlässlich ist.

Diese Parallelität ergibt sich auch aus dem Begriff des Rückfalls selber, der jeweils einen Zusammenhang mit der Art der früher begangenen Straftaten voraussetzt, vorliegend also mit den Straftaten, die der Anordnung der lebenslängliche Verwahrung zu Grunde lagen. Mit dieser Parallelität wird überdies die vorgesehene Staatshaftung für rechtmässiges Handeln angemessen begrenzt.

Das Verantwortlichkeitsregime nach Artikel 380bis nStGB umfasst folgende Merkmale: ­

Die geschädigte Person kann sich unmittelbar an das betroffene Gemeinwesen halten. Sie muss nicht zunächst die Identität der Personen herausfinden, welche am Entscheid über die Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung mitwirkten.

­

Die geschädigte Person hat keinen direkten Anspruch gegenüber den Mitgliedern der Behörde, die die lebenslänglichen Verwahrung aufgehoben hat.

­

Die Haftung des Gemeinwesens ändert nichts daran, dass gegenüber dem Opfer in erster Linie der rückfällige Straftäter aus unerlaubter Handlung ersatzpflichtig ist (Art. 41 Obligationenrecht; OR; SR 220).

­

Die statuierte Haftpflicht des Gemeinwesens ist öffentlichrechtlicher Natur.

Daraus folgt unter anderem, dass das Verantwortlichkeitsgesetz bestimmt, welche Behörde für den Entscheid über Haftpflichtansprüche gegen den Bund zuständig ist.

Der Schadensbegriff des Artikel 380bis nStGB ist derselbe wie der privatrechtliche.

Er umfasst die unfreiwillige Verminderung des Vermögens des Opfers und die erlittene seelische Unbill gemäss den Artikeln 47 und 49 OR. Die Entschädigung gilt somit für alle privatrechtlichen Schadensarten, auch wenn vorliegend Schäden infolge Verletzung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität im Vordergrund stehen.

Der vorgeschlagene Artikel 380bis Absatz 2 verweist für gewisse Fragen auf die Bestimmungen des Obligationenrechts über unerlaubte Handlungen (Art. 41 ff.).

Diese sind als ergänzendes öffentliches Recht anwendbar. Der Verweis gilt zunächst für den Rückgriff des Gemeinwesens gegen den unmittelbaren Verursacher des Schadens, d.h. gegen den rückfälligen Straftäter. Dieser Rückgriff untersteht Artikel 51 OR, der den Fall regelt, in dem mehrere Personen für denselben Schaden aus verschiedenen Rechtsgründen haften. Der Verweis gilt ferner für die Verjährung der Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung. Diese Ansprüche verjähren daher nach Artikel 60 Absatz 1 und 2 OR. Dies bedeutet: ­

Die relative Verjährungsfrist beträgt ein Jahr vom Tag an gerechnet, an dem die geschädigte Person Kenntnis vom Schaden und vom Urheber der Rückfallstat hat.

­

Die absolute Verjährungsfrist beträgt zehn Jahre seit dem Verbrechen, das den Schaden des Opfers verursacht hat. Unterliegt aber das Verbrechen einer längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist, so ist diese anwendbar (dies gilt namentlich in den von Art. 70 StGB geregelten Fällen).

In den Fällen, in denen eine kantonale Behörde über die Aufhebung der Verwahrung entscheidet, überlässt es Artikel 380bis Absatz 3 den Kantonen, den Rückgriff auf die Mitglieder der Behörde zu regeln; sie können die Voraussetzungen und Einzelheiten 912

(z.B. Verjährung) des Rückgriffs festlegen. Diese Lösung lehnt sich an Artikel 5 Absatz 3 des Bundesgesetzes vom 11. April 188927 über Schuldbetreibung und Konkurs an. Beweggrund für diese Lösung ist das Bestreben, den Verfassungsgrundsatz der organisatorischen Eigenständigkeit der Kantone (Art. 47 BV) bestmöglich zu beachten. In den seltenen Fällen, in denen der Bund betroffen ist, verweist Artikel 380bis auf die einschlägigen Bestimmungen des Verantwortlichkeitsgesetzes. Für die Voraussetzungen des Rückgriffs gelten Artikel 7 und 9 VG.

Für die Verjährung des Rückgriffs gilt Artikel 21 VG.

3

Nicht berücksichtigte Vorschläge des Vorentwurfs

3.1

Therapeutische Behandlung psychisch nicht gestörter Täter (Art. 59 Abs. 1 und 63 Abs. 1)

Die vorgeschlagenen Regelungen über die lebenslängliche Verwahrung nicht therapierbarer Täter beziehen sich sowohl auf psychisch gestörte Täter als auch auf Täter, die keine solche Störung aufweisen (vgl. Ziff. 2.2.4). Dies stellt insofern ein gewisses Problem dar, als die Therapierbarkeit im Zusammenhang mit psychisch nicht gestörten Tätern nach dem Massnahmerecht des revidierten Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches vom 13. Dezember 2002 kein relevantes Beurteilungskriterium darstellt. Behandlungen nach Artikel 59 nStGB werden vom Gericht nur gegenüber psychisch gestörten, behandelbaren Tätern angeordnet. Gefährliche nicht gestörte Täter werden, ob behandelbar oder nicht, nach Artikel 64 nStGB verwahrt und höchstens psychiatrisch betreut (Abs. 4), aber gemäss Gesetzestext nicht notwendigerweise deliktpräventiv behandelt.

Die Regelung nach Artikel 59 nStGB beruht auf der Vorstellung, dass bei Tätern ohne psychische Störung kein Behandlungsbedarf besteht28. Das trifft nach der Meinung verschiedener forensischer Psychiaterinnen und Psychiater nicht zu. Viele dieser Täter hätten im Gegenteil eine Behandlung nötig, weil sie zwar keine volle, diagnostizierbare psychische Störung, jedoch psychische Symptome oder besondere Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen, die prognoserelevant seien und die oft mit Erfolg therapiert werden könnten. Mit einer Behandlung lässt sich also der Gefährlichkeit solcher Täter unter Umständen wirksam begegnen. Werden sie nicht behandelt, bleiben sie gefährlich und können nur entlassen werden, wenn sie aufgrund zumeist zeitbedingter Umstände (Alter, chronische körperliche Krankheit, Invalidität) ihre Gefährlichkeit verlieren.

Es wird daher als sinnvoll erachtet, Erfolg versprechende risikomindernde Behandlungen bei gefährlichen Tätern immer durchzuführen, unabhängig davon ob der Täter eine psychiatrische Diagnose aufweist oder nicht.

27 28

SR 281.1 Gemäss der «Internationalen Klassifikation psychischer Störungen» der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10 Kapitel V; Klinisch-diagnostische Leitlinien) liegt bei einer Person eine bestimmte psychische Störung vor, wenn bei ihr bestimmte, definierte Persönlichkeitsmerkmale vorliegen. Nur wenn alle in den Leitlinien der WHO für eine bestimmte Störung geforderten Merkmale vorliegen, gilt eine Peron als psychsich gestört und kann allenfalls im Sinne der klassischen Psychiatrie behandelt werden. Liegen indessen bei einer Person z.B. nur acht von zehn geforderten Merkmalen vor, so gilt die Person als nicht gestört, und daher als nicht therapierbar.

913

Aus diesen Gründen stellte das Bundesamt für Justiz im Laufe der parlamentarischen Beratungen zur Verwahrungsinitiative, als es darum ging, zuhanden des Initiativkomitees Vorschläge zu erarbeiten, mit denen sich der Schutz vor gefährlichen Straftätern noch verbessern liesse, entsprechende Ergänzungen von Artikel 59 und 63 nStGB zur Diskussion. Der Vorschlag wurde von der Mehrheit der nationalrätlichen Rechtskommission übernommen, der Nationalrat lehnte ihn aber ab. Die Mehrheit sah darin eher eine Aufweichung des Massnahmerechtes und deshalb ein falsches Signal gegenüber dem Initiativkomitee.

Nachdem nun die Therapierbarkeit bzw. die Untherapierbarkeit ein wichtiges Kriterium für die Anordnung, die Fortdauer oder die Vorbereitungen für eine allfällige Aufhebung der lebenslänglichen Verwahrung auch von psychisch nicht gestörten Tätern darstellen soll, erschien es der Arbeitsgruppe «Verwahrung» schon aus diesem Grund folgerichtig, erneut Ergänzungen von Artikel 59 und 63 nStGB im Sinne der vorstehenden Ausführungen vorzuschlagen. Allerdings war die Arbeitsgruppe der Auffassung, dass es nicht konsequent wäre, die Anordnung einer therapeutischen Behandlung nur für psychisch nicht gestörte gefährliche Täter, die sonst verwahrt würden, zu ermöglichen. Vielmehr sollte eine solche auch für weniger gefährliche, nicht eigentlich kranke Täter, von deren Behandlung die Beseitigung der Rückfallgefahr zu erwarten ist, möglich sein. Die vorgeschlagene Änderung von Artikel 59 Absatz 1 nStGB hätte es dem Gericht erlaubt, eine stationäre Behandlung auch dann anzuordnen, wenn der Täter zwar keine eigentliche psychische Störung, aber besondere, mit seiner Tat zusammenhängende Persönlichkeitsmerkmale aufweist und die Aussicht besteht, mit der Behandlung lasse sich der Gefahr weiterer Straftaten dieses Täters begegnen.

Diese Bestimmung wurde in der Vernehmlassung sehr kontrovers aufgenommen.

Während sie von vielen Kantonen als Chance begrüsst wurde, wiesen die Kritikerinnen und Kritiker darauf hin, das Parlament habe diesen Vorschlag bereits diskutiert und abgelehnt. Die Änderung bedeute eine extreme Ausweitung bzw. Verwässerung des Massnahmenrechts. Der Psychiatrisierung jeglichen delinquenten Verhaltens werde damit das Feld geebnet.

Angesichts der negativen Reaktionen in der Vernehmlassung verzichtet der Bundesrat darauf, erneut eine Behandlung psychisch nicht gestörter Täter vorzuschlagen.

3.2

Nachträgliche Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung (Art. 65 Abs. 2)

Der Vorentwurf enthielt mit Artikel 65 Absatz 2 eine Bestimmung, welche die nachträgliche Anordnung sowohl der ordentlichen wie der lebenslänglichen Verwahrung im Sinne einer Revision zu Ungunsten des Verurteilten vorsah. Sie sollte grundsätzlich auch rückwirkend anwendbar sein. Die Bestimmung wurde ­ allerdings beschränkt auf die ordentliche Verwahrung nach Artikel 64 Absatz 1 nStGB ­ in den Entwurf und die Botschaft vom 29. Juni 2005 zur nachträglichen Änderung des revidierten Strafgesetzbuches übernommen, obwohl sie im Vernehmlassungsverfahren mehrheitlich, insbesondere auch von vielen Kantonen, abgelehnt worden war29. Soweit sich die Kritikerinnen und Kritiker der Bestimmung besonders zur

29

914

Vgl. Ziff. 2.2.3 der Botschaft, BBl 2005 4713 ff.

nachträglichen Anordnung der lebenslänglichen Verwahrung äusserten, machten sie insbesondere geltend, diese werde von Artikel 123a BV in keiner Weise verlangt.

Bei dieser Ausgangslage verzichtet der Bundesrat darauf, die nachträgliche Anordnung auch der lebenslänglichen Verwahrung vorzusehen. Die Möglichkeit zur nachträglichen Anordnung der ordentlichen Verwahrung genügt vollauf, um der Gefahr zu begegnen, dass Täter, deren Gefährlichkeit erst im Verlaufe des Strafvollzugs sichtbar wird, entlassen werden müssen, obwohl sie noch als hoch gefährlich gelten.

3.3

Lebenslängliche Verwahrung und Revision (Art. 385 Abs. 2)

Namentlich die Initiantinnen befürchten, lebenslängliche Verwahrungen könnten auf dem Wege von Revisionsverfahren rückgängig gemacht und damit Artikel 123a BV unterlaufen werden. Deshalb sah der Vorentwurf mit Artikel 385 Absatz 2 eine neue Bestimmung vor, die zwar in Bezug auf die Frage der Therapierbarkeit die Revision nicht ausschliesst, jedoch durch inhaltliche und verfahrensmässige Kriterien missbräuchliche Revisionsgesuche verhindern sollte. Nicht als Revisionsgrund hätten danach Erkenntnisse über die Therapierbarkeit gegolten, die nachträglich aus dem Verlauf des Strafvollzugs gewonnen wurden. Des Weiteren war vorgesehen, dass die angerufene Revisionsinstanz dazu den Bericht der Eidgenössischen Fachkommission eingeholt hätte.

Der Vorschlag wurde im Vernehmlassungsverfahren zwar nur von einer Minderheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausdrücklich kommentiert. Mit einer Ausnahme lehnten diese eine solche Bestimmung aber alle ab und verlangten deren ersatzlose Streichung. Zu den ausdrücklichen Gegenerinnen und Gegnern zählen insbesondere auch einige Kantone und ein Strafvollzugskonkordat. Es wurde argumentiert, die Bestimmung sei unnötig und unzulässig, insbesondere im Zusammenhang mit der lebenslänglichen Verwahrung als schwerstmöglicher Sanktion. Werde nachträglich festgestellt, dass die Therapierbarkeit bereits im Zeitpunkt des Urteils bestanden habe, dürfe die Revision nicht ausgeschlossen werden. Die Bestimmung verletze die Grundsätze des Strafrechts und werde von Artikel 123a BV in keiner Weise verlangt. Sie sei auch aus Gründen der Rechtsklarheit nicht erforderlich.

Angesichts dieser Argumente verzichtet der Bundesrat auf die Bestimmung und vertraut darauf, dass die zuständigen Revisionsinstanzen missbräuchliche Revisionen auch im Zusammenhang mit lebenslänglichen Verwahrungen zu verhindern wissen.

4

Militärstrafgesetz

Das revidierte Militärstrafgesetzes vom 21. März 200330 (nMStG) enthält betreffend die therapeutischen Massnahmen und die Verwahrung keine gesonderten Regelungen, sondern erklärt die entsprechenden Bestimmungen des revidierten Strafgesetzbuches (Art. 56-65 nStGB) pauschal für anwendbar, sowohl bezüglich der Anord30

BBl 2003 2808

915

nung (Art. 47 Abs. 1 nMStG) als auch des Vollzuges (Art. 47 Abs. 3 nMStG) dieser Massnahmen. Indem sich der Vollzug von Massnahmen stets nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches richtet, ist Artikel 380bis E-nStGB betreffend die Haftung bei Aufhebung der Verwahrung auch dann anwendbar, wenn die Verwahrung aufgrund eines Deliktes nach MStG verhängt wurde. Analoges gilt für den Vollzug der Freiheitsstrafen (Art. 34b nMStG). Die Verweise werden sich automatisch auch auf die mit dieser Vorlage vorgeschlagenen neuen Bestimmungen des nStGB zur Umsetzung von Artikel 123a BV beziehen. Aus diesem Grund braucht es keine analogen Ergänzungen des nMStG.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

Die gemäss Artikel 64c des Entwurfs einzusetzende Eidgenössische Fachkommission zur Beurteilung der Behandelbarkeit lebenslänglich Verwahrter erfordert zusätzliche Mittel des Bundes. Die Kommission soll aus etwa 5 bis 7 Mitgliedern bestehen und im Durchschnitt zweimal jährlich zusammentreten. Sie wird auf die Unterstützung eines ständigen Sekretariates angewiesen sein. Der notwendige Finanzbedarf kann gemäss einer ersten Schätzung auf 50 000 Franken pro Jahr veranschlagt werden.

5.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Die lebenslängliche Verwahrung im Sinne von Artikel 123a der Bundesverfassung dürfte in erster Linie für die Kantone zu Mehrkosten führen, die jedoch nicht konkret beziffert werden können.

Mehrkosten sind durch die tendenziell längere Dauer der lebenslänglichen Verwahrung und dem damit verbundenen erhöhten Betreuungsbedarf zu erwarten. Es gibt Stimmen, welche für lebenslänglich verwahrte Täter sogar spezielle Anstalten als notwendig erachten.

Zu Mehrkosten führen auch das mehrstufige Entscheidverfahren im Zusammenhang mit der bedingten Entlassung sowie die Vorschrift, wonach bestimmte Entscheide auf zwei unabhängige Gutachten abzustützen sind.

6

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist im Bericht über die Legislaturplanung 2003­2007 nicht angekündigt (BBl 2004 1149).

Die Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» wurde am 8. Februar 2004 von Volk und Ständen angenommen. Dieses Resultat und die damit verbundene Konkretisierung des neuen Verfassungsartikels im Strafgesetzbuch waren während der Erarbeitung der Legislaturplaung noch nicht absehbar.

916

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 123 BV ist der Bund zur Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts befugt.

7.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Direkte Berührungspunkte zum Völkerrecht hat in erster Linie die Regelung über die Überprüfbarkeit der Voraussetzungen der lebenslänglichen Verwahrung. Zur Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der EMRK sei auf die Ziffern 1.3.3, 2.4.1, 2.4.3 und 2.4.4 verwiesen.

917

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