zu 02.303 Initiative des Kantons Jura Aufhebung von Bundessteuerbestimmungen, die gegen Artikel 6 EMRK verstossen Bericht vom 13. Februar 2006 der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates Stellungnahme des Bundesrates vom 12. April 2006

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht vom 13. Februar 2006 der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates betreffend Aufhebung von Bundessteuerbestimmungen, die gegen Artikel 6 EMRK verstossen, nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

12. April 2006

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 19. Dezember 2001 hat das Parlament des Kantons Jura beschlossen, mittels einer Standesinitiative zu fordern, dass Artikel 174 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) sowie allfällige weitere Gesetzesbestimmungen, die dem Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 3. Mai 20011 zuwiderlaufen, aufzuheben beziehungsweise zu ändern sind. Die Initiative wurde von den Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben (WAK) vorberaten. Ihr wurde am 5. März 2003 im Ständerat und am 8. März 2004 im Nationalrat Folge gegeben. Schliesslich wurde die Initiative der WAK des Ständerates (WAK-S) zur Ausarbeitung einer Vorlage zugewiesen. Dabei konnte die WAK-S auf die Arbeiten der Expertenkommission für ein Bundesgesetz über Steuerstrafrecht und internationale Amtshilfe (ESA) zurückgreifen. Die WAK-S verabschiedete am 13. Februar 2006 ihren Bericht und Gesetzesentwurf zuhanden des Ständerates und des Bundesrates.

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Stellungnahme des Bundesrates

Art. 6 § 1 EMRK Der Bundesrat misst der Einhaltung der EMRK durch das schweizerische Steuerrecht eine hohe Priorität bei.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt das Steuerhinterziehungsverfahren gemäss DBG und StHG ein Verfahren dar, auf welches die Garantien von Artikel 6 § 1 EMRK anzuwenden sind. Mit den vorgeschlagenen Änderungen und den Ergänzungen der geltenden Bestimmungen wird im Steuerhinterziehungsverfahren das Recht auf ein faires Verfahren in Übereinstimmung mit der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gewährleistet. Sowohl im DBG wie auch im StHG ist jedoch eine Gesetzesbestimmung präziser zu formulieren.

Artikel 183 Absatz 1 DBG und Artikel 57a Absatz 1 StHG sind etwas zu eng gefasst, da nur das Recht zur Verweigerung von Aussagen erwähnt wird. Wie im Bericht der Kommission zutreffend ausgeführt wird, wurde im Fall J.B. nicht die Aussage verweigert, sondern die betroffene Person kam der Aufforderung zur Herausgabe von Unterlagen nicht nach. Es entspricht denn auch allgemeiner Auffassung, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz nicht nur das Recht auf Aussageverweigerung, sondern allgemein das Recht auf Mitwirkungsverweigerung umfasst (vgl.

Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. A. Zürich 2004, N 472 ff.). Zudem erscheint die Formulierung in dem Sinne zu eng, als ein Verweigerungsrecht dem Wortlaut nach nur bezüglich belastender ­ nicht aber auch entlastender Aussagen besteht.

Im Strafverfahren ist eine angeschuldigte Person indes auch dann nicht ­ unter Strafandrohung ­ zur Aussage oder Mitwirkung verpflichtet, wenn dies ihrer Entlas1

Urteil des EGMR vom 3. Mai 2001 in Sachen J.B. gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 31827/96. Recueil des arrêts et décisions 2001 III S. 455.

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tung dient. Der betroffenen Person sollte deshalb immer die Möglichkeit zukommen, zu schweigen oder passiv zu bleiben. Die Bestimmung ist daher in Anlehnung an Artikel 111 E-StPO in beiden Gesetzen folgendermassen zu ändern: «Die Einleitung eines Strafverfahrens wegen Steuerhinterziehung wird der betroffenen Person schriftlich mitgeteilt. Es wird ihr Gelegenheit gegeben, sich zu der gegen sie erhobenen Anschuldigung zu äussern; sie wird auf ihr Recht hingewiesen, die Aussage und ihre Mitwirkung zu verweigern.» Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Bilateralen Abkommen II mit der EU und dem Beitritt der Schweiz zu den Abkommen von Schengen und Dublin auch die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen geregelt wird. Die mit der EU gefundene Lösung bei Schengen/Dublin sowie bei der Betrugsbekämpfung sieht bei der indirekten Fiskalität sowie bei Subventionen und beim Beschaffungswesen eine gegenüber heute weitergehende Rechtshilfe vor. Soweit hingegen nach Inkrafttreten des EU-Rechtshilfeübereinkommens und dessen Protokoll der Vollzug ausländischer Rechtshilfeersuchen Durchsuchungen und Beschlagnahmen auch bei Hinterziehungsdelikten im Bereich der direkten Fiskalität umfasst, muss die Schweiz (gestützt auf Artikel 51 SDÜ2) keine Folge leisten. Begründet wird dies damit, dass gemäss der erwähnten Gesetzesbestimmung die Rechtshilfe für Durchsuchungen und Beschlagnahmen dann verweigert werden kann, wenn in Bezug auf eine strafbare Handlung eine Sanktion von einer Behörde ausgesprochen wird, gegen deren Entscheid nicht ein Strafgericht angerufen werden kann. Da in der Schweiz in der Regel Entscheide der Behörden bei Hinterziehungsdelikten im Bereich der direkten Steuern nicht an ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht weitergezogen werden können, sondern nur der Weiterzug an ein Verwaltungsgericht möglich ist, das nicht als ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht anzusehen ist, muss die Schweiz einem entsprechenden Rechtshilfeersuchen keine Folge leisten3.

Eine Ausnahme bilden hierzu die Kantone Bern und Jura, die zurzeit noch eine Beurteilung durch ein Strafgericht vorsehen. Im Bericht der Kommission der WAK-S wird das Berner Modell explizit erwähnt, gemäss welchem ein gemeinsames Nachsteuer- und Steuerstrafverfahren nur im Einverständnis mit der angeschuldigten Person durchgeführt
werden kann. Die steuerpflichtige Person hat die Möglichkeit, das Verfahren vor dem Strafrichter zu wählen. Durch die Wahl des Strafrichters können die mit dem Verwaltungsverfahren verbundenen Mitwirkungspflichten (Selbstbelastung) vermieden werden.

Im Hinblick auf das Inkrafttreten des Schengen/Dublin-Abkommens werden diese Kantone die Möglichkeit, bei Hinterziehungsdelikten im Bereich der direkten Steuern an ein Strafgericht zu gelangen, aufgeben müssen.

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Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen(Schengener Durchführungsübereinkommen).

Vgl. dazu die Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II») vom 1. Oktober 2004, BBl 2004 5965.

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Art. 6 § 2 EMRK Die gesetzlich statuierte Schuldvermutung unter Ehegatten (das Gesetz geht davon aus, dass die Steuerhinterziehung im Wissen des Ehegatten erfolgt ist, es sei denn, der Ehegatte könne das Gegenteil beweisen) soll gestrichen und damit in Einklang mit der EMRK gebracht werden. Der Bundesrat unterstützt diesen Verzicht auf die Umkehr der Beweislast bei der Steuerhinterziehung von Ehegatten, weil es sich bei den im geltenden Recht vorgesehenen Entlastungsmöglichkeiten um den Nachweis von Tatsachen handelt, der regelmässig gar nicht erbracht werden kann.

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Fazit

Weil mit den vorgeschlagenen Gesetzesänderungen eine Übereinstimmung des DBG und des StHG mit den in Artikel 6 EMRK verankerten Verfahrensgarantien erreicht wird und zudem weder beim Bund noch bei den Kantonen oder Gemeinden Mehrausgaben oder Personalaufstockungen notwendig sind, kann der Bundesrat dem Antrag der WAK-S vom 13. Februar 2006 unter Vorbehalt der Berücksichtigung der beantragten Änderungen zustimmen.

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