Untersuchung von öffentlichen Aussagen des Vorstehers des EJPD zu Gerichtsurteilen Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates vom 10. Juli 2006

2006-2195

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Übersicht Nach seiner Rede an der Albisgüetli-Tagung der SVP des Kantons Zürich vom 20. Januar 2006 wurden gegen Bundesrat Christoph Blocher, Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD), Vorwürfe erhoben, er habe zwei Albaner, die von ihrem Herkunftsstaat schwerer Verbrechen beschuldigt werden, als «Kriminelle» bezeichnet und damit die Unschuldsvermutung verletzt. Zudem habe er mit seiner Kritik an Urteilen der Asylrekurskommission (ARK), die den beiden Asyl in der Schweiz zusprach, und am Bundesgericht, das eine Auslieferung an Albanien untersagte, die Gewaltenteilung missachtet. Im weiteren habe er den Grundsatz einer transparenten und umfassenden Information schwerwiegend verletzt.

Aufgrund der Untersuchung durch ihre Subkommission EJPD/BK gelangte die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) zu folgenden Feststellungen und Schlussfolgerungen: 1.

Die Analyse des Falles der zwei albanischen Flüchtlinge zeigte, dass ihnen die ARK Asyl zusprach, weil sie aufgrund von umfangreichen Verfahrensakten aus dem viereinhalb Jahre dauernden erstinstanzlichen Strafprozess in Albanien zur Überzeugung gelangt war, dass zahlreiche Hinweise für einen politischen Hintergrund des eingeleiteten Strafverfahrens bestehen, dass die Albaner mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Unschuldige angeklagt wurden und ihnen nun in asylrelevanter Weise Verfolgung drohen würde, wenn sie nach Albanien ausgewiesen würden (vgl. Ziff. 3 und 4). Es trifft somit nicht zu, dass die ARK «Kriminellen» Asyl erteilt hat. Die Untersuchung führt zum Schluss, dass aufgrund des Asylurteils die beiden Albaner für alle eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge und als Unschuldige zu gelten haben. Dem ist insbesondere bei öffentlichen Verlautbarungen über diese Personen Rechnung zu tragen (vgl. Ziff. 5.1 und 6.1).

2.

In der Folge erhob der Vorsteher EJPD den Vorwurf, die ARK habe mit ihrer voreiligen Asylgewährung den Entscheid des Bundesgerichts, die Auslieferung der beiden Albaner an ihren Heimatstaat zu bewilligen, unterlaufen. Die ARK hätte ergänzende Unterlagen aus Albanien im Auslieferungsverfahren abwarten müssen. Die GPK-S zeigt im vorliegenden Bericht die Zusammenhänge und Hintergründe der Entscheide auf (vgl. Ziff. 5.2.1). Die ARK hat die ihr bekannten Liefertermine für die Unterlagen zwar abgewartet und erst zweieinhalb Wochen danach entschieden, doch hat sie es unterlassen, beim BJ zurückzufragen, ob die Unterlagen noch zu erwarten seien.

Das BJ seinerseits hat zwar die Unterlagen erhalten, es jedoch unterlassen, sie an die ARK weiterzuleiten. Doch letztlich ist es in Respektierung der Gewaltenteilung weder Sache des Vorstehers EJPD noch der GPK-S als Oberaufsichtsbehörde zu beurteilen, ob es richtig oder falsch war, dass die ARK zum Schluss kam, der Fall sei auch ohne diese Unterlagen entscheidungsreif, da diese Frage zur Rechtssprechung gehört (vgl. Ziff. 5.2.2).

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3.

Zur Frage der Unschuldsvermutung stellt die GPK-S fest, dass aufgrund seiner mündlichen Albisgüetli-Rede der Zuhörer annehmen musste, dass der Vorsteher EJPD die zwei Albaner für schuldig hielt. Er brachte dies zum Ausdruck, indem er sie als «Kriminelle» bezeichnete und als solche, die «ermordet» haben. Auch bei der schriftlichen Fassung kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich wahrscheinlich um Kriminelle handeln müsse, denn sonst wäre aus dem Zusammenhang nicht ersichtlich, worin der Missstand bestehen soll, dass den Albanern in der Schweiz Asyl gewährt wurde.

Insgesamt kommt die GPK-S zum Schluss, dass der Vorsteher EJPD mit seinen öffentlichen Verlautbarungen über die zwei betroffenen albanischen Flüchtlinge der Unschuldsvermutung nicht Rechnung getragen hat. Er hat zudem den Flüchtlingsstatus zweier in der Schweiz aufgenommener Personen missachtet. Die GPK-S geht davon aus, dass der Justizminister aus politischen Gründen gehandelt hat, um ein aus seiner Sicht bestehendes Problem aufzuzeigen, nur hat er das Problem an einem falsch dargestellten Beispiel aufgezäumt und dabei die Rechte von Betroffenen tangiert (vgl.

Ziff. 5.1 und 6.1).

4.

Nicht akzeptabel ist nach Meinung der GPK-S, dass der Justizminister vor dem Ständerat im Zusammenhang mit dem Albaner-Fall die Unwahrheit gesagt hat, indem er behauptete, er habe sie ja nie als Kriminelle, sondern als Angeschuldigte bezeichnet; das sei etwas anderes.

5.

Zur Frage der Kritik an Gerichtsurteilen kommt die GPK-S zum Schluss, dass die öffentliche und infolge der Albisgüetli-Rede in den Medien wiederholte Kritik an den Asylurteilen der ARK im Fall der zwei Albaner einseitig war. Mit der sinngemässen Unterstellung, die ARK habe Schwerstkriminellen Asyl zugesprochen und die Auslieferung an Albanien durch das Bundesgericht verhindert, war sie geeignet, das Ansehen der ARK in Misskredit zu bringen und das Vertrauen in ihre Rechtsprechung in Frage zu stellen. Die GPK-S erwartet vom Justizminister, dass er in Bezug auf öffentliche Kritik an Einzelurteilen grosse Zurückhaltung übt und jede einseitige Darstellung vermeidet. Betreffend die Urteile des Bundesgerichts geht die GPK-S davon aus, dass der Vorsteher EJPD diese nicht kritisieren wollte (vgl. Ziff. 5.2 und 6.2).

6.

Der Vorsteher EJPD hat öffentlich deutliche Kritik an der ARK als Behörde hinsichtlich der langen Verfahrensdauer im Fall einer Roma-Familie und auch bezüglich der seiner Meinung nach zu weit gehenden organisatorischen Unabhängigkeit der ARK geübt. Nach Meinung der GPK-S ist es richtig, dass sich der Vorsteher EJPD als Aufsichtsbehörde um Fragen der Geschäftsführung, der Geschäftslast und die Pendenzen der ARK kümmert. Die Interventionen der Aufsicht dürfen jedoch nicht so weit gehen, dass sie in die richterliche Unabhängigkeit eingreifen. Darüber, wo die Grenze der Einmischung liegt, scheinen die Meinungen zwischen dem Vorsteher EJPD und der ARK weit auseinander zu gehen (vgl. Ziff. 5.2).

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7.

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass die Kritik des Vorstehers EJPD an den Asylurteilen betreffend die zwei Albaner hinsichtlich der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz problematisch war. Als Justizminister hat er eine besondere Verpflichtung, die rechtsstaatlichen Grundsätze hochzuhalten und zur Unabhängigkeit der Justiz Sorge zu tragen (vgl. Ziff. 5.3 und 6.3).

8.

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass der Vorsteher EJPD bei seiner Darstellung des Falles der zwei Albaner in seiner Albisgüetli-Rede den Informationsgrundsätzen des Bundesrates nicht gebührend Rechnung getragen hat. Zwar muss es den Mitgliedern des Bundesrates erlaubt sein, die Probleme auch vereinfacht und für jedermann verständlich darzustellen. Doch soll ihre Information insgesamt ausgewogen und sachlich richtig sein. Dem Vorsteher EJPD kann jedoch nicht vorgeworfen werden, er habe mit dem angeführten Beispiel Abstimmungspropaganda betrieben, da er ausdrücklich darauf hinwies, dass die Problematik, die er mit dem angeführten Beispiel aufzeigen wollte, mit den Abstimmungsvorlagen nicht gelöst werde (vgl.

Ziff. 5.4 und 6.4).

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung 1.1 Anlass und Gegenstand der Untersuchung 1.2 Vorgehen 1.3 Rechtliche Grundlagen und Grenzen der Untersuchung

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2 Darstellung der Albisgüetli-Rede und der Ereignisse danach 2.1 Rede des Vorstehers EJPD an der Albisgüetli-Tagung vom 20. Januar 2006 2.2 Ereignisse nach der Albisgüetli-Rede

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3 Vorgeschichte in Albanien, Asylverfahren und Auslieferungsverfahren in der Schweiz 3.1 Vorgeschichte in Albanien 3.2 Asylverfahren und Auslieferungsverfahren in der Schweiz

9064 9064 9065

4 Information des Vorstehers EJPD und Kontakte bzw. Koordination zwischen den verschiedenen Behörden 4.1 Information des Vorstehers EJPD 4.1.1 Informationen vom BFF und vom BJ 4.1.2 Kontakte zwischen der ARK und dem Vorsteher EJPD 4.2 Koordination unter den betroffenen Behörden

9069 9069 9069 9072 9073

5 Feststellungen und Beurteilungen der GPK-S 5.1 Zur Frage der Unschuldsvermutung 5.1.1 Feststellungen 5.1.2 Beurteilung 5.2 Zur Frage der Kritik an Urteilen der Bundesgerichts und an der ARK 5.2.1 Feststellungen 5.2.2 Beurteilung 5.3 Zur Frage der Gewaltenteilung und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz 5.3.1 Feststellungen 5.3.2 Beurteilung 5.4 Zur Frage der Informationsgrundsätze des Bundesrates 5.4.1 Feststellungen 5.4.2 Beurteilung

9073 9073 9073 9075 9077 9077 9082

6 Schlussfolgerungen 6.1 Zur Unschuldsvermutung 6.2 Zur Kritik an der ARK und deren Urteile

9087 9087 9087

9084 9084 9085 9086 9086 9087

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6.3 Zur Gewaltenteilung und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz 6.4 Zu den Informationsgrundsätzen des Bundesrates

9088 9088

7 Weiteres Vorgehen

9089

Anhang Chronologie der Ereignisse im Beispiel der zwei Albaner

9090

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Abkürzungsverzeichnis AB Abs.

ARK Art.

AsylG AuG BBl BFF BFM BGÖ BJ BK BV DAP EAUe EJPD EMRK fedpol GPK-N GPK-S GS-EJPD NZZ ParlG RK-S RVOG SR SVP

Amtliches Bulletin Absatz Asylrekurskommission Artikel Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (SR 142.31) Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (BBl 2005 7365) Bundesblatt Bundesamt für Flüchtlinge (bis 31.12.2004) Bundesamt für Migration (seit 1.1.2005) Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung vom 17. Dezember 2004 (Öffentlichkeitsgesetz, BBl 2004 7269) Bundesamt für Justiz Bundeskanzlei Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) Dienst für Analyse und Prävention Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (SR 0.353.1) Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101) Bundesamt für Polizei Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Generalsekretariat des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes Neue Zürcher Zeitung Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002 (SR 171.10) Kommission für Rechtsfragen des Ständerates Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (SR 172.010) Systematische Sammlung des Bundesrechts Schweizerische Volkspartei

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Bericht 1

Einleitung

1.1

Anlass und Gegenstand der Untersuchung

Anlässlich der 18. Albisgüetli-Tagung der Zürcher SVP am 20. Januar 2006 hielt Bundesrat Christoph Blocher, Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD), eine Rede zu zwei aktuellen politischen Themen. Nebst der Privatisierung der Swisscom stand die Revision des Ausländer- und Asylrechts im Mittelpunkt seiner Ansprache. Dabei führte er unter anderem Beispiele für schweren Asylmissbrauch an. Einige Tage danach wurden in der Öffentlichkeit Vorwürfe gegen den Vorsteher EJPD erhoben, er habe in Bezug auf zwei Albaner, die von ihrem Herkunftsstaat schwerer Verbrechen beschuldigt werden und die er in seiner Rede als «Kriminelle» bezeichnet hatte, die Unschuldsvermutung verletzt. Zudem habe er mit seiner Kritik an Urteilen der Asylrekurskommission (ARK), die den beiden Asyl in der Schweiz zusprach, und am Bundesgericht, das eine Auslieferung an Albanien untersagte, die Gewaltenteilung missachtet. In der Folge bezeichnete der Bundesgerichtspräsident es öffentlich als «nicht akzeptabel», dass der Justizminister die Erwägungen der Gerichte ausser acht gelassen habe. Das Bundesgericht und die ARK hätten ihre gesetzliche Pflicht korrekt wahrgenommen, niemanden wegzuweisen oder an einen anderen Staat auszuliefern, dem politische Verfolgung oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.1 Am 30. Januar 2006 reichte der Anwalt der zwei Albaner bei den Geschäftsprüfungskommissionen eine Aufsichtseingabe ein. Weiter beantragte ein Ständeratsmitglied der Rechtskommission des Ständerates am 2. Februar 2006, sich mit dem Vorfall im Hinblick auf das Vertrauen in die Justiz zu befassen, und machte geltend, der Justizminister habe mit seinen Äusserungen den Grundsatz einer transparenten und umfassenden Information schwerwiegend verletzt. Am 21. Februar leitete die Rechtskommission diesen Antrag an die Geschäftsprüfungskommission im Hinblick auf deren Untersuchung weiter.

Die Subkommission EJPD/BK der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S)2 befragte den Vorsteher EJPD am 22. Februar 2006 zu den Umständen und Hintergründen der von ihm gemachten Aussagen. Am 7. April 2006 informierte sie die GPK-S darüber, dass sie Fragen betreffend einer allfälligen Verletzung der Unschuldsvermutung, die Kritik an der ARK bzw. am Bundesgericht, die Respektierung der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Justiz sowie die Einhaltung der Informationsgrundsätze des Bundesrates vor Abstimmungen weiterverfolgen möchte. Diesem Vorgehen stimmte die GPK-S zu.

1 2

NZZ am Sonntag vom 29. Januar 2006, S. 15.

Der Subkommission EJPD/BK der GPK-S gehören an: Hans Hess (Präsident), Madeleine Amgwerd, Pierre Bonhôte, Rolf Escher, Helen Leumann-Würsch und Gisèle Ory.

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1.2

Vorgehen

Nach der Anhörung des Vorstehers EJPD holte die Subkommission bei der ARK, beim Bundesgericht, beim Bundesamt für Justiz (BJ) sowie beim Bundesamt für Migration (BFM) Stellungnahmen ein und ersuchte den Vorsteher EJPD um die schriftliche Beantwortung weiterer Fragen. Zudem nahm die Subkommission Einsicht in Akten des EJPD, der betroffenen Bundesämter sowie der ARK. Anhand der Informationen und Unterlagen erhielt die Subkommission eine Übersicht über die Hintergründe der Verfahren betreffend der zwei albanischen Flüchtlinge.

Die Subkommission unterbreitete ihren Berichtsentwurf am 15. Juni 2006 dem Vorsteher EJPD und der ARK zur Stellungnahme. Der Vorsteher EJPD hielt in seiner Stellungnahme vom 26. Juni 2006 in allen Punkten an seinen bereits früher öffentlich geäusserten und in diesem Bericht wiedergegebenen Standpunkten fest und lehnte den Bericht in der vorliegenden Form ab.

Anschliessend unterbreitete die Subkommission ihren bereinigten Berichtsentwurf der GPK-S, die den Bericht am 10. Juli 2006 verabschiedete und zur Publikation freigab.

1.3

Rechtliche Grundlagen und Grenzen der Untersuchung

Die Geschäftsprüfungskommissionen nehmen gestützt auf Artikel 169 der Bundesverfassung (BV)3 die Oberaufsicht über den Bundesrat und die Bundesverwaltung, die eidgenössischen Gerichte und die anderen Träger von Aufgaben des Bundes wahr. Sie legen den Schwerpunkt ihrer Prüftätigkeit auf die Kriterien der Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit (Art. 52 Abs. 2 Parlamentsgesetz [ParlG]4).

Die Geschäftsprüfungskommissionen verfügen für die Wahrnehmung ihres Auftrags über besondere Informationsrechte (Art. 150 und Art. 153 ParlG). Sie haben insbesondere das Recht, alle Behörden, Dienststellen und übrigen Träger von Bundesaufgaben direkt zu befragen und können von diesen alle zweckdienlichen Auskünfte und Unterlagen verlangen.

Die Geschäftsprüfungskommissionen können Urteile des Bundesgerichts sowie Verfügungen von Bundesbehörden in Justizverfahren nicht aufheben oder abändern.

Zudem ist die inhaltliche Kontrolle richterlicher Entscheidungen ausgeschlossen (Art. 26 Abs. 4 ParlG). Auf hängige Verfahren können sie keinerlei Einfluss ausüben; sie können jedoch im Zusammenhang mit organisatorischen Fragen oder zum Verständnis von Entscheiden Einsicht in abgeschlossene Dossiers nehmen oder Auskunft darüber verlangen.

In den vorliegend zur Frage stehenden Verfahren hat die Subkommission einzig zum Zweck des Verständnisses der Hintergründe und zu Plausibilitätsabklärungen von einzelnen Aussagen von Behörden Einsicht in Dossiers genommen. Die GPK-S nimmt zu keinem der getroffenen Entscheide inhaltlich Stellung.

3 4

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (BV; SR 101).

Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13.12.2002 (ParlG; SR 171.10).

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2

Darstellung der Albisgüetli-Rede und der Ereignisse danach

2.1

Rede des Vorstehers EJPD an der Albisgüetli-Tagung vom 20. Januar 2006

In seiner Rede an der Albisgüetli-Tagung in Zürich vom 20. Januar 2006 befasste sich der Vorsteher EJPD zu einem wesentlichen Teil mit dem neuen Ausländergesetz und dem revidierten Asylgesetz, die vom Parlament verabschiedet wurden5 und gegen die zu diesem Zeitpunkt das Referendum angekündigt worden war. Bei seinen Ausführungen zum Asylgesetz wies er zunächst auf die lange Tradition der Schweiz hin, auch Leute aufzunehmen, die in ihrem eigenen Land an Leib und Leben verfolgt waren, bevor er auf die «enormen Missbräuche» zu sprechen kam, die im Asylwesen wucherten: die überwiegende Zahl von Asylsuchenden, die keine politischen Flüchtlinge sind, die Verwicklung von Asylsuchenden in Schleppergeschäfte und die organisierte Kriminalität, namentlich im Drogenhandel, und die Vernichtung von Papieren durch Asylsuchende. Schliesslich führte er einige konkrete Beispiele von Asylmissbrauch an, um aufzuzeigen, dass Handlungsbedarf zur Beseitigung von Missbräuchen und Missständen sowie zur Senkung der enormen finanziellen Belastung für Bund, Kantone und Gemeinden bestehe. Eines dieser konkreten Beispiele betraf den seither umstrittenen Fall zweier albanischer Flüchtlinge, der im Folgenden im Wortlaut (schriftlich und mündlich) wiedergegeben wird.

Gemäss dem schriftlichen und publizierten Redetext (homepage des EJPD: http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/dokumentation/red/2006/2006-01-20.html) lautete das Beispiel: «Hier ein letztes Beispiel: Zwei international gesuchte Albaner stellten 2004 ein Gesuch um Asyl. Der eine wird beschuldigt, fünfzehn Überfälle begangen, zwei Menschen ermordet und ein Kind entführt zu haben. Ausserdem soll er an mehreren tödlichen Attentaten beteiligt gewesen sein. Sein Asylkumpane wird der Beteiligung an immerhin fünf Raubüberfällen verdächtigt. Das Bundesamt für Flüchtlinge entschied umgehend: Die Asylanträge wurden abgelehnt. Das Bundesamt für Justiz verfügte ­ nach einer ordentlichen Überprüfung der Anschuldigungen ­ die Auslieferung der beiden Albaner. Ein klarer Fall? Ja. Aber nicht für die Asylrekurskommission: Sie heisst eine Beschwerde der Albaner gut. Beide erhalten Asyl. So wurden aus zwei schwerer Verbrechen Angeklagten zwei Flüchtlinge. Um die Geschichte noch zu vervollständigen: Der Entscheid war letztinstanzlich, auch das Bundesgericht verfügte die Freilassung und
liess die Kosten für Anwalt, Dolmetscher, Übersetzung erstatten und sprach zudem eine Haftentschädigung zu. Auch wenn das neue revidierte Asylgesetz durch das Volk bestätigt wird, geht unsere Arbeit weiter. Denn es bleiben noch einige Mängel im Asylrecht, wie dieses Beispiel eindringlich zeigt.»

5

Bundesgesetz vom 16.12.2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; BBl 2005 7365); Änderung des Asylgesetzes (AsylG; SR 142.31) vom 16.12.2005 (BBl 2005 7425).

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Nach dem gesprochenen Wort gemäss der Videoaufnahme (homepage des EJPD an gleicher Stelle), übertragen aus dem Dialekt, sagte der Vorsteher EJPD: «Das Beispiel, das jetzt in der Zeitung war, mit den Albanern: Das geht doch auch nicht. Zwei Albaner, die hier sind, Kriminelle. Einer hat zwei Morde auf dem Buckel, 15 Raubüberfälle. Ich habe das Land Albanien besucht, weil ich mit diesem jetzt einen Polizeivertrag gemacht habe. Wir schauen, ob wir da vielleicht etwas machen können. Natürlich gibt es viele Missstände. Aber da sind junge Minister, die den Willen haben, aufbrechen und sagen: Ich habe gefragt: Sie erhalten Entwicklungsgelder. Wo würden Sie diese einsetzen, wenn Sie ganz frei wären? Sowohl der Justizminister als auch der Polizeiminister sagten mir, sie würden eindeutig Gefängnisse bauen. Sie sehen, das sind ganz andere Ordnungen. Und wir haben nun hier Albaner, die wir aufnehmen, weil sie sagen, wenn wir heimkommen, werden wir verfolgt. Das ist ja klar, wenn man ermordet hat. Und diese sagen: Nein, wenn ihr das macht, kommt jeder, der hier ein Delikt begeht, zu Euch. Merken Sie, wie schwierig dies ist? Ich kann da auch nicht dreinreden. Es ist auch ein Entscheid von Instanzen, den ich akzeptieren muss. Aber wir müssen schauen, wie wir das lösen können, sonst erhalten wir schlechte Zustände.

Wer das duldet und sagt, das müssen wir doch alles machen, der ist nicht sozial. Das ist unsozial.» Die ARK spielte auch in einem weiteren vom Vorsteher EJPD erwähnten Beispiel eine Rolle. Im schriftlichen Redetext heisst es: «Sie alle kennen aus den Medien Berichte von besonders krassen Beispielen. Etwa der Fall der Roma-Familie aus Rüschlikon. Mehrfache schwere Gewalttaten, Kosten in Millionenhöhe, negativer Asylentscheid ­ und trotzdem lebt die Familie noch immer hier. Warum? Dieser Fall lag jahrelang bei der Asylrekurskommission. Sie haben es gehört, diese Woche wurde endlich entschieden. Der Vater und der volljährige Sohn müssen gehen, die anderen dürfen einstweilen bleiben. Die Asylrekurskommission ist eine so genannt Kommission. Das heisst, sie entscheidet und lässt sich dabei nicht in die Karten blicken. Es ist gut, dass jetzt ein Urteil vorliegt,
aber es ist natürlich schlecht, dass dies so lange gedauert hat.

Die Asylrekurskommission gehört ab 2007 zum Bundesverwaltungsgericht. Hoffen wir, dass dieses neue Gericht neben der rechtlichen Verantwortung auch an die Folgen denkt, welche immer wieder hinausgeschobene Entscheide für unser Land bedeuten.» Gemäss der Videoaufnahme lautete das gesprochene Wort wie folgt (Übertragung aus dem Dialekt): «Sie kennen das Beispiel der Roma-Familie in Rüschlikon aus den Zeitungen.

Mehrfache schwere Gewalttaten, Kosten in Millionenhöhe. Die Bürgerinnen und Bürger müssen zahlen. Rasch ein negativer Asylentscheid. Es gibt kein Asyl nach der Meinung meiner Ämter. Und trotzdem ist die Familie immer noch da. Warum?

Anwälte machen Beschwerden an die Asylrekurskommission. Sie hat zwei Jahre gebraucht, um einen Entscheid fällen zu können. Diese Woche ist jetzt ein Entscheid gefallen. Ich will diesen nicht kommentieren. (Applaus). Es ist eine selbständige Kommission. Wir müssen auch aufpassen: Wir haben viele Kommissionen, Gruppen und Leute, von denen man immer sagt, sie seien unabhängig. Ich begreife, dass diejenigen, die das Recht prüfen müssen, auch unabhängig sein müssen im Fall.

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Aber dass sie so unabhängig sind, dass sie sogar bei den Fragen, welche Geschäfte man zuerst behandelt, ob man die schwierigen Fälle zuerst nimmt, ob man vorwärts macht usw., bei allem sagen, wir sind unabhängig, unabhängig, unabhängig ­ am Schluss haben wir nur noch Kommissionen im luftleeren Raum ­ auch dieses Problem müssen wir angehen. Selbständige Kommissionen laufen auch Gefahr, sich über die politische Wirklichkeit zu stellen. Entscheide kann man nicht mehr der öffentlichen Prüfung unterwerfen. Die Asylrekurskommission wird ab dem nächsten Jahr ein Teil des Bundesverwaltungsgerichts sein, also ganz unabhängig. Es ist sehr zu hoffen, dass es dann auch die Folgen ein wenig bedenkt, die es hat, wenn es zu lange geht oder wenn man falsch entscheidet.» Am Schluss seiner Rede rief der Vorsteher EJPD dazu auf, für ein Ja zum Ausländergesetz und zum Asylgesetz zu kämpfen.

2.2

Ereignisse nach der Albisgüetli-Rede

In der Fragestunde des Nationalrates vom 13. März 2006 nahm der Vorsteher EJPD in Beantwortung von zwei Fragen6 erstmals öffentlich Stellung zu seinen Aussagen in der Albisgüetli-Rede betreffend dem Albaner-Fall. Nach einer Aufzählung der von den albanischen Behörden erhobenen schweren Anschuldigungen erklärte er, diese stünden nach wie vor im Raum, weil die beiden zur rechtlichen Beurteilung dieser Taten bis heute nicht ausgeliefert werden konnten. Seine Rede habe der Unschuldsvermutung Rechnung getragen, weil ausdrücklich von einer Beschuldigung und nicht von einer Verurteilung gesprochen worden sei. Im Weiteren machte er Ausführungen über das Auslieferungsverfahren und das Asylverfahren, die in der Schweiz parallel abliefen (vgl. Ziff. 3.1), und bekräftigte seine Kritik an der ARK.

Diese habe den Asylentscheid gefällt, bevor das Bundesgericht im Auslieferungsverfahren Garantien, die von Albanien verlangt worden waren, prüfen konnte. «Die Asylrekurskommission hat somit das Verfahren des Bundesgerichtes unterlaufen, was ich als grossen Mangel bezeichnen möchte», sagte der Vorsteher EJPD. Das Bundesgericht habe in der Folge den rein formellen Prozessentscheid fällen müssen, auf die Auslieferung sei zu verzichten, da Asyl gewährt worden war. Er habe im Übrigen in keiner Weise das Bundesgericht oder seine Urteile kritisiert, sondern die unbefriedigende Koordination zwischen den beiden Verfahren, wie sie durch die Entscheidung der ARK entstanden sei. Im Weiteren führte er aus, dass es nicht um diesen Einzelfall gehe, sondern darum, dass die Schweiz nicht dasjenige Land werden dürfe, in dem sich Leute, welche krimineller Aktivitäten angeklagt sind, durch ein Asylverfahren der Bestrafung oder der gerichtlichen Beurteilung entziehen könnten.

In ähnlicher Weise äusserte sich der Vorsteher EJPD am 22. März 2006 erneut im Rahmen der Beratung des europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus7 im Ständerat, nachdem er von einem Ständeratsmitglied auf die Albisgüetli-Rede angesprochen worden war. Zur Situation in Albanien führte er aus, in diesem Fall habe man alles getan, um abzuklären, ob ein einwandfreier rechtsstaatlicher Prozess gewährleistet sei. «Wir haben ein Polizeiabkommen geschlossen.

6 7

06.5025 Frage. Problematische Aussagen von Herrn Bundesrat Blocher; 06.5027 Frage.

Albisgüetlirede von Herrn Bundesrat Blocher, AB 2006 N 152.

05.022 Bekämpfung des Terrorismus. Europäisches Übereinkommen, AB 2006 S 254.

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Unterdessen hat die Regierung gewechselt, es hat Neuwahlen gegeben. Es sind junge Minister dort, und der Justizminister hat gesagt: In einem Land mit so vielen Verbrechen sind wir darauf angewiesen, dass wir eine richtige Verurteilung vornehmen können und dass wir in diesem Fall Rechtshilfe bekommen. Wir in der Schweiz können nicht ­ wegen Beurteilungen von Flüchtlingseigenschaften oder aus anderen Gründen, die rechtsstaatlich nicht einwandfrei sind ­ zum Hort werden für Leute, die sich nach solchen Straftaten der Verfolgung entziehen.» Hinsichtlich der Schuldfrage der beiden Albaner führte er aus: «Gemäss Beurteilung des Anwalts waren es politische und geheimdienstliche Delikte usw. Es ist klar: Jeder Angeschuldigte ist in seinen eigenen Augen immer unschuldig. Das Bundesgericht hat gesagt, es sei nicht entschieden.» ... «Ich habe sie ja auch nie als Kriminelle, sondern als Angeschuldigte bezeichnet; das ist etwas anderes.» Insbesondere die zuletzt zitierte Aussage des Justizministers führte in den folgenden Tagen zunehmend zu Kritik einzelner Parlamentsmitglieder und in den Medien, der Justizminister habe im Ständerat nicht die Wahrheit gesagt, als er abstritt, die zwei Albaner als Kriminelle bezeichnet zu haben, obwohl dies in der Videoaufnahme belegt sei. Der Ständeratspräsident forderte daraufhin öffentlich eine Entschuldigung seitens des Vorstehers EJPD.

Daraufhin gab der Vorsteher EJPD am 29. März 2006 an einer Medienkonferenz folgende Erklärung ab: «In der schriftlichen Fassung wurden zwei Albaner korrekterweise als schwerer Verbrechen Angeklagte bezeichnet. Es ging ja darum, ob sie sich durch einen Flüchtlingsstatus, welchen die Asylrekurskommission ausgesprochen hat, der gerichtlichen Beurteilung entziehen können oder nicht. In der mündlichen Fassung habe ich an einer Stelle statt von mutmasslichen Kriminellen von Kriminellen gesprochen. Das war ein Fehler, das tut mir leid, dass das so war. Es ist aber lediglich ein sprachliches Versehen.» Zu seinen vor dem National- und Ständerat gemachten Aussagen äusserte sich der Vorsteher EJPD nicht. Auf die Frage eines Journalisten, ob er vorhabe, sich beim Ständerat oder bei den betroffenen Albanern zu entschuldigen, antwortete er: «Wenn ich mein Bedauern ausdrücke über dieses sprachliche Versehen, ist das damit geschehen, nicht wahr.» Auf weitere
Journalistenfragen nach den Hintergründen des Falles sagte er: «Die Verwirrung ist natürlich gemacht worden, damit man nicht über diesen Fall sprechen muss.» Im Folgenden machte er ähnliche Ausführungen über den Ablauf der Asyl- und Auslieferungsverfahren der beiden Albaner in der Schweiz wie bereits im National- und Ständerat und wiederholte seine Kritik an der ARK. Diese habe ­ und das habe er im «Albisgüetli» vor allem kritisiert ­ den Albanern den Flüchtlingsstatus zugesprochen, bevor die Unterlagen aus Albanien eingetroffen waren, nach denen man hätte prüfen können, ob man die Albaner hätte ausliefern können. «Das ist ausserordentlich störend und gravierend, wenn sich Leute, die Verbrechen begangen haben ­ angeblich oder wirklich, das weiss man ja erst nach der Verurteilung ­ sich einer Beurteilung durch die Gerichte oder dem Strafvollzug entziehen können, indem sie zu uns kommen.» Der ebenfalls an der Pressekonferenz anwesende Direktor des BJ machte weitere Ausführungen zu den Verfahren und kündigte an, man werde jetzt verwaltungsintern prüfen, ob das Verhältnis von parallelen Asyl- und Auslieferungsverfahren zueinander allenfalls gesetzlich zu regeln sei.

Seit dem 29. März 2006 wurde der Albisgüetli-Rede auf der Homepage des EJPD folgender Text vorangestellt: «Statement von Bundesrat Christoph Blocher vom 29. März 2006 zur Aufregung um die Albisgüetlirede 2006 (s. unten schriftliche Fassung und Videoaufzeichnung):
güetlirede 2006. In der schriftlichen Fassung wurden zwei Albaner korrekterweise als schwerer Verbrechen Angeklagte bezeichnet. In der mündlichen Fassung habe ich an einer einzigen Stelle statt von mutmasslichen Kriminellen von Kriminellen gesprochen. Das war ein Fehler, der mir leid tut. Es war ein sprachliches Versehen.

Nie war es meine Absicht, die Albaner als verurteilte Kriminelle hinzustellen>.»

3

Vorgeschichte in Albanien, Asylverfahren und Auslieferungsverfahren in der Schweiz8

3.1

Vorgeschichte in Albanien

Eröffnung des Strafverfahrens und Haftbefehl: Am 13. Oktober 1996 eröffneten die albanischen Strafbehörden gegen elf angebliche Mitglieder einer Terrorgruppe «Hakmarrja për Drejtësi» («Rache für Gerechtigkeit»), darunter gegen die zwei Albaner, ein Strafverfahren. Am Tag darauf erging ein Haftbefehl gegen die Verdächtigten. Einer der zwei Albaner konnte sich der Verhaftung entziehen, der andere befand sich zwischen Oktober 1996 und März 1997 in Untersuchungshaft. Im Rahmen der Strafuntersuchung, im folgenden viereinhalbjährigen erstinstanzlichen Prozess in Tirana sowie später im Auslieferungsverfahren in der Schweiz ging es im Wesentlichen um dieselben schweren gemeinrechtlichen Delikte. Einer der zwei Albaner wurde beschuldigt, zusammen mit anderen in der Zeit zwischen Juni 1992 und Juli 1996 insgesamt 15 Raubüberfälle begangen zu haben, bei denen zwei Menschen getötet wurden, einen Polizisten angegriffen und schwer verletzt zu haben, ein Kind entführt und Lösegeld verlangt zu haben, einen Autobombenanschlag verübt zu haben, bei dem vier Personen getötet und 11 Personen verletzt wurden, und schliesslich den Generaldirektor der Gefängnisse Albaniens erschossen zu haben. Der andere Albaner wurde verdächtigt, an fünf Raubüberfällen beteiligt gewesen zu sein, begangen zwischen Juni 1992 und Februar 1995.

Urteil des erstinstanzlichen Gerichts in Tirana am 12. Februar 2003: Nach viereinhalbjährigem Prozess, während dem rund 250 Zeugen angehört wurden, stellte das Gericht fest, dass die den Angeklagten zur Last gelegten schweren Verbrechen des gemeinen Rechts zwar begangen worden sind, aber dass bei keinem der Angeklagten Beweise erbracht werden konnten, dass sie an den Taten beteiligt waren. Als hauptsächliche Beweise machte die Staatsanwaltschaft die in der Wohnung eines Mitangeklagten gefundenen Waffen und ballistische Gutachten über an Tatorten sichergestellte Geschosse geltend. Diese Beweise wurden vom Gericht für ungültig erklärt, nachdem es aufgrund von Zeugeneinvernahmen und graphologischen Gutachten zur Auffassung gelangte, dass keiner der sieben Zeugen, die die polizeilichen Protokolle über die Untersuchung der Wohnung und des dort angeblich gefundenen Materials mitunterzeichnet hatten, in der Wohnung anwesend gewesen war und dass einzelne Unterschriften gefälscht waren. Einen Antrag der
Staatsanwaltschaft, die Akten seien an sie zur weiteren Ermittlung zurückzuweisen, interpretierte das Gericht als Antrag auf Rückzug der Anklage und entschied die Aufhebung der Strafsache gegen die Angeklagten sowie die Aufhebung der Sicherungsmassnahmen.

Urteil des Berufungsgerichts in Tirana vom 30. April 2003: Das Berufungsgericht entschied die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils aus prozessualen Gründen 8

Vgl. die Chronologie im Anhang.

9064

(keine inhaltliche Beurteilung), und Rückweisung der Akten zum erneuten Entscheid durch das erstinstanzliche Gericht. Aufgrund dieses Urteils entschied das erstinstanzliche Gericht am 4. September 2003 die Rücküberweisung der Akten an die Staatsanwaltschaft zur weiteren Ermittlung. Der Entscheid hatte zur Folge, dass der Haftbefehl vom 14. Oktober 1996 immer noch gültig war und mit einer erneuten Verhaftung der Angeklagten zu rechnen war, was die beiden Albaner zur Flucht veranlasste.

Hintergründe der Strafverfolgung: Nach Darstellung der beiden Albaner in den Verfahren vor den Schweizer Behörden, die schliesslich von der Asylrekurskommission als glaubhaft beurteilt wurde, hatte die Strafverfolgung folgende Hintergründe: Die Regierung von Sali Berisha habe kurz vor den Wahlen 1996 eine «phantastische Politshow» inszeniert und eine Terrorgruppe «Hakmarrja për Drejtësi» erfunden, deren Ziel es sei, die Regierung zu stürzen, Sali Berisha zu töten, den Staat zu destabilisieren und der Opposition zur Macht zu verhelfen. Unmittelbar vor den Wahlen habe die Regierung die angebliche Terrorgruppe «entdeckt», eine angebliche konspirative Wohnung ausfindig gemacht und darin Waffen, 1 Million Dollar und zahlreiche Unterlagen beschlagnahmt. Dieser «Erfolg» habe massgeblich zum Wahlerfolg der Partei Sali Berishas beigetragen. Sie und weitere Mitglieder und Freunde der Familie des einen von ihnen seien aus politischen Gründen beschuldigt worden, Mitglieder der angeblichen Terrororganisation zu sein. Der Vater des einen, der frühere Innenminister Albaniens, sei beim damaligen Staatspräsidenten Sali Berisha in Ungnade gefallen und 1992 zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Beschuldigten hätten keines dieser Verbrechen begangen, sondern diese seien ihnen aus politischen Gründen unterschoben worden. Der «Hakmarrja»-Prozess sei in Albanien bis heute ein Politikum und habe grosses Aufsehen erregt. Obwohl Berisha 1997 von der Macht verdrängt wurde, hätten Berisha-nahe Leute immer noch grossen Einfluss auf die Justiz ausgeübt. Ausserdem habe auch die von 1997 bis 2005 regierende sozialistische Partei ein Interesse daran, «Erfolge» in der Kriminalitätsbekämpfung nachzuweisen.

Von den elf im «Hakmarrja»-Prozess Angeklagten haben bisher ­ nebst den zwei Albanern in der Schweiz ­ zwei in den Niederlanden und einer
in Belgien Asyl erhalten.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass seit September 2005 die Demokratische Partei unter der Führung von Sali Berisha wieder an der Macht ist.

3.2

Asylverfahren und Auslieferungsverfahren in der Schweiz

Einreise und Verhaftung der zwei Albaner: Am 4. Februar 2004 reisten die beiden Albaner in die Schweiz ein und reichten am folgenden Tag Gesuche um Asyl ein.

Aufgrund eines internationalen Haftbefehls wurden sie am 6. Februar 2004 in der Empfangsstelle Basel verhaftet und in Auslieferungshaft genommen. Albanien ersuchte um ihre Auslieferung.

Erstinstanzliche Ablehnung des Asylgesuchs und Bewilligung der Auslieferung: Am 12. März 2004 lehnte das BFF ihr Asylgesuch ab, weil es das Strafverfahren gegen die Gesuchsteller nicht als politisch motiviert beurteilte, sondern von einer legitimen strafrechtlichen Verfolgung ausging. Gegen den Entscheid erhoben die Asylsuchen9065

den Beschwerde bei der ARK. Am 23. April 2004 bewilligte das BJ die Auslieferung an Albanien, unter Vorbehalt eines rechtskräftigen negativen Asylentscheids durch die ARK. Gegen diesen Entscheid erhoben die Albaner Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht.

Erstes Urteil des Bundesgerichts: Am 8. Juli 2004 hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut und wies die Sache an das BJ zur Ergänzung des Sachverhaltes und zur Neubeurteilung des Auslieferungsbegehrens zurück. Zur Begründung führte das Bundesgericht an: «Insgesamt enthalten die von den Beschwerdeführern eingereichten Unterlagen Anhaltspunkte für den Verdacht, dass Beweismittel zu Lasten der Angeklagten vom albanischen Geheimdienst fabriziert, Zeugen von der Polizei unter Druck gesetzt und Angeklagte gefoltert worden sind, um Geständnisse zu erwirken.

Damit wird nicht nur die Fairness des albanischen Strafverfahrens in Zweifel gezogen, sondern auch der Verdacht begründet, die Strafverfolgung könne einen politischen Hintergrund haben. Skeptisch stimmt auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer 2 zurzeit des ersten Raubüberfalls erst 15 Jahre alt war und in diesem jugendlichen Alter bereits eine bewaffnete Bande mit zahlreichen, durchwegs älteren Mitgliedern geleitet haben soll.» Das Bundesgericht rügte das BJ, es wäre unter diesen Umständen verpflichtet gewesen, den von den Beschwerdeführern geschilderten Sachverhalt näher abzuklären. Weiter hielt das Bundesgericht fest: «Die Beschwerdeführer haben dargelegt und durch die Zeugenaussage M. sowie diverse Zeitungsartikel glaubhaft gemacht, dass der Beschwerdeführer 1 und andere Angeklagte des -Prozesses, darunter der Bruder des Beschwerdeführers 2, im Untersuchungsverfahren gefoltert worden sind.» Das Bundesamt wäre deshalb, so das Bundesgericht, verpflichtet gewesen, auch zur Frage der drohenden Folter weitere Abklärungen zu treffen. Das Urteil wurde von der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung einstimmig in Fünferbesetzung gefällt.9 Fortsetzung des Auslieferungsverfahrens: Aufgrund des Bundesgerichtsurteils forderte das BJ am 15. Juli und am 12. August 2004 ergänzende Unterlagen und Garantien von Albanien an, welche am 29. Juli bzw. am 25. August 2004 eintrafen. Die zweite Lieferung wurde von Albanien am 27. September 2004 unaufgefordert mit weiteren Unterlagen ergänzt. Die
Dokumente wurden vom BJ nicht an die ARK weitergeleitet.

Asylurteile der ARK: Am 13. September 2004 entschied die ARK, den zwei Albanern sei Asyl zu erteilen. Das Urteil war letztinstanzlich und wurde nicht veröffentlicht. Im Folgenden wird aus der Begründung eines Urteils zitiert, wobei diese sinngemäss in beiden Urteilen gleich lautet. Zunächst widersprach die ARK der Auffassung des BFF, den Akten könnten keine Anhaltspunkte auf eine politische Motivation des gegen den Beschwerdeführer in Albanien eingeleiteten Strafverfahrens entnommen werden. Das BFF gehe zwar zu Recht davon aus, eine politische Aktivität als Verfolgungsgrund entfalle, übersehe dabei aber, dass auch politisch nicht aktive Personen aus politischen Gründen verfolgt werden könnten, wenn ihnen der Verfolger politische Aktivitäten unterstellt oder aus politischen Überlegungen eine Verfolgung einleitet. Weiter führte die ARK aus: «Angesichts der vorliegenden umfangreichen Akten erscheint der ARK die Wahrscheinlichkeit, dass das gegen den Beschwerdeführer und die Mitangeklagten eingeleitete Strafverfahren aus politischen Gründen inszeniert wurde, entgegen der Würdigung des BFF als erheblich. Mit anderen Worten: Aufgrund des Verlaufs des dem erstinstanzlichen Ge9

Bundesgerichtsurteil 1A.129/2004 / 1A.131/2004 vom 8.7.2004.

9066

richtsverfahren vorangegangenen Untersuchungsverfahrens und der Anklageerhebung besteht der ernsthafte Verdacht, die Kräfte um Sali Berisha hätten gegen ihnen missliebige Personen und zum Teil auch zufällig ausgewählte, die mit ersteren in Verbindung standen, ein Beschuldigungsgeflecht erfunden, um die Angelegenheit politisch für sich ausschlachten zu können. Aufgrund des Ergebnisses des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens ist auch die Wahrscheinlichkeit, es habe nie eine Gruppe gegeben, durchaus hoch. Immerhin sind während des langjährigen Prozesses zahlreiche Beweiserhebungen gemacht worden, die Bedenkliches zu Tage gebracht haben: Zeugenaussagen weisen darauf hin, dass die Strafverfolgungsorgane die in der Wohnung Waffen selbst dort deponiert hatten; angeblich von der Staatsanwaltschaft gesicherte Beweise wurden dem Gericht nicht vorgelegt, <...> Zeugen sind bedroht worden, Unterschriften von Polizeibeamten wurden gefälscht beziehungsweise missbräuchlich verwendet, keiner der zahlreichen einvernommenen Zeugen konnte den Beschwerdeführer und die Mitangeklagten entscheidend belasten, von den vielen Delikten, die den zehn Angeklagten und dem verstorbenen X angelastet wurden, führte kein einziges bei keinem der Angeklagten zu einem Schuldspruch ...».

Aus den Akten gehe des Weiteren hervor, dass das Gerichtsverfahren gegen den Beschwerdeführer und die Mitangeklagten in Albanien ein Politikum dargestellt habe und noch immer darstelle. Die im Rahmen des Asylverfahrens eingereichten Presseerzeugnisse widerspiegelten, je nach ihrer parteipolitischen Ausrichtung, die von den politischen Parteien hinsichtlich des Strafverfahrens vertretenen Ansichten.

Die Art und Weise, wie sich namentlich Berisha, der behauptete, die Richter seien selbst Mitglieder der terroristischen Organisation gewesen, in das Verfahren eingemischt und sich zum erstinstanzlichen Gerichtsurteil geäussert habe, deute darauf hin, dass er mit seiner Einmischung andere als rechtsstaatlich legitime Interessen verfolge.

Zusammenfassend ging die ARK davon aus, «dass zahlreiche und in Anbetracht der gesamten Aktenlage überwiegende Hinweise für einen politischen Hintergrund des in Albanien gegen den Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahrens bestehen.» Die ARK erachtete «die Wahrscheinlichkeit,
dass es sich bei dem gegen den Beschwerdeführer angehobenen Strafverfahren um ein aus politischen Gründen inszeniertes Komplott handelt, höher als die Wahrscheinlichkeit, wonach der Beschwerdeführer mit den ihm zur Last gelegten Straftaten in einem Zusammenhang steht beziehungsweise diese oder einen Teil davon begangen haben könnte.» In Bezug auf die erhobenen Foltervorwürfe kam die ARK wie das Bundesgericht ebenfalls zur Annahme, «dass diese Folterungen stattgefunden haben. Angesichts der Aktenlage ist davon auszugehen, dass mehrere Mitangeklagte des Beschwerdeführers, welche vorübergehend inhaftiert waren, erheblich misshandelt wurden.

Der Mitangeklagte X kam während der Polizeihaft im Berg Dajti ums Leben, wobei die Möglichkeit, dass er von Angehörigen der Ermittlungsbehörden gezielt umgebracht wurde, aufgrund der Umstände durchaus besteht.» Schliesslich kam die ARK zum Schluss, dass dem Beschwerdeführer begründete Furcht vor asylrechtlich relevanter Verfolgung zuzuerkennen sei. «Einerseits wurde festgestellt, dass das gegen ihn und weitere Personen eingeleitete Strafverfahren mit erheblicher Wahrscheinlichkeit einen politischen Hintergrund aufweist, andererseits wurde die Wahrscheinlichkeit, wonach er während der ihm nach einer Rückkehr nach Albanien bevorstehenden Polizeihaft schwer misshandelt oder gefoltert würde, als überwiegend erachtet.» 9067

Entlassung aus der Auslieferungshaft: Aufgrund der Asylgewährung ordnete das BJ am 15. September 2004 die Entlassung aus der Auslieferungshaft nach gut sieben Monaten Haftdauer an.

Erneute Fortsetzung des Auslieferungsverfahrens: Am 12. September 2005, nach fast einem Jahr, verfügte das BJ erneut die Auslieferung der Flüchtlinge nach Albanien unter Vorbehalt des Widerrufs des Asyls und der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zur Begründung führte das BJ an, bereits in seiner Verfügung vom 23. April 2004 sei das BJ zum Schluss gekommen, dass kein Ablehnungsgrund im Sinne von Artikel 3 Ziffer 2 EAUe10 bestehe. An diesem Standpunkt sei festzuhalten. Die aus Albanien angeforderten Unterlagen würden keine Anhaltspunkte für eine Konstruktion des Sachverhalts aus politischen Gründen erkennen lassen. Gemäss dem aufgehobenen erstinstanzlichen Urteil vom 12. Februar 2003 sei es bewiesen, dass die Taten stattgefunden hätten. Das Gericht habe festgehalten, dass es hingegen nicht bewiesen sei, dass die Verfolgten Urheber der Straftaten seien. Die zuständigen Behörden würden zu klären haben, ob die von der Staatsanwaltschaft präsentierten Beweise für eine Verurteilung der Angeklagten genügten. Im Übrigen wies das BJ darauf hin, dass nach feststehender Rechtsprechung nicht verlangt werden könne, dass die ersuchende Behörde die Tatvorwürfe mit Beweisen belege.

Es sei davon auszugehen, das die von Albanien abgegebenen Garantien glaubwürdig seien und ausreichten, um korrekte Haftbedingungen und die Durchführung eines fairen Verfahrens gegen die Verfolgten sicherzustellen. Gegen die erneute Verfügung des BJ erhoben die Albaner Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht.

Besuch des Vorstehers EJPD in Albanien: Am 21. September 2005 traf der Vorsteher EJPD in Albanien den albanischen Innenminister sowie den Justizminister anlässlich der Unterzeichnung eines Polizeikooperationsabkommens zwischen der Schweiz und Albanien. Anlässlich dieses Treffens war u. a. auch der Fall der zwei Albaner Gegenstand der Gespräche. Wie der Vorsteher EJPD in seiner AlbisgüetliRede sowie auch vor dem Ständerat ausführte (vgl. Ziff. 2.1 und 2.2), sei es Ziel der neuen Regierung unter Sali Berisha, die Kriminalität zu bekämpfen und den Rechtsstaat in Albanien zu festigen. Deshalb sei Albanien auf die Rechtshilfe der Schweiz in
diesem Fall bzw. die Auslieferung der zwei Albaner angewiesen.

Zweites Urteil des Bundesgerichts: Am 14. Dezember 2005 hiess das Bundesgericht die Beschwerde erneut gut und hob die Auslieferungsverfügung auf mit der Begründung, nach der Erteilung des Asyls sei eine Auslieferung an den Herkunftsstaat ausgeschlossen. Bezüglich des vom BJ angebrachten Vorbehalts des Asylwiderrufs erkannte das Bundesgericht: «Ist dem Verfolgten bereits Asyl gewährt worden, so steht fest, dass die Auslieferung nicht bewilligt werden kann. In diesem Fall bedarf es keines Vorbehalts mehr: Die Auslieferung ist abzulehnen. Das Bundesgericht ist im Auslieferungsverfahren betreffend eines anerkannten Flüchtlings an den Asylentscheid gebunden und darf diesen weder widerrufen noch vorfrageweise überprüfen; für den Widerruf sind die Asylbehörden zuständig.» In Bezug auf den Asylwiderruf führte das Bundesgericht aus: «In der Regel ist mit dem längerfristigen Bestand der Asylgewährung und der Flüchtlingsanerkennung zu rechnen: Ein Widerruf ist nur möglich, wenn die Person die Anerkennung durch falsche Angaben oder Verschweigen wesentlicher Tatsachen erschlichen hat». Die weiteren Auslieferungsvoraussetzungen und insbesondere die ergänzenden Unterlagen aus Albanien prüfte 10

Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (EAUe, SR 0.353.1).

9068

das Bundesgericht nicht mehr. Das Urteil wurde von der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung einstimmig in Fünferbesetzung gefällt.11

4

Information des Vorstehers EJPD und Kontakte bzw. Koordination zwischen den verschiedenen Behörden12

4.1

Information des Vorstehers EJPD

4.1.1

Informationen vom BFF und vom BJ

Am 29. September 2004 orientierte das BFF (heute BFM) den Vorsteher EJPD über die Asylurteile der ARK vom 13. September 2004 und das noch hängige Auslieferungsverfahren. Die ARK sei davon ausgegangen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein während der Berisha-Regierung inszeniertes, politisch motiviertes Verfahren handle, in welchem es gravierende Verfahrensfehler, Zeugenbeeinflussung, fingierte Beweise etc. gegeben habe. Die ARK-Urteile könnten in Albanien beträchtliches Aufsehen erregen und die bilateralen Beziehungen beeinträchtigen, vermutete das BFF. Andere mutmassliche Straftäter könnten dazu animiert werden, in der Schweiz ein Asylgesuch einzureichen, um sich so der Strafverfolgung in ihrem Heimatstaat zu entziehen. Insbesondere könnten andere der rund hundert Mitangeklagten der beiden Albaner ebenfalls Asylgesuche in der Schweiz stellen und geltend machen, sie seien illegitim verfolgt (Zum letzten Punkt ist anzumerken, dass diese Zahl offensichtlich übertrieben war. Aus den ARK-Urteilen geht hervor, dass zuerst 100 Personen verhaftet, jedoch schliesslich nur 11 Personen angeklagt wurden, wovon einer bereits anfangs 1999 in der Polizeihaft tot aufgefunden worden war.). Im Weiteren orientierte das BFM, dass das BJ aufgrund der Asylurteile am 15. September 2004 die Haftentlassung der Gesuchsteller angeordnet habe. Über das Auslieferungsersuchen habe das BJ noch nicht entschieden.

Der EJPD-Vorsteher antwortete dem BFF, er sei der Meinung, dass «wir dies nicht einfach so hinnehmen können», und fragte, ob es keine Möglichkeit für eine Beschwerde gebe. Er verlangte einen Bericht darüber, was gemacht werden könnte, um die negativen Folgen abzuwenden.

Auftragsgemäss erteilte das BFF am 8. Oktober 2004 Bericht über die verschiedenen Vorgehensmöglichkeiten. Dabei wurde gleich mehrfach betont, dass das BJ nach Prüfung der ergänzenden albanischen Unterlagen zum Ergebnis gelangt sei, dass keine ernst zu nehmenden Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung vorlägen, die Strafverfahren nicht konstruiert seien und die abgegebenen umfassenden Garantien hinsichtlich Einhaltung der Grundrechte eine Auslieferung ermöglichten. Zusammenfassend teilte das BFF mit, es werde in enger Abstimmung mit dem BJ die Einleitung des Asylwiderrufsverfahrens vertieft prüfen und den Departementsvorsteher
im gegebenen Zeitpunkt über den Ausgang informieren. Daraufhin erteilte der Vorsteher EJPD den kurzen Auftrag: «Es muss etwas geschehen.» Ein knappes Jahr später, am 13. September 2005, informierte das BJ den Vorsteher EJPD über seine erneute Auslieferungsverfügung vom 12. September 2005 (vgl.

Ziff. 3.2). Es wies darauf hin, dass, sollte der Auslieferungsentscheid rechtskräftig 11 12

Bundesgerichtsurteil 1A.267/2005 vom 14.12.2005.

Vgl. die Chronologie im Anhang.

9069

werden (Abweisung allfälliger Beschwerden durch das Bundesgericht), die Auslieferung nur vollzogen werden könnte, wenn das BFM in der Folge das Asyl widerrufe. Darauf ordnete der Vorsteher EJPD am 22. September 2005 ­ einen Tag nach seinem Besuch in Albanien ­ an: «Unbedingt durchziehen. Notfalls muss das BFM die Flüchtlingseigenschaft entziehen!» Am 5. Januar 2006 informierte das BJ den Vorsteher EJPD darüber, dass das Bundesgericht mit Urteil vom 14. Dezember 2005 die Auslieferung der Albaner an ihren Herkunftsstaat aufgrund des ihnen erteilten Asyls ablehnte. Nachdem das Bundesgerichtsurteil die Fragen zum Verhältnis Auslieferung ­ Asyl klargestellt habe, werde das BJ die beiden Fälle unter Beilage aller Auslieferungsdokumente dem BFM zur Prüfung eines allfälligen Asylwiderrufs unterbreiten. Eine solche Prüfung erscheine besonders deshalb sinnvoll, weil weder das damalige BFF noch die ARK bei der Asylgewährung Kenntnis aller albanischen Auslieferungsdokumente gehabt hätten.

In der Folge teilte das Generalsekretariat EJPD dem BJ per Mail mit, der Vorsteher EJPD möchte wissen, «was wir tun können, um sicherzustellen, dass keine Mörder und Schwerverbrecher in unserem Land Schutz geniessen.» Das BJ solle darlegen, wie es die Situation beurteile, welche Handlungsmöglichkeiten (neben dem Asylwiderruf) bestehen würden und wie in diesem Fall weiter vorzugehen sei. Der gleiche Auftrag ging ebenfalls an das BFM.

Am 12. Januar 2006 teilte das BJ dem Vorsteher EJPD mit, dass das Schweizer Recht keine explizite Regelung zum Verhältnis zwischen Auslieferungs- und Asylrecht enthalte und dass eine Änderung der heutigen Praxis, wonach dem Flüchtlingsstatus vor der Auslieferung Vorrang zukomme, wohl nur mit einer Anpassung der gesetzlichen Grundlagen denkbar wäre. In der Praxis würden das BFM und das BJ fallrelevante Informationen regelmässig austauschen. Im Gefolge der zwei AlbanerFälle habe die Information auch zwischen der ARK und dem BJ verbessert werden können. Zur Dokumentierung der letztgenannten Aussage legte das BJ das Massnahmenpapier vom 21. Februar 2005 bei, das von der ARK nach einer Aussprache zwischen dem BJ, dem BFM und der ARK vom 31. Januar 2005 verfasst worden war (vgl. Ziff. 4.2).

Ebenfalls am 12. Januar 2006 informierte das BFM auftragsgemäss den Vorsteher EJPD, dass das BFM bei mutmasslich
kriminellen Asylbewerbern systematisch und einzelfallspezifisch sämtliche Quellen und Abklärungsmöglichkeiten nutze, um zu überprüfen, ob strafrechtlich relevante Taten vorliegen, und so zu verhindern, dass solche Personen in der Schweiz Asyl erhalten. Dabei arbeite es eng mit anderen Bundesbehörden, insbesondere dem Bundesamt für Polizei (fedpol), zusammen.

Zudem würden die Ausschlussklauseln des Asylgesetzes konsequent angewendet.

Falls die Voraussetzungen hierfür erfüllt seien, würden die Asylsuchenden von der Flüchtlingseigenschaft oder der Asylgewährung ausgeschlossen. In jedem Fall gelte aber die absolute Schranke von Artikel 3 EMRK13, gemäss welcher kein Ausländer in ein Land weggewiesen werden darf, in welchem ihm Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Zum Fall der beiden Albaner hielt das BFM fest, die ARK sei von einem offensichtlich politischen Hintergrund der in Albanien laufenden Strafverfahren ausgegangen und habe deshalb das BFM angewiesen, Asyl zu gewähren.

In Absprache mit dem BJ sei nach dem ARK-Urteil darauf verzichtet worden, ein Widerrufsverfahren einzuleiten. Gemäss Einschätzung des fedpol stellten die beiden 13

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (EMRK; SR 0.101).

9070

albanischen Flüchtlinge kein Sicherheitsrisiko für die Schweiz dar, weshalb eine Ausweisung durch den Bundesrat nicht in Frage gekommen sei. Im Weiteren hielt das BFM fest: «Für beide anerkannten Flüchtlinge gilt die Unschuldsvermutung. Ob es sich tatsächlich um Kriminelle handelt, steht in keiner Weise fest. Das BFM wird nun sämtliche Unterlagen aus dem Auslieferungsverfahren analysieren und entscheiden, ob ein Asylwiderrufsverfahren einzuleiten ist.» In der Zwischenzeit hat das BFM die Einleitung eines Asylwiderrufsverfahrens geprüft. In seiner Stellungnahme an die GPK-S hielt das BFM fest, die Prüfung der Auslieferungsunterlagen sowie die Berücksichtigung der neuesten Entwicklung der politischen Lage in Albanien hätten ergeben, dass seit dem ARK-Urteil vom 13. September 2004 keine grundlegenden Veränderungen sowohl genereller als auch individueller Natur eingetreten seien, welche zurzeit einen Asylwiderruf rechtfertigen würden (Zeitpunkt: Ende März 2006). Zur politischen Lageeinschätzung hielt es fest, dass beim Regierungswechsel im September 2005 mit Sali Berisha ausgerechnet jene Person wieder an die Macht gekommen sei, unter dessen Regierung die beiden Flüchtlinge im Jahre 1996 gemäss ARK-Beurteilung aufgrund eines politischen Komplottes angeklagt worden waren. Von einer grundlegenden und dauerhaften Veränderung der Situation im Heimatland zu Gunsten der beiden Flüchtlinge könne daher im heutigen Zeitpunkt nicht gesprochen werden. Auch individuelle Veränderungen seien keine eingetreten, da gegen die beiden Flüchtlinge noch immer das gleiche Strafverfahren, welches von der ARK als politisch motiviert qualifiziert wurde, hängig sei.

Am 17. Januar 2006, drei Tage vor der Albisgüetli-Tagung, schickte das Generalsekretariat des EJPD (GS-EJPD) per Mail dem BFM einen Auszug aus dem Redetext mit dem Beispiel der Albaner zu und bat darum, diesen auf seine Korrektheit zu überprüfen. Weiter fragte das GS-EJPD, ob einzelne Aussagen aus einem Artikel von Ulrich Schlüer aus der «Schweizerzeit» vom 13. Januar 2006 betreffend den Albaner-Fall, welche der Vorsteher EJPD für seine Rede verwenden wolle, stimmten. Der Entwurf des Redetextes lehnte sich an den Artikel aus der «Schweizerzeit» unter dem Titel «Neue Fehlleistung der Asylrekurs-Kommission ­ AbschaumSchutz» an, war aber gemässigter als dieser
abgefasst. Am gleichen Tag antwortete das BFM per Mail, die Version von Ulrich Schlüer betreffend einzelne Punkte liessen sich aufgrund der Urteile nicht bestätigen. Im Weiteren wies das BFM erneut darauf hin, dass die ARK zum Schluss gekommen sei, dass es sich bei den betreffenden Strafverfahren «um ein aus politischen Gründen inszeniertes Komplott» handle. Die ARK erwähne «eklatante Verfahrensfehler und kriminell anmutende Machenschaften der Untersuchungsorgane». Weiter führte das BFM aus: «Es gilt deshalb die Unschuldsvermutung. Ob es sich tatsächlich um Kriminelle handelt steht in keiner Weise fest. Wir müssen Ihnen deshalb dringend empfehlen, die Textpassage für die Rede von Herrn Bundesrat Blocher nicht zu verwenden bzw. zumindest alle Passagen, in welchen von die Rede ist, anzupassen.» Der veröffentlichte schriftliche Redetext (vgl. Ziff. 2.1) entspricht bis auf einige Passagen dem damaligen Entwurf. Gestrichen wurde jener Teil, der sich auf Aussagen des «Schweizerzeit»-Artikels stützte, deren Richtigkeit das BFM verneint hatte.

9071

4.1.2

Kontakte zwischen der ARK und dem Vorsteher EJPD

Ein Artikel im SonntagsBlick vom 17. Oktober 2004 über das Asylurteil der ARK vom 13. September 2004 veranlasste den Präsidenten der ARK, mit Schreiben vom 18. Oktober 2004 an den Vorsteher EJPD zu gelangen. Im Artikel mit dem Titel «Behörde unter Verdacht» wird die Frage gestellt, ob die ARK zwei mutmasslichen Verbrechern Asyl gewährt habe. Die ARK habe mit dem Urteil eine neue Kontroverse entfacht. Die Rede ist von Kritik durch das fedpol. Der ARK-Präsident führte aus, der Artikel im SonntagsBlick sei geeignet, das Ansehen der Kommission und das Vertrauen in die Rechtsprechung der ARK zu schädigen. Der Blick stelle einen Bezug zum Extremismus und Terrorismus her. Es sei nicht das erste Mal, dass sich die ARK mit diesem völlig haltlosen und beleidigenden Vorwurf konfrontiert sehe, sie gewähre Terroristen und Extremisten Asyl. Es gebe Hinweise darauf, dass dem SonntagsBlick Informationen zu den ARK-Urteilen, die nicht veröffentlicht wurden, aus dem Dienst für Analyse und Prävention (DAP) zugegangen seien.

Über die Asylurteile betreffend die zwei Albaner informierte der Präsident der ARK wie folgt: «Es geht um zwei Albaner, die von den Behörden ihres Heimatstaates als Kriminelle des gemeinen Rechts behandelt werden, wogegen das Spruchgremium zum Schluss kam, es handle sich um unschuldige Personen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. In beiden Fällen wurde Asyl gewährt. Der eine der Beschwerdeführer ist der Sohn des vormaligen albanischen Innenministers X. X war ein politischer Gegner von Sali Berisha und ist 1997 nach dessen Sturz aus dem Gefängnis frei gekommen, seither lebt er mehr oder weniger in Verstecken. Eine weitere Person in diesem Umfeld ist nach ihrer Inhaftierung zu Tode gekommen.» Daraufhin erteilte der Vorsteher EJPD dem ARK-Präsidenten am 22. Oktober 2004 die Antwort, der Fall sollte unter allen betroffenen Behörden besprochen werden. Er wies auf die Orientierung durch das BFF vom 8. Oktober 2004 und dessen Befürchtungen hin und legte dem Schreiben die entsprechende Notiz bei. Betreffend Indiskretion aus dem fedpol vermutete er eher den Anwalt der Albaner. Weiter trat er auf den Vorwurf nicht ein, liess jedoch eine Kopie seines Schreibens dem Direktor des fedpol zukommen. In der Folge verwahrte sich der Chef des DAP mit Schreiben vom 6. Dezember 2004 an den ARK-Präsidenten
«mit aller Entschiedenheit» gegen die Unterstellung einer Indiskretion und ersuchte ihn, seine Behauptung, mit der er den DAP einer Amtsgeheimnisverletzung bezichtige, zu belegen. Darauf antwortete der Präsident der ARK mit einer näheren Erläuterung seiner Verdachtsmomente.

Am 3. Dezember 2004 orientierte der Präsident der ARK den EJPD-Vorsteher, dass im Zusammenhang mit den Urteilen im Fall der zwei Albaner am 29. November 2004 eine Besprechung mit den Chefs des fedpol und des BFF stattgefunden habe.

Die Analyse zur Ausgangslage habe u.a. ergeben, dass Verfahren wie die zur Diskussion stehenden extrem selten seien. Unter den Beteiligten sei man so verblieben, dass die Kommunikation zwischen den Informationsdiensten zu optimieren sei und dass die Praxis bei parallelen Auslieferungs- und Asylverfahren analysiert werden solle.

Schliesslich orientierte der Präsident ARK den Vorsteher EJPD am 4. März 2005, dass inzwischen verschiedene Besprechungen mit dem fedpol, dem BFM, dem BJ und dem Informationsbeauftragten des EJPD stattgefunden hätten. Die ARK habe zwar in Bezug auf ihre Rechtsprechung keine neuen Erkenntnisse gewonnen, aber es hätten Unschärfen in den Abläufen bereinigt werden können. Die Gespräche 9072

hätten in einem offenen, konstruktiven Klima stattgefunden. Weiter teilte der ARK-Präsident mit, die ARK habe für die Besprechungen Arbeitspapiere verfasst, die den Vertretern verschiedener betroffener Bundesämter am 18. Februar 2005 erläutert und von der gesamten ARK am 2. März 2005 behandelt worden seien. Für die ARK sei damit die Angelegenheit erledigt. Im weiteren werde man mit einem kommissionsinternen Monitoring die Umsetzung der beschlossenen Massnahmen überprüfen.

4.2

Koordination unter den betroffenen Behörden

Der Fall der zwei Albaner führte zu einer Koordinationssitzung der verschiedenen Dienste unter der Leitung des ARK-Präsidenten. Aufgrund dieser Besprechung wurden Richtlinien zur Koordination bei Fällen, wo Asylverfahren und Auslieferungsverfahren parallel laufen, erarbeitet (vgl. Ziff. 4.1.2). Diese Richtlinien halten einerseits fest, wie der Informationsaustausch zwischen BJ, BFM und ARK stattfinden soll. Andererseits regeln die Richtlinien die Koordination der Verfahren in bestimmten Fällen. Zur Koordination des Falles, der im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung ist, wurde festgehalten, dass, obwohl das Bundesgericht anfangs der 90er Jahre entschieden hat, dass das Asylverfahren Vorrang vor dem Auslieferungsverfahren habe, die ARK in der Regel das Beschwerdeverfahren aussetzen solle, bis über die Auslieferung entschieden ist. Dies schliesse jedoch nicht aus, dass sie in klaren Fällen über die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder die Zusprache des Asyls entscheiden könne, bevor über die Auslieferung entschieden worden ist, damit die Auslieferungshaft nicht unnötig verlängert wird.

Am 29. März 2006 kündigte das BJ an zu prüfen, ob diese Koordination allenfalls gesetzlich zu regeln wäre, und anschliessend dem Departementschef entsprechend Antrag zu stellen (vgl. Ziff. 2.2).

5

Feststellungen und Beurteilungen der GPK-S

5.1

Zur Frage der Unschuldsvermutung

5.1.1

Feststellungen

Die Unschuldsvermutung gilt als Errungenschaft des modernen Rechtsstaates und besagt, dass jeder Mensch als unschuldig gilt, solange er nicht in einem rechtmässig durchgeführten Verfahren schuldig befunden wurde, einen gesetzlich umschriebenen Tatbestand erfüllt zu haben.14 Die Garantie der Unschuldsvermutung wirkt sich nicht nur auf Beweisfragen im Strafprozess aus, sondern verbietet es nach Lehre und Rechtsprechung allen staatlichen Organen, einen Tatverdächtigen vor dem Strafurteil im Rahmen der Information der Öffentlichkeit als schuldig hinzustellen.15 Entsprechende Mitteilungen sind zurückhaltend zu formulieren und müssen neben den belastenden auch die entlastenden Tatsachen enthalten.16

14 15 16

Müller Jörg Paul, Grundrechte in der Schweiz, Bern 1999, S. 559 ff.; s. auch Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK.

Zeller Franz, Zwischen Vorverurteilung und Justizkritik, Diss. Bern 1998, S. 97 ff.

Müller, S. 565

9073

Der Vorsteher EJPD hat sich dafür entschuldigt, dass er «an einer einzigen Stelle» statt von mutmasslichen Kriminellen von Kriminellen gesprochen habe. Die Bezeichnung als «mutmassliche Kriminelle», die der Vorsteher EJPD seither mehrfach und als Folge des grossen öffentlichen Interesses mit entsprechend grosser Medienwirksamkeit wiederholt und im Internet veröffentlicht hat, wurde vom Anwalt der beiden Flüchtlinge als ehrverletzend bezeichnet. Er hat inzwischen gegen den Vorsteher EJPD Strafklage wegen Ehrverletzung sowie gleichzeitig Zivilklage wegen Persönlichkeitsverletzung eingereicht.

Die GPK-S stellt fest, dass der Vorsteher EJPD die zwei Flüchtlinge in seiner mündlichen Albisgüetli-Rede nicht nur als «Kriminelle» bezeichnete, sondern zudem ausführte: «Einer hat zwei Morde auf dem Buckel, 15 Raubüberfälle.» Zudem hat er sie an einer zweiten Stelle sinngemäss als Mörder dargestellt: «Und wir haben nun hier Albaner, die wir aufnehmen, weil sie sagen, wenn wir heimkommen, werden wir verfolgt. Das ist ja klar, wenn man ermordet hat.» Der Vorsteher EJPD legte bei seinen öffentlichen Verlautbarungen grosses Gewicht auf die Betonung der mutmasslichen Kriminalität der beiden Albaner. Im Ständerat äusserte er sich zudem zweimal dahingehend, dass die Albaner beziehungsweise ihr Anwalt die politische Natur der Delikte geltend gemacht hätten. Damit wird ausgesagt, die Albaner hätten die Delikte zwar begangen, aber würden dafür eine politische Motivation geltend machen (sog. politische Delikte). Die Albaner und ihr Anwalt haben in Wirklichkeit immer geltend gemacht, dass sie keines der ihnen vorgeworfenen gemeinrechtlichen Delikte begangen hätten, diese ihnen aber aus politischen Gründen unterschoben worden seien.

Aus den Akten geht hervor, dass der Vorsteher EJPD kurz nach den Asylentscheiden vom 13. September 2004 bereits durch sein Departement auf mögliche negative Folgen der Urteile hingewiesen wurde (vgl. Ziff. 4.1.1). Mutmassliche Straftäter könnten dazu animiert werden, in der Schweiz ein Asylgesuch einzureichen, um sich so der Strafverfolgung in ihrem Heimatstaat zu entziehen.

In den frühen Informationen, die dem Vorsteher EJPD aus dem damaligen BFF und dem BJ zugegangen sind, wird zwar an einer Stelle kurz auf die Begründung der ARK ihrer Urteile hingewiesen. Doch fehlt in den Papieren
jeglicher Hinweis auf die Möglichkeit, die Albaner könnten unschuldig und Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgung sein. Allerdings wurde er bereits kurz nach den Urteilen auch vom Präsidenten der ARK informiert (vgl. Ziff. 4.1.2). Dieser Information war zu entnehmen, dass die ARK von der Unschuld und von einer politischen Verfolgung der albanischen Flüchtlinge ausging. Erst zu einem späten Zeitpunkt des Verfahrens ­ am 12. Januar 2006 ­ wurde der Vorsteher EJPD vom BFM ausdrücklich auf die Unschuldsvermutung hingewiesen. Schliesslich, im Hinblick auf die AlbisgüetliRede, empfahl das BFM sogar dringend, das Albaner-Beispiel nicht zu verwenden oder zumindest die Passagen, in denen von «Kriminellen» die Rede war, anzupassen (vgl. Ziff. 4.1.1).

Die GPK-S klärte beim BFM ab, inwiefern die Asylgewährung an die zwei Albaner ein unerwünschtes Präjudiz darstellen könnte und ob als Folge davon zahlreiche Albaner versuchen könnten, einer Strafverfolgung zu entgehen, indem sie in der Schweiz um Asyl nachsuchen, wie dies der Vorsteher EJPD behauptete. In seiner Stellungnahme vom 30. März 2006 erklärte das BFM, all die damals geäusserten

9074

Befürchtungen hätten sich nicht bewahrheitet. Dem BFM sei kein Asylgesuch mit analoger Konstellation bekannt. Der befürchtete Pulleffekt sei demnach ausgeblieben.

5.1.2

Beurteilung

Ob die Äusserungen des Justizministers betreffend die zwei albanischen Flüchtlinge allenfalls strafrechtlich oder zivilrechtlich relevant sind, hat die GPK-S nicht abzuklären. Im Folgenden nimmt sie eine Beurteilung aus der Sicht der parlamentarischen Oberaufsicht vor.

Dass er die zwei albanischen Flüchtlinge in seiner mündlichen Albisgüetli-Rede als «Kriminelle» statt als «mutmassliche Kriminelle» bezeichnet hatte, stellte der Vorsteher EJPD bei seiner öffentlichen Entschuldigung als sprachliches Versehen dar.

In gleicher Weise will er auch seine Aussage «das ist ja klar, wenn man ermordet hat» verstanden wissen. Worin ein rein sprachliches Versehen liegen könnte, ist kaum nachvollziehbar. Aufgrund seiner mündlichen Rede muss angenommen werden, dass der Justizminister die zwei Albaner für schuldig hielt. Dies brachte er unmissverständlich zum Ausdruck. Auch in der schriftlichen Fassung kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich wahrscheinlich um Kriminelle handeln müsse, denn sonst wäre aus dem Zusammenhang nicht ersichtlich, worin der Missstand bestehen soll, dass den Albanern in der Schweiz Asyl gewährt wurde.

Nach der Albisgüetli-Rede legte der Vorsteher EJPD in mehreren Verlautbarungen Wert darauf, dass er die beiden Albaner zu Recht als «mutmassliche Kriminelle» bezeichnet habe, denn dies seien sie nach wie vor, da sie von der albanischen Justiz schwerer Verbrechen angeklagt seien.

Der Vorsteher EJPD übersieht dabei, dass die ARK im vorliegenden Fall den zwei Albanern Asyl zuerkannte, weil sie zum Schluss kam, dass zahlreiche und in Anbetracht der gesamten Aktenlage überwiegende Hinweise für einen politischen Hintergrund des gegen die Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahrens bestehen und sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Unschuldige angeklagt worden waren bzw. weiterhin angeklagt werden. Die Urteile der ARK sind in der Schweiz für alle Behörden verbindlich. Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat, gelten gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Rechtssinne (Art. 59 AsylG). Demzufolge haben die zwei Albaner für die Schweizer Behörden als Unschuldige zu gelten. Dem ist insbesondere bei öffentlichen Verlautbarungen über diese Personen Rechnung zu tragen. Das gilt auch dann, wenn die Personen nicht namentlich genannt
werden, aber aufgrund des Beschriebs bestimmbar sind.

Das Asylrecht soll Menschen, denen von ihrem Heimat- oder Herkunftsstaat in asylrelevanter Weise Verfolgung droht, Schutz gewähren. Vorliegend geht es um eine klassische Form der staatlichen Verfolgung, nämlich um politisch motivierte Strafverfolgung. Wenn nun die zuständige letztinstanzliche Gerichtsinstanz Personen in diesem Sinn Asyl zugesprochen hat, widerspricht es dem Schutzgedanken, wenn eine Behörde die anerkannten Flüchtlinge öffentlich als mutmassliche Kriminelle bezeichnet, die zur gerichtlichen Beurteilung ihrer angeblichen Straftaten an ihr Heimat- oder Herkunftsland auszuliefern seien, weil es gerade dieses Justizverfahren ist, einschliesslich die zu erwartende Untersuchungshaft, vor dem sie geschützt werden sollen.

9075

Der Vorsteher EJPD machte im Nachgang zu seiner Albisgüetli-Rede geltend, es sei ihm letztlich nicht um die zwei Albaner gegangen, sondern darum, dass nun ein Präjudiz dafür geschaffen worden sei, dass sich Angeschuldigte der gerichtlichen Beurteilung in ihrem Land entziehen könnten, indem sie in der Schweiz um Asyl nachsuchten.

Die Akten zeigen auf, dass sich der Vorsteher EJPD bereits seit den Asylentscheiden vom 13. September 2004 mit dieser Frage beschäftigte. Er wurde vom damaligen BFF in diesem Sinne informiert. Es ist nachvollziehbar, dass der Vorsteher EJPD auf Hinweise von möglichen negativen Folgen mit Besorgnis reagierte. Es ist auch nichts Ungewöhnliches, dass eine Behörde intern die Folgen von Gerichtsurteilen auslotet. Die Informationen aus dem BFF und dem BJ vermitteln jedoch auch den Eindruck, dass die Asyl- und Auslieferungsbehörden Mühe bekundeten, bei ihrer gerichtlichen Kontrollinstanz zu unterliegen und deren Entscheide zu akzeptieren.

Diese Sicht wurde offensichtlich weitgehend vom Vorsteher EJPD übernommen, während er den Hinweis des ARK-Präsidenten, dass die ARK von der Unschuld und von einer politischen Verfolgung der albanischen Flüchtlinge ausging, nicht beachtete. Hingegen erstaunt es schon, dass der Vorsteher EJPD den deutlichen Hinweis des BFM in Bezug auf den Redeentwurf, die Unschuldsvermutung zu beachten, ignorierte.

Es erscheint zwar durchaus glaubhaft, dass es dem Vorsteher EJPD bei seinen Verlautbarungen nicht in erster Linie um die zwei Albaner ging, sondern um das politische Ziel, die Schweiz nicht zum Anziehungspunkt für Kriminelle werden zu lassen. Allerdings stellten sich diese Befürchtungen im Laufe des Jahres 2005 in Bezug auf den konkreten Fall der zwei Albaner als offenkundig unbegründet heraus, und es wäre ihm leicht möglich gewesen, dies beim BFM in Erfahrung zu bringen.

Für den Vorsteher EJPD scheinen zudem noch weitere politische Überlegungen eine Rolle gespielt zu haben. Organisierte Kriminalität und Drogenhandel sind in Albanien ein Problem und haben auch auf die Schweiz Auswirkungen. Es liegt deshalb im Interesse der Schweiz, die Polizeizusammenarbeit mit Albanien zu verstärken und die dortige Kriminalitätsbekämpfung zu unterstützen. Wie der Vorsteher EJPD in seiner Albisgüetli-Rede sowie auch vor dem Ständerat ausführte (vgl. Ziff. 2.1 und
2.2), sei es Ziel der neuen Regierung unter Sali Berisha, die Kriminalität zu bekämpfen und den Rechtsstaat in Albanien zu festigen. Deshalb sei Albanien auf die Rechtshilfe der Schweiz in diesem Fall bzw. die Auslieferung der zwei Albaner angewiesen.

Dass der Justizminister politische Ziele hat und haben muss, ist selbstverständlich.

Nach dem in unserem Land geltenden rechtsstaatlichen Verständnis ist es jedoch nicht opportun, dass er sich mit politischen Absichten in der Öffentlichkeit in konkrete justizielle Verfahren zulasten einzelner Betroffener einmischt. Im vorliegenden Fall ist dies umso stossender, als die zwei albanischen Flüchtlinge im Asylverfahren gerade glaubhaft dargelegt haben, dass sie durch das Regime genau jenes Regierungschefs verfolgt wurden, der seit letzten Herbst wieder an der Macht ist, und dass die Verfolgung gerade darin bestand, dass das Regime mit der Präsentation einer angeblichen Terrorgruppe wahlwirksam seine Erfolge in der Kriminalitätsbekämpfung beweisen wollte. Nun vernehmen sie vom Justizminister in ihrem Asylland, dass er das Vorgehen dieser Regierung öffentlich unterstützt. Dies steht nach Meinung der GPK-S zur rechtsstaatlichen und humanitären Tradition der Schweiz im Widerspruch.

9076

5.2

Zur Frage der Kritik an Urteilen der Bundesgerichts und an der ARK

5.2.1

Feststellungen

Kritik an den Urteilen des Bundesgerichts Der Vorsteher EJPD erklärte gegenüber der Subkommission der GPK-S, er habe das Bundesgericht nie kritisiert, hingegen die ARK schon. Diese habe den Albanern vorschnell die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen, so dass das Bundesgericht sie in der Folge nicht mehr ausliefern konnte (vgl. dazu auch die unter Ziff. 2.2 zitierten Verlautbarungen des Vorstehers EJPD). Demgegenüber hielt der Bundesgerichtspräsident daran fest, dass der Justizminister auch das Bundesgericht kritisiert habe.

In der Sendung 10vor10 vom 21. März 2006 sagte er, der Justizminister habe vom Bundesgericht ein schlechtes Bild gezeichnet, wonach dieses auch Kriminelle nicht ausliefern würde. In seiner Stellungnahme vom 3. April 2006 an die GPK-S führte er aus, dass der Vorsteher EJPD gemäss mündlicher und schriftlicher Version seiner Rede nicht nur die ARK kritisierte, sie habe schwerer Verbrechen Angeklagte bzw.

Kriminelle als Flüchtlinge anerkannt, sondern gleichzeitig auch das Bundesgericht, indem er hinzufügte: «Auch das Bundesgericht verfügte die Freilassung und liess die Kosten für Anwalt, Dolmetscher, Übersetzung erstatten und sprach zudem eine Haftentschädigung zu». Der Vorsteher EJPD hält dagegen daran fest, dass aus dieser Aussage keinerlei Kritik am Bundesgericht herauszulesen sei.

Kritik an der Asylrekurskommission In Bezug auf die ARK erklärte der Vorsteher EJPD gegenüber der Subkommission der GPK-S, diese habe er kritisiert und kritisiere sie immer noch. Das dürfe er und dies sei auch gerechtfertigt.

Kritik anhand des Beispiels der zwei Albaner In der mündlichen Version der Albisgüetli-Rede (vgl. Ziff. 2.1) nannte der Vorsteher EJPD die ARK im Albaner-Beispiel nicht namentlich. Sinngemäss war seine Aussage, dass die Schweiz Schwerstkriminelle aufgenommen habe, weil sie sagen, sie seien verfolgt, dass diesen Entscheid andere Instanzen als er selbst zu verantworten haben und dass hier ein Missstand vorliege, den es zu beheben gelte. Die Aussagen gemäss der schriftlichen Fassung können von einem normalen, durchschnittlichen Leser so verstanden werden, dass die ARK Schwerstkriminellen Asyl gewährt habe und dass hier ein gravierender Missstand vorliege, den es zu beheben gelte. Hier wird zwar von Beschuldigten und von schwerer Verbrechen Angeklagten gesprochen, doch der Kontext
lässt den Schluss zu, dass von der Schuld dieser Angeklagten auszugehen ist, denn sonst ist kein Grund für die geübte Kritik erkennbar. Die Kritik trifft die ARK als Behörde, nicht bloss allfällige Mängel des Asylrechts («Ein klarer Fall? Ja. Aber nicht für die Asylrekurskommission».).

Nach der Albisgüetli-Rede deutete der Vorsteher EJPD seine Kritik dahingehend, dass es um den vorschnellen Asylentscheid der ARK vor dem Eintreffen ergänzender Unterlagen aus Albanien im Auslieferungsverfahren gegangen sei, der es dem Bundesgericht verunmöglicht habe, die Auslieferung der Albaner zu bewilligen. Da diese Kritik jedoch im Nachhinein zentrale Bedeutung erlangte, hat die GPK-S hierzu genauere Abklärungen vorgenommen. Diese führten zu folgendem Ergebnis: 9077

Aus den Akten ist ersichtlich, dass die ARK zwei diplomatische Noten des BJ vom 15. Juli 2004 und vom 12. August 2004 an die albanische Botschaft in Bern in Kopie erhielt. Aus der ersten Note ging hervor, dass Albanien zunächst Frist bis am 29. Juli 2004 zur Einreichung ergänzender Unterlagen im Auslieferungsverfahren gesetzt worden war. Aus der zweiten Note konnte die ARK ersehen, dass die Unterlagen vom 29. Juli 2004 nicht den gestellten Anforderungen genügten und nochmals Frist bis am 25. August 2004 angesetzt wurde. Nach Ablauf dieser Frist wartete die ARK noch zweieinhalb Wochen zu, bis sie am 13. September 2004 ihre Urteile fällte. Als Grund, warum das BJ diese Unterlagen nicht umgehend an die ARK weiterleitete, gab das Bundesamt an, es habe diese zuerst prüfen wollen. Am 27. September 2004 lieferte Albanien unaufgefordert ein weiteres, unangekündigtes Dokument an das BJ.

Der Stellungnahme der ARK vom 13. März 2006 sowie ergänzender Informationen des Instruktionsrichters vom 10. April 2006 ist zu entnehmen, dass die ARK weder von Gesetzes wegen oder sonst wie verpflichtet gewesen wäre, diese Unterlagen abzuwarten. Ob es im vorliegenden Fall sinnvoll gewesen wäre, diese abzuwarten, könne die ARK ohne Kenntnis deren Inhalts nicht beantworten. Doch könne jedenfalls gesagt werden, dass die Unterlagen auch bei vorgängiger Kenntnis nicht geeignet gewesen wären, die ARK von der Asylerteilung abzuhalten, weil diese im vorliegenden Fall für den Asylentscheid nur relevant gewesen wären, wenn sie plausible Hinweise auf die Täterschaft der Asylsuchenden geliefert hätten. Damit wäre eine Asylunwürdigkeit gegeben gewesen. Solche Beweise seien nicht zu erwarten gewesen, weil einerseits im Auslieferungsverfahren gar keine Beweise verlangt bzw. vom ersuchenden Staat geliefert werden müssen, andererseits aber auch, weil die umfangreichen Unterlagen aus dem erstinstanzlichen Prozess in Albanien gezeigt hätten, dass während des jahrelangen Verfahrens keine Beweise vorgelegt werden konnten und es sehr unwahrscheinlich erschienen sei, dass solche noch auftauchen könnten. Zu beachten sei ferner, dass im Auslieferungsverfahren üblicherweise Garantien vom ersuchenden Staat verlangt werden. Auf das Vorliegen solcher komme es im Asylverfahren nicht vorrangig an.

Eine andere Haltung vertrat in dieser Frage das BJ. Es
wies in seiner Stellungnahme an die GPK-S vom 30. März 2006 darauf hin, dass die ARK von Amtes wegen verpflichtet sei, den rechtserheblichen Sachverhalt festzustellen und in diesem Zusammenhang sämtliche entscheidrelevanten Elemente zu berücksichtigen.

Namentlich vor dem Hintergrund der vom Bundesgericht gegenüber dem BJ vorgegebenen Anleitungen zum weiteren Vorgehen im Auslieferungsverfahren und zur Schwere der strafbaren Tatvorwürfe wäre ein Abwarten der zusätzlichen Unterlagen aus Albanien geboten gewesen.

Zur Frage, wie sich das Asyl- und das Auslieferungsverfahren zueinander verhalten und wann welchem Verfahren Priorität zukomme, nahmen sowohl das Bundesgericht als auch die ARK Stellung. Das Bundesgericht führte dazu aus: «Die Kriterien für die Gewährung von Asyl (Art. 3 AsylG) und für die Verweigerung der Auslieferung stimmen weitgehend überein. Auch der verlangte Beweismassstab ist ähnlich: Für das Asylverfahren genügt grundsätzlich ein Glaubhaftmachen der Flüchtlingseigenschaft (Art. 7 AsylG); im Auslieferungsrecht werden für das Vorliegen eines Auslieferungshindernisses verlangt.

Insofern sollten die asyl- und die auslieferungsrechtliche Beurteilung in der Regel übereinstimmen.» ... «In Fällen, in denen das Asylverfahren noch hängig ist und das Bundesgericht zur Auffassung gelangt, dass die Auslieferung grundsätzlich bewilligt 9078

werden kann, wird diese unter dem Vorbehalt erteilt, dass dem Verfolgten kein Asyl gewährt wird (vgl. z. B. BGE 122 II 373 Disp.-Ziff. 6 S. 381). Dieser Vorbehalt soll widersprüchliche Entscheide der Auslieferungs- und der Asylbehörden vermeiden.

Entscheiden die Asylbehörden anders als das Bundesgericht, unterbleibt die Auslieferung. Ist den Verfolgten bereits Asyl gewährt worden, so steht fest, dass die Auslieferung nicht bewilligt werden kann. In diesem Fall ist die Auslieferung abzulehnen. In diesem Sinn wird dem Asylentscheid Vorrang eingeräumt.» Die ARK führte zur Frage, welches Verfahren Vorrang haben müsse, aus, je nach Fall sei die Antwort unterschiedlich. Es sei für die Auslieferungsbehörden sinnvoll zu wissen, ob die betroffene Person die Flüchtlingseigenschaft erfülle. Je nach dem sei von der Auslieferung abzusehen oder es seien mehr oder weniger weitgehende Garantien zu verlangen. Dieser Aspekt spreche für den Vorrang des Asylverfahrens.

Andererseits sei für die Frage der Asylgewährung der strafrechtliche Leumund von Bedeutung: Die Begehung verwerflicher Handlungen und die Verletzung oder Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz stellten Asylausschlussgründe dar. Deshalb sei es oft sinnvoll, in die einschlägigen Akten des Auslieferungsverfahrens Einsicht zu nehmen. Mit Blick auf den Albaner-Fall führte die ARK sodann aus: «Im fraglichen Verfahren hat sich nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 8. Juli 2004 die Frage insoweit geklärt, als dass dem von den albanischen Behörden erhobenen Vorwurf stafbarer Handlungen zahlreiche und gewichtige Anhaltspunkte für das blosse behördliche Fabrizieren dieser Vorwürfe entgegenstehen. Damit war für die ARK der Zeitpunkt gekommen, aufgrund der extrem dünnen ­ um nicht zu sagen: nicht vorhandenen ­ Beweislage für die angeblichen Verbrechen die Beschwerden zu beurteilen, zumal bekanntlich für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht der Beweis verlangt wird, sondern die blosse Glaubhaftmachung ausreicht.» Mit diesem Vorgehen habe die ARK dazu beigetragen, das Auslieferungsverfahren erheblich zu vereinfachen, sei doch die Auslieferung nur unter dem Vorbehalt eines rechtskräftigen ablehnenden Asylentscheides bewilligt worden. Dass sich das BJ trotz des Bundesgerichtsurteils vom 8. Juli 2004 und trotz der Asylurteile vom
13. September 2004 von seiner Auslieferungsabsicht nicht habe abhalten lassen und den zweiten Auslieferungsentscheid mit einem neuen, gemäss Bundesgerichtsurteil vom 14. Dezember 2005 unzulässigen Vorbehalt verbunden habe, habe die ARK nicht voraussehen können.

Im Weiteren wies die ARK darauf hin, dass es sich hier um Fälle gehandelt habe, die prioritär zu behandeln waren. «Entweder ging es um Kriminelle (in erster Priorität zu behandeln) oder um unschuldig in Auslieferungshaft sitzende Personen. Wäre die ARK zum Schluss gekommen, die beiden Beschwerdeführer seien nicht Flüchtlinge im Rechtssinn, wäre wohl das relativ schnelle Entscheiden der ARK nicht zu einem Kritikpunkt geworden. Der Ausgang eines Verfahrens vermag aber sicher nicht ex post darüber zu bestimmen, ob nun dem Asyl- oder dem Auslieferungsverfahren Vorrang hätte eingeräumt werden sollen.» Da die ergänzenden Akten aus Albanien im vorliegenden Fall von Interesse sind, hat die Subkommission darin Einsicht genommen. Sie umfassten offizielle Übersetzungen der bislang ergangenen albanischen Gerichtsentscheide, Erläuterungen zum albanischen Strafprozessrecht (insbesondere zu den Ermittlungsfristen der Staatsanwaltschaft), die Anklageschrift, Informationen zu zusätzlichen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft sowie, wie verlangt, Garantien für ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Von Interesse ist vorliegend die beglaubigte, vollständige Übersetzung des erstinstanzlichen Urteils. Dieses bestätigte in den wesentlichen, von der ARK als 9079

asylrelevant bezeichneten Punkten (Manipulation der Beweismittel, gefälschte und missbräuchlich verwendete Unterschriften u.a.m.) die Richtigkeit der nichtautorisierten Urteilsübersetzung, welche die Beschwerdeführer den Behörden in der Schweiz eingereicht hatten. Dem Bericht der albanischen Staatsanwaltschaft zu ihren zusätzlichen Ermittlungen können keine plausiblen Hinweise auf die Täterschaft der beiden Albaner, geschweige denn Beweise entnommen werden (erneuter Hinweis auf den Waffenfund, der bereits im ersten Prozess als untaugliches Beweismittel beurteilt wurde, Nennung eines Zeugen, der bereits seit 1999 tot ist und der gemäss Urteil der ARK möglicherweise in der Polizeihaft von Angehörigen der Ermittlungsbehörden umgebracht wurde, einige Fingerspuren sowie Blutspuren, die man angeblich jetzt einem Mittäter, d. h. nicht den beiden Albanern, habe zuordnen können). Weiter enthielten die Unterlagen Garantien, dass im Strafverfahren die internationalen Abkommen und die Menschenrechte gewahrt würden, und Zusicherungen für die Überprüfung dieser Garantien durch die Schweizer Botschaft. Klarheit lieferten die Unterlagen zu einzelnen Punkten, so zur Frage, warum die Berufungsinstanz den Entscheid aufhob (aus rein prozessrechtlichen Gründen).

Kritik anhand des Beispiels der Roma-Familie Kritik an der ARK übte der Vorsteher EJPD in seiner Albisgüetli-Rede auch im Beispiel der Roma-Familie in Rüschlikon. Einerseits kritisierte er sinngemäss, dass diese Familie, trotz mehrfachen schweren Gewalttaten und verursachten Kosten in Millionenhöhe, immer noch hier ist, weil der Fall jahrelang bei der Asylrekurskommission gelegen habe, obschon seine Behörde, das BFF (heute BFM) in erster Instanz rasch einen negativen Asylentscheid gefällt hat. In der mündlichen Version übte er zudem deutliche Kritik an der organisatorischen Unabhängigkeit der ARK, insbesondere in Bezug auf die Prioritätensetzung bei der Fallbehandlung (vgl. die Kritik im Wortlaut in Ziff. 2.1).

Anzumerken ist an dieser Stelle, dass der Vorsteher EJPD die ARK wegen des Roma-Falles bereits im Dezember letzten Jahres in den Medien offen kritisiert hatte.

In der Anhörung durch die Subkommission der GPK-S verdeutlichte der Vorsteher EJPD diese Kritik. Die ARK sei eindeutig zu unabhängig. Diese Kommission müsse zwar im konkreten Fall unabhängig
entscheiden können, doch könne diese Unabhängigkeit nicht so weit gehen, dass die ARK von allem unabhängig sei. Wenn er in Bezug auf Fragen wie den Abbau von Pendenzen oder die Prioritätensetzung bei schwierigen Fällen wie jenem der Roma-Familie interveniere, heisse es jeweils, die ARK dürfe in Bezug auf Prioritäten keine Weisungen entgegen nehmen. Im Übrigen äusserte sich der Vorsteher EJPD auch allgemein kritisch gegenüber Behörden, die sich auch bei Fragen, die nichts mit der Unabhängigkeit der Entscheidfindung zu tun hätten, gerne auf ihre Unabhängigkeit berufen würden.

Die Subkommissionen Gerichte der GPK-N und der GPK-S befassten sich aufgrund einer Aufsichtseingabe des Direktors für Soziales und Sicherheit des Kantons Zürich anfangs 2006 ebenfalls mit der Behandlungsdauer bei der ARK im Fall der RomaFamilie. Der Fall hatte Ende des letzten Jahres grosses öffentliches Aufsehen erregt, weil einzelne Familienmitglieder durch kriminelles und dissoziales Verhalten die Behörden ausserordentlich stark beschäftigt hatten und ein Beschwerdeentscheid der ARK über die Aufhebung einer früher erteilten vorläufigen Aufnahme in der Schweiz seit zwei Jahren hängig war.

9080

Die Subkommissionen Gerichte verlangten am 9. Januar 2006 von der ARK eine Stellungnahme zu den Gründen der zweijährigen Behandlungsdauer. In ihrer Stellungnahme vom 17. Januar 2006 führte die ARK an, dass sich in den ­ inzwischen gefällten ­ Entscheiden komplexe Sachverhalts- und Rechtsfragen gestellt hätten, welche einen gegenüber anderen Verfahren hohen Abklärungsbedarf aufwiesen.

Insbesondere musste für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Rückführung die Lageeinschätzung im Kosovo für die Minderheit der albanischsprachigen Roma nach heftigen interethnischen Auseinandersetzungen vom März 2004 laufend neu beurteilt werden. Ferner seien auch hinsichtlich des deliktischen und dissozialen Verhaltens verschiedener Familienmitglieder in der Schweiz aufwändige Sachverhaltsabklärungen notwendig gewesen, unter anderem die Einholung von Fachgutachten und Akten von Strafbehörden, welche bei der vorzunehmenden Interessenabwägung von Bedeutung waren. In ihrer Antwort an den Zürcher Sozialdirektor vom 25. Januar 2006 stellten die Präsidenten der Subkommissionen Gerichte fest, dass sich nach der Durchsicht der ergangenen Urteile und aufgrund der schriftlichen Antwort der ARK gezeigt habe, dass es sich vorliegend um einen komplexen Fall handelte. Die Behandlungsdauer von zwei Jahren erscheine zwar angesichts der offensichtlichen Dringlichkeit als lang, jedoch könne sie nicht als rechtsverzögernd bezeichnet werden.

Im vorliegenden Zusammenhang ist ebenfalls von Bedeutung, dass die Subkommissionen Gerichte den Präsidenten der ARK am 22. Februar 2006 u.a. zum Roma-Fall, zum Albaner-Fall sowie zum Verhältnis zwischen der ARK und dem Vorsteher des EJPD anhörten. Zur teilweise heftigen Kritik in der Öffentlichkeit an der ARK im Fall der Roma-Familie erklärte der ARK-Präsident, es gebe immer wieder Urteile, die von der Öffentlichkeit, die keine genaue Kenntnis aller Begleitumstände habe, nicht verstanden werden könnten. Im Fall der Roma-Familie sei die ARK vor Weihnachten 2005 mit einer Flut von übelsten Beschimpfungen eingedeckt worden.

Mitglieder der ARK seien konkret bedroht, und es sei ein polizeiliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Der ARK-Präsident zeigte aber auch Verständnis dafür, dass über die lange Verfahrensdauer Unmut geherrscht habe. Die ARK habe seit jeher einen gewissen Druck verspürt,
dieser habe aber spürbar zugenommen und beunruhigende Dimensionen angenommen. «Ich sage offen und ehrlich, dass gewisse meiner Kolleginnen und Kollegen zutiefst betroffen sind.» Wer für die ARK tätig sei, leiste eine schwierige, oft sehr belastende Arbeit. Vor diesem Hintergrund scheine es ihm verständlich, dass die harsche Kritik bisweilen schwer verdaulich sei.

Zum Verhältnis zwischen der ARK und dem Vorsteher EJPD führte der ARK-Präsident aus, im letzten Jahr seien Vertreter der ARK an mehreren Sitzungen mit dem Vorsteher EJPD zusammen gekommen. Beide Seiten hätten ihre Positionen ausgetauscht, und es sei klar geworden, dass diese weit auseinander liegen. Die ARK habe den Eindruck, ihren Aufgaben nachzukommen und bestrebt zu sein, auch quantitativ ihre Ressourcen auszuschöpfen. Der Vorsteher EJPD sehe dies anders. Ausserdem gebe es Differenzen in Bezug auf die Behandlung gewisser Gruppierungen. Weiter bemerkte der ARK-Präsident: «In den Fällen der Familie Y und der beiden Albaner hat die ARK deutliche ­ meines Erachtens zu weit gehende ­ Kritik vom EJPD zu spüren bekommen. Ich möchte aber auch klar festhalten, dass Bundesrat Blocher in keinem anderen Fall direkt Einfluss genommen hat.»

9081

5.2.2

Beurteilung

Kritik an den Urteilen des Bundesgerichts Die GPK-S geht davon aus, dass der Vorsteher EJPD das Bundesgericht sowie seine Urteile nicht kritisieren wollte. Mündlich erwähnte er das Bundesgericht überhaupt nicht. Die Darstellung der im Internet veröffentlichten schriftlichen Rede konnte aber aufgrund des Zusammenhangs mit der Kritik an der ARK als Kritik auch am Bundesgericht in dem Sinne verstanden werden, dass dieses Kriminelle freigelassen, ihnen Kostengutsprache erteilt und eine Haftentschädigung zugesprochen habe.

Nachträglich präzisierte der Vorsteher EJPD, das Bundesgericht habe so entscheiden müssen, nachdem die ARK den beiden Albanern Asyl erteilt hatte. Insofern nahm er das Bundesgericht von seiner Kritik aus.

Kritik an der ARK und an deren Urteilen Hingegen übte der Vorsteher EJPD schwerwiegende Kritik an der ARK. Diese Kritik betraf sowohl die Asylurteile im Fall der beiden Albaner als auch die ARK als Behörde.

Kritik anhand des Beispiels der zwei Albaner Zunächst stellte der Vorsteher EJPD in seiner Albisgüetli-Rede den Fall der beiden Albaner sinngemäss so dar, dass die ARK Schwerstkriminellen Asyl erteilt habe.

Die Urteilsbegründung sowie die Hintergründe des Falles zeigen, dass diese Darstellung nicht zutrifft. Die ARK hat den Asylstatus nur zugesprochen, weil sie zur Überzeugung gelangte, dass den beiden Angeschuldigten die schweren Straftaten aus politischen Gründen unterschoben worden sind und die Albaner zudem zu Recht begründete Furcht vor weiterer asylrelevanter Verfolgung bei einer Rückkehr in ihre Heimat geltend machten. Die Urteilskritik des Vorstehers EJPD kann einerseits so verstanden werden, dass die ARK fälschlicherweise zum Schluss gekommen sei, die beiden seien unschuldig und verfolgt, und andererseits, dass die ARK bewusst Kriminellen Asyl erteilt habe. Allein schon diese Zweideutigkeit macht deutlich, dass die Kritik undifferenziert und diffus war. In der Wahrnehmung der Zuhörer bzw. der Leser zielte die Kritik auf die ARK als Behörde und nicht bloss auf allfällige Mängel des Asylrechts («Ein klarer Fall? Ja. Aber nicht für die Asylrekurskommission».).

Erst später machte der Vorsteher EJPD geltend, er habe vor allem den vorschnellen Asylentscheid der ARK vor dem Eintreffen ergänzender Unterlagen aus Albanien im Auslieferungsverfahren kritisiert, der es dem
Bundesgericht verunmöglicht habe, die Auslieferung der Albaner zu bewilligen. Wie die Akten zeigen, wurde diese Thematik tatsächlich seit den Asylentscheiden vom 13. September 2004 departementsintern diskutiert.

Weil diese Kritik im Nachhinein zentrale Bedeutung erlangte, hat die GPK-S dazu vertiefte Abklärungen der Hintergründe vorgenommen. Die GPK-S legt dabei Wert auf die Feststellung, dass sie aus Gründen der Gewaltenteilung keine inhaltliche Beurteilung der Urteile der ARK vornimmt. Da die Bestimmung des Zeitpunktes, wann eine Gerichtsbehörde ihren Entscheid fällt, zur Rechtsprechung gehört, äussert sich die GPK-S nicht zur Frage, ob dieser Zeitpunkt in diesem konkreten Fall richtig oder falsch war. Immerhin erlauben die Abklärungen aber, den Entscheid nachzuvollziehen.

9082

Die Abklärungen zeigten auf, dass die ARK nicht von Gesetzes wegen verpflichtet war, die Unterlagen abzuwarten. Die Kritik des BJ sowie des Vorstehers EJPD im Nachhinein, die ARK hätte die Unterlagen abwarten müssen, erstaunt, denn das BJ selbst hat die Akten nach Erhalt am 25. August 2004 nicht sogleich an die ARK weitergeleitet. Immerhin hat die ARK diese Frist abgewartet und entschied erst am 13. September 2004 (vgl. Ziff. 3.2). Andererseits hätte es im vorliegenden Fall durchaus Sinn gemacht, zumindest beim BJ zurückzufragen, ob diese Unterlagen noch zu erwarten seien, sagt doch die ARK selbst, es könne in Bezug auf den strafrechtlichen Leumund sinnvoll sein, beim Asylentscheid die Auslieferungsakten einzusehen. Doch letztlich ist es in Respektierung der Gewaltenteilung weder Sache des Vorstehers EJPD noch der GPK-S als Oberaufsichtsbehörde zu beurteilen, ob es richtig oder falsch war, dass die ARK zum Schluss kam, der Fall sei auch ohne diese Unterlagen entscheidungsreif, da diese Frage zur Rechtsprechung gehört.

Die ARK macht nachvollziehbare Gründe geltend, warum die zusätzlichen Unterlagen nichts am Asylentscheid geändert hätten. Ein Blick in die besagten Unterlagen zeigt, dass die Vermutungen der ARK nicht unbegründet waren (vgl. Ziff. 5.2.1).

Aufgrund der Stellungnahmen der Gerichte kann davon ausgegangen werden, dass sich am Ausgang der beiden Verfahren wohl nichts geändert hätte, wenn die ARK die ergänzenden Unterlagen abgewartet hätte, weil nämlich die ARK zu verstehen gibt, dass sie so oder so Asyl erteilt hätte. Hätte das Bundesgericht zuerst entschieden, hätte es ­ wenn überhaupt ­ eine Auslieferung nur unter dem Vorbehalt bewilligt, dass Asyl rechtskräftig abgelehnt worden wäre. In diesem Fall hätte die ARK nachträglich Asyl erteilt, was eine Auslieferung definitiv verhindert hätte (vgl.

Ziff. 5.2.1). Nach den Stellungnahmen der Gerichte kann jedenfalls nicht darauf geschlossen werden, dass die ARK einen Entscheid des Bundesgerichts unterlaufen hat, wie der Vorsteher EJPD im Nationalrat sagte.

Der Konflikt, den dieser Fall zwischen den verschiedenen Behörden des EJPD und der ARK in Bezug auf die Koordination ihrer Entscheide bei parallelen Asyl- und Auslieferungsverfahren ausgelöst hatte, war erkannt und bereits im Januar 2005 ausdiskutiert worden. Er führte im März 2005
ARK-intern zu Richtlinien in Bezug auf die Verfahrenskoordination. Es ist schwer nachvollziehbar, weshalb der Justizminister zehn Monate später die ARK wegen dieses Verfahrenskonfliktes ausgerechnet in Bezug auf die Asylmissbrauchsthematik im «Albisgüetli» hätte kritisieren sollen. Dass der Vorsteher EJPD diese Kritik im Nachhinein an die Öffentlichkeit trug, kann allenfalls damit erklärt werden, dass er diesen Konflikt nach der Kritik an seiner Albisgüetli-Rede zu seiner Entlastung anführte.

Es stellt sich ferner die Frage, warum dieses Thema verwaltungsintern soviel zu reden gab. Es musste nach der Rechtsprechung damit gerechnet werden, dass das Bundesgericht bei bestehendem Asyl die Auslieferung nicht bewilligen würde.

Trotzdem hat das BJ ein zweites Mal die Auslieferung angeordnet. Dabei hat der Vorsteher EJPD mit seinen Anweisungen, unbedingt etwas zu unternehmen, möglicherweise eine Rolle gespielt. Ob und wie weit die Anweisungen des Vorstehers EJPD einen direkten Einfluss auf die Entscheide der Verwaltungsbehörden in seinem Departement ausgeübt haben, hat die GPK-S nicht näher untersucht.

Ein Vergleich des Asylverfahrens und des Auslieferungsverfahrens im vorliegenden Fall weist nach Meinung der GPK-S noch auf einen weiteren Koordinationsbedarf hin: Obwohl, wie das Bundesgericht sagt, die Kriterien für die Gewährung von Asyl und für die Verweigerung der Auslieferung weitgehend übereinstimmen und der verlangte Beweismassstab für das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft sowie eines 9083

Auslieferungshindernisses sehr ähnlich sind, gibt es offenbar relativ grosse Diskrepanzen bei der Rechtsanwendung zwischen dem BJ einerseits und dem Bundesgericht und der ARK andererseits. Die GPK-S hat sich bereits mit der internationalen Rechtshilfe, zu der das Auslieferungsrecht gehört, befasst. Sie behält sich vor, dieser Frage im Rahmen einer weiteren Untersuchung nachzugehen.

Kritik anhand des Beispiels der Roma-Familie Die Kritik des Vorstehers EJPD anhand des Beispiels der Roma-Familie in Rüschlikon betraf einerseits die lange Verfahrensdauer und andererseits die zu weit gehende organisatorische Unabhängigkeit, auf die sich die ARK berufe.

Die ARK ist eine richterliche Behörde, die in ihren Entscheiden unabhängig ist. Die Richterinnen und Richter der ARK werden vom Bundesrat gewählt. Die ARK steht administrativ unter der Aufsicht des Bundesrates und der Oberaufsicht der Bundesversammlung. Organisatorisch ist die ARK dem EJPD angegliedert. Der Vorsteher EJPD hat bei der Ressourcenzuteilung an die ARK mitzureden und auch die administrative Aufsicht auszuüben.

Die ARK muss es sich gefallen lassen, dass die Aufsichtsbehörde in Bezug auf die Geschäftsführung, die Geschäftslast und die Pendenzen Rechenschaft und Auskünfte verlangt. Fragen nach einem modernen und effizienten Gerichtsmanagement machen auch vor der ARK nicht Halt. Es ist richtig, dass sich der Vorsteher EJPD um diese Frage kümmert. Die Interventionen der Aufsicht dürfen jedoch nicht so weit gehen, dass sie in die richterliche Unabhängigkeit eingreifen. Darüber, wo die Grenze der Einmischung liegt, scheinen die Meinungen zwischen dem Vorsteher EJPD und der ARK deutlich auseinander zu gehen. Die heutige organisatorische Ansiedlung beim EJPD ist seit langem umstritten, insbesondere weil das EJPD in den Justizverfahren, über welche die ARK entscheiden muss, Partei ist und politische Interessen eine Rolle spielen können, was gerade das Beispiel des Albaner-Falls deutlich illustriert.

Heute zeichnet sich jedoch eine Lösung dieses Problems ab, indem die ARK ab dem nächsten Jahr Teil des neuen Bundesverwaltungsgerichts sein wird. Dieses wird der Aufsicht durch das Bundesgericht unterstehen.

Zu den Aufgaben des Vorstehers EJPD gehört es aber auch, die ihm administrativ unterstellte ARK, die eine bekanntermassen schwierige und zuweilen
belastende Aufgabe in einem politisch heiklen Bereich zu erfüllen hat, zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie ihre Funktion bestmöglich wahrnehmen kann. Man kann sich fragen, ob es angemessen war, dass er die bereits in den Medien verbreitete Kritik an der zweijährigen Verfahrensdauer im Roma-Fall im «Albisgüetli» wiederholte, ohne gleichzeitig auf die Gründe für die lange Dauer hinzuweisen.

5.3

Zur Frage der Gewaltenteilung und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz

5.3.1

Feststellungen

Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Prinzip der Gewaltenteilung. Die Justiz soll von den anderen staatlichen Gewalten unabhängig sein. Damit soll die Rechtsprechung von allen Einflussversuchen des staatlichpolitischen Systems, die direkt oder indirekt auf die richterliche Tätigkeit einwirken,

9084

abgeschirmt werden.17 Nach der Lehre darf sich Justizkritik durch staatliche Funktionsträger nur in engem Rahmen bewegen. Eigentliche Urteilsschelten ohne differenzierte Auseinandersetzung mit den Entscheidgründen werden im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit als problematisch betrachtet, insbesondere wenn die kritisierende Behörde die Gerichtsmitglieder abwählen oder ihnen die Mittel kürzen kann.18 In seiner Stellungnahme an die GPK-S antwortete der Bundesgerichtspräsident auf die Frage, ob die Äusserungen des Vorstehers EJPD seiner Meinung nach die richterliche Unabhängigkeit tangiert haben: «Ja, diese tangieren die richterliche Unabhängigkeit.» Im Weiteren wies er auf die von der ARK und vom Bundesgericht ausgeführten Urteilsbegründungen hin (vgl. Ziff. 3.2) und fügte mit Blick auf seine öffentlichen Stellungnahmen in den Medien hinzu: «Davon, die ARK habe schwerer Verbrechen Angeklagte bzw. Kriminelle als Flüchtlinge anerkannt, und davon, das Bundesgericht habe schwerer Verbrechen Angeklagte bzw. Kriminelle freigelassen und nicht ausgeliefert, kann aufgrund der angeführten Urteilsgründe nicht die Rede sein. Das Vertrauen in die Justiz und deren Unabhängigkeit würde Schaden nehmen, wenn derartige unzutreffende, die richtigen Urteilsgründe nicht nennende Darstellungen von richterlichen Entscheiden namentlich durch den Justizminister in der Öffentlichkeit nicht korrigiert würden.» Für die weiteren, zur Frage der Gewaltenteilung und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz relevanten Feststellungen wird auf die vorherigen Kapitel verwiesen.

5.3.2

Beurteilung

Nach Auffassung der GPK-S ist nicht jede kritische Äusserung von Behördenmitgliedern zur Rechtsprechung der Gerichte bereits als Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit zu werten. Insbesondere müssen sie Tendenzen der Rechtsprechung etwa im Hinblick auf Rechtsänderungen oder Fragen des Vollzugs diskutieren und kritisieren können. Der Justizminister muss mit Rücksicht auf seine besondere Stellung jedoch grosse Zurückhaltung bei der Kritik an Gerichtsurteilen üben. Wenn schon, muss er seine Kritik sachlich und ausgewogen vorbringen und die Begründung der Urteile miteinbeziehen. Dies hat der Vorsteher EJPD im vorliegenden Fall unterlassen. Er hat in keiner seiner Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass und aus welchen Gründen die ARK die beiden Albaner für unschuldig ansah. Er hat konsequent in seinen Äusserungen durchblicken lassen, dass er selbst die Albaner für schuldig hält. Das kommt einer grundsätzlichen Kritik an den Urteilen beziehungsweise deren Missachtung gleich.

17 18

Kiener Regina, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S. 228.

Kiener, S. 240, mit weiteren Hinweisen.

9085

5.4

Zur Frage der Informationsgrundsätze des Bundesrates

5.4.1

Feststellungen

Der Bundesrat hat nach der Bundesverfassung und dem Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG)19 einen weit reichenden Informationsauftrag. Er informiert die Öffentlichkeit rechtzeitig und umfassend über seine Tätigkeit, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Art. 180 Abs. 2 BV). Er sorgt für eine einheitliche, frühzeitige und kontinuierliche Information über seine Lagebeurteilungen, Planungen, Entscheide und Vorkehren (Art. 10 RVOG). Die Departemente sind in der Information über eigene Geschäfte grundsätzlich unabhängig, wobei die Verantwortung beim Departementsvorsteher liegt (Art. 40 RVOG). Am 12. Februar 2003 nahm der Bundesrat Kenntnis vom neuen Leitbild «Information und Kommunikation von Bundesrat und Bundesverwaltung», das die Konferenz der Informationsdienste (KID) in Ergänzung des Öffentlichkeitsgesetzes (BGÖ)20 erarbeitet hatte.21 Dieses Leitbild umschreibt die Grundsätze der Information und Kommunikation von Bundesrat und Bundesverwaltung. Danach soll die Information aktiv, frühzeitig bzw. rechtzeitig, sachlich und wahr, umfassend, einheitlich, koordiniert, kontinuierlich, transparent, dialogorientiert sowie zielgruppen- und mediengerecht sein. Unter anderem hält das Leitbild fest, dass Bundesrat und Bundesverwaltung laufend vollständig informieren sollen, ohne Wichtiges wegzulassen oder Negatives zu verschweigen. Zudem müssen die Informationen nach dem Wissensstand von Bundesrat und Bundesverwaltung wahr, sachlich und möglichst objektiv sein. Unzulässig sind Propaganda, Suggestion, Manipulation, Vertuschung, Lüge und Desinformation. Zum Thema Vollständigkeit der Information wird ausgeführt, die Komplexität dürfe im Interesse der Verständlichkeit reduziert werden, doch dürfe diese Reduktion nicht zu einem unausgewogenen, einseitigen Blickwinkel führen.

Noch verschärfte Regeln in Bezug auf die Behördeninformation gelten, sobald ein Thema als Abstimmungsgegenstand voraussehbar ist, weil ab diesem Zeitpunkt bereits die Abstimmungsinformation beginnt und Eingriffe des Staates in die politische Meinungsbildung ein sensibler Vorgang sind.22 Bundesrat und Bundesverwaltung müssen gemäss einem verwaltungsinternen und vom Bundesrat zur Kenntnis genommenen Bericht für die Information im Hinblick auf Abstimmungen die Grundsätze «Kontinuität», «Transparenz», «Sachlichkeit» und «Verhältnismässigkeit» einhalten, damit die politische Willensbildung fair und korrekt verläuft.23

19 20 21

22 23

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010).

Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung vom 17.12.2004 (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ; BBl 2004 7269).

Information und Kommunikation von Bundesrat und Bundesverwaltung. Leitbild der Konferenz der Informationsdienste (KID) vom Januar 2003 (http://www.admin.ch/ch/d/cf/leit.pdf).

Vgl. Eckmann Daniel, Information vor Abstimmungen, Grundsätze, Prozeduren und Standards für die Information im EMD 1992­95 und EFD ab 1997, Januar 2000, Bern.

Das Engagement von Bundesrat und Bundesverwaltung im Vorfeld von eidgenössischen Abstimmungen. Bericht der Arbeitsgruppe erweiterte Konferenz der Informationsdienste (AG KID) vom November 2001 (http://www.admin.ch/ch/d/pore/pdf/Eng_BR_d.pdf).

9086

5.4.2

Beurteilung

Nach den bisherigen Ausführungen zur Frage der Unschuldsvermutung sowie zur Frage der Urteilskritik und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz ergibt sich ohne Weiteres, dass die Aussagen des Vorstehers EJPD in der Albisgüetli-Rede über den Fall der zwei Albaner den Anforderungen an eine sachliche, wahre und umfassende Information gemäss den für den Bundesrat und die Bundesverwaltung geltenden Grundsätzen kaum zu genügen vermochten. Die Albisgüetli-Rede war unter anderem dem Thema Ausländer- und Asylgesetz im Hinblick auf die absehbare Abstimmung gewidmet. Das Beispiel der zwei Albaner führte der Vorsteher EJPD im Zusammenhang mit Asylmissbräuchen an, doch wies er darauf hin, dass das Beispiel zeige, dass es auch mit der Annahme der revidierten Gesetzesvorlagen noch ungelöst Probleme im Asylrecht gebe24 (vgl. Ziff. 2.1).

6

Schlussfolgerungen

6.1

Zur Unschuldsvermutung

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass der Vorsteher EJPD mit seinen öffentlichen Verlautbarungen über die zwei betroffenen albanischen Flüchtlinge der Unschuldsvermutung nicht Rechnung getragen hat. Er hat zudem den Flüchtlingsstatus zweier in der Schweiz aufgenommener Personen missachtet. Die GPK-S geht davon aus, dass der Justizminister aus politischen Gründen gehandelt hat, um ein aus seiner Sicht bestehendes Problem aufzuzeigen, nur hat er das Problem an einem falsch dargestellten Beispiel aufgezäumt und dabei die Rechte von Betroffenen tangiert.

Das Beispiel macht deutlich, dass die bisher von Mitgliedern der Landesregierung geübte Zurückhaltung bei öffentlichen Verlautbarungen zu konkreten Justizverfahren, welche die Rechte Einzelner betreffen, geboten ist und auch weiterhin gepflegt werden soll.

Nicht akzeptabel ist nach Meinung der GPK-S, dass der Justizminister vor dem Ständerat im Zusammenhang mit dem Albaner-Fall die Unwahrheit gesagt hat, indem er behauptete, er habe sie ja nie als Kriminelle, sondern als Angeschuldigte bezeichnet; das sei etwas anderes. Er hat damit mangelnden Respekt vor dem Parlament bewiesen. Es war auch nicht angezeigt, dass er sowohl im National- als auch im Ständerat ausführlich einzelne Darstellungen in Bezug auf den Albaner-Fall wiederholte, für die er nach der Albisgüetli-Rede kritisiert worden war und deren Untersuchung die GPK-S bereits eingeleitet hatte.

6.2

Zur Kritik an der ARK und deren Urteile

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass die öffentliche und infolge der AlbisgüetliRede in den Medien wiederholte Kritik an den Asylurteilen der ARK im Fall der zwei Albaner einseitig war. Mit der sinngemässen Unterstellung, die ARK habe 24

In seiner mündlichen Rede leitete der Vorsteher EJPD das Beispiel ein, indem er bezüglich der Gesetzesrevisionen ausführte, diese müssten nun vorgenommen werden, auch wenn dies nicht angenehm sei. Dann fuhr er fort: «Es hat dann immer noch offene Fragen: Das Beispiel, das jetzt in der Zeitung war ...».

9087

Schwerstkriminellen Asyl zugesprochen und die Auslieferung an Albanien durch das Bundesgericht verhindert, war sie geeignet, das Ansehen der ARK in Misskredit zu bringen und das Vertrauen in ihre Rechtsprechung in Frage zu stellen. Die GPK-S erwartet vom Justizminister, dass er in Bezug auf öffentliche Kritik an Einzelurteilen grosse Zurückhaltung übt und jede einseitige Darstellung vermeidet.

Nach Meinung der GPK-S hat sich in den beiden Konfliktfällen die restriktive Informationspolitik der ARK zu ihrem Nachteil ausgewirkt. Die ARK publiziert nur wenige ihrer Urteile. Die Asylurteile der zwei Albaner wurden nicht, die Urteile im Roma-Fall nur teilweise publiziert. Sie hat auch kaum auf das grosse Medienecho, das der Roma-Fall im Dezember des letzten Jahres ausgelöst hat, in der Öffentlichkeit reagiert. In der heutigen Informationsgesellschaft wächst das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz der Justiztätigkeit. Im Hinblick auf die Schaffung des neuen Bundesverwaltungsgerichts würde es die GPK-S als prüfenswert erachten, dass die provisorische Gerichtsleitung ein Informationskonzept erarbeitet, das den Informationsbedürfnissen der Öffentlichkeit vermehrt Rechnung trägt.

6.3

Zur Gewaltenteilung und der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass die Kritik des Vorstehers EJPD an den Asylurteilen betreffend die zwei Albaner hinsichtlich der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz problematisch war. Als Justizminister hat er eine besondere Verpflichtung, die rechtsstaatlichen Grundsätze hochzuhalten und zur Unabhängigkeit der Justiz Sorge zu tragen. Von ihm darf erwartet werden, dass er das Vertrauen in die Justiz und die Rechtsprechung stärkt und nicht mit unzutreffender Urteilskritik in Frage stellt. Die GPK-S wird im Rahmen ihrer Oberaufsicht auch weiterhin der Einhaltung der Gewaltenteilung und der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit besondere Aufmerksamkeit schenken.

6.4

Zu den Informationsgrundsätzen des Bundesrates

Die GPK-S kommt zum Schluss, dass der Vorsteher EJPD bei seiner Darstellung des Falles der zwei Albaner in seiner Albisgüetli-Rede den Informationsgrundsätzen des Bundesrates nicht gebührend Rechnung getragen hat. Zwar muss es den Mitgliedern des Bundesrates erlaubt sein, die Probleme auch vereinfacht und für jedermann verständlich darzustellen. Doch soll ihre Information insgesamt ausgewogen und sachlich richtig sein; daran hat es im vorliegenden Fall gefehlt. Hingegen kann dem Vorsteher EJPD nicht vorgeworfen werden, er habe mit dem angeführten Beispiel Abstimmungspropaganda betrieben, da er ausdrücklich darauf hinwies, dass die Problematik, die er mit dem angeführten Beispiel aufzeigen wollte, mit den Abstimmungsvorlagen nicht gelöst werde.

9088

7

Weiteres Vorgehen

Die GPK-S ersucht den Bundesrat, bis Ende Oktober 2006 zu diesem Bericht Stellung zu nehmen.

10. Juli 2006

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates Der Präsident: Hansruedi Stadler, Ständerat Der Sekretär: Philippe Schwab Der Präsident der Subkommission EJPD/BK: Hans Hess, Ständerat Die Sekretärin der Subkommission: Irene Moser

9089

Anhang

Chronologie der Ereignisse im Beispiel der zwei Albaner 1. Ereignisse in Albanien Juni 1992­ Juli 1996 Mai 1996 13.10.1996 14.10.1996 Okt. 1996­ März 1997 März 1997 Juni 1997 1998­2003 12.2.2003 30.4.2003 4.9.2003 Juli 2005 Sep. 2005

Zeitraum, in dem die den zwei Albanern zur Last gelegten schweren Delikte begangen wurden Die Demokratische Partei des amtierenden Staatspräsidenten Sali Berisha gewinnt erneut die Wahlen Eröffnung des Strafverfahrens gegen elf mutmassliche Mitglieder einer Terrorgruppe «Hakmarrja për Drejtësi» Haftbefehl gegen die Verdächtigten Untersuchungshaft eines der zwei Albaner Sali Berisha muss unter dem Druck der Vorwürfe schwerer Wahlfälschungen von seinem Amt zurücktreten; in der Folge anarchische Zustände in Albanien Die Sozialistische Partei gewinnt die Neuwahlen Erstinstanzlicher Strafprozess in Tirana 1. Urteil des erstinstanzlichen Gerichts in Tirana: Aufhebung der Strafsache sowie Aufhebung der Sicherungsmassnahmen Urteil des Berufungsgerichts in Tirana: Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils aus prozessualen Gründen 2. Urteil des erstinstanzlichen Gerichts in Tirana: Rücküberweisung der Akten an die Staatsanwaltschaft zur weiteren Ermittlung; Haftbefehl vom 14.10.1996 ist weiterhin gültig Die Demokratische Partei gewinnt die Parlamentswahlen Sali Berisha kommt wieder an die Macht

2. Verfahren in der Schweiz bis zur Albisgüetli-Rede Asylverfahren

5.2.2004

Einreichung der Asylgesuche

6.2.2004

Verhaftung; Auslieferungshaft Auslieferungsgesuch Albaniens an die Schweiz

16.2.2004 12.3.2004 23.3.2004 23.4.2004

9090

Auslieferungsverfahren

BFF lehnt Asylgesuch ab Beschwerde gegen Entscheid BFF an die ARK BJ verfügt Auslieferung an Albanien

Informationen an / Aktivitäten von Vorsteher EJPD

Asylverfahren

25.5.2004 8.7.2004

15.7.2004 29.7.2004 12.8.2004 25.8.2004 13.9.2004 15.9.2004

Auslieferungsverfahren

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Entscheid BJ an das Bundesgericht 1. Urteil des Bundesgerichts: Gutheissung der Beschwerde; Rückweisung an BJ zur Neubeurteilung Kopie der dipl. Note BJ fordert ergänzende des BJ an ARK Unterlagen von Albanien.

Frist: 29.7.2004 Eingang ergänzender Unterlagen aus Albanien beim BJ Kopie der dipl. Note BJ fordert weitere Unterdes BJ an ARK lagen von Albanien. Frist: 25.8.2004 Eingang ergänzender Unterlagen aus Albanien beim BJ Entscheid der ARK: Zusprache von Asyl Entlassung aus der Auslieferungshaft

29.9.2004

BFF orientiert über Asylurteile und mögliche Folgen Bericht BFF über Vorgehensoptionen gemäss Auftrag des Vorstehers EJPD Schreiben ARK-Präsident: Information über Asylurteile ARK-Präsident orientiert über Verfahrenskoordination gemäss Auftrag des Vorstehers EJPD ARK-Präsident orientiert über Abschluss Verfahrenskoordination unter den Ämtern

8.10.2004 18.10.2004 3.12.2004

4.3.2005

12.9.2005

13.9.2005 21.9.2005 22.9.2005

Informationen an / Aktivitäten von Vorsteher EJPD

BJ verfügt erneut Auslieferung an Albanien unter Vorbehalt des Asylwiderrufs; dagegen wird Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben.

BJ orientiert über seine erneute Auslieferungsverfügung Besuch des Vorstehers EJPD in Albanien Anordnung des Vorstehers EJPD: «Unbedingt durchziehen. Notfalls muss das BFM die Flüchtlingseigenschaft entziehen!»

9091

Asylverfahren

14.12.2005

Auslieferungsverfahren

Informationen an / Aktivitäten von Vorsteher EJPD

2. Urteil des Bundesgerichts: Gutheissung der Beschwerde, Aufhebung der Auslieferungsverfügung des BJ

5.1.2006

BJ informiert über Urteil des Bundesgerichts vom 14.12.05.

Auftrag des EJPD an BJ und BFM: Situationsanalyse vornehmen und Handlungsoptionen aufzeigen BJ informiert über Verhältnis zwischen Asyl- und Auslieferungsverfahren und verbesserte Verfahrenskoordination mit der ARK BFM orientiert auftragsgemäss und weist auf Unschuldsvermutung hin GS-EJPD konsultiert BFM zum Redeentwurf; BFM empfiehlt dringend Streichung oder Anpassung.

12.1.2006

17.1.2006

3. Ereignisse vor und nach der Albisgüetli-Rede 5.1.2006 13.1.2006 20.1.2006 23.1.2006

24.­27.1.

29.1.2006 30.1.2006 2.2.2006 22.2.2006 13.3.2006 22.3.2006

9092

Berichterstattung über den Bundesgerichtsentscheid vom 14.12.2005 aufgrund einer Agenturmeldung in mehreren Zeitungen Artikel in der «Schweizerzeit» von Ulrich Schlüer Albisgüetli-Rede des Vorstehers EJPD in Zürich Erster Hinweis in der NZZ auf das Beispiel der albanischen Flüchtlinge in der Albisgüetli-Rede. Die NZZ zitiert die ARK-Urteile und fragt: «Vertraut Bundesrat Blocher den albanischen Behörden mehr als einem richterlichen Organ der Schweiz, einem Organ seines Departements?» Weitere Zeitungen greifen das Thema auf Gemäss NZZ am Sonntag bezeichnet der Bundesgerichtspräsident die Äusserungen als «nicht akzeptabel» Aufsichtseingabe des Anwalts der zwei Albaner bei den Geschäftsprüfungskommissionen Antrag an die RK-S eines ihrer Mitglieder, sich mit dem Vorfall zu befassen; in der Folge Weiterleitung an die GPK-S Anhörung des Vorstehers EJPD zur Albisgüetli-Rede durch die Subkommission EJPD/BK der GPK-S Stellungnahme des Vorstehers EJPD zum Fall der zwei Albaner in der Fragestunde des Nationalrates Äusserungen des Vorstehers EJPD zum Fall der zwei Albaner im Ständerat

Folgende Tage 29.3.2006 23.5.2006 21.6.2006

Kritik einzelner Parlamentarier und in den Medien, der Vorsteher EJPD habe im Ständerat nicht die Wahrheit gesagt; öffentliche Forderung des Ständeratspräsidenten nach einer Entschuldigung Der Vorsteher EJPD drückt an einer Pressekonferenz sein Bedauern darüber aus, dass er von «Kriminellen» statt von «mutmasslichen Kriminellen» gesprochen habe, und äussert sich erneut zum Fall Der Anwalt der Albaner reicht gegen den Vorsteher EJPD Strafklage wegen Ehrverletzung sowie Zivilklage wegen Persönlichkeitsverletzung ein Das zuständige Untersuchungsrichteramt ist auf die Anzeige nicht eingetreten. Der Kläger hat einen Rekurs gegen den Entscheid angekündigt.

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