Anwendung und Wirkung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates auf der Grundlage einer Evaluation der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle vom 24. August 2005

2005-2254

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Übersicht Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht werden in den Kantonen mit grossen Unterschieden angewendet. Die Ausschaffungshaft als bedeutendste Zwangsmassnahme kommt beispielsweise im Kanton Genf sehr selten zur Anwendung. Genf setzt primär auf Rückkehrberatung und arbeitet auf freiwillige Ausreise hin. Dagegen wird die Ausschaffungshaft etwa im Kanton Zürich gezielt und konsequent eingesetzt. Die föderalistische Vollzugspolitik der Kantone führt zudem zu Koordinationsproblemen bei der Ausreiseorganisation und zu einem Kontrollverlust. Dies sind einige der Feststellungen, zu denen die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) aufgrund einer Evaluation der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht gelangte, welche die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) durchführte. Nach Meinung der GPK-N sollte im Bereich der Zwangsmassnahmen nach einer zehnjährigen Experimentierphase nun eine Harmonisierungsphase eintreten.

Die GPK-N fordert deshalb den Bundesrat auf, zusammen mit den Kantonen die Institutionalisierung einer regelmässigen Koordination und Kooperation zwischen Bund und Kantonen bei der Rückführung von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern zu suchen (z.B. im Rahmen einer regelmässigen Asyl- und Migrationskonferenz). Um qualitative Schlüsse bezüglich der Wirksamkeit der angewandten Vollzugsinstrumente ziehen zu können, sind Behörden und Politiker auf umfassendes und vergleichbares Datenmaterial aus den Kantonen angewiesen, das bis heute fehlt. Die GPK-N fordert deshalb den Bundesrat auf, darauf hin zu wirken, dass die Kantone einheitliche und vergleichbare Daten erheben.

Bezüglich der Wirkung der Zwangsmassnahmen zeigte die Untersuchung der PVK auf, dass die Rückführungsquote von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern nach Ausschaffungshaft (Hafterfolg) in den fünf untersuchten Kantonen insgesamt 84 Prozent betrug, wobei die Quote im ANAG-Bereich deutlich höher lag als im Asyl-Bereich. Der Vergleich zwischen den fünf Kantonen mit unterschiedlicher Ausschaffungspraxis hat weiter gezeigt, dass auch mit Rückkehrberatung und polizeilicher Begleitung zum Flughafen am Ausreisetag Wirkungen erzielt werden können. Aufgrund der unterschiedlichen Untersuchungsdaten kommt die GPK-N zum Schluss, dass im
Wegweisungsvollzug äusserst komplexe Wirkungszusammenhänge bestehen, die weiterer Abklärungen bedürfen, um die bestehenden Vollzugsinstrumente möglichst bedarfsgerecht einzusetzen. Die Zwangsmassnahmen sind dabei nur ein Element im Wegweisungsvollzug, das sich, gezielt eingesetzt, als wirksam erwiesen hat.

Die höchsten Rückführungsraten nach Ausschaffungshaft wurden bei den relativ kurzen Haftfällen erreicht. Mit zunehmender Haftdauer sanken die Quoten deutlich.

Die Untersuchung zeigte, dass sich in den meisten Fällen in den ersten drei Monaten entscheidet, ob ein Inhaftierter sich zur Mithilfe bei der Identitätsfindung, der Papierbeschaffung und zur Ausreise entschliesst. Einzelne Kantone verlangen für jene Weggewiesenen, die sich hartnäckig einer Ausschaffung widersetzen, eine Verlängerung der Ausschaffungshaft von heute maximal neun Monaten. Sie versprechen sich von einer Verlängerung einen psychologischen Abschreckungseffekt und

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eine erhöhte Kooperationsbereitschaft von Beginn der Ausschaffungshaft weg. Die Frage, ob eine Verlängerung der Ausschaffungshaft eine grössere Bereitschaft zur Rückkehr bewirkt, kann aufgrund der vorliegenden Untersuchung nicht schlüssig beantwortet werden. Insbesondere hat die Studie nicht überprüft, welche Wirkungen die konkreten Haftumstände wie die Dauer der angedrohten Haft auf die Motivation der Betroffenen zur Kooperation und Ausreise haben. Die Frage muss letztlich vom Gesetzgeber im Rahmen der laufenden Asylgesetzrevision politisch entschieden werden. Die GPK-N weist jedoch aufgrund ihrer Anhörungen und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die vorberatenden Kommissionen darauf hin, dass die Frage geklärt werden müsste, ob eine verlängerte Ausschaffungshaft nicht eher den Charakter einer Beugehaft hat, was nicht dem Zweck dieser Bestimmung entspricht.

Die GPK-N kommt im Weiteren zum Schluss, dass die zum Teil hohe Anzahl von Vollzugspendenzen in einzelnen Kantonen ein Problem darstellt und zusammen mit den Kantonen angegangen werden sollte. Sie empfiehlt dem Bundesrat, dem Problem der Vollzugspendenzen und deren Ursachen nachzugehen und geeignete Massnahmen zu prüfen.

Die im Auftrag der PVK durchgeführte Studie zur Delinquenz hat gezeigt, dass rund ein Drittel der Asylsuchenden in den Kantonen Zürich und Genf im Untersuchungszeitraum zwischen 2001 und 2002 in den Polizeiregistern verzeichnet waren; ca. 12 Prozent wurden wegen Drogendelikten (v.a. Drogenhandel) erfasst.

Gleichzeitig hat die Studie gezeigt, dass die Zwangsmassnahmen generell und insbesondere die Ein- und Ausgrenzungen eine günstige Wirkung auf die Delinquenz von Asylsuchenden haben. Die im Vergleich zur Wohnbevölkerung hohe Delinquenz unter Asylsuchenden, insbesondere in den ersten 12 Monaten ihres Aufenthaltes in der Schweiz, lässt vermuten, dass es eine beträchtliche Anzahl mobiler Delinquierender gibt, die den Asylbewerberstatus dazu benutzen, während der Dauer des Asylverfahrens eine Aufenthaltsmöglichkeit zu erhalten, um delinquenten Tätigkeiten nachzugehen. Nach Meinung der GPK-N sollte nach Wegen gesucht werden, den Asylbewerberstatus für mobile Delinquente weniger attraktiv zu machen, ohne dass motivierte und schutzsuchende Asylsuchende benachteiligt werden. Die GPK-N schlägt deshalb den zuständigen vorberatenden
Kommissionen vor, im Rahmen der laufenden Revision der Ausländer- und Asylgesetzgebung die Einführung von beschränkten Ein- bzw. Ausgrenzungen für Asylsuchende während der ersten 3 bis 6 Monate des Asylverfahrens zu prüfen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

2583

1 Einleitung 1.1 Ausgangslage 1.2 Auftrag und Ziel der Inspektion 1.3 Grenzen des Untersuchungsgegenstandes 1.4 Vorgehen

2584 2584 2584 2585 2586

2 Anwendung und Wirkung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht: Ausgewählte Bereiche 2.1 Anwendung der Zwangsmassnahmen in den Kantonen 2.1.1 Feststellungen 2.1.1.1 Ausschaffungshaft 2.1.1.2 Vorbereitungshaft, Ein- und Ausgrenzungen 2.1.1.3 Zusammenarbeit der Kantone 2.1.1.4 Ausschreibungspraxis im RIPOL 2.1.1.5 Ungleiche Rechtsanwendung in den Kantonen 2.1.2 Bewertung und Schlussfolgerungen 2.1.2.1 Koordination und Kooperation 2.1.2.2 Vergleichbare Datenerhebung in den Kantonen 2.1.2.3 Vereinheitlichung der Ausschreibungspraxis 2.1.2.4 Rechtsvereinheitlichung in der Rechtsanwendung 2.2 Wirkung der Zwangsmassnahmen 2.2.1 Feststellungen 2.2.2 Bewertung und Schlussfolgerungen 2.3 Kosten der Ausschaffungshaft 2.3.1 Feststellungen 2.3.2 Bewertung und Schlussfolgerungen 2.4 Delinquenz unter Asylsuchenden 2.4.1 Feststellungen 2.4.2 Bewertung und Schlussfolgerungen 2.5 Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen 2.5.1 Feststellungen 2.5.2 Bewertung und Schlussfolgerungen

2587 2587 2587 2587 2587 2588 2589 2590 2591 2591 2591 2592 2593 2594 2594 2595 2597 2597 2598 2598 2598 2599 2600 2600 2601

3 Weiteres Vorgehen

2601

Anhang 1: Angehörte und befragte Personen

2602

Anhang 2: Evaluation der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht.

Schlussbericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

2603

2582

Abkürzungsverzeichnis ANAG Art.

AS AsylG BBl BFF BFM BGE BK Bst.

bzw.

ca.

EJPD EMRK EP 03 fedpol GPK-N KKJPD NGO OG PVK RIPOL SPK SR u.a.

usw.

v.a.

Vgl.

VVC z.B.

ZAR Ziff.

Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931, SR 142.20 Artikel Amtliche Sammlung des Bundesrechts Asylgesetz vom 5. Oktober 1979, SR 142.31 Bundesblatt Bundesamt für Flüchtlinge (bis 31. Dezember 2004) Bundesamt für Migration Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (Amtliche Sammlung) Bundeskanzlei Buchstabe beziehungsweise zirka Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101 Entlastungsprogramm 2003 Bundesamt für Polizei Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren Non-governmental Organization (Nichtregierungsorganisation) Bundesrechtspflegegesetz vom 16. Dezember 1943, SR 173.110 Parlamentarische Verwaltungskontrolle Automatisiertes Fahnungssystem Staatspolitische Kommissionen Systematische Sammlung des Bundesrechts unter anderem und so weiter vor allem vergleiche Verfahrens- und Vollzugscontrolling im Asylbereich zum Beispiel Zentrales Ausländerregister Ziffer

2583

Bericht 1

Einleitung

1.1

Ausgangslage

Die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht traten am 1. Februar 1995 in Kraft. Sie werden im Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) geregelt, welches in einer Referendumsabstimmung am 4. Dezember 1994 vom Stimmvolk angenommen wurde1. Die Einführung der Zwangsmassnahmen führte zudem zu Ergänzungen im Asylgesetz (AsylG)2.

Ziel der gesetzlichen Bestimmungen ist es, einerseits den Wegweisungsvollzug von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern zu verbessern. Andererseits sollen die Massnahmen der Verhinderung von Missbräuchen des Asylrechts durch delinquente Asylsuchende und illegal anwesende Ausländerinnen und Ausländer dienen3. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um folgende Instrumente: Vorbereitungshaft, Ausschaffungshaft sowie Ein- und Ausgrenzungen (Rayonverbote). Am bedeutungsvollsten und zugleich am meisten umstritten ist die Ausschaffungshaft mit einer Maximaldauer von neun Monaten. Sie kann u.a. angeordnet werden, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass sich jemand der Ausschaffung entziehen will.

Die Zwangsmassnahmen sind im Verlauf der letzten zehn Jahre für diverse kantonale Migrationsbehörden zu einem wichtigen und viel benutzten Instrument im Wegweisungsvollzug geworden. Am häufigsten wird die Ausschaffungshaft angeordnet ­ dies geht aus einer Umfrage des Bundesamtes für Migration (BFM)4 zur Anwendung der Zwangsmassnahmen im Jahr 2001 hervor.

Die Ausländer- und Asylgesetzgebung ist derzeit in Revision und wird voraussichtlich im Laufe des Jahres 2006 verabschiedet. Eine Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen steht im Differenzbereinigungsverfahren der Räte zur Debatte.

1.2

Auftrag und Ziel der Inspektion

Zur Anwendung und Wirksamkeit der Zwangsmassnahmen in den einzelnen Kantonen war bis anhin nur wenig bekannt, da kaum fundierte Untersuchungsergebnisse existierten. Mit dem Ziel diesbezüglich mehr Transparenz zu schaffen und gleichzeitig die laufende politische Debatte mit verlässlicheren Informationen zu versorgen, haben die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) am 23. Januar 2004 mit einer Untersuchung über die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht beauftragt. Nachdem die PVK eine Projektskizze ausgearbeitet hatte, entschied die Subkommission EJPD/BK der Geschäftsprüfungs-

1 2 3 4

Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, SR 142.20.

Asylgesetz vom 5. Oktober 1979 (AS 1980 1718).

Vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht vom 22. Dezember 1993, BBl 1994 I 305.

Damals Bundesamt für Flüchtlinge (BFF).

2584

kommission des Nationalrats (GPK-N)5 am 22. März 2004 die Untersuchung einerseits auf die kantonale Anwendungspraxis der Zwangsmassnahmen und die Verbesserungen, die sie im Wegweisungsvollzug erbracht haben, und andererseits auf deren Wirkung auf die Delinquenz von Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern zu konzentrieren. Die Subkommission stellte für die Untersuchung folgende Fragen in den Mittelpunkt der Betrachtung: 1.

Welche Zwangsmassnahmen wurden in verschiedenen Kantonen in welcher Weise eingesetzt? Bestehen wesentliche Unterschiede zwischen den Kantonen?

2.

Welche finanziellen und personellen Ressourcen wurden eingesetzt? Wie sind die Zwangsmassnahmen unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt zu beurteilen?

3.

Haben die Zwangsmassnahmen, insbesondere die Ausschaffungshaft, die angestrebten Verbesserungen im Wegweisungsvollzug erzielt? Gibt es allenfalls unerwünschte Nebeneffekte?

4.

Haben die Massnahmen die angestrebten Wirkungen im Hinblick auf die Verminderung der Delinquenz von Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländern erzielt? Gibt es allenfalls unerwünschte Nebenwirkungen?

1.3

Grenzen des Untersuchungsgegenstandes

Der Untersuchungsgegenstand beschränkt sich auf den Vollzug der Zwangsmassnahmen. Zudem befasst sich die Studie schwergewichtig mit der Anwendung und der Wirkung der Ausschaffungshaft, da diesem Instrument die grösste Bedeutung zukommt. Eine Analyse, die die Massnahmen und deren Auswirkungen in den Kontext der gesamten Migrationspolitik stellt, wäre wünschenswert. Die mangelhafte Verfügbarkeit von verlässlichen Datenquellen und der relativ grosse Zeitdruck verunmöglichten jedoch die Realisierung einer umfassenderen Studie. Ebenfalls aus zeitlichen Gründen wurde darauf verzichtet, die Frage der Einhaltung der Menschenrechte in die Untersuchung einzubeziehen. Mittels eines mehrstufigen Selektionsverfahrens wählte die PVK gezielt fünf Kantone für die Datenerhebung aus. Da kein detailliertes Datenmaterial für die Gesamtheit der Kantone vorhanden ist, können ­ streng genommen ­ nur begrenzte Rückschlüsse auf die Repräsentativität der fünf ausgewählten Kantone gemacht werden. Trotzdem sind die Resultate auch für die nicht untersuchten Kantone aussagekräftig, da bewusst unterschiedliche kantonale Profile in die Analyse miteinbezogen wurden. Bei der Auswahl wurde z.B. darauf geachtet, dass Kantone mit unterschiedlicher Anwendungspraxis der Ausschaffungshaft (Häufigkeit und Dauer) vertreten sind. Anhaltspunkte hierfür lieferten Unterlagen des BFM. Mit der Berücksichtigung von Deutschschweizer und Westschweizer Kantonen ist auch eine angemessene sprachlich-kulturelle Vertretung der Kantone gewährleistet. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich auf die Jahre 2001 bis 2003. Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Entlastungsprogramm 2003 (EP 03) per 1. April 2004 wurden zusätzliche Massnahmen eingeführt 5

Der Subkommission EJPD/BK der GPK-N gehörten an: Nationalrätin Lucrezia MeierSchatz (Präsidentin), die Nationalrätinnen und Nationalräte Max Binder, Toni Brunner, André Daguet, Dominique de Buman, Jean-Paul Glasson, Walter Glur, Josy Gyr, Brigitte Häberli-Koller, Claude Janiak, Geri Müller und Kurt Wasserfallen.

2585

(z.B. Ausschaffungshaft aufgrund verweigerter Mitwirkung bei der Papierbeschaffung oder bei Nichteintretensentscheiden von Asylgesuchen), die die Situation in der Zwischenzeit möglicherweise verändert haben.6 Die Studie der PVK berücksichtigt allfällige Auswirkungen durch diese neuen Massnahmen nicht.

1.4

Vorgehen

Nachdem die Untersuchungsschwerpunkte durch die Subkommission EJPD/BK der GPK-N vorgegeben waren, wählte die PVK aufgrund verschiedener Kriterien fünf Kantone aus, um deren Anwendung der Zwangsmassnahmen für den Zeitraum 2001 bis 2003 zu überprüfen. Es handelt sich dabei um die Kantone Basel-Landschaft (BL), Genf (GE), Schaffhausen (SH), Wallis (VS) und Zürich (ZH). Mit der statistischen Erhebung und Auswertung wurde Dr. Thomas Widmer (Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich) beauftragt. Um die quantitativen Daten richtig interpretieren zu können, aber auch um neue Erkenntnisse in die Analyse miteinzubeziehen, führte die PVK Experteninterviews mit Vertretern der Migrationsämter, der zuständigen Gerichte und Polizeibehörden durch. Zudem wurden neben NGOs, die sich mit Ausländer- und Flüchtlingsfragen beschäftigen, auch ein Rechtsvertreter und ein Gefängnisseelsorger befragt. Zur Beantwortung der Frage zu den Wirkungen der Zwangsmassnahmen auf die Delinquenz von illegal anwesenden Ausländern vergab die PVK ein Mandat an Prof. Martin Killias (Institut de criminologie et de droit pénal, Universität Lausanne).

Der Schlussbericht der PVK wurde der GPK-N am 15. März 2005 vorgelegt. Vor diesem Hintergrund führte die Subkommission EJPD/BK der GPK-N am 31. März 2005 weitere Anhörungen von Vertretern des BFM, der Migrationsämter der Kantone Zürich, Genf und St. Gallen sowie von Prof. Martin Killias durch7. Die GPK-N gab den Bericht der PVK am 7. April 2005 zur Veröffentlichung und zu Handen der laufenden Revision des Asylgesetzes frei.

Der vorliegende Bericht, der von der GPK-N am 24. August 2005 verabschiedet wurde, basiert auf dem Schlussbericht der PVK und dem dazu gehörigen Materialienband (einschliesslich des Untersuchungsberichtes von Prof. Martin Killias in Anhang 4) vom 15. März 2005. Er enthält die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der GPK-N. Die Ausführungen des Schlussberichts der PVK werden hier nur wiederholt, soweit sie für das Verständnis der Bewertungen und Schlussfolgerungen der GPK-N notwendig sind. Für weitergehende Informationen wird auf den Schlussbericht der PVK und den Materialienband verwiesen.

6 7

Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003 über das Entlastungsprogramm 2003, AS 2004 1633.

Eine Liste der angehörten und befragten Personen findet sich in Anhang 1.

2586

2

Anwendung und Wirkung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht: Ausgewählte Bereiche

2.1

Anwendung der Zwangsmassnahmen in den Kantonen

2.1.1

Feststellungen

Die vertiefte Untersuchung in fünf Kantonen durch die PVK hat gezeigt, dass die Kantone die Zwangsmassnahmen unterschiedlich anwenden. Dies rührt zu einem Teil daher, dass das ANAG es den Kantonen mit einer «Kann»-Formulierung freistellt, die Massnahmen anzuwenden oder nicht.

2.1.1.1

Ausschaffungshaft

Grosse Unterschiede zeigen sich in der Anwendung der Ausschaffungshaft, der insgesamt am häufigsten angewendeten und somit auch bedeutendsten Zwangsmassnahme. Während GE die Ausschaffungshaft sehr selten anwendet, wird dieses Instrument von den Kantonen BL, VS und ZH konsequent und regelmässig eingesetzt. Wesentliche Unterschiede ergeben sich bei der Häufigkeit der Haftanordnung, bei den Haftgründen, die zur Ausschaffungshaft führen, beim betroffenen Ausländerkreis, bei der Haftdauer, sowie auch im Haftergebnis.

Eine Ursache für die teilweise wesentlichen Differenzen liegt in der unterschiedlichen kantonalen Anwendungspraxis durch die Migrationsämter. Im Kanton GE wird im Asylbereich primär auf Rückkehrberatung gesetzt und auf freiwillige Ausreise hingearbeitet. Die Ausschaffungshaft wird als letztes Mittel betrachtet. Dagegen wird im Kanton ZH die Ausschaffungshaft gezielt und konsequent eingesetzt. Einige Kantone erhoffen sich von einer konsequenten Anwendung der Zwangsmassnahmen eine abschreckende Wirkung und plädieren deshalb auch für eine Verlängerung der Ausschaffungshaft, in der Annahme, damit eine grössere Kooperationsbereitschaft im Hinblick auf die Identitätsfeststellung und die Papierbeschaffung erreichen zu können.

In den Kantonen SH und ZH wird eine Kurzhaft von bis zu vier Tagen sehr häufig angewendet (62 bzw. 68 Prozent im untersuchten Zeitraum). In Zürich betraf dies eine sehr grosse Anzahl (3926 Personen). Für kurze Haftdauern werden Personen in Haft genommen, die kurz vor der Ausreise stehen und deren Rückreisepapiere bereits organisiert sind. Durch eine Inhaftierung soll verhindert werden, dass die betreffenden Personen im letzten Moment vor der Abreise untertauchen. Der Kanton GE, der die Ausschaffungshaft praktisch nicht anwendet, schafft dagegen solche Personen aus, indem sie am Ausreisetag polizeilich abgeholt und zum Flug begleitet werden.

2.1.1.2

Vorbereitungshaft, Ein- und Ausgrenzungen

Die Vorbereitungshaft, die während der Vorbereitung des Entscheides über die Aufenthaltsberechtigung eines Ausländers angeordnet werden kann, um die Durchführung eines Wegweisungsverfahrens sicherzustellen, ist in den untersuchten Kantonen selten oder gar nicht zur Anwendung gelangt. Die Datenbasis der Studie 2587

der PVK von nur gerade 58 Inhaftierungen ist zu schmal, um Aussagen über die Wirkungen des Instruments machen zu können. Offenbar gibt es nur wenige Fälle, auf die diese Zwangsmassnahme überhaupt angewendet werden kann. Trotzdem wird das Instrument von den kantonalen Behörden vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Kleinkriminalität als sinnvoll erachtet. Oft werden bei Fällen von Kleinkriminalität Ein- oder Ausgrenzungen (Rayonverbote) angeordnet, deren Missachtung eine Vorbereitungshaft nach sich ziehen kann. Ohne die Sanktionsmöglichkeit der Vorbereitungshaft würden laut den kantonalen Behörden auch die Rayonverbote nicht greifen.

Mit Ein- bzw. Ausgrenzungen (Rayonverboten) können unter gewissen Voraussetzungen einem Ausländer, der keine Aufenthaltsbewilligung besitzt, Auflagen gemacht werden, ein bestimmtes Gebiet nicht zu verlassen oder zu betreten. Die Massnahme dient insbesondere der Bekämpfung des Drogenhandels. Die Studie zur Delinquenz von Prof. M. Killias konnte in dieser Hinsicht tatsächlich Wirkungen nachweisen (vgl. Ziff. 2.4).

2.1.1.3

Zusammenarbeit der Kantone

Die Zusammenarbeit der Kantone im Vollzug der Zwangsmassnahmen hat heute hauptsächlich regionalen Charakter. Einzelne Kantone kooperieren miteinander, andere nicht. Der gesamtschweizerische interkantonale Ideenaustausch findet nur einmal im Jahr durch die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) statt. Bei den befragten kantonalen Behörden scheint kaum ein Bedürfnis nach mehr interkantonaler Kooperation zu bestehen. Den meisten Kantonen bereitet die unterschiedliche Anwendungspraxis der Zwangsmassnahmen in den Kantonen keine Probleme. Sie führen die Unterschiede auf die Kantonsgrösse, die politischen Verhältnisse, die finanziellen und personellen Ressourcen sowie die Prioritätensetzung der Kantone zurück. Ein Kanton, der eine konsequente Ausschaffungspraxis übt, meinte jedoch, es schade den Bemühungen der Kantone, welche das Gesetz konsequent anwenden, wenn einzelne Kantone dies nicht tun. Die Vollzugspolitik in den Kantonen müsste sich aus dieser Sicht einander annähern. Das BFM wäre an einer Harmonisierung im kantonalen Vollzug interessiert. Eine einheitlichere Linie der Kantone würde die Vollzugsunterstützung erleichtern und es dem BFM ermöglichen, gegenüber den Herkunftsländern der auszuschaffenden Personen als «Staat» Schweiz aufzutreten. Ein Problem bilden aus der Sicht des BFM Kantone, die aus politischen Gründen die Wegweisungen nicht mit genügend Nachdruck vollziehen wollen. Die Zusammenarbeit werde dadurch wesentlich erschwert, da Leute nicht bereitgehalten und Rückführungen nicht ausgeführt würden.

Seit 1999 wurde im Auftrag des EJPD und der KKJPD ein Verfahrens- und Vollzugscontrolling (VVC) im Asylbereich aufgebaut. Ziel des von Bund und Kantonen gemeinsam getragenen Projekts VVC ist es, mehr Transparenz des Verfahrens- und Wegweisungsvollzugs und damit ein Planungs- und Steuerungsinstrument für Bund und Kantone zu erhalten. Die Daten des VVC sind zwar miteinander vergleichbar, doch verfügen die kantonalen Behörden zusätzlich über eigene Daten und Auswertungen, die nicht auf derselben Datenbasis erstellt werden und auch nicht miteinander vergleichbar sind. Aus den heutigen Auswertungen ist ersichtlich, ob ein Kanton den Vollzugsauftrag des BFM ausführt, aber sie enthalten keine Angaben über die eigentliche Vollzugspraxis der Kantone. Die im Rahmen des VVC erstellten halb2588

jährlichen Reportings werden den kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren sowie den kantonalen Fremdenpolizei- und Migrationsbehörden zugestellt und von der KKJPD jeweils ohne eingehende Diskussionen zur Kenntnis genommen. Die Veröffentlichung der Statistik über die Vollzugspendenzen in den Kantonen wurde bisher von den Kantonen abgelehnt, weil sie aufgrund der Komplexität der Materie Fehlinterpretationen und Missverständnisse befürchten.8 Die Evaluation der PVK hat zudem deutlich gezeigt, dass im Bereich der Zwangsmassnahmen ungenügende statistische Daten existieren. Das wenige vorhandene Zahlenmaterial der Kantone ist uneinheitlich und deshalb nur bedingt vergleichbar.

Es wird z.B. keine gesamtschweizerische Statistik über Haftgründe, Haftdauer, die Anzahl der Anordnungen und über den betroffenen Personenkreis geführt. Das BFM erhebt die entsprechenden Daten nicht, weil die kantonalen Behörden für die Anordnung der Zwangsmassnahmen zuständig sind. Es ist demnach schwierig, Transparenz bezüglich der Anwendung und der Wirksamkeit der Zwangsmassnahmen zu schaffen.

2.1.1.4

Ausschreibungspraxis im RIPOL

Im Zusammenhang mit den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht dient das automatisierte Fahndungsregister RIPOL zur Aufenthaltsermittlung, Verhaftung und Ausschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern.9 Die Ausschreibung im RIPOL ermöglicht eine Rationalisierung der Arbeitsabläufe, den Informations- und Datenaustausch zwischen den Behörden des Bundes und der Kantone sowie die Erhebung von statistischen Daten.

Das Bundesamt für Polizei (fedpol) koordiniert die Tätigkeiten der beteiligten Behörden und stellt die Verwendung des Systems sicher. Das fedpol hat jedoch keine Weisungsbefugnis. Die am RIPOL beteiligten Behörden ­ z.B. kantonale Polizeibehörden, Bundesamt für Migration, Bundesamt für Justiz ­ können Ausschreibungen in das System eingeben, sie sind aber nicht dazu verpflichtet.

Die Studie zur Delinquenz unter Asylsuchenden und zur Wirkung von Zwangsmassnahmen hat u.a. auf die kantonal unterschiedliche Ausschreibungspraxis im Fahndungsregister RIPOL hingewiesen. Im Kanton ZH sind 19 Prozent der Asylsuchenden der untersuchten Stichprobe zur Aufenthaltsermittlung, 12 Prozent zur Verhaftung und 26 Prozent zur Ausschaffung ausgeschrieben. Im Kanton GE sind es nur 4 Prozent zur Aufenthaltsermittlung, 2 Prozent zur Verhaftung und 7 Prozent zur Ausschaffung. Für die Gründe, warum im Kanton ZH mit insgesamt 57 Prozent deutlich mehr Asylsuchende als im Kanton GE mit 13 Prozent ausgeschrieben sind, finden sich im PVK-Bericht keine Anhaltspunkte.

Die Subkommission EJPD/BK der GPK-N hat die Frage der unterschiedlichen Ausschreibungspraxis im RIPOL aufgegriffen und bei dem im Bereich RIPOL federführenden Bundesamt für Polizei (fedpol) sowie bei den an der Sitzung vom 31. März 2005 angehörten Kantonen GE, SG und ZH nachträglich zu dieser Thematik Informationen eingeholt. Das fedpol ist sich der unterschiedlichen Benützung des 8 9

Vgl. auch Antwort des Bundesrates vom 24. Dezember 2004 zur Anfrage Heberlein (04.1118), Veröffentlichung und Vereinheitlichung der Vollzugsstatistik.

Vgl. Verordnung über das automatisierte Fahndungssystem (RIPOL-Verordnung) vom 19. Juni 1995, SR 172.213.61.

2589

RIPOL durch die Kantone bewusst. Je nach Kanton und Ausschreibungsbereich werde das Fahndungsregister unterschiedlich stark genutzt. Jede kantonale Polizeibehörde verfolge ihre eigene Ausschreibungspraxis und es finde ­ was von den Vertretern der Kantone bestätigt wird ­ auch kein Erfahrungsaustausch statt. Das fedpol würde zwar eine Vereinheitlichung der Ausschreibungspraxis begrüssen, zweifelt aber an der Kooperationsbereitschaft der Kantone. Häufig werde von den Kantonen Ressourcenknappheit als Grund für eine inkonsequente Ausschreibungspraxis angegeben. Statistiken zur unterschiedlichen Ausschreibungspraxis der Kantone existieren nicht. Gemäss den Vertretern der Kantone ZH und SG wird das RIPOL in ihren Polizeibehörden konsequent angewendet. Grundsätzlich schreibt der Kanton SG alle Asylsuchenden, die untergetaucht sind, aus. Im ANAG-Bereich werden alle Ausweisungen im RIPOL registriert. Die Behörden des Kantons ZH verwenden das RIPOL nur, wenn die Ausschaffung einer untergetauchten Person vollzogen werden kann oder zumindest die Chance dafür besteht. Die Genfer Behörden schreiben in erster Linie Personen aus, die ein Delikt begangen haben. Zur Ausschaffung ausgeschrieben werden nur untergetauchte abgewiesene Asylsuchende und illegal anwesende Ausländerinnen und Ausländer, die man mit grosser Wahrscheinlichkeit auch ausschaffen kann. Weil ein grosser Teil der Asylsuchenden in Genf aus afrikanischen Ländern stammt und viele von ihnen über keine Ausweispapiere verfügen, gestaltet sich der Rückweisungsvollzug sehr schwierig. Genf verwendet in diesen Fällen das RIPOL nicht und sieht darin auch einen Hauptgrund für die geringeren Ausschreibungsquoten im Vergleich mit Zürich. Ausschreibungen zur Ermittlung des Aufenthaltsortes von untergetauchten Personen sind im Kanton GE relativ selten. Alle Kantonsvertreter sind sich aber einig, dass es sich beim RIPOL um ein wertvolles Instrument im Wegweisungsvollzug handelt. Kenntnisse über die Effizienz des Fahndungsregisters existieren nicht. St. Gallen macht den Erfolg von RIPOL vor allem vom Funktionieren der Grenzkontrollen abhängig.

Obwohl alle Kantonsvertreter der Ansicht sind, jeder Kanton müsse das RIPOL für seine Zwecke anwenden können, kommen sie zum Schluss, dass eine «unité de doctrine» in der Ausschreibungspraxis der Kantone durchaus sinnvoll und nützlich wäre.

2.1.1.5

Ungleiche Rechtsanwendung in den Kantonen

Hinsichtlich der unterschiedlichen Haftdauer und der angewendeten Haftgründe spielen die Kriterien bei der richterlichen Haftüberprüfung eine wichtige Rolle. Je nach Kanton schöpfen die Richter den Interpretationsspielraum des Gesetzes unterschiedlich aus. Differenzen bestehen insbesondere in der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Durchführung einer Ausschaffung. Im Kanton GE muss die Rückführungsmöglichkeit praktisch gesichert sein, damit eine Haftverlängerung nach drei Monaten bewilligt wird. Die Kantone BL, VS und ZH, welche die Ausschaffungshaft häufig anwenden, beachten bei wegzuweisenden Ausländerinnen und Ausländern ebenfalls die Rückführungsmöglichkeit, beanspruchen in deren Interpretation aber einen grösseren Freiraum. So wird auch bei jenen Haft angeordnet und von der Haftüberprüfungsbehörde auch verlängert, bei denen eine Rückführung zwar schwierig, aber möglich ist.

2590

2.1.2

Bewertung und Schlussfolgerungen

2.1.2.1

Koordination und Kooperation

Der Vollzugsföderalismus im Bereich der Zwangsmassnahmen mag gegenüber einer national einheitlichen Anwendungspraxis Vorteile haben. Er ermöglicht es den Kantonen, für die Erreichung derselben Ziele unterschiedliche politische Massnahmen zu ergreifen. Somit stellt er eine Art «Experimentierfeld» für die nationale Politik dar. Die Kantone können voneinander lernen und ihre Politik optimieren. Der Lernprozess bedingt allerdings einen Ideen- und Erfahrungsaustausch. Im Bereich der Zwangsmassnahmen ist die Kooperation zwischen den Kantonen jedoch bisher kaum institutionalisiert worden. Ausserdem muss nach der Experimentierphase eine Harmonisierungsphase eintreten, in deren Verlauf die vielversprechendsten politischen Massnahmen wenigstens teilweise von allen Kantonen übernommen werden.

Die föderalistische Vollzugspolitik der Kantone führt zu Koordinationsproblemen bei der Ausreiseorganisation und zu einem Kontrollverlust. Der Bund sollte deswegen vermehrt ausgleichend wirken, z.B. über die schweizweite Vollzugsunterstützung des BFM.

Empfehlung 1 Die GPK-N fordert den Bundesrat auf, zusammen mit den Kantonen die Institutionalisierung einer regelmässigen Koordination und Kooperation (Ideen-/ Erfahrungsaustausch z.B. im Rahmen einer Asyl- und Migrationskonferenz) zwischen Bund und Kantonen im Bereich des Vollzugs der Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern zu prüfen, mit dem Ziel eines einheitlicheren und effizienteren Vollzugs.

2.1.2.2

Vergleichbare Datenerhebung in den Kantonen

Der Ideen- und Erfahrungsaustausch zwischen den Kantonen reicht allerdings nicht aus. Schliesslich muss auch die Wirksamkeit der Massnahmen in Betracht gezogen werden. Das Ziel der Zwangsmassnahmen liegt in der Verbesserung des Wegweisungsvollzuges von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern, in der Bekämpfung der Delinquenz dieser Personen und in der Vorbeugung von Missbräuchen des Asylrechts. Um qualitative Schlüsse bezüglich der Wirksamkeit der angewandten Vollzugsinstrumente ziehen zu können, sind Behörden und Politiker auf umfassendes und vergleichbares Datenmaterial aus den Kantonen angewiesen. Das von Bund und Kantonen gemeinsam getragene Verfahrens- und Vollzugscontrolling (VVC) im Asylbereich bildet einen wertvollen Anfang zu einer vergleichbaren Datenerhebung, doch sollte dieses mit Angaben über die Vollzugspraxis der einzelnen Kantone ergänzt und ausgebaut werden. Damit die Qualität der Daten gewährleistet ist, soll die zuständige Bundesbehörde als Koordinationsstelle wirken und den Kantonen vorgeben, welche Daten erhoben werden müssen. Die Koordinationsstelle sollte sodann die kantonalen Datensätze zusammenstellen und Evaluationen durchführen bzw. externe Stellen mit der Datenanalyse beauftragen.

2591

Empfehlung 2 Der Bundesrat erstellt Richtlinen, die gewährleisten, dass die Kantone einheitliche und vergleichbare Daten im Bereich des Wegweisungs- und Rückführungsvollzugs erheben, so z.B. in Bezug auf Haftgründe, Haftdauer, die Anzahl der Haftanordnungen und die betroffenen Personenkreise.

2.1.2.3

Vereinheitlichung der Ausschreibungspraxis

Im Zusammenhang mit den Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht ist die Bedeutung des Fahndungsregisters RIPOL nicht zu unterschätzen, hat das System doch u.a. den Zweck, Fernhaltemassnahmen, Ausweisungen und Landesverweisungen gegenüber Ausländerinnen und Ausländern zu kontrollieren. Bisher existieren kaum fundierte Untersuchungen zur Effizienz des RIPOL und zu dessen Anwendung durch die Kantone (Aufenthaltsermittlung, Verhaftung, Ausschaffung). Auch über den Gebrauch anderer automatischer Register (z.B. Zentrales Ausländerregister ZAR) und über deren Bedeutung für den Vollzug der Zwangsmassnahmen ist nur wenig bekannt.

Empfehlung 3 Der Bundesrat wird eingeladen, eine umfassende Untersuchung über die Ausschreibungspraxis der Kantone in automatisierten Fahndungsregistern (RIPOL, ZAR) im Zusammenhang mit der Aufenthaltsermittlung, der Verhaftung und Ausschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern durchzuführen. Zudem soll die Wirksamkeit dieser Systeme im genannten Zusammenhang unter Berücksichtigung des Datenschutzes überprüft werden.

Beim RIPOL handelt es sich um ein nationales Fahndungsregister. Ergebnisse aus der PVK-Studie sowie Befragungen der zuständigen Stellen deuten aber darauf hin, dass das automatisierte Fahndungssystem je nach Kanton auf sehr unterschiedliche Art und Weise genutzt wird. In einem gewissen Sinn ist dies verständlich, da nicht alle Kantone mit den gleichen Rahmenbedingungen (verfügbare Ressourcen, Herkunftsländer der Asylsuchenden bzw. der illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländer; Kantone mit urbanen Zentren oder solche ohne usw.) konfrontiert sind.

Trotzdem ist die GPK-N der Ansicht, dass eine einheitlichere Ausschreibungspraxis im RIPOL notwendig ist, um das Funktionieren des Systems zu gewährleisten.

Schliesslich macht ein nationales Fahndungssystem nur Sinn, wenn auch die Datenerfassung und der Datenaustausch nach nationalen Richtlinien erfolgen. Zudem sollte einer Ungleichbehandlung der Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländer entgegengewirkt werden. Das fedpol sollte deshalb (in Zusammenarbeit mit den Kantonen) allgemein gültige Kriterien aufstellen, aus denen klar hervorgeht, unter welchen Bedingungen eine Person auszuschreiben ist.

Weiter soll die Einführung zwingender Vorschriften geprüft werden, mit dem Ziel die kantonalen Behörden zu verpflichten, Personen, die die entsprechenden Kriterien erfüllen, im RIPOL auszuschreiben.

2592

Empfehlung 4 Der Bundesrat prüft Massnahmen, die eine Vereinheitlichung der Ausschreibungspraxis der Kantone im Fahndungsregister RIPOL zum Ziel haben.

2.1.2.4

Rechtsvereinheitlichung in der Rechtsanwendung

Im Bereich der Haftbestätigung und Haftverlängerung hat bisher keine hinreichende Rechtsvereinheitlichung bei der Rechtsanwendung durch die Justizbehörden stattgefunden. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit stossend. Zwar wurde das Bundesgericht in zahlreichen Fällen von Haftbetroffenen angerufen, die sich gegen eine Haftbestätigung oder Haftverlängerung zur Wehr setzten, was dazu führte, dass das Bundesgericht die Schranken des Gesetzes hinsichtlich einer zu strengen Handhabung der Haft klären konnte. Hingegen wurden umgekehrt von Behördenseite nur wenige kantonale Entscheide, die die Haft zugunsten der Betroffenen aufhoben, an das Bundesgericht weiter gezogen. Das EJPD hat bisher nur zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Entscheide von kantonalen Verwaltungsgerichten im Bereich der Zwangsmassnahmen mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor Bundesgericht anzufechten. Das Departement erhält auch nicht systematisch Kenntnis von solchen kantonalen Entscheiden, obwohl das Bundesrechtspflegegesetz vorschreibt, dass die Verwaltungsgerichte solche Entscheide «sofort und unentgeltlich den beschwerdeberechtigten Bundesbehörden mitzuteilen» haben (Art. 103 Bst. b OG10).

Die GPK-N ist deshalb der Meinung, dass die zuständigen Bundesstellen die Möglichkeiten von Behördenbeschwerden an das Bundesgericht (Art. 103 Bst. b OG), die das Bundesrechtspflegegesetz zur Sicherstellung der Rechtsvereinheitlichung bereitstellt, vermehrt wahrnehmen sollten. Damit sie Behördenbeschwerden in diesem Bereich gezielter erheben können, sollte der Bundesrat bei den Kantonen der gesetzlichen Pflicht der kantonalen Verwaltungsgerichte, entsprechende Entscheide zu melden, Nachachtung verschaffen.

Empfehlung 5 Der Bundesrat prüft Massnahmen, um seine Möglichkeiten zur Rechtsvereinheitlichung im Bereich der Zwangsmassnahmen mittels Behördenbeschwerde an das Bundesgericht besser wahrzunehmen.

10

Bundesrechtspflegegesetz vom 16. Dezember 1943, SR 173.110.

2593

2.2

Wirkung der Zwangsmassnahmen

2.2.1

Feststellungen

Die Untersuchung der PVK hat aufgezeigt, dass die Rückführungsquote von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal anwesenden Ausländerinnen und Ausländern nach Ausschaffungshaft (Hafterfolg) in den fünf untersuchten Kantonen insgesamt 84 Prozent betrug. Im ANAG-Bereich lag die Quote deutlich höher (94 Prozent) als im Bereich Asyl (62 Prozent). Die Gründe dafür sind darin zu suchen, dass die illegal Anwesenden meistens Reisedokumente besitzen, aus Ländern kommen, mit denen die Schweiz bei der Rückübernahme von Staatsangehörigen keine Schwierigkeiten hat, und diese Personen mehrheitlich kein Interesse an einem Gefängnisaufenthalt haben, da sie möglichst bald wieder den angestrebten Verdienstmöglichkeiten nachgehen möchten. Dagegen ist die Rückführung von weggewiesenen Asylsuchenden nach Ausschaffungshaft schwieriger, weil sie häufiger keine Dokumente haben, ihre Identitätsabklärung und Papierbeschaffung mit Schwierigkeiten verbunden sind oder sie aus Ländern kommen, mit denen sich die Rückübernahme problematisch gestaltet.

Eine Analyse des Zusammenhangs zwischen der Haftdauer und dem Haftergebnis zeigt für beide Rechtsbereiche auf, dass die höchsten Rückführungsraten bei den relativ kurzen Haftfällen erreicht werden. Mit zunehmender Haftdauer sinken die Quoten deutlich. Die Untersuchung zeigt, dass sich in den meisten Fällen in den ersten drei Monaten entscheidet, ob ein Inhaftierter sich zur Mithilfe bei der Identitätsfindung, der Papierbeschaffung und zur Ausreise entschliesst. Für eine kleine Anzahl von Ausländern, die allerdings in den letzten Jahren im Steigen begriffen ist, welche sich auch durch eine neunmonatige Ausschaffungshaft nicht zur Mithilfe bei der Identitätsabklärung und Papierbeschaffung sowie zur Ausreise bewegen lässt, verlangen einzelne Kantone eine Verlängerung der Maximaldauer der Ausschaffungshaft von heute neun Monaten. Sie versprechen sich von einer Verlängerung einen psychologischen Abschreckungseffekt und eine erhöhte Kooperationsbereitschaft der Inhaftierten von Beginn weg.

Ein Vergleich zwischen dem Kanton ZH mit häufiger Anwendung der Ausschaffungshaft und dem Kanton GE, der fast keine Weggewiesenen in Ausschaffungshaft nimmt, zeigt, dass die Anteile der kontrolliert zurückgeführten Personen im Asylbereich vergleichbar ist (GE: 11 Prozent, ZH: 13 Prozent). Der Kanton GE
nahm von diesen Rückgeführten nur 7 Prozent vorher in Ausschaffungshaft, der Kanton ZH jedoch 95 Prozent. Diese Zahlen gelten nur für den Asylbereich und den Untersuchungszeitraum von 2001 bis 2003. Das Ergebnis zeigt, dass auch mit Rückkehrberatung und polizeilicher Begleitung zum Flughafen am Ausreisetag Wirkungen erzielt werden können. Es ist jedoch festzuhalten, dass aus den Daten nicht hervorgeht, wie der hohe Bestand an Vollzugspendenzen im Kanton GE am Schluss der Untersuchungsperiode (57 Prozent mehr Pendenzen als aufgrund des kantonalen Verteilschlüssels vorhanden sein sollten) zu interpretieren ist. Der Kanton GE hatte bereits vor dem untersuchten Zeitraum per Ende 2000 einen Überhang an Pendenzen von 53 Prozent. Die Genfer Behörden machen geltend, dem Kanton seien bis vor einigen Jahren übermässig viele afrikanische Asylsuchende zugeteilt worden, die häufig sehr schwer rückzuführen sind. Gemäss einer Statistik des Verfahrens- und Vollzugscontrollings (VVC), die das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) zusammen mit den Kantonen ebenfalls per Ende 2003 erhoben hat, ist der Überhang an Pen-

2594

denzen im Kanton GE gegenüber dem Schnitt der Kantone noch markanter.11 Nach dieser Statistik kommen mehr als die Hälfte der Pendenzen in GE aus Ländern, in die Rückführungen unproblematisch sind.

Ein wesentliches Ergebnis der PVK-Studie ist, dass die Wirksamkeit der Ausschaffungshaft kontextabhängig ist. Eine Reihe von äusseren Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Massnahme greift, so etwa das Bestehen von funktionierenden Rückübernahmeabkommen, die Bereitschaft der Staaten, auch zwangsweise ausgeschaffte Staatsangehörige einreisen zu lassen, die Möglichkeit zur Identitätsabklärung und Papierbeschaffung sowie Anreizsysteme, welche Personen zur Rückkehr in ihren Heimatstaat bewegen.

2.2.2

Bewertung und Schlussfolgerungen

Die Untersuchung der PVK hat aufgezeigt, dass im Wegweisungsvollzug von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal Anwesenden äusserst komplexe Wirkungszusammenhänge bestehen, die weiterer Abklärungen bedürfen, um die bestehenden Vollzugsinstrumente den verschiedenen Ausländergruppen und deren unterschiedlichen Situationen angepasst und möglichst wirkungsvoll und bedarfsgerecht einzusetzen. Die Zwangsmassnahmen sind dabei nur ein Element im Wegweisungsvollzug, das sich, gezielt eingesetzt, als wirksam erwiesen hat.

Die Frage, ob eine Verlängerung der Ausschaffungshaft für jene Weggewiesenen, die sich hartnäckig einer Ausschaffung widersetzen, eine grössere Bereitschaft zur Rückkehr bewirkt, kann aufgrund der vorliegenden Untersuchung nicht schlüssig beantwortet werden. Insbesondere hat die Studie nicht überprüft, welche Wirkungen die konkreten Haftumstände wie Dauer der angedrohten Haft, strengere oder mildere Praxis bei der Haftüberprüfung und -verlängerung usw. auf die Motivation der Betroffenen zur Kooperation und Ausreise haben. Das Untersuchungsergebnis, wonach mit zunehmender Haftdauer der Hafterfolg abnimmt, wurde von der Mehrheit der Angehörten damit erklärt, dass mit zunehmender Haftdauer nur noch jene Personen in der Haft verbleiben, die sich der Ausreise am heftigsten widersetzen.

Die Vertreter dieser Auffassung erwarten von einer Verlängerung der Maximaldauer nicht, dass die Kurve mit der Zeit wieder nach oben zeigt, sondern dass sie bereits zu Beginn der Haft höher liegt, also mehr Weggewiesene sich von Beginn weg zur Ausreise entschliessen.

Die Frage muss letztlich vom Gesetzgeber im Rahmen der laufenden Asylgesetzrevision politisch entschieden werden. Bei dieser Diskussion sollte nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Ausschaffungshaft dem Zweck der Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs dient und keine Beugehaft darstellt. Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung festgehalten: «Sinn und Zweck der Haft nach Artikel 13b ANAG ist es, die zwangsweise Ausschaffung sicherzustellen, und nicht in erster Linie den Ausländer durch eine Beugehaft dazu anzuhalten, freiwillig auszureisen, auch wenn hierin ein erwünschter Nebeneffekt der Festhaltung liegen mag» (BGE 11

Die Abweichungen der Liste der Vollzugspendenzen gemäss Verfahrens- und Vollzugscontrolling (VVC) des BFF von den Daten der PVK-Studie rührt daher, dass die Pendenzen nach anderen Kriterien gezählt wurden. Gemäss VVC werden nur jene Personen in die Statistik der Vollzugspendenzen aufgenommen, bei denen keine Papierbeschaffung (mehr) läuft und bei denen die Kantone die Wegweisung vollziehen könnten.

2595

130 II 56, S. 63). Sowohl die Studie der PVK als auch die Anhörungen der Subkommission EJPD/BK der GPK-N haben gezeigt, dass von den Anwendungsbehörden eine Verlängerung der Ausschaffungshaft einzig zum Zweck verlangt wird, den Ausländer zur Kooperation anzuhalten, nicht weil die heutige Maximaldauer von neun Monaten nicht zur Identitätsabklärung oder Papierbeschaffung, also zur Sicherstellung der Wegweisung ausreichen würde. Damit stellt sich die Frage, ob eine verlängerte Ausschaffungshaft nicht den Charakter einer Beugehaft annehmen würde, was nicht dem Zweck dieser Bestimmung entspricht, und ob diesfalls zur Erreichung des von einzelnen Kantonen angestrebten Ziels nicht eine im Gesetz klar als solche deklarierte Beugehaft bzw. Durchsetzungshaft erforderlich wäre, wie sie der Ständerat vorgeschlagen hat. Die GPK-N erachtet es nicht als ihre Aufgabe, zur politischen Frage Stellung zu nehmen, ob eine Zwangsmassnahme zum Zweck der Erzwingung der Kooperation zur Ausreise erforderlich ist. Sie betrachtet es jedoch als wichtig, dass der im Gesetz festgeschriebene Haftzweck ­ auch im Sinne der von der EMRK12 vorgegebenen völkerrechtlichen Schranken ­ mit der Vollzugspraxis übereinstimmt.

Empfehlung 6 Die GPK-N empfiehlt den SPK-N/S, die verschiedenen Haftformen (Ausschaffungshaft, Durchsetzungshaft) im Lichte ihres Haftzwecks und auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK hin nochmals zu überprüfen. Sollten die SPK-N/S eine Haft zur Erzwingung der Kooperation zur Ausreise einführen wollen, wäre nach Meinung der GPK-N die dafür geeignete Haftform im Gesetz vorzusehen.

Aufgrund der vorliegenden Studie sowie der Anhörungen durch die Subkommission konnten die Gründe für die hohen Pendenzen im Kanton GE und deren Zusammenhang mit den angewendeten Rückführungsmassnahmen nicht schlüssig geklärt werden. Die GPK-N ist jedoch der Meinung, dass die zum Teil hohe Anzahl an Vollzugspendenzen in einzelnen Kantonen ein Problem darstellt und zusammen mit den Kantonen angegangen werden sollte. Vor dem Hintergrund der Rechtsgleichheit ist es stossend, wenn lange Vollzugsdauern in vielen Fällen zuletzt zu einem endgültigen Verbleib in der Schweiz führen, während in anderen Kantonen Personen mit gleichen Voraussetzungen das Land verlassen müssen.

Empfehlung 7 Der Bundesrat geht dem Problem der Vollzugspendenzen und deren
Ursachen nach und prüft geeignete Massnahmen.

Um die Wirksamkeit der Ausschaffungshaft zu verbessern, müssen noch vermehrt Anstrengungen unternommen werden, mit weiteren Staaten Rückübernahmeabkommen zu schliessen bzw. bestehende Abkommen durchzusetzen. Zudem sollten weitere Rückkehrhilfemöglichkeiten und adäquate Anreize zur Rückkehr von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal Anwesenden geprüft werden.

12

Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101; in vorliegendem Zusammenhang von Bedeutung sind Art. 5 Ziff. 1 Bst. b (für die Durchsetzungshaft) und Art. 5 Ziff. 1 Bst. f (für die Ausschaffungshaft).

2596

Empfehlung 8 Der Bundesrat verstärkt seine Bemühungen, weitere Rückübernahmeabkommen zu schliessen bzw. bestehende Abkommen durchzusetzen, und prüft adäquate Anreize zur Rückkehr von abgewiesenen Asylsuchenden und illegal Anwesenden.

2.3

Kosten der Ausschaffungshaft

2.3.1

Feststellungen

Die Kosten der Ausschaffungshaft sind relativ schwierig zu bemessen. Sie hängen in erster Linie von der kantonalen Anwendungspraxis und den Kosten pro Hafttag ab.

Je nach Kanton betragen die Ausgaben für einen Haftfall zwischen 160 und 300 Franken pro Tag. In den drei untersuchten Jahren sind dadurch in den Kantonen reine Haftkosten zwischen 150 000 Franken und 20 Millionen Franken angefallen (Asyl- und ANAG-Bereich). Bei einer Haftdauer bis zu drei Monaten ergeben sich für rückgeführte Personen in ­ mit einer Ausnahme ­ allen Kantonen höhere Kosten als für die aus der Haft Entlassenen. Bei Inhaftierungen, die bis zu sechs Monaten oder länger dauern, dominieren die Kosten für Nichtrückgeführte. Bei längeren Inhaftierungen stehen zudem hohe Kosten einem relativ tiefen Rückführungserfolg entgegen. Die PVK-Studie hat gezeigt, dass in vier von fünf Kantonen der Haftkostenanteil jener Personen, die im Anschluss nicht rückgeführt werden konnten, überwiegt. Die Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da sie nicht in allen Kantonen auf einer Vollkostenrechnung basieren. Zusätzliche Kosten entstehen in den zuständigen kantonalen Ämtern, die Personal zur Verfügung stellen müssen, um die Zwangsmassnahmen anzuwenden, bei der Polizei und den Gerichten. Auch beim Bund fallen Kosten im Bereich der Ausschaffungshaft an; er entschädigt die Kantone für jeden Hafttag eines Asylsuchenden ­ die Haftkosten im ANAG-Bereich tragen die Kantone selber ­ und kommt zusätzlich für die Gesundheitskosten von inhaftierten Asylsuchenden auf.

Obwohl die Kantone die Ausschaffungshaft als relativ aufwändig und teuer einschätzen, gelangen sie mehrheitlich zur Ansicht, dass der Nutzen die anfallenden Kosten rechtfertigt. Das BFM gibt zu Bedenken, dass ohne die Zwangsmassnahmen noch mehr Personen in der Schweiz verbleiben würden, die nicht ausgeschafft werden können und die ebenfalls hohe Kosten verursachen würden. Es weist darauf hin, dass bei den untersuchten Kosten der Ausschaffungshaft nicht berücksichtigt wird, dass die Pendenzen im Rückweisungsvollzug zu hohen Folgekosten bei der Sozialhilfe führen. Ebenfalls in eine Kostenrechnung mit einzubeziehen seien die Polizeiarbeit, die Ermittlungs- und Betreuungsarbeit sowie die Rückkehrberatung.

Auf nichtbehördlicher Seite bezeichnet man die Massnahme als teuer und kommt zum Schluss, dass dieselben Investitionen in der Rückkehrberatung einen grösseren Effekt erzielen würden.

2597

2.3.2

Bewertung und Schlussfolgerungen

Die Durchsetzung rechtsstaatlicher Massnahmen ist stets mit finanziellem Aufwand verbunden. Die Kosten-Nutzen-Frage steht hier folglich nicht im Mittelpunkt der politischen Diskussion. Trotzdem darf der Kostenfaktor nicht vollständig ausgeblendet werden. Die Kantone müssen darauf bedacht sein, ihre Ausgaben möglichst effizient einzusetzen. Sollten ­ im Vergleich zu den bisher angewendeten ­ ähnlich wirksame, aber kostengünstigere Vollzugsinstrumente existieren, müssten die Kantone ihre Massnahmen im Rückweisungsvollzug dementsprechend anpassen. In der PVK-Studie werden nur die Kosten der Ausschaffungshaft betrachtet und selbst diese sind nicht vorbehaltlos vergleichbar, da sie teilweise je nach Kanton unterschiedlich erhoben worden sind. Zudem ergeben sich auch für Kantone, die von der Ausschaffungshaft kaum Gebrauch machen, Folgekosten. Mehr Transparenz im Bereich der Kosten des gesamten Rückweisungsvollzugs ist deshalb erwünscht und anzustreben. Die GPK-N ist sich bewusst, dass nicht sämtliche im Vollzugsprozess anfallende Kosten quantitativ messbar sind und erhoben werden können (z.B. entstehende Kosten durch das Verbleiben im Sozialsystem von Personen, deren Rückführung pendent ist). Trotzdem sollten die Kantone mit einem vertretbaren Aufwand ­ in Zusammenarbeit und unter der Koordination des Bundes ­ eine einheitliche und möglichst alle Ausgaben umfassende Kostenrechnung erstellen, die für vergleichende Evaluationen zur Verfügung gestellt werden kann.

Empfehlung 9 Der Bundesrat wirkt darauf hin, dass die Kantone ihre Kosten im Bereich des Wegweisungs- und Rückführungsvollzugs kontinuierlich überprüfen und eine umfassende und vergleichbare Vollkostenrechnung aufstellen, inkl. Kosten für Rückkehrberatung und -unterstützung.

2.4

Delinquenz unter Asylsuchenden

2.4.1

Feststellungen

Die Studie zur Delinquenz (Prof. M. Killias) hat gezeigt, dass rund ein Drittel der Asylsuchenden in den Kantonen ZH und GE im Untersuchungszeitraum zwischen 2001 und 2002 in den Polizeiregistern verzeichnet13 waren, wobei die Registrierungen wegen Verstosses gegen das Ausländerrecht und wegen Schwarzfahrens ausgenommen sind. Ca. 12 Prozent davon wurden wegen Drogendelikten (v.a. Drogenhandel) erfasst. Bei 85 Prozent der erfassten Asylsuchenden erfolgt diese Registrierung während der ersten 12 Monate. Im Vergleich dazu werden in der Wohnbevölkerung der Schweiz ca. 12 Prozent der Männer zwischen 20 und 30 Jahren polizeilich bekannt, davon 1 Prozent wegen Drogendelikten.

13

Die in der Studie erfassten Personen waren in den Polizeiregistern mit «angeschuldigt» oder «verzeigt» registriert. In diesen Fällen besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich ein Delikt verübt worden ist.

2598

Die Studie hat zudem aufgezeigt, dass die Zwangsmassnahmen generell eine günstige Wirkung auf die Delinquenz von Asylsuchenden haben. Insbesondere bei den Drogendelikten resultierte ein signifikanter Rückgang sowohl der als angeschuldigt registrierten Personen wie auch der Häufigkeit der Delikte. Bei den Vermögensdelikten hingegen war die Wirkung nicht signifikant. Ein- und Ausgrenzungen erwiesen sich dabei im Vergleich zur Ausschaffungshaft als wirksamer hinsichtlich der Delinquenzminderung bei Asylsuchenden. Die Studie kam zu folgendem Schluss: «Da die wesentlich weniger Kosten verursacht und auch sonst deutlich weniger einschneidend ist, wäre allenfalls zu überlegen, inwiefern Massnahmen zur Einschränkung der räumlichen Mobilität (etwa im Anfangsstadium des Asylverfahrens) nicht eine Alternative zur Haft sein könnten.»

2.4.2

Bewertung und Schlussfolgerungen

Die im Vergleich zur Wohnbevölkerung hohe Delinquenz unter Asylsuchenden, insbesondere in den ersten 12 Monaten ihres Aufenthaltes in der Schweiz, lässt vermuten, dass es eine beträchtliche Anzahl mobiler Delinquierender gibt, die den Asylbewerberstatus dazu benutzen, während der Dauer des Asylverfahrens eine Aufenthaltsmöglichkeit zu erhalten, um delinquenten Tätigkeiten nachzugeben. Dies schadet einerseits dem Ruf der Asylsuchenden, die darunter leiden, dass sie oft zum vornherein als Drogendealer angesehen werden. Es stellt andererseits die Polizeibehörden vor namhafte Probleme, insbesondere in gewissen Stadtquartieren, wo solche Delikte gehäuft vorkommen.

Nach Meinung der GPK-N sollte nach Wegen gesucht werden, den Asylbewerberstatus für mobile Delinquente weniger attraktiv zu machen, ohne dass motivierte und schutzsuchende Asylsuchende benachteiligt werden. Ein beschränktes Rayonverbot (Ausgrenzungen aus städtischen Gebieten bzw. Ausgehverbote oder Eingrenzungen auf Asylzentren) sowie eine stärkere Inpflichtnahme von Asylsuchenden zur Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen oder zu anderen Verpflichtungen während der ersten 3 bis 6 Monate des Asylverfahrens sollten geprüft werden. Solche Massnahmen könnten für mobile Delinquente abschreckend wirken, ohne aber für schutzsuchende Asylsuchende, die die Schweiz in positiver Absicht aufsuchen, allzu einschränkend zu sein. Dabei müssen jedoch ein rasches Asylverfahren und die Vermeidung von Integrationsmassnahmen bis zum definitiven Asylentscheid vorrangige Ziele bleiben.

2599

Empfehlung 10 1.

Die SPK-N/S prüfen im Rahmen der laufenden Revision der Ausländer- und Asylgesetzgebung die Einführung von beschränkten Ein- bzw. Ausgrenzungen für Asylsuchende während der ersten 3 bis 6 Monate des Asylverfahrens.

2.

Sofern sich eine Regelung im Rahmen der laufenden Gesetzesrevision aus zeitlichen Gründen nicht realisieren lässt, prüft der Bundesrat die Einführung einer entsprechenden Regelung im Hinblick auf eine spätere Gesetzesrevision.

3.

Der Bundesrat prüft im Rahmen seiner Kompetenzen weitere Massnahmen zur Eindämmung der mobilen Delinquenz potentieller Asylgesuchssteller.

Empfehlung 11 Der Bundesrat prüft eine verstärkte Inpflichtnahme der Asylsuchenden zur Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen oder zu anderen Verpflichtungen während der ersten 3 bis 6 Monate des Asylverfahrens.

2.5

Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen

2.5.1

Feststellungen

Im Bereich des Rückführungsvollzugs arbeiten kantonale und Bundesbehörden zusammen. Das BFM beteiligt sich an den Haftkosten von Personen aus dem Asylbereich und leistet Vollzugsunterstützung. Es beschafft Identitätspapiere für Ausländerinnen und Ausländer in Ausschaffungshaft und besorgt die notwendigen Flugtickets.

Die kantonalen Behörden äusserten sich in den Anhörungen mehrheitlich positiv zur Kooperation mit dem BFM. Sie würden einen Ausbau des BFM jedoch begrüssen, da sie sich dadurch schnellere administrative Prozeduren erhoffen.

Auf Bundesebene bewertet man die Zusammenarbeit mit den Kantonen etwas kritischer. Vor allem der Informationsfluss von den Kantonen an das BFM sei zu spärlich. So werde das BFM z.B. nicht oder zu spät über Entlassungen von ausreisepflichtigen Personen aus der Ausschaffungshaft in Kenntnis gesetzt. Eine Kontrolle über inhaftierte und aus der Haft entlassene Personen ist unter diesen Umständen für die Bundesbehörden nur bedingt möglich. Dies kann dazu führen, dass für Ausreisepflichtige beschaffte Papiere nutzlos werden, da diese Personen ohne das Wissen des BFM bereits aus der Haft entlassen worden und untergetaucht sind. Dasselbe Problem ergibt sich auch für die durch die Abteilung Vollzugsunterstützung organisierten Flüge. Sonderflüge können nicht kurzfristig gebucht oder annulliert werden.

2600

2.5.2

Bewertung und Schlussfolgerungen

Eine effiziente Rückweisungspolitik erfordert u.a. eine unmissverständliche Kommunikations- und Informationspolitik zwischen den kantonalen und Bundesbehörden. Nur unter dieser Voraussetzung können Doppelspurigkeiten oder Leerläufe im Vollzugsprozess ­ und damit Effizienzeinbussen ­ verhindert werden. Es ist z.B.

unabdingbar, dass die Kantone Ausreisepflichtige in Ausschaffungshaft festhalten oder zumindest eine Entlassung frühzeitig dem BFM ankündigen, solange die Bundesbehörde noch mit der Papierbeschaffung der betreffenden Personen beschäftigt ist. Die Kommunikation zwischen den Kantonen und dem BFM muss deshalb optimiert werden. Das BFM sollte regelmässig und rechtzeitig von den Kantonen über sämtliche Inhaftierungen und Entlassungen aus der Ausschaffungshaft informiert werden. Dies verschafft dem BFM ein Mindestmass an Kontrolle und ermöglicht es ihm, die Vollzugsunterstützung zielgerecht zu koordinieren.

Empfehlung 12 Die GPK-N fordert den Bundesrat und die Kantone auf, dafür zu sorgen, dass rechtzeitige und umfassende Informationen über inhaftierte Personen ausgetauscht werden.

3

Weiteres Vorgehen

Die GPK-N bittet den Bundesrat, bis Ende Februar 2006 zu ihren in diesem Bericht vorgelegten Feststellungen und Empfehlungen Stellung zu nehmen und sie über getroffene Massnahmen zu informieren.

24. August 2005

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Der Präsident: Hugo Fasel Der Sekretär: Philippe Schwab Die Präsidentin der Subkommission EJPD/BK: Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz Die Sekretärin der Subkommission: Irene Moser

2601

Anhang 1

Angehörte und befragte Personen ­

Arn Urs, Direktionsbereich Einreise, Aufenthalt & Rückkehr, Bundesamt für Migration

­

Baumann Adrian, Chef Migrationsamt des Kantons Zürich

­

Caduff Pius, Leiter Abteilung Rückkehr, Bundesamt für Migration

­

Dieffenbacher Albrecht, Chef Recht, Bundesamt für Migration

­

Ducrest Bernard, Chef du Service de l'asile, Service cantonale de la population, Genève

­

Feldmann Christoph, Direktionsbereich Einreise, Aufenthalt & Rückkehr, Bundesamt für Migration

­

Guidon Daniel, Inspecteur chef de la brigade des enquêtes administratives de la Police judiciaire, Genève

­

Kempf Rolf, Abteilung Asyl und Massnahmen, Team ANAG, Migrationsamt des Kantons Zürich

­

Killias Martin, Prof. Institut de criminologie et de droit pénal (ICDP) der Universität Lausanne

­

Olschewski Dirk, juristischer Mitarbeiter Recht, Bundesamt für Migration

­

Zanga Bruno, Vorsteher Ausländeramt des Kantons St. Gallen

2602