Schweizerische Jugendstrafprozessordnung

Entwurf

(Jugendstrafprozessordnung, JStPO) vom ...

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 123 Absatz 1 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 21. Dezember 20052, beschliesst:

1. Kapitel: Gegenstand und Grundsätze Art. 1

Gegenstand

Dieses Gesetz regelt die Verfolgung und Beurteilung von Straftaten nach Bundesstrafrecht, die von Jugendlichen im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 des Jugendstrafgesetzes vom 20. Juni 20033 (JStG) verübt worden sind, sowie den Vollzug der gegen sie verhängten Sanktionen.

Art. 2

Zuständigkeit

Für die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten sowie den Vollzug der verhängten Sanktionen sind ausschliesslich die Kantone zuständig.

Art. 3

Anwendbarkeit der Schweizerischen Strafprozessordnung

Enthält dieses Gesetz keine besonderen Bestimmungen, so sind die Bestimmungen der Strafprozessordnung vom ...4 (StPO) anwendbar.

1

2

1 2 3 4

Nicht anwendbar sind die Bestimmungen der StPO über: a.

die Übertretungsstrafbehörde und das Übertretungsstrafverfahren (Art. 17 und Art. 361­364);

b.

die Bundesgerichtsbarkeit (Art. 23­29);

c.

den Gerichtsstand (Art. 29 und 30) und die besonderen Gerichtsstände im Falle mehrerer Beteiligter (Art. 31) und bei mehreren an verschiedenen Orten verübten Straftaten (Art. 32);

SR 101 BBl 2006 1085 SR ...; AS ... (BBl 2003 4445) SR ...; AS ... (BBl 2006 1389)

2005-2320

1561

Jugendstrafprozessordnung

d.

die öffentliche Bekanntmachung (Art. 86);

e.

das abgekürzte Verfahren (Art. 365­369);

f.

das Verfahren bei Anordnung der Friedensbürgschaft (Art. 379­381);

g.

das Verfahren bei einer schuldunfähigen beschuldigten Person (Art. 382­ 383).

Kommt die Strafprozessordnung zur Anwendung, so sind deren Bestimmungen im Lichte der Grundsätze von Artikel 4 dieses Gesetzes auszulegen.

3

Art. 4

Grundsätze

Für die Anwendung dieses Gesetzes sind der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen wegleitend. Alter und Entwicklungsstand sind zu ihren Gunsten zu berücksichtigen.

1

Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Persönlichkeitsrechte der Jugendlichen, hören sie persönlich an und ermöglichen ihnen, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen.

2

Sie sorgen dafür, dass das Strafverfahren nicht mehr als nötig in das Privatleben der Jugendlichen und in den Einflussbereich ihrer Eltern oder ihrer anderen gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter eingreift.

3

Sie beziehen, wenn es angezeigt scheint, die Inhaberin und den Inhaber der elterlichen Sorge, bei deren Fehlen die anderen gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter oder, wenn diese ein Interventionsrecht hat, die Behörde des Zivilrechts ein.

4

Art. 5 1

Verzicht auf Strafverfolgung

Die zuständige Strafbehörde sieht von einer Strafverfolgung ab, wenn: a.

die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung nach Artikel 21 Absatz 1 JStG5 gegeben sind und Schutzmassnahmen nicht notwendig sind oder die Behörde des Zivilrechts bereits geeignete Massnahmen angeordnet hat;

b.

ein Vergleich oder eine Mediation erfolgreich abgeschlossen werden konnte.

Sie kann von der Strafverfolgung absehen, wenn die Straftat bereits im ausländischen Staat, in dem die oder der Jugendliche den gewöhnlichen Aufenthalt hat, verfolgt wird oder sich dieser Staat bereit erklärt hat, die Straftat zu verfolgen.

2

3

5 6

Im Übrigen ist Artikel 8 StPO6 anwendbar.

SR ...; AS ... (BBl 2003 4445) SR ...; AS ... (BBl 2006 1389)

1562

Jugendstrafprozessordnung

2. Kapitel: Jugendstrafbehörden Art. 6 1

Strafverfolgungsbehörden

Strafverfolgungsbehörden sind: a.

die Polizei;

b.

die Jugendrichterin oder der Jugendrichter;

c.

die Jugendstaatsanwaltschaft.

Die Jugendstaatsanwaltschaft kann vor den Gerichten die Anklage vertreten. In diesem Fall verfasst sie die Anklageschrift.

2

Art. 7 1

Erstinstanzliche Gerichte

Gerichtliche Befugnisse erster Instanz haben: a.

die Jugendrichterin oder der Jugendrichter;

b.

das Jugendgericht.

Das Jugendgericht setzt sich zusammen aus dem Präsidenten oder der Präsidentin und zwei Beisitzerinnen oder Beisitzern.

2

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter kann Mitglied des Jugendgerichts sein oder vor diesem Gericht als Jugendstaatsanwältin oder Jugendstaatsanwalt auftreten; vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit und den Ausstand (Art. 10 dieses Gesetzes und Art. 58 StPO7).

3

Art. 8 1

Rechtsmittelbehörden

Rechtsmittelbehörden sind: a.

die Jugendrichterin oder der Jugendrichter;

b.

das Jugendgericht;

c.

die Beschwerdeinstanz in Jugendstrafsachen;

d.

die Berufungsinstanz in Jugendstrafsachen.

Die Kantone können die Befugnisse der Beschwerdeinstanz der Berufungsinstanz übertragen.

2

Art. 9

Organisation

Organisation und Arbeitsweise der Jugendstrafbehörden richten sich nach kantonalem Recht.

1

2

7

Die Kantone können interkantonal zuständige Jugendstrafbehörden vorsehen.

SR ...; AS ... (BBl 2006 1389)

1563

Jugendstrafprozessordnung

3. Kapitel: Allgemeine Verfahrensregeln Art. 10

Unvereinbarkeit

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter kann nicht Mitglied des Jugendgerichts sein, wenn:

1

a.

er oder sie bereits die Untersuchungshaft, die Einweisung zur Beobachtung oder die vorsorgliche Unterbringung verfügt hat;

b.

der Sachverhalt umstritten ist;

c.

gegen die Jugendrichterin oder den Jugendrichter eine Beschwerde wegen Verfahrenshandlungen während der Untersuchung oder des Vollzugs hängig ist.

Vorbehalten bleibt die ausdrückliche Zustimmung der oder des beschuldigten Jugendlichen.

2

Art. 11

Gerichtsstand

Die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten ist Sache der Behörde des Ortes, an dem die oder der beschuldigte Jugendliche im Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens den gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Behörden des Ortes, an dem die Straftat begangen worden ist, nehmen nur die dringend notwendigen Ermittlungshandlungen vor.

1

Hat die oder der beschuldigte Jugendliche keinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Schweiz, so ist zuständig:

2

a.

wenn die Tat in der Schweiz begangen worden ist: die Behörde des Ortes der Begehung;

b.

wenn die Tat im Ausland begangen worden ist: die Behörde des Heimatortes der oder des beschuldigten Jugendlichen oder, wenn sie oder er eine ausländische Staatsangehörigkeit hat, die Behörde des Ortes, an dem sie oder er zum ersten Mal wegen der betreffenden Straftat angetroffen worden ist.

Die schweizerische Behörde kann auf Ersuchen der ausländischen Behörde die Strafverfolgung übernehmen, wenn:

3

a.

die Voraussetzungen einer Strafverfolgung nach den Artikeln 4­7 des Strafgesetzbuchs8 (StGB) nicht erfüllt sind;

b.

die oder der beschuldigte Jugendliche den gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Schweiz hat oder Schweizerbürgerin oder -bürger ist; und

c.

die im Ausland verübte Tat auch nach schweizerischem Recht strafbar ist.

In einem Fall nach Absatz 3 wendet die schweizerische Behörde ausschliesslich schweizerisches Recht an.

4

8

SR 311.0; AS ... (BBl 2002 8240)

1564

Jugendstrafprozessordnung

Der Vollzug der Sanktionen ist Sache der Behörde des Ortes, an dem das Urteil gefällt worden ist. Abweichende Bestimmungen in Verträgen zwischen den Kantonen bleiben vorbehalten.

5

Art. 12 1

Trennung von Verfahren

Verfahren gegen Erwachsene und Jugendliche werden getrennt geführt.

Auf die Trennung kann ausnahmsweise verzichtet werden, wenn die Untersuchung durch die Trennung erheblich erschwert würde.

2

Art. 13

Mitwirkung der gesetzlichen Vertretung

Die gesetzliche Vertretung oder gegebenenfalls die Behörde des Zivilrechts hat im Verfahren mitzuwirken, wenn die Jugendstrafbehörde dies anordnet.

1

Bei Nichtbefolgung kann die Jugendrichterin oder der Jugendrichter oder das Jugendgericht die gesetzliche Vertretung verwarnen, bei der Vormundschaftsbehörde anzeigen oder ihr eine Ordnungsbusse bis zu 1000 Franken auferlegen. Die Ordnungsbusse kann mit Beschwerde bei der Beschwerdeinstanz angefochten werden.

2

Art. 14

Vertrauensperson

Die oder der beschuldigte Jugendliche kann in allen Verfahrensstadien eine Vertrauensperson beiziehen, sofern die Interessen der Untersuchung nicht entgegenstehen.

Art. 15

Ausschluss der Öffentlichkeit

Das Strafverfahren findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und das Jugendgericht können die Öffentlichkeit nach Abschluss des Verfahrens in geeigneter Weise über dessen Ausgang informieren.

1

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und das Jugendgericht können eine öffentliche Verhandlung anordnen, wenn:

2

a.

die oder der beschuldigte Jugendliche oder die gesetzliche Vertretung dies verlangt oder das öffentliche Interesse es gebietet; und

b.

dies den Interessen der oder des beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderläuft.

Art. 16

Umfang der Akteneinsicht

Die Einsicht in Informationen über die persönlichen Verhältnisse der oder des beschuldigten Jugendlichen kann in ihrem oder seinem Interesse eingeschränkt werden für:

1

a.

sie oder ihn selber;

b.

die gesetzliche Vertretung;

1565

Jugendstrafprozessordnung

c.

die Privatklägerschaft;

d.

die Behörde des Zivilrechts.

Die Verteidigung und die Jugendstaatsanwaltschaft können die gesamten Akten einsehen, dürfen aber von Inhalten, in welche die Einsicht eingeschränkt ist, keine Kenntnis geben.

2

Art. 17

Vergleich

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und das Jugendgericht können versuchen, zwischen der geschädigten Person und der oder dem beschuldigten Jugendlichen einen Vergleich zu erreichen, insbesondere bei Antragsdelikten und wenn eine Strafbefreiung wegen Wiedergutmachung nach Artikel 53 StGB9 in Frage kommt.

1

Kommt ein Vergleich zustande oder bleibt die antragstellende Person der Vergleichsverhandlung unentschuldigt fern, so wird das Verfahren eingestellt.

2

Art. 18

Mediation

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und das Jugendgericht können das Verfahren jederzeit sistieren und eine auf dem Gebiet der Mediation anerkannte Organisation oder Person mit der Durchführung eines Mediationsverfahrens beauftragen, wenn:

1

2

a.

Schutzmassnahmen nicht notwendig sind oder die Behörde des Zivilrechts bereits geeignete Massnahmen angeordnet hat;

b.

die Voraussetzungen von Artikel 21 Absatz 1 JStG10 nicht erfüllt sind.

Gelingt die Mediation, so wird das Verfahren eingestellt.

4. Kapitel: Parteien und Verteidigung 1. Abschnitt: Parteien Art. 19

Begriff

Parteien sind:

9 10

a.

die oder der beschuldigte Jugendliche und ihre oder seine gesetzliche Vertretung;

b.

die Privatklägerschaft;

c.

die Jugendstaatsanwaltschaft, wenn sie vor Gericht die Anklage vertritt oder gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung einlegt.

SR 311.0; AS ... (BBl 2002 8240) SR ...; AS ... (BBl 2003 4445)

1566

Jugendstrafprozessordnung

Art. 20

Beschuldigte Jugendliche oder beschuldigter Jugendlicher

Die oder der beschuldigte Jugendliche wird durch die gesetzliche Vertretung vertreten. Sie oder er verantwortet ihre Handlungen jedoch selbst und kann sich selbständig äussern.

1

Die Behörde kann das Recht der oder des beschuldigten Jugendlichen auf Teilnahme an bestimmten Verfahrenshandlungen mit Rücksicht auf Alter und ungestörte Entwicklung beschränken. Diese Beschränkungen gelten nicht für die Verteidigung.

2

Art. 21

Privatklägerschaft

Die Privatklägerschaft kann an der Untersuchung teilnehmen, wenn dies den Interessen der oder des beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderläuft.

1

Sie nimmt an der Hauptverhandlung nicht teil, ausser wenn besondere Umstände es erfordern.

2

Art. 22

Jugendstaatsanwaltschaft

1

Die Jugendstaatsanwaltschaft kann an der Hauptverhandlung teilnehmen.

2

Sie ist zur Teilnahme verpflichtet, wenn das Gericht sie dazu auffordert.

2. Abschnitt: Verteidigung Art. 23

Wahlverteidigung

Die oder der urteilsfähige beschuldigte Jugendliche ist berechtigt, sich auf jeder Verfahrensstufe selbst zu verteidigen.

1

2 Sie oder er sowie die gesetzliche Vertretung können auch eine Anwältin oder einen Anwalt mit der Verteidigung betrauen.

Art. 24

Notwendige Verteidigung

Die oder der Jugendliche muss verteidigt werden, wenn: a.

sie oder er eines Verbrechens oder eines schweren Vergehens beschuldigt wird;

b.

sie oder er die eigenen Interessen nicht ausreichend wahren kann und auch die gesetzliche Vertretung dazu nicht in der Lage ist;

c.

Untersuchungs- oder Sicherheitshaft von mehr als 24 Stunden angeordnet worden ist;

d.

sie oder er zur Beobachtung oder vorsorglich in einer Einrichtung untergebracht worden ist;

e.

die Jugendstaatsanwältin oder der Jugendstaatsanwalt an der Hauptverhandlung persönlich auftritt.

1567

Jugendstrafprozessordnung

Art. 25

Unentgeltliche amtliche Verteidigung

Sind die oder der beschuldigte Jugendliche und die gesetzliche Vertretung mittellos, so bezeichnet die zuständige Behörde eine unentgeltliche amtliche Verteidigerin oder einen unentgeltlichen amtlichen Verteidiger, wenn: a.

die Verteidigung notwendig ist; oder

b.

besondere Schwierigkeiten des Falles dies rechtfertigen.

5. Kapitel: Verfahren 1. Abschnitt: Untersuchung Art. 26

Polizei

Ermitteln Polizeiorgane gegen beschuldigte Jugendliche, so unterstehen sie der für die Jugendstrafrechtspflege zuständigen kantonalen Behörde.

Art. 27

Jugendrichterin oder Jugendrichter als Untersuchungsbehörde

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter leitet die Strafverfolgung und nimmt alle zur Wahrheitsfindung notwendigen Untersuchungshandlungen vor.

1

Während der Untersuchung nimmt sie oder er die Aufgaben wahr, die nach der StPO11 in diesem Verfahrensstadium der Staatsanwaltschaft zukommen.

2

3

Sie oder er ist zuständig zur Anordnung: a.

der gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen;

b.

der vorsorglichen Schutzmassnahmen nach den Artikeln 12­15 JStG12;

c.

der Beobachtung im Sinne von Artikel 9 JStG.

Art. 28

Zusammenarbeit

Bei der Abklärung der persönlichen Verhältnisse der oder des beschuldigten Jugendlichen arbeitet die Jugendrichterin oder der Jugendrichter mit allen Instanzen der Straf- und Zivilrechtspflege, mit den Verwaltungsbehörden, mit öffentlichen und privaten Einrichtungen und mit Personen aus dem medizinischen und sozialen Bereich zusammen; sie oder er holt bei ihnen die nötigen Auskünfte ein.

1

Diese Instanzen, Einrichtungen und Personen sind verpflichtet, die verlangten Auskünfte zu erteilen; das Amts- und das Berufsgeheimnis bleiben vorbehalten.

2

11 12

SR ...; AS ... (BBl 2006 1389) SR ...; AS ... (BBl 2003 4445)

1568

Jugendstrafprozessordnung

Art. 29

Vorsorgliche Anordnung von Schutzmassnahmen und Anordnung der Beobachtung

Die vorsorglichen Schutzmassnahmen und die Beobachtung werden schriftlich angeordnet und werden begründet.

1

Wird eine stationäre Beobachtung angeordnet, so wird deren Dauer auf eine allfällige Freiheitsstrafe angerechnet.

2

Art. 30

Untersuchungs- und Sicherheitshaft

Untersuchungs- und Sicherheitshaft werden nur in Ausnahmefällen und erst nach Prüfung sämtlicher Möglichkeiten von Ersatzmassnahmen angeordnet.

1

Die Untersuchungshaft wird von der Jugendrichterin oder dem Jugendrichter angeordnet, die Sicherheitshaft vom Jugendgericht, bei dem der Fall hängig ist.

2

Hat die Untersuchungshaft sieben Tage gedauert, so kann die Jugendrichterin oder der Jugendrichter ein Verlängerungsgesuch an das Jugendgericht stellen. Dieses entscheidet innert drei Tagen nach Eingang des Gesuchs. Untersuchungshaft kann mehrmals verlängert werden, doch jeweils um höchstens einen Monat.

3

Die oder der beschuldigte Jugendliche kann jederzeit bei der Behörde, welche die Haft verfügt hat, die Entlassung beantragen. Die Behörde entscheidet innert drei Tagen nach Eingang des Gesuchs.

4

5

Die oder der beschuldigte Jugendliche kann Entscheide nach Absatz 4 anfechten: a.

im Fall der Untersuchungshaft: beim Jugendgericht;

b.

im Fall der Sicherheitshaft: bei der Beschwerdeinstanz.

Das Jugendgericht und die Beschwerdeinstanz führen ein kontradiktorisches Verfahren durch und entscheiden so rasch als möglich.

6

Entscheide, mit denen die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft angeordnet, verlängert oder bestätigt wird, ergehen schriftlich und werden begründet.

7

Art. 31

Vollzug der Untersuchungs- und Sicherheitshaft

Untersuchungs- und Sicherheitshaft werden in einer für Jugendliche reservierten Einrichtung oder in einer besonderen Abteilung einer Haftanstalt vollzogen, wo die Jugendlichen von erwachsenen Inhaftierten getrennt sind. Eine angemessene Betreuung ist sicherzustellen.

1

Die Jugendlichen können auf ihr Gesuch hin einer Beschäftigung nachgehen, wenn das Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird und die Verhältnisse der Einrichtung es erlauben.

2

Art. 32

Strafbefehlsverfahren

In einem Strafbefehl können Massnahmen und Strafen angeordnet werden, die nicht dem Jugendgericht vorbehalten sind.

1

1569

Jugendstrafprozessordnung

Hat die oder der beschuldigte Jugendliche während der Untersuchung den Sachverhalt eingestanden oder ist dieser anderweitig genügend geklärt und weist der Fall keine besondere Schwere auf, so kann die Jugendrichterin oder der Jugendrichter die Untersuchung abschliessen und einen Strafbefehl erlassen; die Jugendrichterin oder der Jugendrichter kann die beschuldigte Jugendliche oder den beschuldigten Jugendlichen vor Erlass des Strafbefehls einvernehmen.

2

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter kann im Strafbefehl auch über nicht bestrittene Zivilforderungen entscheiden.

3

Gegen den Strafbefehl kann schriftlich Einsprache erhoben werden; das Verfahren richtet sich nach den Artikeln 33­36.

4

2. Abschnitt: Hauptverhandlung Art. 33

Zuständigkeit

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter beurteilt als erste Instanz im ordentlichen Verfahren alle Straftaten, die:

1

a.

nicht Gegenstand eines Strafbefehls sind;

b.

Gegenstand einer Einsprache gegen einen Strafbefehl sind;

c.

nicht nach Absatz 2 dem Jugendgericht vorbehalten sind.

Das Jugendgericht beurteilt als erste Instanz alle Straftaten, für die in Frage kommt:

2

a.

eine Unterbringung;

b.

eine Busse von mehr als 1000 Franken;

c.

ein Freiheitsentzug von mehr als drei Monaten.

Ist das Jugendgericht der Auffassung, eine Straftat falle in die Zuständigkeit der Jugendrichterin oder des Jugendrichters, so kann es diese Straftat selbst beurteilen oder den Fall der Jugendrichterin oder dem Jugendrichter überweisen.

3

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und, wenn ein Straffall bei ihm hängig ist, das Jugendgericht sind für die Anordnung der gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen zuständig.

4

Die Jugendrichterin oder der Jugendrichter und das Jugendgericht können über Zivilforderungen entscheiden, deren Beurteilung ohne besondere Untersuchung möglich ist.

5

Art. 34

Persönliches Erscheinen und Ausschluss

Die oder der beschuldigte Jugendliche und die gesetzliche Vertretung haben an der Hauptverhandlung vor der Jugendrichterin oder dem Jugendrichter, dem Jugendgericht und der Berufungsinstanz persönlich zu erscheinen, wenn sie nicht auf ihr Gesuch hin davon dispensiert worden sind.

1

1570

Jugendstrafprozessordnung

Das Gericht kann die oder den Jugendlichen, die gesetzliche Vertretung und die Vertrauensperson von der Hauptverhandlung ganz oder teilweise ausschliessen.

2

Art. 35

Abwesenheitsverfahren

Das Abwesenheitsverfahren ist nur möglich, wenn: a.

die oder der beschuldigte Jugendliche trotz zweimaliger Vorladung nicht zur Hauptverhandlung erscheint;

b.

sie oder er durch die Jugendrichterin oder den Jugendrichter einvernommen worden ist;

c.

die Beweislage ein Urteil in ihrer Abwesenheit zulässt; und

d.

einzig eine Strafe in Betracht kommt.

Art. 36

Urteilseröffnung und -begründung

Das Urteil ist nach Möglichkeit unmittelbar nach der Beratung mündlich zu eröffnen und zu begründen. Es wird anschliessend schriftlich begründet und zugestellt.

1

Von der schriftlichen Begründung und der Zustellung kann abgesehen werden, wenn:

2

a.

das Urteil auf Strafbefreiung oder auf Verweis lautet;

b.

die oder der Jugendliche in einer zu Protokoll gegebenen Erklärung auf die schriftliche Urteilseröffnung verzichtet hat; und

c.

die Parteirechte gewahrt worden sind.

6. Kapitel: Rechtsmittel Art. 37

Legimitation

Die oder der urteilsfähige Jugendliche und die gesetzliche Vertretung oder, wo diese fehlt, die Behörde des Zivilrechts können je selbständig Rechtsmittel ergreifen.

1

Die Jugendstaatsanwaltschaft kann Berufung einlegen, wenn sie vor dem erstinstanzlichen Gericht die Anklage vertreten hat.

2

Art. 38

Beschwerde

Über die Beschwerdegründe nach Artikel 401 StPO13 hinaus ist die Beschwerde zulässig gegen: 1

13

a.

die vorsorgliche Anordnung von Schutzmassnahmen;

b.

die Anordnung der Beobachtung;

c.

den Entscheid über die Einschränkung der Akteneinsicht.

SR ...; AS ... (BBl 2006 1389)

1571

Jugendstrafprozessordnung

2

Für den Entscheid zuständig ist: a.

bei Beschwerden gegen Zwangsmassnahmen der Polizei: die Jugendrichterin oder der Jugendrichter;

b.

bei Beschwerden gegen Verfahrenshandlungen der Jugendrichterin oder des Jugendrichters: das Jugendgericht;

c.

bei Beschwerden gegen Verfahrenshandlungen des Jugendgerichts: die Beschwerdeinstanz.

Art. 39 1

Berufung

Die Berufungsinstanz entscheidet über: a.

Berufungen gegen erstinstanzliche Urteile der Jugendrichterin oder des Jugendrichters und des Jugendgerichts;

b.

die Aussetzung einer vorsorglich angeordneten Schutzmassnahme.

Ist ein Fall bei der Berufungsinstanz hängig, so ist diese für die Anordnung der gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen zuständig.

2

Art. 40

Revision

Über Revisionsgesuche entscheidet das Jugendgericht.

7. Kapitel: Vollzug von Sanktionen Art. 41 1

Zuständigkeit

Für den Vollzug von Strafen und Massnahmen sind zuständig: a.

die Jugendrichterin oder der Jugendrichter;

b.

die Präsidentin oder der Präsident des Jugendgerichts, wenn dieses die Sanktion verhängt hat.

Für den Vollzug können öffentliche und private Einrichtungen sowie Privatpersonen beigezogen werden.

2

Art. 42 1

Rechtsmittel

Es können angefochten werden: a.

die Änderung der Massnahme;

b.

die Verweigerung oder der Widerruf der bedingten Entlassung;

c.

die Überweisung an eine andere Einrichtung;

d.

die Beendigung der Massnahme.

Rechtsmittelbehörde ist das Jugendgericht oder, wenn dieses selbst eine Sanktion ausgesprochen hat, die Beschwerdeinstanz.

2

1572

Jugendstrafprozessordnung

8. Kapitel: Kosten Art. 43

Verfahrenskosten

Die Verfahrenskosten werden von dem Kanton getragen, in dem die oder der beschuldigte Jugendliche im Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens Wohnsitz hatte.

1

Sie können ganz oder teilweise der oder dem verurteilten Jugendlichen oder ihren oder seinen Eltern auferlegt werden, wenn sie über die notwendigen Mittel verfügen.

2

Art. 44 1

Vollzugskosten

Als Vollzugskosten gelten: a.

die Kosten des Vollzugs von Schutzmassnahmen und Strafen;

b.

die Kosten einer im Laufe des Verfahrens angeordneten Beobachtung oder vorsorglichen Unterbringung.

Der Kanton, in dem die oder der Jugendliche bei Eröffnung des Verfahrens Wohnsitz hatte, trägt die Kosten des Vollzugs von Schutzmassnahmen und von Beobachtungen.

2

3

Der Kanton, in dem das Urteil gefällt wurde, trägt die Kosten: a.

des Vollzugs von Schutzmassnahmen und von Beobachtungen für Jugendliche, die in der Schweiz keinen Wohnsitz haben;

b.

des Strafvollzugs.

Vertragliche Regelungen der Kantone über die Kostenverteilung bleiben vorbehalten.

4

Die Eltern beteiligen sich im Rahmen ihrer zivilrechtlichen Unterhaltspflicht an den Kosten der Schutzmassnahmen.

5

Verfügt die oder der Jugendliche über ein regelmässiges Erwerbseinkommen oder über Vermögen, so kann sie oder er zu einem angemessenen Beitrag an die Vollzugskosten verpflichtet werden.

6

9. Kapitel: Schlussbestimmungen 1. Abschnitt: Änderung bisherigen Rechts Art. 45 1

Die Artikel 6­8, 21 Absatz 3 sowie 38­43 JStG14 werden aufgehoben.

Die Bundesversammlung kann diesem Gesetz widersprechende, aber formell nicht geänderte Bestimmungen in Bundesgesetzen durch eine Verordnung anpassen.

2

14

SR ...; AS ... (BBl 2003 4445)

1573

Jugendstrafprozessordnung

2. Abschnitt: Übergangsbestimmungen Art. 46

Anwendbares Recht

Verfahren und Vollzugsmassnahmen, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes hängig sind, werden nach neuem Recht fortgeführt, soweit die nachfolgenden Bestimmungen nichts anderes vorsehen.

1

Verfahrenshandlungen, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt worden sind, behalten ihre Gültigkeit.

2

Art. 47

Zuständigkeit

Verfahren und Vollzugsmassnahmen, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes hängig sind, werden von den nach neuem Recht zuständigen Behörden weitergeführt, soweit die nachfolgenden Bestimmungen nichts anderes vorsehen.

1

Konflikte über die Zuständigkeit zwischen Behörden des gleichen Kantons entscheidet die Beschwerdeinstanz in Jugendstrafsachen des jeweiligen Kantons, solche zwischen Behörden verschiedener Kantone das Bundesstrafgericht. Der Entscheid ist nicht selbständig anfechtbar.

2

Art. 48

Erstinstanzliches Hauptverfahren

Ist bei Inkrafttreten dieses Gesetzes ein Verfahren vor einem Jugendgericht hängig und liegt einer der in Artikel 10 Absatz 1 geregelten Fälle vor, so kann die Jugendrichterin oder der Jugendrichter an der Verhandlung nur teilnehmen, wenn die oder der Jugendliche der Teilnahme ausdrücklich zugestimmt hat.

1

Ist beim Inkrafttreten dieses Gesetzes die Hauptverhandlung vor einem Einzelgericht oder einem Kollegialgericht bereits eröffnet, so wird sie nach bisherigem Recht, vom bisher zuständigen erstinstanzlichen Gericht, fortgeführt.

2

Art. 49

Abwesenheitsverfahren

Abwesenheitsverfahren, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes aufgenommen worden sind, werden nach bisherigem Recht fortgesetzt.

1

Kennt das kantonale Recht kein Abwesenheitsverfahren, so ist neues Recht anwendbar.

2

Art. 50

Rechtsmittel

Ist ein Entscheid vor Inkrafttreten dieses Gesetzes gefällt worden, so können dagegen die Rechtsmittel nach bisherigem Recht ergriffen werden. Diese werden nach bisherigem Recht, von den nach bisherigem Recht zuständigen Behörden, beurteilt.

1

1574

Jugendstrafprozessordnung

2

In Kantonen, die keine Rechtsmittelmöglichkeiten vorsehen, gilt neues Recht.

3

Im Übrigen ist Artikel 459 Absatz 2 StPO15 anwendbar.

Art. 51

Vorbehalt der Verfahrensgrundsätze nach neuem Recht

In Fällen, in denen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes altes Recht zur Anwendung kommt, tragen die Behörden den Grundsätzen dieses Gesetzes Rechnung; sie achten insbesondere auf die Einhaltung der Verfahrensgrundsätze betreffend: a.

den Verzicht auf Strafverfolgung (Art. 5);

b.

die Unvereinbarkeit (Art. 10 Abs. 1);

c.

die Mitwirkung der gesetzlichen Vertretung (Art. 13);

d.

die Parteistellung (Art. 19);

e.

die Verteidigung der oder des Jugendlichen (Art. 23­25);

f.

die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft (Art. 30­31).

Art. 52

Vollzug

Der Vollzug von Schutzmassnahmen, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes ihrem Ende zugehen, kann durch die nach bisherigem Recht zuständige Behörde abgeschlossen werden. Die Behörde prüft jedoch in jedem Fall, ob eine Übertragung an die nach diesem Gesetz zuständige Behörde angebracht erscheint.

1

Wird bei Inkrafttreten dieses Gesetzes eine Beobachtung oder eine vorläufige Unterbringung durchgeführt, so richtet sich der Vollzug nach neuem Recht.

2

3. Abschnitt: Referendum und Inkrafttreten Art. 53 1

Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum.

2

Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.

15

SR ...; AS ... (BBl 2006 1389)

1575

Jugendstrafprozessordnung

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