Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates der Sicherheitspolitischen Kommission SR (05.3006) vom 21. Februar 2005 vom 9. Juni 2006

Sehr geehrte Herren Präsidenten Sehr geehrte Damen und Herren In Beantwortung des Postulats der Sicherheitspolitischen Kommission SR vom 21. Februar 2005 mit dem Titel «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen» unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht zur Information.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. Juni 2006

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2006-0523

5693

Übersicht Der vorliegende Bericht geht auf das von der sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates am 21. Februar 2005 eingereichte Postulat 05.3006 «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen» zurück. Darin wird der Bundesrat aufgefordert, gesetzgeberische Massnahmen für eine effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen zu prüfen. Der vorliegende Bericht behandelt die vom Postulat thematisierten neun Fragenbereiche und geht daneben auch auf die strafrechtlichen Grundlagen der Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen sowie auf die bundesrechtlichen Normen ein, welche das Zusammenwirken von Strafverfolgungsbehörden und Inlandnachrichtendienst regeln.

Zunächst legt der Bericht dar, wie kriminelle Organisationen mafiösen oder terroristischen Zuschnitts durch das Straf- und Strafprozessrecht erfasst werden. In diesem Zusammenhang geht er auf das auch in der Schweiz wahrgenommene, neue Phänomen kleinerer Gruppen oder Zellen ein, die sich mit ideologisch-politisch motivierten Gewaltakten in der ganzen Welt solidarisieren und im Kreis von gleich Gesinnten die Bereitschaft erklären, selbst schwerste Gewaltverbrechen zu begehen.

Da sie erst nach längerer Zeit zu hinreichend konkreten Vorbereitungshandlungen im Sinne von Artikel 260bis StGB ansetzen und sich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht im gleichen Ausmass organisieren und abschotten wie mafiöse Syndikate nach Artikel 260ter StGB, können sie in der Schweiz nur schwerlich strafrechtlich erfasst werden. Der Bundesrat erachtet es jedoch als verfrüht, bereits heute konkrete gesetzgeberische Massnahmen zur strafrechtlichen Verfolgung dieses Phänomens einzuleiten, zumal sich in diesem Bereich noch keine Rechtsprechung entwickelt hat und die Eidgenössischen Räte erst im Jahre 2002 von der Einführung eines allgemeinen Terrorismustatbestands abgesehen hatten. Zudem hält es der Bundesrat für angezeigt, die Ergebnisse der parlamentarischen Beratung zur hängigen Teilrevision des BWIS abzuwarten.

Weiter legt der Bericht die präventiven und repressiven Bundeskompetenzen zur Bekämpfung derartiger Gewalttaten dar. Bei deren Wahrnehmung müssen die Strafverfolgungsbehörden des Bundes eng mit dem Inlandnachrichtendienst zusammenwirken. Rechtlich ist diese Kooperation in einem umfassenden Normengefüge
verankert, das sich in rechtlicher Hinsicht als hinreichend erweist, im polizeilichen Vollzugsalltag jedoch gewisse Anwendungsschwierigkeiten bieten kann. Diese sollen durch die konstante Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung unter gleichzeitiger Vertiefung der Bereitschaft, die bestehenden Informationskanäle optimal zu nutzen, den Informationsaustausch zu fördern sowie Operationen gemeinsam zum Erfolg zu führen, kompensiert werden.

Über eine optimale Zusammenarbeit der beteiligten Behörden im Inland hinaus erfordert eine effiziente Bekämpfung von Gewalttaten mit terroristischem oder mafiösem Hintergrund eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausland, weisen doch die in der Schweiz festgestellten Tathandlungen regelmässig Auslandsbezüge auf. Die internationale Zusammenarbeit beruht auf der nachrichtendienstlichen und strafver-

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folgungsbehördlichen Amts- und Rechtshilfe. Diese stützt sich teils auf Landesrecht, teils auf bilaterale oder multilaterale Vereinbarungen. Der Bundesrat sieht bezüglich dieser Rechtsgrundlagen momentan keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.

Die Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, dass eine erfolgreiche Bekämpfung von terroristischer Gewaltkriminalität und OK mangels Sachbeweisen häufig nur mit Hilfe von Zeugenaussagen möglich ist. Die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft gefährdeter Zeuginnen und Zeugen kann jedoch oft nur durch Gewährung von entsprechendem Zeugenschutz erreicht werden. Prozessuale Schutzrechte, wie sie heute im schweizerischen Recht bereits teilweise vorgesehen und auch in der E-StPO geplant sind, stellen einen wichtigen Teil des Zeugenschutzes dar. Sie genügen jedoch dann nicht mehr, wenn der Täter die Person kennt bzw.

deren Identität in Erfahrung bringen kann. Aufgrund drohender Einschüchterungsbzw. Racheakte sind angemessene Schutzmassnahmen ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen sowie nach Abschluss des Verfahrens nötig. Solche werden heute jedoch mangels spezifisch auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteter Rechtsnormen nicht durchgeführt. Aufgrund dieser Ausgangslage beauftragt der Bundesrat das EJPD, Vorschläge zu erarbeiten, um im Bundesrecht die Voraussetzungen für die Durchführung ausserprozessualer Zeugenschutzmassnahmen zu schaffen.

Der Bericht untersucht weiter, ob die vom VBS (Abteilung EKF) durchgeführte Funkaufklärung im Ausland für die BA in jenen Bereichen nutzbar gemacht werden könnte, wo die internationale Rechtshilfe an Grenzen stösst. Eine direkte Auftragserteilung der BA an die Abteilung EKF im VBS setzte die Schaffung einer besonderen formellgesetzlichen Rechtsgrundlage voraus, wofür der Bundesrat gegenwärtig jedoch keinen Bedarf sieht, zumal Zufallsfunde aus der Funkaufklärung der BA bereits nach geltendem Recht weitergeleitet werden dürfen. Möglichkeiten für eine Effizienzsteigerung sieht er hingegen in einer Stärkung der Zusammenarbeit der nachrichtendienstlichen Behörden. Gleichzeitig ist er der Ansicht, dass die eingeleiteten technischen Abklärungen einer zukünftigen Nutzung der Funkaufklärungsmittel der elektronischen Kriegsführung im Inland weiterzuführen sind, weil die Leistungsfähigkeit der
Fernmeldeüberwachung im sich technologisch rasch wandelnden Kommunikationsbereich sichergestellt werden muss.

Da die Kommunikation zwischen Satellitentelefonen und anderen Formen der Telekommunikation (z.B. Internettelefonie) chiffriert oder teilweise chiffriert ist, wird die Überwachungs- und Aufklärungsarbeit erschwert. Der Bundesrat sieht in diesem Bereich keine gesetzlichen Massnahmen (Pflicht zur Hinterlegung der Chiffrierschlüssel oder der angewandten Chiffrierverfahren) vor, da diese weder taugliche noch effiziente Mittel für eine Erleichterung der Überwachungs- und Aufklärungsarbeit darstellen. Hingegen befürwortet er eine Nutzung des Dekryptierbetriebs auch zugunsten der Strafverfolgungsbehörden. Eine weitere Möglichkeit zur Effizienzsteigerung sieht der Bundesrat in einer vermehrten technischen Zusammenarbeit zwischen den betroffenen inländischen Behörden.

Was die Aufbewahrungsdauer von Telefongesprächsdaten betrifft, so geht der Bundesrat mit dem Postulat einig, dass die im geltenden Recht festgelegte Frist von sechs Monaten mit Blick auf regelmässig langwierige Ermittlungsverfahren zu kurz

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bemessen ist. Angesichts der in der Praxis festgestellten Beweisschwierigkeiten sowie der Rechtsentwicklung in Europa erachtet es der Bundesrat als sinnvoll, die Aufbewahrungspflicht von Kommunikationsdaten zu erhöhen. Die im Postulat vorgeschlagene Erhöhung um 6 Monate erscheint ihm als angemessen. Er wird jedoch über das weitere Vorgehen zu diesem Thema erst entscheiden, wenn der von ihm am 29. März 2006 in Auftrag gegebene Bericht zur Revision des BÜPF über die offenen rechtlichen Fragen der Fernmeldeüberwachung im Zusammenhang mit der Strafverfolgung vorliegt.

Im Bericht werden schliesslich vier weitere im Postulat erwähnte Fragestellungen geprüft: Dabei sieht der Bundesrat bezüglich Präventivintervention und Verlängerung der Aufbewahrungsdauer für DNA-Profile keinen Handlungsbedarf, während die Präventivüberwachung und die Haftverlängerung wegen Fortsetzungsgefahr bereits Gegenstand laufender Gesetzesrevisionen (BWIS bzw. E-StPO) sind.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Aufbau und Organisation der Arbeiten

5702

2 Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen 2.1 Ausgangslage 2.2 Ist-Zustand 2.2.1 Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen 2.2.2 Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen mafiösen Zuschnitts 2.2.3 Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen terroristischen Zuschnitts 2.2.4 Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Haupttaten 2.2.5 Strafbare Vorbereitungshandlungen 2.2.6 Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Zellen 2.2.7 Strafverfolgungskompetenz von Bund und Kantonen 2.3 Beurteilung 2.3.1 Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen 2.3.2 Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Zellen 2.3.3 Umfang der Strafverfolgungskompetenz des Bundes 2.4 Massnahmen

5702 5702 5702 5702

3 Zusammenarbeit von Strafverfolgungsorganen und Inlandnachrichtendienst 3.1 Ausgangslage 3.2 Ist-Zustand 3.2.1 Organisation der Polizeikräfte des EJPD 3.2.2 DAP als Inlandnachrichtendienst der Schweiz und seine Aufgaben 3.2.3 Strafverfolgungsbehörden des Bundes und ihre Aufgabe 3.2.4 Abgrenzung der Aufgaben von Inlandnachrichtendienst und Strafverfolgungsbehörden 3.2.5 Kooperation zwischen den Strafverfolgungsorganen des Bundes und dem DAP 3.3 Beurteilung 3.4 Massnahmen

5703 5703 5704 5704 5704 5705 5705 5705 5706 5707 5707 5707 5707 5708 5708 5708 5709 5709 5711 5714 5714

4 Internationale Zusammenarbeit 4.1 Ausgangslage 4.2 Ist-Zustand 4.2.1 Bereich Rechtshilfe 4.2.2 Bereich polizeiliche Zusammenarbeit 4.2.3 Bereich nachrichtendienstliche Zusammenarbeit 4.3 Beurteilung 4.4 Massnahmen

5714 5714 5715 5715 5717 5718 5719 5720

5 Ausserprozessualer Zeugenschutz

5720 5697

5.1 Ausgangslage 5.1.1 Zeugenschutzmassnahmen 5.1.2 Abgrenzung von der Kronzeugenregelung 5.2 Ist-Zustand 5.2.1 Ausserprozessualer Zeugenschutz in der Schweiz 5.2.2 Bedeutung des ausserprozessualen Zeugenschutzes für die Bekämpfung von OK und Terrorismus 5.3 Beurteilung 5.4 Massnahmen 5.4.1 Ausgestaltungsmöglichkeiten von ausserprozessualem Zeugenschutz 5.4.2 Vorschläge im Hinblick auf eine Umsetzung in der Schweiz

5720 5720 5722 5722 5722 5724 5726 5726 5726 5728

6 Nutzung von Funkaufklärungs- und Fernmeldeüberwachungsmitteln 6.1 Ausgangslage 6.2 Ist-Zustand 6.2.1 Informationsbeschaffung der Strafverfolgungsbehörden des Bundes im Ausland 6.2.2 Nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung im Ausland 6.2.3 Weiterleitung von Zufallsfunden 6.3 Beurteilung 6.4 Massnahmen 6.4.1 Verstärkung der Zusammenarbeit 6.4.2 Prüfung einer Nutzung der Funkaufklärungsmittel im Inland

5729 5729 5729

7 Dechiffrierung von Kommunikationsverbindungen 7.1 Ausgangslage 7.2 Ist-Zustand 7.2.1 Errichtung eines nationalen Schlüsselhinterlegungssystems und gleichzeitigem Verbot von Chiffrierung ohne Schlüsselhinterlegung 7.2.2 Verbot von Chiffriergeräten, deren Algorithmen nicht hinterlegt sind 7.2.3 Internationaler Rechtsvergleich 7.3 Beurteilung 7.4 Massnahmen 7.4.1 Nutzung des Dekryptierbetriebs auch zugunsten der Strafverfolgungsbehörden 7.4.2 Technische Zusammenarbeit zwischen den betroffenen inländischen Behörden

5733 5733 5733

8 Verlängerte Aufbewahrungsdauer von Fernmeldedaten 8.1 Ausgangslage 8.2 Ist-Zustand 8.2.1 Gesetzliche Grundlagen 8.2.2 Lage und Entwicklung in Europa 8.2.3 Die rückwirkende Überwachung in der Praxis 8.2.4 Thematik des Ungenügens der aktuellen Aufbewahrungsdauer 5698

5729 5730 5730 5731 5732 5732 5732

5734 5734 5734 5735 5736 5736 5736 5736 5736 5737 5737 5737 5738 5738

8.3 Beurteilung 8.4 Massnahmen 9 Weitere Anliegen des Postulats 9.1 Präventivintervention 9.2 Präventivüberwachung 9.3 Fortsetzungsgefahr 9.4 Verlängerte Aufbewahrungsdauer für DNA-Profile

5739 5740 5741 5741 5742 5742 5742

5699

Abkürzungsverzeichnis a.a.O.

am angeführten Ort

BA

Bundesanwaltschaft

BBl

Bundesblatt

BGE

Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts

BKP

Bundeskriminalpolizei

BSD

Bundessicherheitsdienst

BStP

Bundesgesetz vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege (SR 312.0)

BÜPF

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (SR 780.1)

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101)

BVE

Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über die verdeckte Ermittlung (SR 312.8)

BWIS

Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit vom 21. März 1997 (SR 120)

DAP

Dienst für Analyse und Prävention

DBA

Dienst für Besondere Aufgaben im Generalsekretariat UVEK

DNA-ProfilGesetz

Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über die Verwendung von DNAProfilen im Strafverfahren und zur Identifizierung von unbekannten oder vermissten Personen (SR 363)

DSG

Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (SR 235.1)

E-StPO

Entwurf zur Schweizerischen Strafprozessordnung

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EKF

Abteilung Elektronische Kriegsführung im VBS

EMRK

Europäische Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101)

EU

Europäische Union

Europol

Europäisches Polizeiamt

fedpol

Bundesamt für Polizei

FMG

Fernmeldegesetz vom 30. April 1997 (SR 784.1)

Interpol

Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation

IRSG

Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (SR 351.1)

i.V.m.

in Verbindung mit

MG

Bundesgesetz vom 3. Februar 1995 über die Armee und die Militärverwaltung (SR 510.10)

5700

MROS

Meldestelle für Geldwäscherei

MStG

Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (SR 321.0)

OK

organisierte Kriminalität

RVUS

Staatsvertrag vom 25. Mai 1973 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen (SR 0.351.933.6)

SiK

Sicherheitspolitische Kommission

SR

Systematische Rechtssammlung des Bundesrechts der Schweiz (inkl. Staatsvertragsrecht)

StGB

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0)

StPO

Schweizerische Strafprozessordnung (BBl 2006 1389)

UNO

Organisation der Vereinten Nationen

UVEK

Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation

VBS

Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

VEKF

Verordnung vom 15. Oktober 2003 über die elektronische Kriegsführung (SR 510.292)

VÜPF

Verordnung vom 31. Oktober 2001 über die Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs (SR 780.11)

VWIS

Verordnung vom 27. Juni 2001 über die Wahrung der inneren Sicherheit (SR 120.2)

ZentG

Bundesgesetz vom 7. Oktober 1994 über kriminalpolizeiliche Zentralstellen des Bundes (SR 360)

ZentV

Verordnung vom 30. November 2001 über die Wahrnehmung kriminalpolizeilicher Aufgaben im Bundesamt für Polizei (SR 360.1)

5701

Bericht 1

Aufbau und Organisation der Arbeiten

Der vorliegende Bericht geht auf das Postulat 05.3006 der sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates vom 21. Februar 2005 «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen» zurück, welches der Ständerat am 15. Juni 2005 an den Bundesrat überwiesen hat.

Der Bundesrat wird darin ersucht, innert Jahresfrist zu prüfen, wie die Gesetzgebung in verschiedenen Bereichen angepasst werden kann, um eine effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität zu ermöglichen. Der Bericht soll insbesondere die folgenden neun Themenbereiche einer Analyse unterziehen: Nutzung der Mittel der elektronischen Kriegsführung zur Kommunikationsüberwachung, internationale Zusammenarbeit, Dechiffrierung von Satellitentelefonen, verlängerte Aufbewahrungsdauer von Telefongesprächsdaten, Ermöglichung von Präventivüberwachung, Ermöglichung von Präventivinterventionen, Fortsetzungsgefahr, DNA-Datenbank und Zeugenschutz.

In der Folge wurde unter der Leitung des EJPD und unter Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der BA, des UVEK und des VBS vorliegender Bericht erarbeitet.

2

Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen

2.1

Ausgangslage

Die Frage, ob und in wie weit mit Blick auf eine effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen gesetzgeberischer Handlungsbedarf gegeben ist, verlangt nach einer Darstellung der bereits vorhandenen rechtlichen Instrumente. Nachfolgend wird deshalb dargelegt wie die beiden kriminologischen Phänomene durch das geltende Straf- und Strafprozessrecht erfasst werden. Weiter wird der Frage nachgegangen, ob und in wieweit sich die strafrechtlichen Instrumente hinsichtlich des vom Postulat formulierten Effizienzziels als vollständig erweisen.

2.2

Ist-Zustand

2.2.1

Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen

In Artikel 260ter StGB1 bedroht der Gesetzgeber die Mitgliedschaft oder Unterstützung krimineller Organisationen mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis. Der Straftatbestand bringt, gegenüber den herkömmlichen Zurechnungskriterien des Strafrechts, eine Vorverlagerung der Kriminalisierung mit sich, indem sich bereits strafbar macht, wer die Tätigkeit einer kriminellen Organisation in allgemeiner Weise fördert, ohne dass es eines Zusammenhangs der Unterstützung mit einer 1

In Kraft seit 1. August 1994.

5702

einzelnen Tat der Organisation bedarf. Als Unterstützung einer Gruppe gilt jeder entscheidende Beitrag zur Stärkung der Organisation2, zum Beispiel das Zurverfügungstellen eines Teils der logistischen Infrastruktur.

Als kriminelle Organisation im Sinne des Strafrechts gilt die nach aussen hin geheim gehaltene, dauerhafte und hierarchisch strukturierte Verbindung mehrerer Personen zum Zweck, Gewaltverbrechen zu begehen oder sich mit verbrecherischen Mitteln zu bereichern.

2.2.2

Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen mafiösen Zuschnitts

Artikel 260ter StGB richtet sich gegen kriminelle Organisationen wie die italienische Mafia. Derartige Syndikate charakterisieren sich durch eine pekuniäre Motivation, unternehmerisches Handeln, Abschottung gegen aussen, den Einsatz von Einschüchterungsmethoden sowie die Einflussnahme auf Politik, Verwaltung oder Wirtschaft3.

2.2.3

Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen terroristischen Zuschnitts

Ebenfalls anwendbar ist Artikel 260ter StGB auf kriminelle Organisationen, die vorab politisch-ideologische Ziele verfolgen. Kriminologisch wird die gewaltuntermauerte Bedrohung, die von politisch-ideologisch motivierten Verbrechensorganisationen ausgeht, als «Terrorismus» qualifiziert.

In rechtlicher Hinsicht existiert bis heute keine international anerkannte Definition des «Terrorismus», zumal die Abgrenzung zu Freiheitskämpfern oder Staatenterrorismus ungeklärt ist. Die Strafnorm gegen die Terrorismusfinanzierung in Artikel 260quinquies StGB definiert als terroristischen Akt «ein Gewaltverbrechen, mit dem die Bevölkerung eingeschüchtert oder ein Staat oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen genötigt werden soll.» Nach der Praxis des Bundesgerichts zum Terrorismus stellen insbesondere die italienischen Brigate Rosse, die baskische ETA, die kosovarische Befreiungsarmee oder das internationale Netzwerk Al-Qaida Verbrechensorganisationen im Sinne von Artikel 260ter Ziffer 1 StGB dar4. Um die angestrebten Gewaltverbrechen zu finanzieren, können auch terroristische Verbrechensorganisationen wirtschaftliche Aktivitäten entfalten.

2 3

4

Vgl. Hans Baumgartner, in: Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Basel 2003, N 12 zu Art. 260ter.

H. Baumgartner, in: Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Basel 2003, N 6 zu Art. 260ter. Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Strafbarkeit der kriminellen Organisation), BBl 1993 III 277 ff., 280, m.w.Hinw.; BGE 131 II 235 ff.

So das BGer in seinem Entscheid 1A.50/2005, E. 2.6 mit Verweisen auf BGE 128 II 355 E. 2.2, S. 361 und 125 II 569 E. 5c­d S. 574 f.; BGE 131 II 235 ff.

5703

2.2.4

Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Haupttaten

In Bezug auf Terrorismus enthält das geltende StGB5, neben der erwähnten Vorschrift gegen Terrorismusfinanzierung, keine weitere Norm, die Terrorismus explizit kriminalisiert. Es besteht hingegen eine Vielzahl an Tatbeständen, mittels welcher Terrorakte gegen Personen oder Einrichtungen unter Strafe gestellt werden: Delikte gegen Leib und Leben6, gegen die Freiheit7, gemeingefährliche Delikte8 oder weitere Verbrechen oder Vergehen9. Strafbar sind jeweils auch der Versuch sowie die Anstiftung und Gehilfenschaft zu diesen Taten. Eine besonders verwerfliche Gesinnung, etwa terroristische Motive, können im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden10. Die Tatbestände unterliegen überwiegend der kantonalen Gerichtsbarkeit.

2.2.5

Strafbare Vorbereitungshandlungen

Der Gesetzgeber hat des Weiteren für die Verfolgung von besonders schwerwiegenden Delikten11, die typischerweise auch im Zusammenhang mit einem terroristischen Akt vorliegen können, die Strafbarkeitsschwelle vor das Versuchsstadium angesetzt und die strafbaren Vorbereitungshandlungen im Sinne von Artikel 260bis Strafgesetzbuch eingeführt. Tatbestandsmässig handelt demnach, wer planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft, deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der genannten schwerwiegenden Straftaten zu begehen12. Die Vorkehrungen müssen hinreichend konkrete Handlungen darstellen13. Gehilfenschaft und Anstiftung zu strafbaren Vorbereitungshandlungen sind ebenfalls strafbar.

2.2.6

Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Zellen

In der kriminalpolizeilichen Praxis fallen in zunehmendem Masse auch in der Schweiz kleinere Gruppen oder Zellen auf, die sich mit ideologisch-politisch motivierten Gewaltakten in der ganzen Welt solidarisieren und im Kreis von Gleichge5 6 7 8

9 10 11 12 13

Auch die Nebenstrafgesetzgebung kriminalisiert terroristische Haupttaten (z.B. Art. 34 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 1996 über das Kriegsmaterial (SR 514.51).

Art. 111 ff. StGB (bspw. Mord, schwere Körperverletzung, Gefährdung des Lebens).

Art. 180 ff. StGB (bspw. Freiheitsberaubung und Entführung, Geiselnahme, Nötigung).

Art. 221 ff. StGB (bspw. Verursachen einer Explosion, Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht, Herstellen, Verbergen oder Weiterschaffen solcher Stoffe).

Delikte gegen den öffentlichen Frieden (Art. 258 ff. StGB) oder gegen den Staat (Art. 265 ff. StGB).

Art. 63 StGB Vorsätzliche Tötung, Mord, Schwere Körperverletzung, Raub, Freiheitsberaubung und Entführung, Geiselnahme, Brandstiftung, Völkermord.

Planmässigkeit liegt vor, wenn mehrere zusammenhängende Handlungen auf ein einheitliches Ziel ausgerichtet sind.

Blosse Gedankenspielereien reichen für die Strafbarkeit nicht aus, AB 1981 S 284. H.

Baumgartner, in: Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Basel 2003, N 4 ff. zu Art. 260bis.

5704

sinnten die Bereitschaft erklären, allenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens dazu beizutragen, auch den westeuropäischen Alltag durch Gewalttaten zu prägen.

Es liegen auch polizeiliche Erkenntnisse vor, wonach gewisse der in der Schweiz georteten Zellen mit im Ausland lebenden Exponenten schwerstkrimineller Terrororganisationen lose Kontakte unterhalten, ohne sich diesen direkt anzuschliessen.

Während sie sich gegenseitig mental auf einen Gewaltakt einstimmen, pflegen die Mitglieder solcher Zellen während Monaten und Jahren zusammenzutreffen, ohne besondere Massnahmen der Abschottung zu entfalten. Zuweilen treten sie sogar in die Öffentlichkeit, um ihre Botschaften des politischen Hasses unter Berufung auf die Meinungsfreiheit und geflissentlicher Vermeidung expliziter Aufforderung zu Gewaltverbrechen14 zu verbreiten. Das Verhalten derartiger Gruppierungen stellt die Strafverfolgungsbehörden vor das Problem, dass ihre verfahrensrechtlichen Kontrollbefugnisse und Ressourcen an Grenzen stossen, ehe die Zellen des Terrors mit strafbaren Vorbereitungshandlungen zur Begehung der angestrebten Gewaltexzesse einsetzen.

2.2.7

Strafverfolgungskompetenz von Bund und Kantonen

Am 1. Januar 2002 ist mit dem Bundesgesetz betreffend die Schaffung neuer Verfahrenskompetenzen des Bundes in den Bereichen organisiertes Verbrechen und Wirtschaftskriminalität die sog. «Effizienzvorlage» mit dem neuen Artikel 340bis StGB in Kraft getreten. In Absatz 1 dieser Kompetenznorm werden die vom Gesetzgeber im Rahmen der Massnahmenpakete zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens erlassenen Straftatbestände, unter die insbesondere auch jener der kriminellen Organisation nach Artikel 260ter StGB fällt, unter gewissen Voraussetzungen der Bundesstrafgerichtsbarkeit unterstellt. Diese ist gegeben, wenn strafbare Handlungen nach Artikel 260ter StGB sowie Verbrechen, die von einer kriminellen Organisation ausgehen, zu einem wesentlichen Teil im Ausland oder in mehreren Kantonen begangen worden sind und dabei kein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton besteht.

Die Kompetenz für die Verfolgung strafbarer Vorbereitungshandlungen nach Artikel 260bis StGB liegt hingegen grundsätzlich bei den Kantonen; Bundesbehörden sind indessen zuständig, wenn sich die Handlungen gegen den Bund richten15.

2.3

Beurteilung

2.3.1

Strafrechtliche Verfolgung krimineller Organisationen

Wie erwähnt, ist Artikel 260ter StGB auf kriminelle Organisationen wie die italienische Mafia zugeschnitten worden, welche sich durch eine strikte Geheimhaltung und dauerhafte hierarchische Strukturen charakterisieren. Obwohl der Nachweis dieser Kriterien die Strafverfolgungsorgane in der Praxis vor gewisse Beweisprobleme stellt, wäre es mit Blick auf die noch wenig entwickelte Rechtsprechung zu dieser 14 15

Diesfalls ist die Strafbarkeit gemäss Art. 259 StGB zu prüfen: Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder zu Gewalttätigkeit (kantonale Zuständigkeit).

Art. 340 Ziff. 1 al. 7 StGB

5705

Strafbestimmung verfrüht, von einem generellen gesetzgeberischen Handlungsbedarf auszugehen, zumal Artikel 260ter StGB bereits in seiner geltenden Fassung eine erhebliche Vorverlagerung der Strafbarkeit mit sich bringt.

2.3.2

Strafrechtliche Verfolgung terroristischer Zellen

Schwieriger gestaltet sich die Beurteilung des vorhandenen strafrechtlichen Instrumentariums bezüglich Personenzusammenschlüssen nach dem Zuschnitt der oben erwähnten terroristischen Zellen, welche (noch) nicht zu hinreichend konkreten Vorbereitungshandlungen im Sinne von Artikel 260bis StGB ansetzen und sich auch nicht im gleichen Ausmass abschotten wie mafiöse Syndikate nach Artikel 260ter StGB. Sie können in der Schweiz nur schwerlich strafrechtlich erfasst werden.

Ein ungehindertes Gewährenlassen von zu schwersten Gewaltdelikten neigenden terroristischen Zellen stellt für die Sicherheit der Schweiz ein Risiko dar, das der Bundesrat nicht unbesehen in Kauf nehmen kann. Dennoch darf er aus Gründen der Verhältnismässigkeit, des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots sowie angesichts der noch wenig entwickelten Rechtsprechung16 nicht vorschnell von einer gesetzgeberischen Lücke im Strafrecht ausgehen.

Mit Blick auf eine allfällige Ausweitung des strafrechtlichen Verbots von terroristischen Personenzusammenschlüssen hat der Bundesrat auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich die Eidgenössischen Räte im Rahmen ihrer Beratungen zur Ratifikation der zwei UNO-Übereinkommen gegen den Bombenterrorismus sowie die Terrorismusfinanzierung17 im Jahre 2002 auf die Verabschiedung einer Strafnorm gegen Terrorismusfinanzierung18 beschränkten und dass sie von der Einführung eines allgemeinen Terrorismustatbestands19 abgesehen hatten. Die Räte erachteten eine solche Strafnorm, welche durch die genannten Übereinkommen nicht gefordert wird, damals als nicht notwendig. Im Weiteren waren sie weder von der vorgeschlagenen Definition des Terrorismus noch von der Dringlichkeit der Einführung der Norm überzeugt.

Schliesslich ist der Bundesrat der Ansicht, dass keine konkreten Zusatzmassnahmen zur strafrechtlichen Verfolgung des Terrorismus einzuleiten sind, bevor feststeht, ob und inwieweit der Gesetzgeber zusätzliche Massnahmen zur präventiven nachrichtendienstlichen Bekämpfung des Terrorismus einführen wird. Zurzeit wird eine entsprechende Teilrevision des BWIS (Vorlage BWIS II) vorbereitet. Mit der Botschaft ist im zweiten Semester 2006 zu rechnen.

16

17

18

19

Die Frage, ob dieser Umstand auf das inadäquate gesetzliche Instrumentarium oder aber auf eine verhältnismässig geringe Anzahl an strafwürdigen praktischen Fällen zurückzuführen sei, wird kontrovers beurteilt.

Botschaft betreffend die Internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus und zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge sowie die Änderung des Strafgesetzbuches und die Anpassung weiterer Bundesgesetze, BBl 2002 5390 ff.

Art. 260quinquies StGB. Das Parlament beschloss vor Verabschiedung verschiedene, die Strafbarkeit einschränkende Bestimmungen, vgl. Abs. 2­4; Bundeszuständigkeit aufgrund von Art. 340bis StGB.

Vorgeschlagener Art. 260quinquies. Der Artikel stellte die Begehung eines Gewaltverbrechens, mit dem eine Bevölkerungsgruppe eingeschüchtert oder ein Staat oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen genötigt werden sollte, unter Strafe.

5706

2.3.3

Umfang der Strafverfolgungskompetenz des Bundes

In Fällen von Gewalttaten mit befürchtetem mafiösem oder terroristischem Hintergrund, bei denen die von Gesetz und Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen einer kriminellen Organisation nur teilweise erfüllt sind oder sich zumindest nicht nachweisen lassen, fällt die Zuständigkeit zu deren Ermittlung und Beurteilung grundsätzlich in die Zuständigkeit der Kantone. Das gleiche gilt ­ wie bereits erwähnt worden ist ­ auch für die Verfolgung und Beurteilung der strafbaren Vorbereitung von schwersten Gewaltdelikten, wenn sich diese nicht unmittelbar gegen Institutionen oder Behörden des Bundes richten. Dieser Umstand wird von der BA als problematisch erachtet, zumal den Kantonen gerade bei Fällen mit internationalen Verflechtungen oft die nötige Infrastruktur fehlt, um die befürchteten mafiösen oder terroristischen Verbindungen und Strukturen nachzuweisen. Der Bundesrat nimmt diese Bedenken ernst. Dennoch kann er auch hier nicht leichthin von einem Regelungsbedarf ausgehen. Hierzu bedürfte es vertiefter Abklärungen, bei denen insbesondere auch die kantonalen Justizbehörden mit einbezogen werden müssten.

2.4

Massnahmen

Gesetzgeberische Massnahmen zur strafrechtlichen Erfassung der neuen terroristischen Phänomene erscheinen dem Bundesrat im heutigen Zeitpunkt als verfrüht. Er hält es für angebracht, zunächst die Erkenntnisse aus hängigen oder anstehenden gerichtlichen Beurteilungen sowie die Ergebnisse der parlamentarischen Beratungen zu BWIS II abzuwarten. Danach wird über einen allfälligen gesetzgeberischen Handlungsbedarf zu entscheiden sein.

3

Zusammenarbeit von Strafverfolgungsorganen und Inlandnachrichtendienst

3.1

Ausgangslage

Die Bekämpfung von kriminellen Organisationen terroristischen oder mafiösen Zuschnitts umfasst eine Reihe von Gefahren abwehrenden und strafverfolgenden Bundeskompetenzen, bei deren Wahrnehmung verschiedene Polizei- und Justizorgane des Bundes zusammenwirken. Das vorliegende Kapitel soll einerseits die Unterschiede der präventiven und repressiven Aufgaben aufzeigen, welche diesen Bundesorganen zukommen. Andererseits soll es auf die Vollständigkeit und Effizienz des Normengefüges eingehen, auf dem die Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsorganen des Bundes und dem Inlandnachrichtendienst beruht.

Dabei zeigt der Bericht auch die rechtlichen Eigenarten und Grenzen dieser zwischenbehördlichen Kooperation sowie die Herausforderungen des Vollzugs auf, die in jüngster Zeit Anlass zu parlamentarischen Vorstössen geboten haben20. Nicht thematisiert wird in diesem Kapitel die Zusammenarbeit zwischen dem Inlandnachrichtendienst und dem strategischen Nachrichtendienst des Bundes, da diese im 20

Motion SiK-NR 05.3001:Umfassende Gesetzesgrundlage für das System der Nachrichtendienste, Motion Schlüer 05.3637: Zusammenfassung der Nachrichtendienste im VBS und EJPD.

5707

Rahmen anderer Berichterstattungen21 bereits ausführlich dargestellt worden ist.

Ebenfalls nicht thematisiert wird hier die Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem strategischen Nachrichtendienst des Bundes. Diese Zusammenarbeit erfolgt jedoch nicht systematisch, sondern punktuell und im Rahmen der Regeln der ordentlichen Amtshilfe.

3.2

Ist-Zustand

3.2.1

Organisation der Polizeikräfte des EJPD

Mit Blick auf die in Ziffer 2 dargelegte Ausdehnung der Bundsstrafgerichtsbarkeit auf kriminelle Organisationen terroristischen oder mafiösen Zuschnitts hat der Bundesrat am 1. September 1999 die damalige Bundespolizei und den Sicherheitsdienst des Bundes von der BA in fedpol22 überführt. Mit dem Entscheid, alle Polizeidienste des EJPD in diesem Bundesamt zu vereinigen, erfüllte der Bundesrat zum einen den Wunsch der Kantone nach einem einheitlichen polizeilichen Ansprechpartner auf Bundesebene. Zum anderen ist er der im Zuge der Aufarbeitung der Fichenaffäre erhobenen Forderung nachgekommen, den Bundesanwalt als öffentlichen Ankläger von seiner damaligen Stellung als oberster Verantwortlicher der ehemaligen Bundespolizei zu entbinden, weil diese nebst ihren Aufgaben als gerichtliche Polizei des Bundes auch als Inlandnachrichtendienst amtete und damit auch mit präventiven Aufgaben betraut war23.

Am 1. Januar 2001 sind dann mit dem Abschluss des Reorganisationsprojekts zur Bereinigung der Strukturen im Polizeibereich des Bundes («Strupol») die präventivpolizeilichen und die strafverfolgenden Aufgaben innerhalb von fedpol organisatorisch entflochten worden: Die ehemalige fedpol-Abteilung «kriminalpolizeiliche Zentralstellendienste» und die «Bundespolizei» wurden durch die neu geschaffenen fedpol-Hauptabteilungen «BKP» und «DAP» abgelöst. Während die BKP als Gerichtspolizei heute die strafverfolgenden Aufgaben wahrnimmt, konzentriert sich die Zuständigkeit des DAP auf die nachrichtendienstliche Prävention. Ebenfalls in die Zuständigkeit von fedpol fällt der Schutz von Behörden, Institutionen, Gebäuden und Informationen in der Bundesverantwortung sowie von Personen, Gebäuden und Gütern, für welche völkerrechtliche Schutzpflichten bestehen. Für diese Aufgaben zeichnet die Abteilung BSD zuständig.

3.2.2

DAP als Inlandnachrichtendienst der Schweiz und seine Aufgaben

Der DAP ist der Inlandnachrichtendienst der Schweiz, dessen Aufgaben im BWIS und dem darauf beruhenden Verordnungsrecht geregelt werden. Er ist beauftragt, die politischen Staatsleitungsorgane des Bundes und auch die Kantone frühzeitig mit Informationen über Gefährdungen im Bereich der Inneren Sicherheit zu versorgen, damit rechtzeitig Abwehrmassnahmen getroffen werden können. Es geht dabei um 21 22 23

Bundesratsbeschluss vom 22. Juni 2005 und die Folgearbeiten.

Das Bundesamt für Polizei hiess damals noch «Bundesamt für Polizeiwesen».

Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission vom 22. November 1989, 89.006, Vorkommnisse im EJPD, BBl 1990 637, Kap. VII Ziff. 1.

5708

staatschutzrelevante Ereignisse, die den Rahmen des Alltäglichen sprengen und die Sicherheit der Schweiz als Ganzes betreffen. Um diese Gefahren für die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen der Schweiz und der Freiheitsrechte der Bevölkerung rechtzeitig zu erkennen, ist der DAP zu einer permanenten Beobachtungstätigkeit sowie zu periodischen Beurteilungen der Bedrohungslage verpflichtet.

Indem das BWIS die in der Regel verdeckt erfolgenden vorbeugenden Massnahmen und auch die daran anknüpfenden Interventionen an den Zweck bindet, staatsschutzrelevante Gefahren abzuwehren, verpflichtet es die nachrichtendienstliche Tätigkeit einer ausschliesslich präventiven Zielsetzung.

3.2.3

Strafverfolgungsbehörden des Bundes und ihre Aufgabe

Als Strafverfolgungsorgane des Bundes sind die BA und die BKP für die gerichtspolizeilichen Ermittlungen im Kompetenzbereich des Bundes zuständig. Der Bundesanwalt leitet die Ermittlungen der BKP und vertritt die Anklage vor den Strafgerichten des Bundes24. Die diesen Bundesorganen obliegende Aufgabe der strafrechtlichen Repression bezweckt die justizförmige Klärung eines konkreten Straftatverdachts. Bei der Strafverfolgung handelt es sich deshalb um eine auf konkrete Straftaten fixierte, einzelfallbezogene Tätigkeit, die mit Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts einsetzt und mit einer Verfahrenseinstellung, einem Freispruch oder einer Verurteilung zu einem förmlichen Abschluss kommt25. Die Aufgaben von BA und BKP ergeben sich aus dem StGB, dem BStP und dem ZentG.

3.2.4

Abgrenzung der Aufgaben von Inlandnachrichtendienst und Strafverfolgungsbehörden

a. Abgrenzung hinsichtlich Zielsetzung der Informationsbeschaffung Die Informationsbeschaffung des DAP bezweckt, Gefährdungen oder Störungen der Sicherheit frühzeitig zu erkennen. Hat er solche aufgedeckt, treffen die zuständigen Behörden von Bund und Kantonen die nötigen polizei- oder verwaltungsrechtlichen Abwehr- oder Beseitigungsmassnahmen. Bestehen Verdachtsmomente, wonach den aufgedeckten Gefährdungen strafbare Handlungen zu Grunde liegen könnten, werden die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet26. Deren Informationsbeschaffung zielt darauf ab, den aufgekommenen Straftatverdacht und die damit zusammenhängende Frage der individuellen Tatschuld justizförmig zu klären.

b. Abgrenzung hinsichtlich Mittel der Informationsbeschaffung Die Strafverfolgungsbehörden können im Zuge ihrer verdachtsklärenden Ermittlungen nötigenfalls prozessuale Zwangsmittel zur Anwendung bringen. Dem Inlandnachrichtendienst hat der Gesetzgeber von 1997 indessen die Anwendung von 24 25 26

Art. 15 BStP Auf nationaler Ebene kann ein Strafverfahren auch durch Abtretung ans Ausland und Rechtshilfevollzug zum Abschluss kommen.

Vgl. Art. 2 Abs. 3 sowie Art. 17 Abs. 1 BWIS

5709

Zwangsmitteln und das Beobachten in privaten Räumen, wie sie im Rahmen von eröffneten Strafverfahren zulässig sind, ausdrücklich untersagt27. Die Frage, ob und inwieweit dieses Verbot angesichts der aktuellen Gefährdungen durch terroristische Vereinigung und Zellen weiter aufrecht erhalten werden soll, ist Gegenstand einer vom EJPD gegenwärtig vorbereiteten Teilrevision des BWIS (Vorlage BWIS II).

Auf die Mittel der Informationsbeschaffung braucht im Rahmen dieses Berichtes somit nicht näher eingegangen zu werden.

c. Abgrenzung hinsichtlich Zuständigkeiten bei der Frühaufklärung von terroristisch und mafiös geprägter Schwerstkriminalität Die klassischen staatsschutzrelevanten Gefährdungen wie der Terrorismus zeichnen sich nebst der gegen Gesellschaft und Staat gerichteten Gewaltanwendung durch die politisch-ideologische Motivation ihrer Urheber aus. In Artikel 2 Absatz 1 BWIS hat der Gesetzgeber den Terrorismus von allen staatschutzrelevanten Bedrohungen an erster Stelle genannt und damit zu einem zentralen Gegenstand der inlandnachrichtendienstlichen Frühaufklärung und Abwehr gemacht, für welche der DAP zuständig zeichnet.

Von den staatsschutzrelevanten Gefahren heben sich die nach wirtschaftlicher Bereicherung und gesellschaftlicher Anerkennung strebenden Syndikate «mafiösen» Zuschnitts ab. Ihnen sind die massive Störung oder Zerstörung der öffentlichen Ordnung, wie sie Terroristen anstreben, eher hinderlich, weil sie nicht auf die Vernichtung, sondern auf eine Instrumentalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Mitmenschen abzielen. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Früherkennung dieses schwerstkriminellen Phänomens dem Zufall überlassen werden darf. Da sich das arbeitsteilige Gewinnstreben der mafiösen Organisationen aber zwangsläufig in einem kommerziellen Kontext abspielt, hat der schweizerische Gesetzgeber deren Früherkennung im ZentG der kriminalpolizeilichen Zuständigkeitssphäre zugewiesen. Diese Regelung ist sinnvoll, weil sich die BKP auch mit der Aufdeckung und Verfolgung von komplexer und grenzüberschreitender Geldwäscherei, Korruption, Drogen- und Wirtschaftskriminalität befasst; Deliktsbereichen also, die ­ gerade wenn sie grenzüberschreitend und in grossem Umfang betrieben werden ­ zu den bevorzugten Aktivitäten der mafiösen Syndikate gehören.

Die Aufgabe der Früherkennung
erfüllt die BKP in ihrer Eigenschaft als kriminalpolizeiliche Zentralstelle. Gemäss Artikeln 7, 8 und 11 ZentG hat sie die komplexen und grenzüberschreitenden Phänomene der Schwerstkriminalität, die gemäss Artikel 340bis StGB in die Strafverfolgungskompetenz des Bundes fallen, zu «erkennen» und zu «bekämpfen». Zur Unterstützung dieser Aufgaben hat sie ein Informationssystem zu betreiben, in welchem insbesondere auch Informationen verarbeitet werden, die zur Aufdeckung von mafiösen Verbrechensorganisationen (deren Einflusssphären, Mitglieder, Günstlinge und Förderer) führen sollen.

d. Abgrenzung hinsichtlich gerichtspolizeilicher Aufgaben Von der Frühaufklärung zu unterscheiden ist die Ermittlung von Straftaten sowie die Verfolgung deren Urheber. Die gerichtspolizeiliche Ermittlung und Verfolgung können in Fällen komplexer und grenzüberschreitender Schwerstkriminalität oft erst nach einer frühaufklärenden Analyse erster Hinweise einsetzen, die es der BKP 27

Art. 14 Abs. 3 BWIS

5710

erlauben, mafiöse oder terroristische Zusammenhänge mit einem hinreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit zu erkennen und den damit zusammenhängenden Strafverdacht auf einen vernünftig eingrenzbaren Kreis von verdächtigen Personen einzugrenzen.

Soweit die Gerichtsbarkeit des Bundes gegeben ist, fällt die der Frühaufklärung nachgeschaltete Ermittlung von Straftaten mit terroristischem oder mafiösem Hintergrund sowie die Verfolgung deren Urheber in die ausschliessliche Zuständigkeit der BKP.

3.2.5

Kooperation zwischen den Strafverfolgungsorganen des Bundes und dem DAP

a. Überschneidung der Aufgabenfelder erfordert regelmässigen und raschen Informationsaustausch Trotz den an sich klaren gesetzgeberischen Kompetenzabgrenzung bezüglich der Bekämpfung der mafiösen Syndikate auf der einen und der staatschutzrelevanten Bedrohung des Terrorismus auf der anderen Seite, kann es in der Praxis zu Vermischungen von pekuniären und ideologisch-politischen Motivationen kommen, die ein paralleles Vorgehen von DAP und BKP erforderlich machen. Auch dem hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er die beiden fedpol-Hauptabteilungen gegenseitig verpflichtet, die bei ihnen anfallenden Informationen, welche in den gesetzlichen Aufgabenbereich der anderen Stelle fallen, unverzüglich an diese weiterzugeben.

b. Weitergabe von Informationen vom DAP an die BKP und die BA Soweit beim DAP Informationen über mafiöse Organisationen angefallen sind, hat er diese gemäss Artikel 2 Absatz 3 BWIS an die Strafverfolgungsorgane von Bund oder Kantonen weiterzuleiten. Des Weiteren schliesst die präventive Zweckausrichtung der Staatsschutztätigkeit keineswegs aus, dass nachrichtendienstliche Erkenntnisse an inländische Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden, wenn sie zur Verfolgung von Straftaten führen können. Auch diesem Umstand hat der Gesetzgeber gebührende Beachtung geschenkt, indem er den DAP generell verpflichtet, strafverfolgungsrelevante Informationen unaufgefordert an inländische Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben28. Sobald beim DAP im Rahmen seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit Hinweise anfallen, die geeignet erscheinen, einen Beitrag zur Aufdeckung oder Klärung von Straftaten zu leisten, gibt er diese unabhängig davon, ob den möglichen Straftaten politisch-ideologische, pekuniäre oder weitere Motivationen zu Grunde liegen, an die zuständigen Strafverfolgungsorgane des Bundes oder der Kantone weiter. Je nach Konkretisierungsgrad der übermittelten Hinweise werden die Strafverfolgungsbehörden dann direkt zu einer formellen Eröffnung der Strafverfolgung schreiten oder aber zur weiteren Erhärtung, Verifizierung, Begründung oder Eingrenzung des Straftatverdachts noch weitere Vorabklärungen veranlassen.

28

Vgl. Art. 17 Abs. 1 BWIS vgl. auch die Zusammenarbeitspflicht nach Art. 4 ZentG.

5711

Diese Informationspflichten des DAP hat der Bundesrat im Verordnungsrecht eingehend konkretisiert und präzisiert29. Zwecks Vereinheitlichung des Vollzugs hat der Direktor fedpol zudem eine Weisung erlassen, die klarstellt, nach welchen Kriterien die Informationsweitergabe namentlich im Bereich der Terrorismus- und OK-Bekämpfung vorzunehmen ist30. In einer weiteren Weisung hat er die regelmässige Abhaltung operativer Rapporte auf Stufe der Geschäftleitung von fedpol und allen Hierarchiestufen der Hauptabteilungen DAP und BKP geregelt31.

c. Weitergabe von Informationen von der BKP und der BA an den DAP In umgekehrter Richtung hat der Gesetzgeber die BKP und die BA zur Auskunft an den DAP verpflichtet32. Beide haben dem DAP unaufgefordert Meldung zu machen, wenn sie konkrete Gefährdungen der inneren oder der äusseren Sicherheit feststellen33.

Auch diese Pflichten hat der Bundesrat im Verordnungsrecht eingehend konkretisiert und präzisiert34. Darüber hinaus bestehen auch hier Weisungen des Direktors fedpol, die seitens der BKP einen einheitlichen Vollzug gewährleisten sollen35.

Bezüglich der Informationspflichten der BA an den Inlandnachrichtendienst haben fedpol und die BA am 30. August 2004 eine Vereinbarung abgeschlossen, welche die personellen Zuständigkeiten und die Anwendungsmodalitäten des Vollzugs im Detail regelt. Gestützt darauf hat der Bundesanwalt zusätzlich eine Weisung erlassen36. Über den Austausch von operativen Informationen hinaus muss die BA dem DAP unaufgefordert und ohne Verzug gewisse Urteile und Einstellungsbeschlüsse mitteilen, wenn sie den Aufgabenbereich des BWIS betreffen.

d. Informationsaustausch mittels Online-Verbindungen Dort, wo es im täglichen Vollzug zu einer Häufung von amtshilfeweisen Übermittlungen von Informationen kommt, gebietet es die Verwaltungsökonomie, dass die regelmässig benötigten Daten durch ein Abrufverfahren zugänglich gemacht werden. DAP und BKP haben schon heute gegenseitige Kurzzugriffe auf ihre Informationssysteme, die es ermöglichen festzustellen, ob über eine bestimmte Person im betreffenden System Daten bearbeitet werden. Im Bundesgesetz über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes ist zur Beschleunigung und Erleichterung der polizeilichen Amtshilfe die Schaffung eines nationalen Polizeiindexes vorgesehen.

29 30

31 32 33 34 35 36

Art. 4 ZentV und Art. 18 Abs. 1 VWIS Weisung des Direktors BAP vom 22.12.2000 betreffend die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Hauptabteilung DAP im Bereich der präventivpolizeilichen und analytischen Tätigkeiten und der Hauptabteilung BKP im Bereich der gerichtspolizeilichen Tätigkeiten.

Weisung des Direktors Fedpol über die Zusammenarbeit zum Informationsabgleich zwischen der BKP und dem DAP vom 22. Februar 2006.

Art. 13 Abs. 1 Bst. a BWIS Art. 13 Abs. 2 BWIS Art. 8 Abs. 1 und 2 VWIS, Art. 5 Abs. 2 Bst. a und b ZentV S. oben FN 31 und 32 Weisung betreffend Weitergabe von Informationen aus gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahren an den DAP vom 1. Juli 2005.

5712

e. Informationshilfe prägende Verfahrensgarantien Beim Austausch von Personendaten zwischen dem Inlandnachrichtendienst und den Strafverfolgungsbehörden handelt es sich um Amts- oder Informationshilfe, die aufgrund ihrer Grundrechtsrelevanz nach rechtlichen Prinzipien ablaufen muss, welche die staatlichen Bekämpfungsinteressen mit dem Schutz der von der Datenbearbeitung Betroffenen in Einklang bringen: So setzt die Informationshilfe stets einen konkreten Bezug zu einem Einzelfall voraus. Weiter muss sie zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgabe der ersuchenden Behörde nötig und geeignet sein, die im öffentlichen Interesse verfolgten Zwecke ohne unverhältnismässige Eingriffe in die rechtlich geschützten Interessensphären von direkt oder indirekt Betroffenen herbeizuführen.

Damit diese Schutzprinzipien beim Austausch von personenbezogenen Daten zwischen Inlandnachrichtendienst und Strafverfolgungsbehörden tatsächlich zum Tragen kommen, müssen beim Vollzug verfahrensrechtliche Anforderungen erfüllt werden. Diese verlangen, dass Ersuchen um Informationshilfe hinreichend begründet und wichtige Arbeitsabläufe im Zusammenhang mit dem Austausch von Personendaten schriftlich oder elektronisch festzuhalten sind37. Damit besteht Gewähr, dass die Betroffenen im Zeitpunkt der Erfüllung ihrer datenschutzrechtlichen Einsichtsgesuche auch Aufschluss über die amtshilfeweise Weitergabe der über sie bearbeiteten Daten erhalten.

Nebst dem Datenschutz und den damit zusammenhängenden verfahrensrechtlichen Formalitäten haben Inlandnachrichtendienst und Strafverfolgungsbehörden auch überwiegenden öffentlichen Interessen Rechnung zu tragen, welche im konkreten Fall zu Einschränkungen oder zur gänzlichen Unterlassung der Informationshilfe führen können und auch die Weitergabe dieser Daten an dritte Stellen Restriktionen unterwerfen: So hat der DAP bei der Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen nebst dem generellen Vorbehalt überwiegender Interessen38 den sog. Quellenschutz zu beachten. Letzterer bezweckt die Geheimhaltung von Informationen, die Rückschlüsse auf die Herkunft der nachrichtendienstlichen Informationen zulassen. Während der Quellenschutz im Verkehr mit dem Ausland immer gilt39, ist das Schutzbedürfnis der Inlandquellen in jedem einzelnen Fall gegen die entsprechenden Amts- oder Rechtshilfeinteressen
abzuwägen. Diesen Abwägungsprozess hat der Direktor fedpol in einer Weisung verdeutlicht40.

Die Weitergabe von Informationen kann auch seitens der BKP und der BA verweigert, eingeschränkt oder mit Auflagen versehen werden. Dies hat zu geschehen, wenn schutzwürdige Interessen einer betroffenen Person es verlangen41 oder wenn wesentliche Strafverfolgungsinteressen es gebieten, was insbesondere dann der Fall ist, wenn es das Untersuchungsgeheimnis in hängigen Strafverfahren zu schützen gilt.

37 38 39 40 41

Vgl. dazu Art. 4 Abs. 4 ZentV sowie Art. 18 Abs. 1 VWIS Art. 18 Abs. 5 VWIS Vgl. Art. 17 Abs. 7 BWIS und Art. 20a VWIS Weisung des Direktors Fedpol vom 1. Februar 2006 über die Handhabung des Quellenschutzes durch den DAP.

Vgl. Art. 102quater Abs. 2 i.V.m. Art. 27 Abs. 2 BStP und Art. 7 Abs. 2 ZentV

5713

3.3

Beurteilung

Die Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden des Bundes und dem Inlandnachrichtendienst ist entscheidend für die erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus und der «mafiösen» Organisationen. Sie beruht auf einem umfassenden Normengefüge von Bundesgesetzen, Verordnungen und Weisungen. In rechtlicher Hinsicht erweist sich dieses spezialgesetzlich geprägte Gefüge nach Auffassung des Bundesrates als hinreichend. Hinsichtlich seiner Vollzugsfreundlichkeit im Polizeialltag stösst es indessen an Grenzen; müssen doch die Polizeiangestellten des Bundes regelmässig eine Vielzahl von bundesrechtlichen Spezialerlassen konsultieren, um dort die im Einzelfall relevanten Voraussetzungen und Einschränkungen der Polizeikooperation nachzuschlagen. Diese rechtssystematische Eigenart des Bundesrechts ist indessen historisch bedingt und darf nicht davon ablenken, dass die mit dem Amtshilfevollzug verbundenen Interessenabwägungen den Polizeiangestellten ein Ermessen auferlegen, dessen Ausübung ihnen das positive Recht zwar erleichtern, nicht aber abnehmen kann. Auch zur richtigen Interpretation und Bewertung des polizeilichen Informationsaustausches kann das positive Recht nur beschränkt beitragen: Nicht zuletzt hängt das Geschick zur prioritären Bearbeitung und rechtzeitigen Weitergabe von Erkenntnissen, die sich im Nachhinein als strafverfolgungstaktisch oder sicherheitspolitisch bedeutsam erweisen, von der Erfahrung der einzelnen Polizeiangestellten ab. Aus diesen Gründen sieht der Bundesrat keinen unmittelbaren Bedarf für neue gesetzliche Massnahmen in diesem Bereich.

3.4

Massnahmen

Mit Blick auf die spezialgesetzliche Ausprägung des Polizeirechts des Bundes legt der Bundesrat Wert auf eine gute Aus- und Weiterbildung der Angehörigen der Polizeiorgane des Bundes. Diese soll neben Kenntnissen des positiven Rechts auch das Gesamtverständnis für die Amtshilfe und das Zusammenspiel von Prävention und Repression fördern. Entsprechende Schulungen können intern, aber auch durch berufsbegleitende Angebote spezialisierter Bildungsanstalten wie des Schweizerischen Polizeiinstituts oder des Kompetenzzentrums Forensik und Wirtschaftskriminalistik erfolgen.

Eine weitere konkrete Massnahme im Sinne eines Dauerauftrages sieht der Bundesrat in der Förderung der Bereitschaft aller Sicherheitsorgane des Bundes, die bestehenden Informationskanäle optimal zu nutzen, den Informationsaustausch zu fördern sowie Operationen gemeinsam zum Erfolg zu führen. Dies ist eine Frage der Betriebskulturen, die sich im dynamischen Umfeld der sich rasch erneuernden Kooperationsysteme Interpol, Europol und Schengen-Dublin konsolidieren und vertiefen, aber auch weiter öffnen müssen.

4

Internationale Zusammenarbeit

4.1

Ausgangslage

Das Postulat thematisiert die internationale Kooperation nach den Vorschriften des IRSG, und dabei insbesondere die Frage möglicher Vereinfachungen im Verfahren.

Da das IRSG nur ein Pfeiler der internationalen Zusammenarbeit bei der Verfolgung 5714

von Terrorismus und OK ist, wird zusätzlich zum IRSG der aktuelle Stand der internationalen Rechtshilfe sowie jener der polizeilichen Zusammenarbeit und der nachrichtendienstlichen Kooperation dargestellt.

4.2

Ist-Zustand

4.2.1

Bereich Rechtshilfe

Das Postulat lädt den Bundesrat ein zu prüfen, «ob bzw. wie das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG) über die laufende Revision hinaus angepasst werden kann, damit mit den ausländischen Behörden nach einem vereinfachten Verfahren unmittelbar zusammengearbeitet werden kann».

Zunächst zum vereinfachten Verfahren: Das IRSG, die innerstaatliche Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Zusammenarbeit mit dem Ausland, kennt bereits in seiner geltenden Fassung ein vereinfachtes Verfahren für die Auslieferung (Art. 54 IRSG) und für die «vereinfachte Ausführung» bei der sog. «kleinen Rechtshilfe» (Art. 80c IRSG). Gestützt darauf, kann die Schweiz dem Ausland unter bestimmten Voraussetzungen ohne formelles Verfahren eine strafrechtlich verfolgte Person ausliefern bzw. erhobene Beweismittel herausgeben. Über diese beiden Fälle hinaus sind für den Bundesrat keine weiteren Bereiche ersichtlich, die sich für ein «vereinfachtes Verfahren» anbieten würden. Vom Moment an, wo die Schweiz vom Ausland Rechtshilfe verlangt, setzen vereinfachte Verfahren die Mitwirkung ausländischer Behörden voraus. Hier sind jedoch der rechtsetzenden Gestaltungsfreiheit der Schweiz enge Grenzen gesetzt.

Das Postulat möchte weiter geprüft haben, ob sich im IRSG nicht neue Möglichkeiten für eine direkte Zusammenarbeit zwischen den schweizerischen und ausländischen Strafverfolgungsbehörden schaffen liessen. Im Verhältnis zwischen den Signatarstaaten des Übereinkommens des Europarates über die Rechtshilfe in Strafsachen ist dieses Anliegen mit dem Zweiten Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen (Art. 4) bereits verwirklicht (für die Schweiz ist das Zusatzprotokoll am 1. Februar 2005 in Kraft getreten)42. Das Zusatzprotokoll revidiert mehrere einzelne Bestimmungen des Europarat-Abkommens dahingehend, dass neu teils die «zuständigen Behörden», teils die Justizministerien direkt miteinander verkehren können.

Die Schweiz hat ihrerseits direkte Rechtshilfewege in einzelnen bilateralen Verträgen mit den Nachbarstaaten vereinbart43. Ausserhalb Europas hingegen sind zentralisierte Behördenwege (konkret: über die Justizministerien) die Regel. Es sind solche äussere Umstände wie anders gestaltete Behördenorganisation, aber auch Umstände eher politischer Natur, die im Einzelfall zu
Verfahrensverzögerungen im Ausland geführt haben und wohl unvermeidlicherweise auch in Zukunft führen werden. Hier sind unsere Rechtshilfebehörden auf persönliches Intervenieren der zuständigen Behörden in der Schweiz oder ihrer diplomatischen Vertretungen vor Ort angewiesen.

42 43

SR 0.351.12 Zusatzverträge zum Übereinkommen über die Rechtshilfe mit Strafsachen. Vgl. für ein Beispiel direkten Verkehrs zwischen Justizbehörden Art. VIII des Zusatzvertrags mit Deutschland (SR 0.351.913.61). Weitere Zusatzverträge bestehen mit Österreich (SR 0.351.916.32), Frankreich (SR 0.351.934.92) und Italien (SR 0.351.945.41).

5715

Allgemein sind straffe Verfahrensabläufe eine wichtige Voraussetzung, dass auf internationaler Ebene rasche Rechtshilfe gewährt werden kann. Die Verfahrensabläufe im Ausland kann die Schweiz nicht beeinflussen. Innerhalb ihres eigenen Rechtssystems hingegen hat die Schweiz mit der letzten Teilrevision des IRSG von 199644 die erforderlichen Voraussetzungen für eine rasche Verfahrensabwicklung geschaffen. Wie effizient die Schweiz dem Ausland Rechtshilfe gewähren kann, hängt schliesslich auch von der Ausgestaltung der Rechtsmittel (Rekursmöglichkeiten) ab. Das Parlament hat die Rechtsmittelwege im Rechtshilfeverfahren bei der Totalrevision der Bundesrechtspflege in der Sommersession 2005 neu geregelt und ein zweistufiges Rechtsmittelverfahren geschaffen45.

Die Schweiz ist im Übrigen in ein breites Netz von multilateralen (a) oder bilateralen (b) Vereinbarungen zur Rechtshilfe in Strafsachen eingebunden: a. Multilaterale Vereinbarungen Bezüglich der relevanten multilateralen Verträge der UNO und des Europarates ist festzustellen, dass die Schweiz alle ihr im Bereich der Rechtshilfe offen stehenden Instrumente ratifiziert bzw. deren Ratifikation eingeleitet hat. Es seien insbesondere die Terrorismuskonventionen der UNO und des Europarates erwähnt, die die Bereiche der Zusammenarbeit erweitern46. Wichtige neue Untersuchungs- und Ermittlungstechniken eröffnet der Strafverfolgung das bereits erwähnte Zweite Zusatzprotokoll zum Europarat-Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen47 (Einvernahme von Zeugen und Angeschuldigten per Videokonferenz, grenzüberschreitende Observation, kontrollierte Lieferung, verdeckte Ermittlungen, gemeinsame Ermittlungsgruppen).

b. Bilaterale Vereinbarungen Mit zahlreichen Staaten hat die Schweiz bilaterale Rechtshilfeverträge abgeschlossen. Die Rechtshilfeverträge müssen indessen völkerrechtlichen und rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügen. Die Bereitschaft zum Abschluss solcher Verträge endet für die Schweiz bei Staaten, in denen die Menschenrechte ungenügend gewährleistet sind. Das schweizerische Rechtshilferecht erlaubt eine Zusammenarbeit in Strafsachen nur, wenn die in der EMRK und im UNO-Pakt II über die bürgerlichen und politischen Rechte48 festgelegten Verfahrensgrundsätze (fairer Prozess, unabhängige und unparteiische Richter, Verteidigungsrecht,
rechtliches Gehör usw.) im ausländischen Staat respektiert werden (Art. 2 IRSG). Aus diesem Grund war die Schweiz bisher zurückhaltend gegenüber verschiedenen Staaten.

Nach konstanter Praxis schliesst die Schweiz bilaterale Rechtshilfeverträge nicht für einzelne Deliktskategorien ab.

44 45

46 47 48

Vgl. die Botschaft des Bundesrates: BBl 1995 III 1 ff.

Das am 17. Juni 2005 verabschiedete Bundesgerichtsgesetz (BGG; BBl 2005 4045) eröffnet künftig in Rechtshilfe- und in Auslieferungsverfahren eine Rekursmöglichkeit an das Bundesstrafgericht und in besonders bedeutenden Fällen an das Bundesgericht (Art. 84 BGG).

Jüngster Schritt: Am 14.9.2005 unterzeichnete Bundespräsident Samuel Schmid am Sitz der UNO in New York die Konvention gegen den nuklearen Terrorismus.

SR 0.351.12 SR 0.103.2

5716

4.2.2

Bereich polizeiliche Zusammenarbeit

In der Praxis der Strafverfolgung hat auf polizeilicher Ebene häufig bereits ein intensiver (Informations-)Austausch stattgefunden, lange bevor in einem konkreten Fall zwischen Justizbehörden erste Rechtshilfeersuchen gestellt werden, also ein Strafverfahren formell eröffnet worden ist. Die Schweiz stützt ihre internationale polizeiliche Zusammenarbeit auf drei Pfeiler: die globale multilaterale Kooperation, namentlich durch Interpol (a), die regionale Kooperation in Europa (b) und die bilaterale Kooperation, insbesondere mit unseren Nachbarstaaten (c).

a. Globale Kooperation Auf der globalen Ebene steht für die Schweiz als Instrument für den polizeilichen Informationsaustausch Interpol im Vordergrund.

b. Regionale Kooperation Auf regional-europäischer Ebene hat die Schweiz mit der Assoziierung an das Schengen-Abkommen sowie mit dem Kooperationsabkommen mit Europol Zugang zu zwei neuen multilateralen Kooperationsplattformen erhalten. Schengen ermöglicht der Schweiz eine Intensivierung der Polizeizusammenarbeit. Kernstück von Schengen ist das Personen- und Sachfahndungssystem SIS. Dank einer speziellen SIS-Ausschreibungskategorie wird es unter anderem möglich sein, Reisewege und -ziele von Terroristen besser zu verfolgen49. Aufgabe von Europol50 ist die Unterstützung der beteiligten Staaten bei der Verhütung und Bekämpfung der internationalen organisierten Schwerstkriminalität, umfassend auch den Terrorismus. Gestützt auf das Kooperationsabkommen mit Europol, das am 1. März 2006 in Kraft getreten ist51, wird die Schweiz operative Informationen mit dem europäischen Polizeiamt austauschen können.

c. Bilaterale Kooperation Die Polizeikooperation auf bilateraler Ebene stützt die Schweiz auf Polizeiverträge, die heute mit 6 Staaten in Kraft sind52; 6 weitere solche Abkommen sind unterzeichnet und sollen baldmöglichst ratifiziert werden53. Sachlicher Anwendungsbereich dieser Abkommen ist die Kriminalitätsbekämpfung generell. Diese Verträge sind dabei ­ abgesehen von jenen mit den unmittelbaren Nachbarstaaten ­ in erster Linie mit Staaten in Ost- und Südosteuropa abgeschlossen worden, also mit Partnern, die bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität wichtig sind54.

49 50 51 52 53 54

Vgl. hierzu näher: Botschaft des Bundesrates vom 1. Oktober 2004 zu den «Bilateralen II», BBl 2004 6079 ff.

Vgl. zu dieser internationalen Organisation und zum Kooperationsabkommen der Schweiz: Botschaft des Bundesrates vom 26. Januar 2005, BBl 2005 983 ff.

SR 0.360.268.2 Abkommen mit Deutschland, Frankreich, Italien, Fürstentum Liechtenstein/Österreich (trilateraler Vertrag) und Ungarn.

Abkommen mit Slowenien (BBl 2005 1063), Lettland und Tschechien (BBl 2005 3979), Rumänien (BBl 2006 2217), Albanien und Mazedonien (BBl 2006 2177).

Der Ausbau des Netzes setzt ein Strategiepapier um, das der Bundesrat im Januar 2003 zur Kenntnis genommen hat. Eine neue Strategie für den Zeitraum 2006­2009 soll dem Bundesrat im laufenden Jahr (2006) zur Kenntnis gebracht werden.

5717

Ein Sonderfall bilateraler Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung ist jene der Schweiz mit den USA. Gestützt auf den Rechtshilfevertrag mit den USA (RVUS) haben fedpol und die BA mit den USA aus ausserordentlichem Anlass ­ den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ­ ein Operative Working Arrangement (OWA) abgeschlossen. Die Vereinbarung trat am 4. September 2002 in Kraft und hat seitens der BA mit der inzwischen erfolgten Überweisung des letzten Verfahrens an das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt seinen Zweck erfüllt. Der Geltungsbereich der Vereinbarung war eng beschränkt, nämlich auf die bilaterale Zusammenarbeit bei den Ermittlungen zur Täterschaft der Anschläge vom 11.9.2001 (Al-Kaida und weitere beteiligte Kreise)55. Auf der gerichtspolizeilichen Ebene ermöglichte dies eine besonders enge Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden der beiden Staaten (Verkürzung der administrativen Wege, vereinfachte Kommunikation). Den schweizerischen Strafverfolgungsbehörden erschloss sich aus der engen Zusammenarbeit mit Ermittlern aus den USA nicht zuletzt auch ein wertvoller Wissens- und Erfahrungstransfer.

Zu einer Steigerung der Effizienz der internationalen Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung tragen die Polizeiattachés bei, die in einer beschränkten Zahl von Staaten stationiert sind, die im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung besonders bedeutsam sind. Aufgabe der Polizeiattachés ist es, ein persönliches, vertrauenswürdiges Kontaktnetz aufzubauen und Informationsquellen zu erschliessen. Informelle Abklärungen über die Polizeiattachés haben sich als effizienten und schnellen Weg erwiesen. Damit sollen Ermittlungsverfahren in Bundes- wie in kantonaler Kompetenz optimal unterstützt werden können.

4.2.3

Bereich nachrichtendienstliche Zusammenarbeit

Die Bekämpfung terroristischer Handlungen muss besonders früh einsetzen, um diese wenn immer möglich bereits im Stadium der Planung und Vorbereitung vereiteln zu können. Aber auch nach einem erfolgten Terroranschlag ist eine rasche Eruierung der Täterschaft auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse angewiesen.

Der schweizerische Inlandnachrichtendienst, der DAP, nimmt gemäss BWIS und dessen VWIS die Verbindungen zu ausländischen Sicherheitsbehörden wahr, die Aufgaben im Sinne des BWIS erfüllen (Art. 8 BWIS), und er vertritt die Schweiz in internationalen Gremien (Art. 6 VWIS). Die Bekämpfung des Terrorismus macht heute den überwiegenden Teil des internationalen nachrichtendienstlichen Informationsaustausches aus.

Im Einzelnen pflegt der DAP einen kontinuierlichen Nachrichtenaustausch mit rund neunzig Partnerdiensten aus verschiedenen Staaten und/oder ausländischen Organisationen (z.B. UNO und EU)56. Der DAP ist auch Vertreter der Schweiz in vier informellen multilateralen Gremien: In der «Counter-Terrorism Group» (je ein Dienst aus jedem EU-Staat sowie aus Norwegen und der Schweiz), im «Club de Berne» (Dienste aus 22 Ländern), in der «Middle European Conference» (Dienste 55

56

Vgl. für eine kurze Erläuterung des Abkommens die zusammenfassende Darstellung im Bericht des Bundesrates über die im Jahr 2002 abgeschlossenen internationalen Verträge (BBl 2003 4216); vgl. für die Debatte im Nationalrat zum OWA: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung vom 9. März 2004.

Die internationale Kooperationsstrategie des DAP ist in einem vom Bundesrat im Juni 2005 genehmigten, vertraulich klassifizierten Dokument festgelegt.

5718

aus 17 Ländern, schwergewichtig im südosteuropäischen Raum) und in der «Police Working Group on Terrorism» (polizeiliche Anti-Terror-Einheiten aus 26 Ländern).

Als Voraussetzung für einen nachrichtendienstlichen Informationsaustausch mit dem «Situation Center» der EU ist der Abschluss eines Abkommen über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen vorgesehen57.

Dieser Nachrichtenaustausch entspricht bezüglich des Kreises der ausländischen Partner den aktuellen Bedürfnissen der Schweiz bei der Bekämpfung von Terrorismus und OK. Kann jedoch die Zusammenarbeit mit dem Ausland wegen allzu eng begrenzter innerstaatlicher gesetzlicher Handlungsmöglichkeiten nur ungenügend wahrgenommen werden, droht die Schweiz je länger je mehr von Informationen aus dem Ausland abgeschnitten zu werden. Neue Nachrichtenbeschaffungsmittel (wie etwa der präventiven Kommunikationsüberwachung) wird der Bundesrat den Eidgenössischen Räten im Rahmen der Revision BWIS II vorschlagen.

4.3

Beurteilung

Insgesamt kommt der Bundesrat zum Schluss, dass das gesamte Instrumentarium, das den schweizerischen Behörden im Bereich der internationalen Kooperation heute zur Verfügung steht, einschliesslich dessen weiteren Ausbaus, als ausreichend zu beurteilen ist. Für zusätzliche, neue gesetzliche Massnahmen besteht kein Bedarf.

Im Einzelnen sieht der Bundesrat im Bereich der internationalen Rechtshilfe keine Notwendigkeit für eine Revision des IRSG. Dieses bewährt sich insgesamt als Instrument der internationalen Rechtshilfe. In seiner Stellungnahme zu zwei parlamentarischen Vorstössen, die eine vollständige Überarbeitung der Rechtshilfegesetzgebung fordern, hielt der Bundesrat fest, es drängten sich nach der Einführung der neuen Rechtsmittelordnung im IRSG «keine weiteren gesetzgeberischen Anpassungen beim Rechtshilfeverfahren auf». Diese Aussage bezog sich inhaltlich auf den Rechtsschutz der durch die Rechtshilfemassnahmen betroffenen Person wie auch auf andere Revisionspunkte58. Aus der Sicht des Bundesrates soll bei der Rechtshilfe das Schwergewicht mittelfristig bei der möglichst wirkungsvollen Anwendung des geltenden Rechts und der internationalen Vereinbarungen liegen. Bei den letzteren hat die Schweiz bereits heute einen sehr guten «Ausbaustandard» erreicht. Der Bundesrat hofft, dass zu den von der Schweiz ratifizierten internationalen Vereinbarungen möglichst bald auch die Änderung des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus treten kann.

57

58

Das Abkommen wurde vom Europäischen Rat am 24. Juni 2005, vom Bundesrat am 29. Juni 2005 genehmigt. Als nächster Schritt wird die EU eine Prüfung der schweizerischen Praxis im Umgang mit klassifizierten Informationen vornehmen, worauf dann ­ im Falle eines positiven Ergebnisses des Assessments ­ die Unterzeichnung des Abkommens folgen soll.

Stellungnahmen des Bundesrates vom 14. September 2005 zur Motion Baumann J.

Alexander (04.3174), Verbesserter Schutz berechtigter Interessen im Rechtshilfeverfahren, sowie zur Motion Frick Bruno (04.3368), Standortbestimmung im Rechtshilfeverfahren.

5719

Wo sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der bilateralen oder multilateralen Rechtshilfe eröffnen, wird der Bundesrat diese im Einzelnen prüfen. Es ist diesbezüglich auch die Rechtsentwicklung im Rahmen der EU zu verfolgen59.

Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit auf polizeilicher Ebene sieht der Bundesrat vor, im Rahmen der Strategie für die Jahre 2006­2009 das Netz der bilateralen Polizeikooperation wie auch jenes der Polizeiattachés gezielt auszubauen.

Die bereits ratifizierten bilateralen Polizeiverträge oder auch das OWA mit den USA bzw. sein allfälliges Folgeabkommen60 illustrieren die Gestaltungsmöglichkeiten, wenn zwei oder mehr Staaten ein gemeinsames Interesse an der Schaffung neuer Instrumente im Polizeibereich haben.

Die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten beruht in besonderem Mass auf gegenseitigem Vertrauen, und Informationen werden gegenseitig nach dem Grundsatz des Gebens und Nehmens zur Verfügung gestellt. Die Kanäle zu allen für die Schweiz wichtigen Partnerdiensten werden intensiv genutzt.

4.4

Massnahmen

Im Bereich internationale Zusammenarbeit, insbesondere der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, sieht der Bundesrat keinen Bedarf für neue Massnahmen.

Soweit einzelne Rechtshilfeverfahren im Ausland Verzögerungen erfahren, werden sich die schweizerischen Behörden weiterhin durch Direktkontakte vor Ort für eine rasche Abwicklung einsetzen. Gleichzeitig sind die bereits laufenden Bemühungen wie der kontinuierliche Ausbau des Netzes von Rechtshilfeverträgen und von bilateralen Polizeiabkommen konsequent weiterzuführen.

5

Ausserprozessualer Zeugenschutz

5.1

Ausgangslage

5.1.1

Zeugenschutzmassnahmen

Der Schutz von gefährdeten Personen, an deren Aussagen ein öffentliches Interesse besteht, kann sowohl in der Strafverfolgung als auch beim Staatsschutz Bedeutung erlangen. So wird im Rahmen der Revision BWIS II zurzeit die Einführung eines «Informantenschutzes» geprüft. Da die im Rahmen von BWIS II zu prüfenden 59

60

Von Interesse für die Schweiz könnte in der Zukunft vor allem Eurojust werden. Diese Behörde wurde eingerichtet, um die Anwendung des direkten Behördenverkehrs in der Praxis zu erleichtern und die Ermittlungs- und Strafverfolgungsmassnahmen zu koordinieren. Mehrere EU-Mitgliedstaaten haben «Verbindungsrichter/-staatsanwälte benannt, die auf bilateraler Basis in anderen EU-Ländern arbeiten und die internationalen Rechtshilfemassnahmen unterstützen sollen» (Jahresbericht 2004 von Eurojust, S. 17). Eurojust hat signalisiert, dass ein Interesse an Vertragsverhandlungen mit der Schweiz besteht und die Schweiz dabei als Drittstaat erste Priorität hat.

Im März 2005 hat der Bundesrat entschieden zu prüfen, ob das OWA durch einen bilateralen, den Eidgenössischen Räten zur Genehmigung zu unterbreitenden Staatsvertrag abgelöst werden kann. Dessen Inhalt wäre ­ in Abgrenzung zum RVUS ­ schwergewichtig auf den Einsatz gemischter Ermittlungsgruppen analog zum Zweiten Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zum Europäischen Übereinkommen über Rechtshilfe in Strafsachen beschränkt.

5720

Massnahmen nicht Gegenstand dieses Berichtes sind, beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen auf den eigentlichen Zeugenschutz im Rahmen der Strafverfolgung.

In der Strafverfolgung ist Zeugenschutz überall dort ein Thema, wo die Behörden mangels anderer Beweismittel besonders stark auf Aussagen angewiesen sind61. Je wichtiger die Aussage einer bestimmten Person ist, umso grösser ist auch die Gefahr, dass auf diese Person eingewirkt und so die Wahrheitsfindung zu beeinflussen versucht wird. Ziel und Zweck von Zeugenschutzmassnahmen sind damit einerseits der Schutz von Personen, die wegen ihrer Aussage oder ihrer Mitwirkung am Verfahren an Leib und Leben gefährdet sind und andrerseits die Sicherung der Strafverfolgung durch Herstellung und Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft.

Der Begriff des Zeugen ist nicht eng im strafprozessualen Sinn zu verstehen, sondern umfasst sämtliche Personen, welche entweder über Wahrnehmungen zum Sachverhalt aussagen können (z.B. auch der prozessrechtlich als Auskunftsperson behandelte Mitbeschuldigte) oder an der Aussage im Verfahren mitwirken (z.B. als Übersetzende oder Sachverständige)62.

Zeugenschutzmassnahmen lassen sich in prozessuale sowie ausserprozessuale Massnahmen unterteilen. Beim prozessualen Zeugenschutz handelt es sich um Massnahmen, welche die Mitwirkung des Zeugen im Verfahren durch besondere verfahrensrechtliche Bestimmungen regeln. Dazu zählen neben Zeugnisverweigerungsrechten insbesondere Massnahmen zur teilweisen oder vollständigen Geheimhaltung der Identität im Verfahren. Im geltenden schweizerischen Recht räumen verschiedene kantonale Strafprozessordnungen sowie einzelne Spezialgesetze den Zeuginnen und Zeugen allgemein oder bestimmten Zeugenkategorien eine Reihe prozessualer Schutzrechte ein63. Solche haben nun auch in den Entwurf der E-StPO Eingang gefunden.

Ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen bezwecken den Schutz einer gefährdeten Person ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen, d.h. während und nach Abschluss eines Verfahrens. Im Gegensatz zu den prozessualen Schutzrechten tangieren diese Massnahmen die Partei- und Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person nicht. Beispiele sind Massnahmen wie Verhaltensberatung, Bereitstellung von Hilfsmitteln wie neuer Nummern von Mobiltelefonen oder eines Alarmsystems, Personenschutz,
vorübergehendes Unterbringen an einem sicheren Ort, Datensperren, Aufbau einer vorübergehenden Tarnidentität oder gar eine völlige Identitätsänderung. Als Zeugenschutzprogramm wird die von den Behörden mit der geschützten Person vereinbarte individuelle Zusammenstellung solcher Schutzmassnahmen bezeichnet.

61

62

63

Diese Feststellung war auch ein Grund für die Revision des Militärstrafprozesses zur Einführung von Zeugenschutzbestimmungen im Hinblick auf Kriegsverbrecherprozesse; vgl. die Botschaft zur Revision des Militärstrafprozesses (Zeugenschutz) vom 22.1.2003, BBl 2003 767 ff.

Der erweiterte Zeugenbegriff wird auch vom Ministerkomitee des Europarates, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und von den internationalen Strafgerichten verwendet; vgl. BGE 125 I 127, 132 E. 6a.

Vgl. die einschlägigen Bestimmungen in den Strafprozessgesetzen von BL, BS, BE, FR, SG, ZH und im Polizeigesetz VD sowie das Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung für professionelle Zeugen (BVE, SR 312.8) und das Bundesgesetz über die Opferhilfe (OHG, SR 312.5) für Opferzeugen.

5721

Ausgehend vom Begriff des ausserprozessualen Zeugenschutzes im Rahmen der Strafverfolgung wird das vorliegende Kapitel die Bedeutung des ausserprozessualen Zeugenschutzes für die Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen darlegen sowie entsprechende Massnahmen aufzeigen.

5.1.2

Abgrenzung von der Kronzeugenregelung

Vom Zeugenschutz abzugrenzen ist die aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis stammende Kronzeugenregelung. Diese hat nicht den Schutz der Zeugin und des Zeugen zum Zweck, sondern zielt allein auf die Förderung der Wahrheitsfindung: Mitangeschuldigte sollen unter Zusicherung der Straffreiheit oder anderer prozessualer Vorteile dafür gewonnen werden, gegen Mitbeteiligte auszusagen. Zeugenschutzmassnahmen werden jedoch zur notwendigen Voraussetzung einer Kronzeugenreglung und Bedingung für eine Aussage, wenn sich die Zeugen durch ihre Aussage der Gefahr von Racheakten aussetzen. Die Einführung der Kronzeugenregelung im Sinne einer möglichen Strafbefreiung wurde im Rahmen der Vereinheitlichung des schweizerischen Strafprozessrechts geprüft und wegen schwerwiegender rechtsstaatlicher Bedenken sowie der Tatsache, dass in der schweizerischen Praxis kein konkretes Bedürfnis festgestellt werden konnte, verworfen64. Die gleichen Gründe haben auch heute noch Geltung65. Es darf nicht vergessen werden, dass bereits im heute geltenden Recht Anreize zu kooperativem Verhalten vorgesehen sind: Bemühungen zur Verhinderung weiterer verbrecherischer Tätigkeit einer kriminellen Organisation können gemäss Artikel 260ter StGB strafmildernd berücksichtigt werden66. Des Weiteren kann die Kooperation eines Angeschuldigten gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung in erheblichem Masse strafmindernd gewürdigt werden.

5.2

Ist-Zustand

5.2.1

Ausserprozessualer Zeugenschutz in der Schweiz

a. Rechtslage Im Bereich des bürgerlichen Strafrechts gibt es heute weder auf Bundes- noch auf kantonaler Ebene Rechtsnormen, welche spezifisch und umfassend die Voraussetzungen und Durchführung ausserprozessualer Schutznahmen bzw. eigentlicher Zeugenschutzprogramme regeln.

Die Durchführung von ausserprozessualen Schutzmassnahmen muss sich deshalb auf den allgemeinen polizeilichen Schutzauftrag der Kantone zur Abwehr unmittelbar drohender Gefahren für Leib und Leben stützen. Entsprechende allgemeine Formulierungen sind in den Aufgabenkatalogen der kantonalen Polizeigesetze 64 65

66

Vgl. «Aus 29 mach 1», Konzept einer eidg. Strafprozessordnung, Bericht der Expertenkommission, EJPD Juni 2001, S. 53 ff.

In Europa führten Italien und Deutschland Kronzeugenregelungen ein. Deutschland hat die seine 1999 wieder abgeschafft, weil sie die erhofften Ergebnisse nicht gebracht hat und nur ganz selten eingesetzt worden ist.

In Österreich wird eine ähnliche Regelung als «kleine Kronzeugenregelung» bezeichnet, vgl. dessen § 41a StGB.

5722

verankert. Des Weiteren lässt sich nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung als Korrelat zu der Zeugnispflicht eine positive Schutzpflicht des Staates aus Artikel 10 BV bzw. Artikel 2 der EMRK für Personen ableiten, welche aufgrund ihrer Aussage gefährdet sind67.

Eine konkret im Hinblick auf die Gefährdung als Zeugin oder Zeuge eingeführte Regel zum Ergreifen von Schutzmassnahmen sieht heute das BVE für verdeckt Ermittelnde vor, mithin einen professionellen Zeugen. Ihnen kommt nach Artikel 9 BVE Anspruch auf den bestmöglichen Schutz von Leib und Leben zu68. Für Zeuginnen und Zeugen von Menschenhandel wurde zudem mit dem am 16. Dezember 2005 von den Räten verabschiedeten revidierten Ausländergesetz eine wichtige Voraussetzung für weitere Schutzmassnahmen geschaffen: Für diese Personenkategorie kann bei der Aufenthaltsregelung von den üblichen Zulassungsbedingungen abgewichen werden.

b. Situation in der Praxis Mangels speziell auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteter Rechtsnormen werden in der Schweiz heute keine eigentlichen Zeugenschutzprogramme durchgeführt. Auf kantonaler Ebene sind zwar Fälle bekannt, in denen gefährdete Personen durch das Zusammenwirken verschiedener Stellen vorübergehend oder gar unter neuem Namen länger in einem anderen Kanton untergebracht werden konnten69. Hier handelt es sich jedoch um Einzelfälle, welche in rechtlicher Hinsicht gestützt auf die allgemeinen Schutzaufgaben des Staates vorgenommen wurden.

Von einem institutionalisierten Zeugenschutz kann auch in diesen Fällen nicht gesprochen werden.

Das Fehlen einer spezifisch auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteten gesetzlichen Regelung führt in der Praxis zu folgenden Rechtsunsicherheiten bzw.

Problemfeldern: ­

67 68

69

70

Fehlende sachliche Aufgabenzuweisung, insbesondere fehlende Kompetenz der BKP: Zeugenschutzmassnahmen nehmen einen speziellen Status ein. Sie dienen zwar der Gefahrenabwehr, gehen aber über den sicherheitspolizeilichen Auftrag der Polizei hinaus. Der Aufgabenbereich «Zeugenschutz» kann deshalb nicht von der Bereitschaftspolizei wahrgenommen werden. In verschiedenen Staaten wurden bei den Polizeikorps spezialisierte Zeugenschutzdienststellen eingerichtet70. Ohne Institutionalisierung des ausserprozessualen Zeugenschutzes und entsprechende Befugnisse können solche Stellen jedoch nicht aufgebaut werden. Dies gilt umso mehr für die mit der Verfolgung von Schwerstkriminalität betraute BKP, welche heute gar nicht

Vgl. das BGer-Urteil 1A.32/1999 vom 13.9.1999, publiziert in EuGRZ 2000, 451.

Schutzbestimmungen, die nicht spezifisch auf die Situation des gefährdeten Zeugen ausgerichtet sind, enthält einerseits die Verordnung über das Sicherheitswesen in Bundesverantwortung (VSB, SR 120.72), nach welcher gefährdete Bundesangestellte Personenschutz sowie technische und bauliche Beratung bei Gefährdung beanspruchen können.

Andererseits gewährt das Opferhilfegesetz (OHG, SR 312.5) Opfern im Sinne des OHG während des Verfahrens einen minimalen Schutz im Sinne von Beratung und Unterstützung.

So erhielt z.B. die Tochter des Verurteilten im Fall des Lehrermords von St. Gallen eine neue Identität (vgl. Tagblatt vom 25. April 2001, «Eine neue Heimat und ein neuer Name»).

Vgl. Österreich, Belgien und Deutschland.

5723

über einen mit dem kantonalen Polizeirecht vergleichbaren sicherheitspolizeilichen Auftrag verfügt.

­

Unklarheit bezüglich örtlicher Zuständigkeit: Bei Zeugenschutzmassnahmen handelt es sich einerseits um Massnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr, andererseits stehen sie in engem Zusammenhang mit einem Strafverfahren. Die Frage nach der örtlichen Zuständigkeit für die Durchführung der ausserprozessualen Zeugenschutzmassnahmen ist ungeklärt (Behörden des Gerichtsstandes oder Behörden am ­ nicht immer gegebenen ­ Wohnsitz der zu schützenden Person?).

­

Fehlen besonderer Befugnis-, bzw. Verpflichtungsnormen: Für das Ergreifen von spezifischen Schutzmassnahmen wie Datensperren bei privaten und öffentlichen Stellen oder Herstellung und Ausgabe von Tarnpapieren für bedrohte Personen sind hinreichend konkrete gesetzliche Grundlagen nötig.

Öffentliche wie private Stellen können ohne gesetzliche Grundlage nicht zu einer Mitwirkung ermächtigt bzw. verpflichtet werden. Ohne gesetzliche Institutionalisierung sind aber auch den bereits weniger eingreifenden Schutzmassnahmen (z.B. Verhaltensberatung, Personen- und Objektschutz, Unterbringung an einem sicheren Ort) ressourcenbedingt von vorneherein Grenzen gesetzt.

­

Erschwerte nationale Koordination: Zur Zielerreichung ist ein koordiniertes und strukturiertes Vorgehen der beteiligten Stellen erforderlich, gerade auch angesichts der kleinräumigen Verhältnisse der Schweiz und deren föderalistischen Strukturen. Eine enge Zusammenarbeit unter den Justiz- und Polizeibehörden von Bund, Kantonen und Gemeinden aber auch weiteren öffentlichen Institutionen und Ämtern (z.B. Bundesamt für Migration, Sozialämter) ist wichtig für eine erfolgreiche Arbeit im Zeugenschutz. Das Fehlen von Zuständigkeits- und Befugnisnormen erschwert die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Stellen.

­

Erschwerte internationale Kooperation: Eine enge internationale Kooperation ist von Bedeutung, da die Schweiz in Fällen extremer Gefährdung zu klein ist, um die Sicherheit des bedrohten Zeugen im Alleingang zu garantieren. Schutzbedürftige Personen könnten bei Notwendigkeit vorübergehend oder längerfristig ins Ausland verbracht werden. Das Fehlen rechtlicher Grundlagen erschwert bzw. verunmöglicht die internationale Zusammenarbeit.

5.2.2

Bedeutung des ausserprozessualen Zeugenschutzes für die Bekämpfung von OK und Terrorismus

Der Bereich der organisierten Kriminalität ist charakterisiert durch seine Abschottung nach aussen und durch planmässiges Vorgehen der Täterschaft. Die professionell agierenden Tätergruppen kennen die Ermittlungsmethoden der Polizei und vermeiden es, Spuren zu hinterlassen, wie zum Beispiel verfängliche Aussagen am Telefon. Die sich häufig als unzureichend erweisende Beweisführung mit Sachbeweisen hat zur Folge, dass vermehrt auf Zeugenaussagen zurückgegriffen werden muss. Besonderes Interesse aus der Sicht der Strafverfolgung gilt den Personen, die wegen ihrer persönlichen Nähe zu der Täterschaft genaue Kenntnisse über deren 5724

Tatbeteiligung, die Tatplanung und -durchführung sowie die Organisationsstrukturen haben und damit eine für das Strafverfahren ausschlaggebende Aussage machen können (tatbeteiligte Zeuginnen und Zeugen, Opferzeuginnen und -zeugen). Diese Bedeutung ist jedoch auch den Verbrechensorganisationen bekannt, welche ihrerseits oft nicht vor Druckausübung oder Racheakten zurückschrecken. Zur Abschirmung der Zeuginnen und Zeugen gegen physischen und psychischen Druck und zur Förderung derer Aussagebereitschaft können sich deshalb je nach Fallkonstellation Massnahmen als erforderlich erweisen, die auf den Schutz der Zeugen oder der ihnen nahe stehenden Personen abzielen.

Ein Blick auf das Ausland zeigt, dass die Entwicklung polizeilicher Zeugenschutzprogramme sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa auf die verstärkte strafrechtliche Ahndung der organisierten Kriminalität zurückzuführen ist. Mit der Erkenntnis, dass die Straftaten krimineller Organisationen nur schwer nachzuweisen sind ohne Zeugen und Informanten, welche über direkte Informationen verfügen, wurden im Ausland die Durchführung umfassender Schutzmassnahmen und letztlich die Einführung spezifischer Strukturen zur Wahrnehmung dieser Aufgaben in Gang gesetzt71. Die jährlichen Lagebilder und Statistiken z.B. von Deutschland bestätigen, dass sich die Zeugenschutzarbeit in der Verfolgung der organisierten und terroristischen Kriminalität bewährt. Heute führen viele EU-Staaten, darunter Länder mit vergleichbarer Grösse bzw. Bevölkerungszahl wie die Schweiz, ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen in unterschiedlicher Tragweite durch72. Im vergangenen Jahr hat der Ministerrat der EU der Kommission zudem den Auftrag erteilt, gestützt auf Vorarbeiten von Europol ein Zeugenschutzprogramm auszuarbeiten73.

Die Schweiz ist durch ihre zentrale geografische Lage, den gut ausgebauten Finanzsektor und modernste Infrastruktur für Gruppierungen der internationalen OK attraktiv. Mit dem Einsatz einer verdeckt ermittelnden Person, mithin einer professionellen Zeugin oder einem professionellem Zeugen, kann eine Tätergruppe allenfalls erfolgreich infiltriert werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine aufwändige und für die betroffenen Angestellten nicht ungefährliche Ermittlungsmethode. Der Rückgriff auf Aussagen von Tatbeteiligten oder Opfern erscheint
deshalb als nahe liegende Alternative. In den Kantonen und bei der BKP sind aber insbesondere in den Bereichen des Drogen- und Waffenhandels, des Menschenhandels und Menschenschmuggels bzw. der OK Fälle bekannt, in welchen potentielle Zeugen aus Angst oder nach massivsten Drohungen nicht bereit waren, belastende Aussagen ohne einen adäquaten Schutz zu machen. Erfahrungen der BKP zeigen zudem, dass bereits zu Beginn des Verfahrens Bedingungen geschaffen werden müssten, welche ein aktives Ermitteln mit adäquatem Schutz für Zeuginnen und Zeugen ermöglichen würden. Da sich Täterschaft und Zeuge meist kennen, erweisen sich prozessuale Massnahmen, wie die Anonymisierung im Verfahren, oft als ungenügend. In diesen Fällen besteht das Risiko, dass der Täter aus den Umständen (z.B. Inhalt der Aussage) auf die Identität des Zeugen schliessen oder dessen Identität auf andere Weise ausfindig machen könnte.

71

72 73

Vgl. die Angaben zu einzelnen Ländern im Gutachten über Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen vom 16.12.2005, Avis 05-161 und Buggisch Walter, Zeugenbedrohung und Zeugenschutz in Deutschland und den USA, Berlin 2001, 303.

Z.B Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Spanien, Belgien, Holland, Tschechien, England, Norwegen, Schweden.

Mitteilung der Kommission vom 10.6.2005.

5725

Ein ausserprozessualer Zeugenschutz wäre in der Schweiz auch im Zusammenhang mit der in Artikel 260ter Ziffer 2 StGB als «Belohnung» vorgesehenen Strafmilderung für Überläufer im Bereich der OK wichtig. Gerade in Kreisen der OK ist das Risiko gross, sich durch eine Aussage der Gefahr von Racheakten auszusetzen. Die Zusicherung der Strafmilderung mag in diesem Sinne ein Anreiz sein, ausschlaggebend wird in diesem Fall jedoch die Gewährung eines entsprechenden Schutzes sein.

Das Vorsehen von ausserprozessualen Schutzmöglichkeiten könnte dieser Bestimmung in der Praxis wohl zu zusätzlicher Relevanz verhelfen74.

5.3

Beurteilung

Die Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, dass eine erfolgreiche Bekämpfung von terroristischer Gewaltkriminalität und OK mangels Sachbeweisen häufig nur mit Hilfe von Zeugenaussagen möglich ist. Die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft gefährdeter Zeugen kann jedoch oft nur durch Gewährung von entsprechendem Zeugenschutz erreicht werden. Prozessuale Schutzrechte, wie sie heute im schweizerischen Recht bereits teilweise vorgesehen und auch in der E-StPO geplant sind, stellen einen wichtigen Teil des Zeugenschutzes dar. Sie genügen jedoch dann nicht mehr, wenn der Täter den Zeugen kennt bzw. dessen Identität in Erfahrung bringen könnte. Im Falle drohender Einschüchterungs- bzw.

Racheakte können deshalb angemessene ausserprozessuale Schutzmassnahmen (Massnahmen ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen sowie nach Abschluss des Verfahrens) sich häufig allein als geeignet erweisen, dass der Zeuge seine Aussage aufrecht hält.

Mangels spezifisch auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteter Rechtsnormen werden in den Verfahren der BKP heute keine Zeugenschutzprogramme durchgeführt. Dies führt in der Praxis wiederholt dazu, dass sich gefährdete Zeugen mit relevanten Wahrnehmungen zum Sachverhalt nicht zu einer Aussage bewegen lassen, die Strafverfolgung mithin faktisch nicht sämtliche Beweismittel ausschöpfen kann75.

5.4

Massnahmen

5.4.1

Ausgestaltungsmöglichkeiten von ausserprozessualem Zeugenschutz

Der Begriff Zeugenschutzprogramm wird oft mit der aus Literatur und Filmwelt bekannten kompletten Identitätsänderung und dem Beginn eines neuen Lebens an einem anderen Ort gleichgesetzt. Zur Ausgestaltung des ausserprozessualen Zeugenschutzes bieten sich jedoch mehr oder weniger weitgehende Varianten an. So sind Schutzmassnahmen in verschiedener Abstufung von der Verhaltensberatung, der 74

75

In diesem Sinne auch Trechsel Stefan, Kurzkommentar Schweizerisches Strafgesetzbuch, 3. Aufl., Art. 260ter Ziff. 12. Auch Frankreich hat 2004 angesichts der Entwicklungen in der organisierten Kriminalität Bestimmungen eingeführt zum ausserprozessualen Schutz von tatbeteiligten Zeugen, welche durch ihre Aussagen die Ausführung weiterer Taten verhindert haben und dafür Strafmilderung oder -befreiung erhalten.

Vgl. dazu auch Hug Thomas, Zeugenschutz im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen der Verfahrensbeteiligten, ZStrR 116 1998, 405.

5726

vorübergehenden Unterbringung an einen sicheren Ort, der Ausstattung mit Tarnpersonalien bis hin zur Maximalvariante der kompletten Identitätsänderung denkbar76. Auch die Zielgruppe kann unterschiedlich weit gefasst werden und so nur bestimmte Zeugenkategorien oder nur Zeugen bestimmter Ermittlungsverfahren der Schwerstkriminalität anvisieren und Angehörige einschliessen oder nicht.

Die mit dem Zeugenschutz verbundenen Auswirkungen, insbesondere Kosten und Aufwand sowie mögliche rechtliche und tatsächliche Probleme variieren von Fall zu Fall und sind stark abhängig von der Art und Dauer der vorgesehenen Schutzmassnahmen. Erhebliche Kostenfolgen sowie rechtliche Auswirkungen zeigen sich in Fällen, in welchen neben Schutzmassnahmen wie der Verbringung an einen anderen Ort eine Tarnidentität geschaffen oder gar eine dauernde Identitätsänderung vorgenommen wird. Zum Aufbau der Tarnidentität bzw. zur Verhinderung einer Rekonstruktion der alten Identität sind unter Umständen Datenmanipulationen in zahlreichen Personenregistern erforderlich77. Zu beachten ist, dass dadurch Dritte, wie Gläubigerinnen oder Gläubiger, nicht in ihrer Rechtsposition beeinträchtigt werden dürfen. Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen aber, dass solchen Situationen in verschiedener Weise entgegengewirkt werden kann78.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass das längerfristige Leben unter einer Tarnidentität in einem neuen sozialen Umfeld für den Zeugen sowie eventuelle Angehörige zu einer psychischen Belastung werden oder umgekehrt ein mögliches Entstehen von Anspruchsmentalität die Reintegration ins normale Leben nach Wegfall der Gefährdung erschweren kann. Neben der vorgängigen Eignungsprüfung als Kriterium für die Aufnahme in ein Programm ist deshalb auch eine angemessene Begleitung und Betreuung durch die für den Zeugenschutz verantwortliche Stelle wichtig.

Zur Wahrnehmung der Zeugenschutzaufgaben werden in verschiedenen Staaten spezialisierte Zeugenschutzdienststellen vorgesehen, welche die administrativen und operativen Aufgaben übernehmen79. Die Genehmigungsinstanzen sind für Massnahmen wie den Aufbau einer Tarnlegende teils auf Ministerebene angesiedelt80.

Die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass mit Betreuungs- und Hilfsvorkehrungen sowie vorübergehender Verbringung an einen anderen Ort bereits in vielen Fällen dem
konkreten Schutzbedürfnis entsprochen werden konnte.

Was allfällige Zeugenschutzfälle aus kantonalen Strafverfahren betrifft, wäre in der Schweiz aus Sicherheitsgründen ein bundeseinheitliches Zeugenschutzverfahren anzustreben. Wirksamer Schutz bedingt insbesondere in der kleinräumigen Schweiz eine Kooperation, welche nur mit einheitlichen Voraussetzungen und Standards erfolgreich durchgeführt werden kann. Es bleibt zu prüfen, inwieweit eine allfällige

76

77

78

79 80

Entsprechend sehen z.B. einzelne europäische Länder (wie z.B. Deutschland, Österreich, Norwegen) nur den Aufbau einer (vorübergehenden) Tarnidentität vor. Die Möglichkeit zur kompletten Identitätsänderung sehen z.B. Italien, Schweden und Belgien vor.

Gemeinde, Kanton und Bund, Sozialversicherung, Armee etc. Bei kompletten Identitätsänderungen stellen die rechtlichen Konsequenzen im Falle von Scheidung, Heirat, Geburt von Kindern heikle Fragen.

Die Zeugenschutzdienststellen im Ausland übernehmen wegen der Existenz der zwei verschiedenen Identitäten im Geschäftsverkehr eine Schnittstellenfunktion. Sie erledigen die nötigen Geschäfte. Der missbräuchliche Umgang mit den Tarnpapieren kann zu einem Ausschluss aus dem Programm führen.

Die Grösse dieser Dienststelle beläuft sich in Ländern wie Österreich, Belgien oder Holland auf ca. 1 Mitarbeiter pro 1 Mio Einwohner.

Vgl. Österreich, Belgien und Holland.

5727

bundesweite Regelung mit der bestehenden verfassungsmässigen Kompetenzverteilung vereinbar wäre81.

5.4.2

Vorschläge im Hinblick auf eine Umsetzung in der Schweiz

In Abwägung der Vor- und Nachteile des ausserprozessualen Zeugenschutzes können aus Sicht des Bundesrates verhältnismässig angewandte Massnahmen im Bereich des ausserprozessualen Zeugenschutzes ein wirksames Mittel für eine effiziente Strafverfolgung der Bundesbehörden sowie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen darstellen.

Als Zielgruppe kämen primär gefährdete Personen in Betracht, die in Ermittlungsverfahren der schweren und Schwerstkriminalität, insbesondere OK und terroristische Gewaltkriminalität über Wissen verfügen, das wesentlich zum Verfahrensausgang beiträgt. Es dürfte sich dabei v.a. um tatbeteiligte und professionelle Zeuginnen und Zeugen sowie Opferzeuginnen und -zeugen handeln. Nötigenfalls auch vom Schutz erfasst werden müssten Personen, deren Gefährdung aus ihrer Mitwirkung am Verfahren resultiert wie z.B. Richter sowie den Zeugen nahe stehende Menschen, da gerade deren Gefährdung ein geeignetes Druckmittel gegenüber der aussagenden Person darstellt.

Aus Sicht des Bundesrates steht nicht die Möglichkeit einer kompletten Identitätsänderung im Vordergrund. Zu denken wäre vielmehr an Massnahmen wie die Übersiedelung an einen anderen Ort sowie die Möglichkeit zur Schaffung einer vorübergehenden Tarnidentität.

Angesichts der vorne in Ziffer 5.2.2 geschilderten Probleme sind zur Durchführung von ausserprozessualem Zeugenschutz auf formell-gesetzlicher Stufe neue Rechtsgrundlagen zu schaffen, welche eine koordinierte, einheitliche und auf die internationale Zusammenarbeit ausgerichtete Arbeit ermöglichen82. Den Bundesbehörden soll in ihrem Kompetenzbereich die Befugnis für das Ergreifen von Schutzmassnahmen zugewiesen werden; des Weiteren wären die Voraussetzungen für das Ergreifen von Zeugenschutzmassnahmen zu regeln sowie die Mitwirkungspflichten von Behörden bzw. privaten Stellen zu verankern (z.B. für den Aufbau einer vorübergehenden Tarnidentität, zur Errichtung von Weitergabesperren für Daten oder betreffend Geheimhaltung). Mögliche Regelungsorte sind ein Spezialerlass zum Zeugenschutz oder punktuelle Modifizierungen geeigneter anderer Erlasse.

Der Bundesrat beauftragt das EJPD, im Bundesrecht Voraussetzungen für die Durchführung ausserprozessualer Zeugenschutzmassnahmen zu schaffen.

81

82

Aufgrund des engen Konnexes mit dem Strafverfahren als eigentliche Ursache des Zeugenschutzes ist sie zumindest nicht von vorneherein ausgeschlossen. Vgl. hierzu auch das Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen vom 11. Dezember 2001 in Deutschland.

Vgl. die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates vom 20. April 2005 (Recommandation Rec(2005)9 relative à la protection des témoins et des collaborateurs de justice), die bei der Ausarbeitung allfälliger gesetzlicher Grundlagen zu berücksichtigen sein wird.

5728

6

Nutzung von Funkaufklärungs- und Fernmeldeüberwachungsmitteln

6.1

Ausgangslage

Die Mittel der Funkaufklärung im VBS (Abteilung EKF) werden zur Beschaffung von Informationen im Ausland eingesetzt und heute ausschliesslich von den Nachrichtendiensten genutzt. Die Funkaufklärung ist zu unterscheiden von der Fernmeldeüberwachung. Die Fernmeldeüberwachung dient der Beschaffung von Informationen im Inland und wird vom UVEK (DBA) im Auftrag der Strafverfolgungsbehörden durchgeführt.

Der rasche Technologiewandel im weltweiten Telekommunikationsbereich und die steigende Komplexität stellen hohe Anforderungen an die Funkaufklärungs- und Fernmeldeüberwachungsorganisationen. Was den Fernmeldebereich betrifft, wird in Zukunft die herkömmliche Telefonie über die Schaltzentralen der Telefongesellschaften in zunehmendem Mass durch die Internettelefonie (Voice over IP) verdrängt. Bei der Internettelefonie werden die Gespräche als Datenpakete über das Internet vermittelt und umgehen damit die Schaltzentralen der Fernmeldedienstanbieter, wo bisher die Fernmeldeüberwachung angesetzt hat. Im Internet werden die Datenpakete je nach Verfügbarkeit des Netzes auf verschiedenen Wegen geroutet und erst am Ziel wieder zusammengesetzt; dies erschwert die Überwachung des Fernmeldeverkehrs beträchtlich.

Das Postulat thematisiert die Verwendung der Mittel der elektronischen Kriegführung zugunsten der Strafverfolgungsbehörden des Bundes. Es soll insbesondere abgeklärt werden, ob die Mittel der Funkaufklärung im Auftrag der BA eingesetzt werden können, wenn für die Informationsbeschaffung im Ausland keine Rechtshilfe möglich ist. Neben der Prüfung dieser Frage wird in diesem Kapitel auf weitere Aspekte einer Effizienzsteigerung der Nutzung von Funkaufklärungs- und Fernmeldeüberwachungsmittel eingegangen, weil beide teilweise auf ähnlichen oder gleichen Technologien basieren.

6.2

Ist-Zustand

6.2.1

Informationsbeschaffung der Strafverfolgungsbehörden des Bundes im Ausland

Die BA und das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt als Organe der Strafverfolgung bzw. Anklagebehörden beschaffen sich die im Rahmen von Strafverfahren erforderlichen Dokumente und Informationen im Ausland nach den Regeln der Amts- und Rechtshilfe, welche sich nach dem geltenden Landesrecht und den anwendbaren völkerrechtlichen Instrumenten richten83. Soweit Beweismittel durch Überwachungsmassnahmen beschafft werden, die üblicherweise stark in die Grundrechte der verdächtigten Personen eingreifen, werden hohe Anforderungen an die Bestimmtheit der anwendbaren gesetzlichen Regelung und die gerichtliche Überprüfbarkeit der darauf abgestützten Entscheidungen gestellt. Dies betrifft auch die 83

ZentG (Art. 2 ff), StGB (Art. 351ter ff.), IRSG (Art. 27 ff. und Art. 63 ff.), Bundesgesetz vom 22. Juni 2001 über die Zusammenarbeit mit dem internationalen Strafgerichtshof (Art. 10 und 11, SR 351.6) sowie eine grosse Zahl völkerrechtlicher Verträge.

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Art und Weise der Beschaffung von Informationen, die im Verfahren als Beweismittel Verwendung finden sollen.

Die Erhebung von Beweismitteln im Ausland richtet sich dem Territorialitätsgrundsatz folgend vorweg nach dem jeweiligen Landesrecht. Handelt es sich um nicht frei zugängliche Unterlagen, dürfen diese nur von zuständigen Behörden bzw. mit deren Einverständnis im Rahmen des örtlichen Rechts erhoben bzw. verwendet werden.

Fände eine solche Beschaffung im Interesse der Strafverfolgung ohne das Einverständnis der zuständigen lokalen Behörden statt, müsste dies als unzulässiger Hoheitsakt auf dem Territorium eines fremden Staates gelten. Insofern hat die Beschaffung von Informationen aus dem Ausland, die nicht auf der Auswertung allgemein verfügbarer Quellen beruht, auf dem Wege der internationalen Rechtshilfe zu erfolgen, unabhängig davon, welche technischen Mittel zum Einsatz kommen.

Zurzeit existiert keine gesetzliche Grundlage zur Überwachung ausländischer Fernmeldeverbindungen durch die Mittel der Funkaufklärung der EKF zugunsten der Strafverfolgungsbehörden des Bundes.

6.2.2

Nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung im Ausland

Die Beschaffung nachrichtendienstlicher Informationen aus dem Ausland stützt sich auf Artikel 99 MG84. Die Funkaufklärung der EKF stellt hierfür ein mögliches Mittel zur Informationsgewinnung dar. Der Inlandnachrichtendienst DAP kann gemäss Artikel 9a VWIS der Abteilung EKF Aufträge zur Überwachung ausländischer Fernmeldeverbindungen erteilen. Die Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte überprüfte 2003 als Aufsichtsbehörde der Nachrichtendienste den Einsatz des Satellitenaufklärungssystems des VBS (Projekt ONYX). Sie kam in ihrem Bericht vom 10. November 2003 zum Schluss, dass eine explizite Regelung der Kommunikationsaufklärungen im Ausland im Militärgesetz zu prüfen sei und eine Regelung solcher Aufklärungen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zwingend in einem Gesetz zu erfolgen hat. Die gesetzliche Regelung wird im Rahmen der laufenden Revision des BWIS (Revisionspaket BWIS II) aufgenommen. Dieses wird voraussichtlich in diesem Jahr in die Vernehmlassung gehen. Die Revisionsvorlage sieht unter anderem vor, im BWIS den Artikel 9a VWIS über die Funkaufklärung zu übernehmen. Auf der Ebene des MG wird zudem eine neue Bestimmung über die Funkaufklärung zugunsten der Nachrichtendienste im VBS eingeführt.

6.2.3

Weiterleitung von Zufallsfunden

Soweit die Organe der EKF Informationen aus dem Ausland aus der ständigen Funkaufklärung gewinnen, können diese an fedpol weitergeleitet werden, wenn sie für die innere Sicherheit der Schweiz oder für die Strafverfolgung von Bedeutung sein können (Weiterleitung so genannter Zufallsfunde)85. Diese Informationen stehen damit im Grundsatz auch der BA zur Verfügung. Es ist dann deren Aufgabe, die strafprozessuale Verwertbarkeit dieser Informationen zu prüfen bzw. ihre Ver84 85

Die gesetzliche Grundlage für die Beschaffung nachrichtendienstlicher Informationen im Inland stellt heute das BWIS dar.

Art. 99 Abs. 2bis MG, Art. 5 Abs. 3 der VEKF

5730

wertbarkeit zugunsten gerichtlicher Verfahren allenfalls durch eine ergänzende Beweiserhebung zu erhärten. Es ist zu beachten, dass die im Ausland aus der ständigen Funkaufklärung gewonnen Informationen unter Quellenschutz stehen86.

Ein Vergleich mit Regelungen der Funkaufklärung im Ausland zeigt, dass der Datenaustausch und die Zusammenarbeit von Nachrichten- und Justizorganen, sofern der Vorgang in die sachliche Zuständigkeit der mitwirkenden Behörden fällt, zulässig ist. In Deutschland und Österreich sind der Austausch und die Zusammenarbeit jedoch lediglich auf Einzelfälle beschränkt. Die Regelung der Zulässigkeit nach der Art der Quelle (so namentlich in der VEKF) ist eine schweizerische Eigenheit.

6.3

Beurteilung

Die Tatsache, dass die EKF Zufallsfunde an fedpol weitergeben kann, wenn sie für die innere Sicherheit der Schweiz oder für die Strafverfolgung von Bedeutung sein können, und diese Informationen dann auch der BA zur Verfügung stehen, legitimiert die BA nicht zu einer direkten bzw. gezielten Auftragserteilung an die EKF zur Informationsgewinnung im Ausland. Eine unmittelbare Überwachung ausländischer Fernmeldeverbindungen durch die Organe der EKF im Auftrag und zuhanden der BA erscheint daher nach dem geltenden Recht unzulässig.

Dass eine solche Überwachung gemäss Wortlaut des Postulats nur in Ausnahmefällen, d.h. bei Unmöglichkeit von Rechtshilfeverfahren oder zeitlicher Dringlichkeit angestrebt wird, ändert an der Rechtslage nichts. Zu bedenken wäre auch, dass sich die aus der Funkaufklärung gewonnenen Informationen nicht mit den auf dem Rechtshilfeweg beschafften Informationen vergleichen lassen. Die über die EKF gewonnen Informationen sind nie vollständig und wegen den Anforderungen des Quellenschutzes kaum gerichtsverwertbar. Ergänzende Beweiserhebungen wären damit ohnehin noch nötig. Aus heutiger Sicht ist damit der tatsächliche Nutzen einer Auftragserteilung der BA an die EKF zur Gewinnung von Informationen im Ausland im Hinblick auf eine effiziente Terrorismus und OK-Bekämpfung nicht hinreichend bestimmbar. Ein Bedarfsnachweis konnte noch nicht erbracht werden. Aufgrund dieser Umstände ist aus der Sicht des Bundesrates zum heutigen Zeitpunkt die Schaffung einer formellgesetzlichen Grundlage ­ die hier nötig wäre ­ für die Nutzung der Mittel der EKF zugunsten der BA zur Beschaffung von Informationen im Ausland nicht in Erwägung zu ziehen.

Hinsichtlich einer allfälligen Erteilung von Aufträgen durch die BKP in ihrer Eigenschaft als gerichtliche Polizei an die Organe der EKF für eine unmittelbare Überwachung ausländischer Fernmeldeverbindungen gelten die gleichen Überlegungen wie zur Auftragserteilung durch die BA.

86

Art. 99 Abs. 4 MG

5731

6.4

Massnahmen

Da zurzeit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf ausgewiesen ist, sind es vorerst organisatorische Massnahmen, die zu einer effizienteren und effektiven Nutzung der Funkaufklärungs- und Fernmeldeüberwachungsmittel beitragen:

6.4.1

Verstärkung der Zusammenarbeit

Die vorhandenen Möglichkeiten in der Informationsweitergabe sind zu nutzen und sollen gezielter ausgeschöpft werden. Dabei soll die Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der rechtlichen Grundlagen gefördert werden. Der Bundesrat beschloss am 22. Juni 2005 Massnahmen zur Verbesserung der Koordination und Funktion der Nachrichtendienste. Es ist vor allem vorgesehen, in Bereichen, wo beide Nachrichtendienste tätig sind, so genannte Auswerte- und Analyseplattformen zu schaffen.

Dort arbeiten die Auswerte- und Analyseabteilungen beider Dienste zusammen, um ihre Tätigkeit abzugleichen und die vorhandenen Informationen zusammenzubringen. Betroffen sind die Themenbereiche Terrorismus, Proliferation und OK. Die Zusammenarbeit im Auswerte- und Analysebereich wird auch zur Folge haben, dass die Beschaffungsmittel koordinierter angesteuert werden, da die Plattformen die Nachrichtenbedürfnisse entsprechend abstimmen können. Damit werden auch die Beschaffungsmittel der EKF im nachrichtendienstlichen Bereich effizienter genutzt und die Weiterleitung allfälliger Erkenntnisse an die Strafverfolgungsorgane koordiniert.

Da ­ wie eingangs erwähnt ­ die Funkaufklärung und Fernmeldeüberwachung auf ähnlichen oder gleichen Technologien basieren, ist die technische Zusammenarbeit in diesen Bereichen zu intensivieren, damit die vorhanden Ressourcen und das bestehende Know-how möglichst effizient und effektiv eingesetzt werden können.

Der teilweise bereits bestehende Informationsaustausch zwischen den beteiligten Verwaltungseinheiten sollte weiter intensiviert werden. Mit einem regelmässigen Erfahrungsaustausch sollen vorhandene Synergien erkannt und genutzt werden. Dies könnte auch zu gemeinsamen Studien führen. Zukünftige Konzepte für gemeinsame Systembeschaffungen bis hin zu einem Verbund der technischen Mittel sind zu prüfen.

6.4.2

Prüfung einer Nutzung der Funkaufklärungsmittel im Inland

Gesetzlich ist heute eine Überwachung inländischer Kommunikationsnetzwerke durch die EKF nicht zulässig, da gemäss Artikel 5 Absatz 1 VEKF deren Aktivitäten auf die Erhebung von Nachrichten über das Ausland beschränkt ist. Angesichts des raschen Technologiewandels könnte jedoch zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der Fernmeldeüberwachung im Inland ein Einsatz der Funkaufklärungsmittel der EKF in Erwägung gezogen werden (vgl. Ziff. 6.1). Bezüglich der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung wird im Rahmen der BWIS-Revision unter restriktiven Bedingungen eine allfällige Überwachung von Inlandzielen im Auftrag des DAP geprüft. Hinsichtlich der Beschaffung von Informationen durch die Strafverfolgungsbehörden des Bundes wurden bereits erste technische Abklärungen von Seiten der Abteilung EKF und des DBA getroffen. Diese werden weitergeführt.

5732

Der Bundesrat wird darauf achten, dass die betroffenen Behörden mit der technischen Entwicklung Schritt halten. Der Bundesrat will über neue Tendenzen laufend informiert werden und behält sich vor, zu gegebener Zeit entsprechende Massnahmen einzuleiten.

7

Dechiffrierung von Kommunikationsverbindungen

7.1

Ausgangslage

Ein weiteres Anliegen des Postulats ist die Prüfung der Frage, ob die Hersteller von Satellitentelefonen in einer gesetzlichen Grundlage verpflichtet werden können, die angewandte Verschlüsselungstechnik bekannt zu geben.

Durch die Tatsache, dass die Kommunikation zwischen Satellitentelefonen zum Teil chiffriert ist, wird die Überwachungs- und Aufklärungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste drastisch erschwert. Neben Satellitentelefonen gibt es auch andere Kommunikationsmittel, bei denen Chiffrierung vorkommt. Die Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich deshalb auf jegliche Form chiffrierter Kommunikation.

Eine Verpflichtung der Hersteller von Chiffriergeräten, die angewandte Verschlüsselungstechnik zu hinterlegen, könnte die Überwachung erleichtern. Würde eine entsprechende Bestimmung eingeführt, könnten die Hersteller grundsätzlich zur Hinterlegung der verwendeten Chiffrierschlüssel oder der Beschreibungen der angewandten kryptologischen Verfahren verpflichtet werden. Im ersten Fall könnten sich die Behörden ­ in einem rechtlich streng geregelten Verfahren ­ die hinterlegten Schlüssel verschaffen, um damit die entsprechende Kommunikation zu entschlüsseln (dechiffrieren). Im zweiten Fall wäre die hinterlegte Beschreibung der angewandten Verfahren für eine allfällige Dekryptierung der verschlüsselten Daten von Nutzen: Ein Chiffrat resp. ein Verfahren zu dekryptieren, bedeutet, den Klartext ohne Kenntnis des Schlüssels zu rekonstruieren. Dazu müssen allerdings Sicherheitslücken im Verfahren bestehen. Um allfällige Sicherheitslücken aufspüren zu können, sind detaillierte Beschreibungen der Verfahren notwendig. Falls also die Hersteller verpflichtet wären, die Verschlüsselungsverfahren zu hinterlegen, würde damit die Ausgangslage für die Dekryptierarbeit verbessert.

7.2

Ist-Zustand

Im VBS gibt es eine Gruppe kryptologischer Experten, die einen systematischen produktiven Dekryptierbetrieb unterhält. Diese Gruppe arbeitet eng mit der EKF zusammen. Die Dekryptierung erfolgt fast ausschliesslich zu Gunsten der Aufklärung, in erster Linie für den strategischen Nachrichtendienst SND. Für die Strafverfolgungsbehörden wird gegenwärtig kaum (gezielt) dekryptiert. Obwohl im Bereich chiffrierter Kommunikation beachtliche Erfolge erzielt werden, können bei weitem nicht alle chiffrierten Meldungen entschlüsselt werden. Gesetze, welche die Chiffrierung einschränken, könnten daher nützlich sein. In der Schweiz gibt es zurzeit weder im FMG oder im BÜPF, noch in einem anderen Gesetz entsprechende Restriktionen.

Immerhin müssen die Fernmeldedienstanbieter im Fall einer Überwachung gemäss Artikel 15 Absatz 4 BÜPF die von ihnen angebrachten Verschlüsselungen entfernen.

5733

Um den Aufklärungs- und Überwachungsbehörden den Zugang zu den Inhalten chiffrierter Meldungen zu erleichtern, könnten die folgenden zwei gesetzlich abgestützten technischen Massnahmen in Betracht gezogen werden.

7.2.1

Errichtung eines nationalen Schlüsselhinterlegungssystems und gleichzeitigem Verbot von Chiffrierung ohne Schlüsselhinterlegung

Die Einführung eines nationalen Systems zur Schlüsselhinterlegung (Key Escrow System) würde bedeuten, dass in der Schweiz nur Verschlüsselungstechniken verwendet werden dürften zu deren Beschreibung und verwendeten Schlüssel die Behörden im Bedarfsfall Zugang hätten; zudem müsste mit technischen Mitteln verhindert werden, dass die Benutzer der Chiffriergeräte Schlüssel verwenden könnten, die nicht bei der Schlüsselhinterlegungsstelle (Key Escrow) deponiert sind.

Denkbar wäre auch eine Verteilung der Schlüssel durch die Key Escrow selbst.

Konsequenterweise müsste gleichzeitig jegliche Art der Chiffrierung verboten werden, die nicht der Key Escrow unterliegt.

7.2.2

Verbot von Chiffriergeräten, deren Algorithmen nicht hinterlegt sind

Weit weniger einschneidend als die Errichtung eines Schlüsselhinterlegungssystems wäre ein System zur Hinterlegung der verwendeten kryptographischen Verfahren.

Die Hinterlegung der verwendeten Schlüssel selbst würde hier entfallen. Ein solches System zur Verfahrenshinterlegung ist technisch sehr einfach umzusetzen, da die Benutzer ihre verwendeten Schlüssel selbst definieren und sie jederzeit nach ihrem Gutdünken wechseln können. Wie bei der Key Escrow müsste die Verwendung nicht hinterlegter Verfahren unter Strafe gestellt werden.

7.2.3

Internationaler Rechtsvergleich

Nicht nur in der Schweiz bestehen keine rechtlichen Grundlagen, welche die Verwendung kryptographischer Mittel einschränken. Verschlüsselung darf auch in der Europäischen Union uneingeschränkt eingesetzt werden. Der letzte umfassende Vergleich zur internationalen Rechtslage über Regulierung der Verwendung von kryptologischen Methoden wurde im Jahresbericht 2000 des Electronic Privacy Information Center87 herausgegeben. Er zeigt Folgendes: ­

87

Die private Verwendung der Kryptographie durch ihre Bürger wird weltweit nur in wenigen Staaten einschränkt. Dabei handelt es sich vorwiegend um frühere Sowjetrepubliken und Staaten mit autoritären Regierungsformen.

Grossbritannien ist der einzige westliche Staat, der für eine einschränkende Regelung eintritt.

http://www2.epic.org/reports/crypto2000

5734

­

7.3

Die meisten Länder gewichten die Sicherheit elektronischer Informationen für e-Commerce, den Schutz vor elektronischer Spionage und den Persönlichkeitsschutz so hoch, dass sie auf eine einschränkende Verwendung der Kryptographie verzichten. Die 1997 publizierten «OECD Guidelines on Cryptography Policy» und der 1998 publizierte Bericht der Europäischen Kommission unterstützen ausdrücklich die ungehinderte Entwicklung von kryptologischen Produkten und Dienstleistungen. Nach der Veröffentlichung der vorgenannten Berichte haben Kanada, Deutschland, Irland und Finnland nationale Kryptographiestrategien beschlossen, welche die ungehinderte Verwendung von Kryptologie bevorzugen. Andere Länder haben ihre Position bezüglich der Regelung der Kryptologie geändert, allen voran Frankreich, welches die Verwendung lange Zeit einschränkte und im Januar 1999 eine vollständige Freigabe veranlasste.

Beurteilung

Wenn ein Schlüssel-Hinterlegungssystem (Key Escrow System) errichtet würde, müssten alle bereits eingeführten (teuren) Kryptosysteme ersetzt werden. Deren Ablösung würde erhebliche Kosten für die Benutzer nach sich ziehen und wäre daher politisch kaum durchsetzbar. Die konzentrierte Speicherung aller Schlüssel in einem nationalen System, würde dieses zudem zu einem lohnenden und entsprechend gefährdeten Angriffspunkt für Wirtschaftsspionage machen. Der organisatorische und technische Aufwand für den Schutz der hinterlegten Benutzerschlüssel sowie die aufzubauende Administration würde dem Staat massive Kosten verursachen, deren Abwälzbarkeit auf die Benutzer fragwürdig wäre. Ein solches Key Escrow System wurde übrigens anfangs der Neunzigerjahre von den USA ernsthaft in Betracht gezogen (Clipper-Initiative), aber aus den hier dargelegten Gründen wieder fallen gelassen.

Da die Hinterlegung der verwendeten kryptographischen Verfahren nur dann Sinn macht, wenn diese auch tatsächlich schwach sind, d.h. Sicherheitslücken aufweisen, würde ein entsprechendes Gesetz eine signifikante Zahl schwacher proprietärer Kryptosysteme suggerieren. Es könnte sogar der falsche Eindruck entstehen, dass alle in der Schweiz zugelassenen Kryptosysteme schwach sind. Dies könnte unseren weltweit gut etablierten Kryptofirmen erheblichen Schaden zufügen: Wenn nämlich eine Schweizer Firma ihre Verfahren hinterlegen würde, um auf dem Binnenmarkt tätig sein zu können, müsste sie mit Einbussen im Exportgeschäft rechnen.

Beide Massnahmen müssten mit einem Verbot anderer Chiffriersysteme durchgesetzt werden. Ein Verstoss dagegen wäre ­ wenn überhaupt ­ nur äusserst schwer feststellbar und im Falle der strafrechtlichen Ausgestaltung der Verbotsnormen könnte das maximal vertretbare Strafmass dafür kaum so hoch angesetzt werden, dass es eine generalpräventive Wirkung auf harte Kriminelle entfalten könnte.

Abgesehen davon würde sich die Schweiz mit der Einführung entsprechender Verbote international klar ins Abseits stellen. Die beschriebenen Verbote erweisen sich somit weder als taugliche noch effiziente Mittel für eine erleichterte Aufklärungsund Überwachungsarbeit. Der Bundesrat kommt daher zum Schluss, dass für die Erleichterung der Dechiffrierung von Kommunikationsverbindungen keine gesetzgeberischen Massnahmen zu ergreifen sind.

5735

7.4

Massnahmen

Der Bundesrat sieht jedoch folgende Massnahmen vor:

7.4.1

Nutzung des Dekryptierbetriebs auch zugunsten der Strafverfolgungsbehörden

Die Dekryptierfähigkeit hat auch in Zukunft für die Informationsbeschaffung eine grosse Bedeutung. Mit den aktuellen personellen Ressourcen lassen sich in etwa die sich aus der strategischen Aufklärung ergebenden Bedürfnisse abdecken. Um eine weitergehende Aufklärungsarbeit sicherzustellen und auch die zunehmenden Bedürfnisse der Strafverfolgungsbehörden abdecken zu können, muss der Einsatz zusätzlicher Ressourcen geprüft werden.

7.4.2

Technische Zusammenarbeit zwischen den betroffenen inländischen Behörden

Jede Tätigkeit im Internet hinterlässt unbeabsichtigte und unvermeidbare Spuren an allen möglichen Orten. Dies ist zum einen eine Chance für die Aufklärungs- und Überwachungsarbeit. Andererseits erfordern Analyse und Synthese der oft nur fragmentarisch erfassbaren Informationen eine vernetzte Zusammenarbeit von Kryptologen sowie Netzwerk- und Systemspezialisten. Der Bundesrat wird darauf achten, dass die involvierten Organisationseinheiten ihre Zusammenarbeit intensivieren.

8

Verlängerte Aufbewahrungsdauer von Fernmeldedaten

8.1

Ausgangslage

Die Verfasser und Verfasserinnen des Postulats sind der Ansicht, dass die für die rückwirkende Telekommunikationsüberwachung anwendbare Datenaufbewahrungsfrist von sechs Monaten zu kurz sei. Gewünscht wird die Prüfung, ob und wie das BÜPF und die VÜPF angesichts der praktischen Erfahrungen angepasst werden könnten. Die Idee ist, die Anforderungen im Bereich der Datenaufbewahrung, die für die Strafverfolgung von erstrangiger Bedeutung sind, zu verschärfen, vor allem hinsichtlich der Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens.

Unter dem Begriff Telefongesprächsdaten ist jede Form von fernmeldetechnischer Übertragung im Sinne von Artikel 3 FMG zu verstehen. Gemeint ist nicht allein die Übertragung über das Festnetz-Telefon, sondern auch die Übertragung via Mobilfunk, Telefax, Pager und weitere neue Kommunikationsformen, welche vor allem durch das Internet angeboten werden.

5736

8.2

Ist-Zustand

8.2.1

Gesetzliche Grundlagen

Die vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtsnormen sollen es den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, ihrer Ermittlungsarbeit nachzugehen, wenn Informationen, die als Beweismittel dienen können, über Fernmeldeverbindungen übermittelt werden. So verankerte der Gesetzgeber im BÜPF den Grundsatz, wonach die Fernmeldedienstanbieter dazu verpflichtet werden, Kommunikationsdaten während sechs Monaten aufzubewahren. Die einschlägige Bestimmung ist Artikel 15 Absatz 3 BÜPF, welche in Zusammenhang mit Artikel 45 FMG und Artikel 60 der Verordnung vom 31. Oktober 2001 über Fernmeldedienste (FDV) gesetzt werden muss88.

Diese Aufbewahrungsdauer findet sich auch in anderen Bestimmungen89.

Als das BÜPF ausgearbeitet wurde, lösten die Kriterien, die zur Festlegung einer Aufbewahrungsdauer von sechs Monate führten, keine Diskussionen oder besonderen Widerstand aus. In der Botschaft vom 1. Juli 1998 wird betont, dass bei Verkehrs- und Rechnungsdaten eine Aufbewahrungsfrist von sechs Monaten notwendig ist für eine rückwirkende Teilnehmeridentifikation. Erwähnt wird auch, dass die sechsmonatige Aufbewahrungsdauer der Frist entspricht, während der die Anbieter Rechnungsdaten aufbewahren müssen, um im Streitfall die für ihre Dienstleistung gestellten Rechnungen belegen zu können90. Des Weiteren sind die Anbieter nach Artikel 45 FMG und nach Artikel 60 FDV berechtigt, die persönlichen Daten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer so lange aufzubewahren, wie dies notwendig ist, um das für die entsprechenden Leistungen geschuldete Entgelt zu erhalten. Laut dieser Bestimmung sind die Anbieter dazu verpflichtet, die Daten ihrer Kunden so lange aufzubewahren, wie jene die Rechung anfechten können.

8.2.2

Lage und Entwicklung in Europa

In den westeuropäischen Staaten91 ist die Aufbewahrung von Daten unterschiedlich geregelt. In Österreich beispielsweise wird keine Aufbewahrungsfrist vorgeschrieben; hingegen werden die Daten so lange aufbewahrt, wie es für die Rechungsstellung erforderlich ist. In Deutschland sind die Fernmeldedienstanbieter verpflichtet, die Verkehrsdaten unmittelbar nach Abschluss der Kommunikation zu vernichten92.

In Grossbritannien, Spanien und Luxemburg gilt eine Aufbewahrungsdauer von einem Jahr. In Frankreich beträgt die Aufbewahrungsdauer von Daten im elektronischen Dienstleistungs- und Netzwerkverkehr ein Jahr. Derzeit sind lediglich die Fest- und Mobilnetz-Anbieter und die Access-Provider93 durch diese Bestimmung gebunden. In Italien sind die Fernmeldedienst-Anbieter per Gesetzesdekret verpflichtet, Telefon- und Telematikdaten bis 3. Dezember 2007 aufzubewahren.

88 89 90 91 92 93

SR 784.101.1 Art. 2 Bst. d und Art. 19 Abs. 4 VÜPF Siehe BBl 1998 4268 und 4279 Siehe Avis de droit 05-161 des Instituts für Rechtsvergleichung in Lausanne vom 16. Dezember 2005.

Im deutschen Recht wird unterschieden zwischen Verkehrsdaten und Daten, die der Rechungsstellung dienen und während sechs Monaten aufbewahrt werden können.

Der neue französische Gesetzesentwurf zur Bekämpfung des Terrorismus verpflichtet die Internetcafés dazu, Daten während eines Jahres aufzubewahren.

5737

Diese uneinheitlichen Regelungen sowie die Anschläge in Madrid und London veranlassten das Europäische Parlament, sich mit der Frage der Aufbewahrung von Telekommunikationsdaten zu beschäftigen. Am 14. Dezember 2005 verabschiedete das Parlament eine Richtlinie zur Aufbewahrung von Telekommunikationsdaten.

Diese Richtlinie sieht eine von den Mitgliedstaaten zu bestimmende Aufbewahrungsdauer im Rahmen von sechs bis zu 24 Monaten vor. Die europäischen Justizminister verabschiedeten diese Richtlinie am 21. Februar 200694.

8.2.3

Die rückwirkende Überwachung in der Praxis

Im Rahmen einer Strafuntersuchung oder beim Vollzug eines Rechtshilfeersuchens können die zuständigen Untersuchungsbehörden der Kantone oder des Bundes, den DBA mit dem Vollzug von Überwachungsmassnahmen, auch rückwirkende Massnahmen, beauftragen. Nach Eingang der Anordnung der zuständigen Untersuchungsbehörde prüft der DBA, ob die Verfügung die formellen Voraussetzungen erfüllt. Wenn dies der Fall ist, wird der betreffende Fernmeldedienst-Anbieter angewiesen, sechs Monate rückwirkend die Verkehrs- und Randdaten, welche mit den betreffenden Adressierungselementen generiert wurden, zu liefern (beispielsweise die Rufnummer eines Festnetzanschlusses). Die Fernmeldedienstanbieter speichern Verkehrs- und Randdaten während sechs Monaten, um diese im Falle einer Anordnung einer Strafverfolgungsbehörde an diese liefern zu können. Der DBA erhält solche Daten indessen erst nach erfolgter formeller Prüfung des Antrags auf rückwirkende Überwachung95.

8.2.4

Thematik des Ungenügens der aktuellen Aufbewahrungsdauer

Fernmeldedaten erlauben bis zu einem gewissen Mass die Nachverfolgbarkeit der Verbindungen von Fernmeldeverkehrteilnehmenden zu kriminellen Aktivitäten.

Angesichts der international und interkantonal vernetzten Kriminalität ist es entscheidend, möglichst umfassend auf Mittel zurückgreifen zu können, welche die Ermittlungsarbeit wirksamer machen. Eines dieser unerlässlichen Mittel ist der Zugang zu Daten über telefonische oder elektronische Kommunikationsverbindungen, deren sich Verdächtigte bedienen. Deshalb ist die Frist, während der Kommunikationsdaten aufbewahrt werden, zu einem zentralen Element der Bekämpfung von Schwerstkriminalität geworden. Die Frist muss genügend lang sein, um den Strafverfolgungsbehörden die Beweiserhebung und Ahndung von Gesetzesverletzungen zu ermöglichen. Für die mit der ordnungsgemässen Anwendung des Rechtes betrauten Behörden ist es wesentlich, über nachgiebige und zuverlässige Instrumente zu verfügen, mit denen mittels dadurch erlangter Beweise brauchbare Verfahrensakten erstellt werden können.

94 95

http://www.europarl.eu.int/neweur-lex/lex/Result.do?direct=yes&lang=de&xsl=celexsom,celex-txt&PgSize=128&where=CC:152010* Im Jahr 2004 wurden 2369 aktive Überwachungsmassnahmen angeordnet. Die Zahl der im selben Jahr rückwirkend angeordneten Überwachungsmassnahmen war mit 5187 mehr als doppelt so hoch. Dieser Trend hin zu vermehrten rückwirkenden Massnahmen begann sich Anfang 2002 abzuzeichnen und nahm im Laufe der Zeit stark zu. Vor 2002 verhielt es sich umgekehrt.

5738

Die sechsmonatige Aufbewahrungsdauer hat sich in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden als zunehmend problematisch erwiesen. Die Probleme treten namentlich bei der Ausführung internationaler Rechtshilfeersuchen zu Tage. Das Verfahren zur Prüfung eines Rechtshilfeersuchens und des Eintretens kann viel Zeit in Anspruch nehmen, wenn es sich um komplexe Fälle handelt, bei denen es sich um Terrorismus oder organisiertes Verbrechen handelt. Es ist möglich, dass zwischen dem Zeitpunkt, zu dem eine ausländische Behörde ein Rechtshilfeersuchen stellt, und dem Moment, in dem die schweizerische Behörde eine technische Überwachungsmassnahme anordnen könnte, die sechsmonatige Aufbewahrungsfrist grösstenteils abgelaufen ist. Dies macht die Überwachungsmassnahmen hinfällig und mindert die Chancen für eine erfolgreiche Ermittlung.

In den meisten Fällen erweist sich die Auswertung der rückwirkend erhobenen Fernmeldedaten als eine sehr gute Grundlage für Ermittlungen zum Umfeld der Hauptverdächtigten. So hängt die Stossrichtung der weiteren Ermittlungen oft von der Auswertung dieser Daten ab. Sind solche rückwirkend erhobenen Daten indessen unzureichend oder fehlen sie gänzlich, sehen sich die Ermittlungsbehörden für die Analyse des Umfeldes der Hauptverdächtigen gezwungen, auf möglicherweise länger dauernde und risiko- sowie kostenreichere Ermittlungsmethoden zurückzugreifen, z.B. auf die aktive technische Überwachung, Observationen oder den Einsatz verdeckter Ermittler. Vor allem in Fällen, bei denen es um Terrorismus geht, zeigen sich die Probleme besonders akut: Die Verdächtigen sind den Strafverfolgungsbehörden oft unbekannt und ihre Identität lässt sich oft erst nach mehreren Monaten vorgängiger Untersuchungen feststellen. Das Fehlen oder Ungenügen rückwirkend erhobener Kommunikationsdaten kann die Ermittler auch objektiver Hinweise auf sehr sporadische Kontakte berauben. Solche Umstände erschweren die Beweisführung vor allem in komplexen Fällen erheblich, wenn die Verdächtigten bei Fehlen objektiver Indizien jegliche sie kompromittierenden Verbindungen abstreiten. Darüber hinaus wird dadurch die ganze Ermittlung verzögert, was für den Ausgang des Verfahrens auch nicht ohne Bedeutung ist.

Zu bemerken ist ausserdem, dass die aktuelle Aufbewahrungsdauer auch die Identifikation von Verdächtigten oder Opfer
von Straftaten verhindern kann. Dieses Problem hat sich z.B. in zahlreichen und wichtigen Fällen von Pädophilie und Kinderpornografie gezeigt, in welchen mehrere hundert Besitzer von IP-Adressen wegen Ablaufs der sechsmonatigen Frist nicht identifiziert werden konnten.

8.3

Beurteilung

Die derzeit geltende Aufbewahrungsfrist von sechs Monaten erschwert bzw. verunmöglicht zum Teil bei zeitaufwändigen Verfahren die Verwertung der Telefongesprächsdaten zum Zwecke der Strafverfolgung. Bei komplexen Deliktsstrukturen mit hoher krimineller Energie besteht die Gefahr, dass die Strafverfolgungsbehörden in Folge der zunehmend grösser werdenden Datenmenge und wegen der kurzen Aufbewahrungsfrist in Beweisnotstand geraten. Es ist deshalb klar, dass sich die Praxis für eine Erhöhung der Aufbewahrungsdauer der Daten ausspricht. Abgesehen davon ist auch wichtig, dass die Schweiz Massnahmen trifft, die ihr erlauben den Erwartungen ihrer ausländischen Partner gerecht zu werden. Das verfolgte Ziel besteht insbesondere darin, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Fällen inter-

5739

nationaler Tragweite zu erleichtern, wie etwa bei der Bekämpfung des Terrorismus oder des organisierten Verbrechens.

Was den Datenschutz betrifft, gilt es, eine Abwägung vorzunehmen zwischen den oben erwähnten Interessen der öffentlichen Sicherheit und demjenigen des Schutzes der Privatsphäre der Personen, über die Daten gespeichert werden. Es trifft zwar zu, dass die Speicherung jede Person erfasst, welche Fermeldedienstleistungen in Anspruch nimmt. Zugriff auf die gespeicherten Daten haben jedoch nur die Fernmeldedienstanbieter. Die rückwirkende Lieferung an die Strafverfolgungsbehörden findet nur nach einem klar definierten Verfahren und für bestimmte vom Gesetz ausdrücklich vorgesehene Zwecke statt. Die rückwirkende Lieferung bezieht sich ausserdem nur auf die Randdaten (historische Daten wie die Bezeichnung der Anschlüsse, Datum, Zeit, Dauer), nicht aber auf Gesprächs- oder E-Mail-Inhalte. Es ist auch zu bedenken, dass die Verlängerung der Aufbewahrungsdauer der Fernmeldedaten eine verdächtige Person entlasten kann. So könnte z.B. die Häufigkeit von Anrufen während der letzten sechs Monate relativiert werden, wenn sich die Daten über eine Zeitperiode von 12 Monaten erstrecken würden. Mit entsprechenden entlastenden Hinweisen könnte die Anwendung von Zwangsmassnahmen, welche einen schweren Eingriff in die Privatsphäre darstellen können, sowie damit verbundene Kosten vermieden werden.

Gesamthaft gelangt der Bundesrat zur Ansicht, dass eine massvolle Verlängerung der Aufbewahrungsdauer angesichts der auf dem Spiele stehenden öffentlichen Interessen mit dem Grundrechtsschutz der betroffenen Personen vereinbar ist.

8.4

Massnahmen

Der Bundesrat teilt die Auffassung der SiK, dass für rückwirkende Telefongesprächskontrollen die Datenaufbewahrungsfrist von sechs Monaten zu kurz ist. Zur Verbesserung des Kampfes gegen den Terrorismus und gegen das organisierte Verbrechen sowie angesichts der in der Praxis angetroffenen Schwierigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, erachtet der Bundesrat eine Verlängerung der Aufbewahrungsdauer als eine geeignete Massnahme. Diese wäre auf alle Formen der Telekommunikation anwendbar.

Unter Anlehnung an die in der Europäischen Union angenommenen Standards erscheint eine Aufbewahrungsdauer von zwölf Monaten, die Hälfte der in der Richtlinie des Europäischen Parlaments maximal vorgesehenen Frist, als sinnvoll und verhältnismässig.

Zur Ausdehnung der Datenaufbewahrungsfrist müssten die Erlasse revidiert werden, in welchen die bisherige Aufbewahrungsdauer erwähnt ist (insbesondere die Art. 5 Abs. 2 und Art. 15 Abs. 3 BÜPF sowie Art. 2 Bst. d und Art. 19 Abs. 4 VÜPF).

Die Verlängerung der Aufbewahrungsdauer würde den Fernmeldedienstanbietern gewisse Mehrkosten verursachen96. Eine dem Fernmeldedienstanbieter auferlegte Pflicht, Kommunikationsdaten während einer Dauer in der Grössenordnung von 12 Monaten aufzubewahren, würde jedoch nach Ansicht des Bundesrates keine unver96

Der Bundesrat hat sich zu diesem Punkt bereits im Rahmen eines parlamentarischen Vorstosses geäussert; vgl. Interpellation. Frick vom 13. Dezember 2002 «Internetverkehr.

Polizeistaatliche Überwachung?».

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hältnismässigen Investitions- und Betriebkosten verursachen. Zudem speichern die Dienstanbieter die Daten oder Teile davon bereits aus eigenem Geschäftsinteresse.

Für den Bund wäre eine finanzielle Mehrbelastung durch eine möglicherweise nötige Kapazitätserweitung der LIS-Datenbank beim DBA im UVEK bedingt.

Der Bundesrat hat aufgrund eines Aussprachepapiers über die Fernmeldeüberwachung zum Zwecke der Strafverfolgung am 29. März 2006 dem EJPD und dem UVEK den Auftrag erteilt, bis im 3. Quartal 2006 einen Bericht zur Revision des BÜPF vorzulegen. Er wird deshalb über die im Zusammenhang mit der Verlängerung der Aufbewahrungspflicht von Kommunikationsdaten notwendigen Änderungen des BÜPF und der VÜPF erst entscheiden, wenn ihm der erwähnte Bericht vorliegt.

9

Weitere Anliegen des Postulats

Das Postulat thematisiert zusätzlich zu den in den vorangegangenen Abschnitten eingehend behandelten Fragen deren vier weitere, auf die nur knapp eingegangen werden soll:

9.1

Präventivintervention

Das Postulat stellt die Frage, ob das geltende Strafprozessrecht des Bundes die Eingriffsschwelle der Strafverfolgungsbehörden bei Verdacht auf deliktisches Geschehen nicht zu hoch ansetzt. Zunächst ist festzuhalten, dass der BStP für die Aufnahme von Ermittlungshandlungen das Vorliegen eines «hinreichenden» Tatverdachts verlangt (Art. 101 Abs. 1 BStP; ebenso: Art. 194 Abs. 1 Ziff. 2 E-StPO). Es ist also keinesfalls so, dass die Strafverfolgungsbehörden generell für ein Tätigwerden (eine Intervention) zuwarten müssten, bis sich ihnen zugegangene Informationen und Angaben zu «schwerwiegenden Verdachtsmomenten» verdichtet haben, wie das Postulat schreibt. Ebenso können Zwangsmassnahmen grundsätzlich auch gestützt auf einen «bloss» hinreichenden Verdacht angeordnet und durchgeführt werden (etwa eine Beschlagnahme oder Hausdurchsuchung). Soweit Zwangsmassnahmen jedoch in schwerer Weise in Grundrechte eingreifen, verlangt der verfassungsmässige Grundsatz der Verhältnismässigkeit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts. Dies ist namentlich für die Anordnung von Untersuchungshaft oder die Überwachung des Fernmeldeverkehrs der Fall (vgl. Art. 44 BStP, Art. 3 Abs. 1 Bst. a BÜPF sowie auch Art. 220 Abs. 1 E-StPO). Es ist auch zu beachten, dass der Tatbestand des Artikel 260ter StGB bereits insofern ein frühzeitiges Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden zulässt, als er «ein Verhalten bestraft, bevor tatsächlich ein konkretes Delikt ausgeübt worden ist»97. Aus diesen Gründen sieht der Bundesrat keinen Anlass, aber auch keine Notwendigkeit, im BStP die Schwelle zur Eröffnung von Ermittlungsverfahren abzusenken und neu eine Möglichkeit für «präventives» Eingreifen (verstanden als Strafverfolgung ohne hinreichenden Tatverdacht) vorzusehen.

97

H. Baumgartner, in: Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Basel 2003, N 4 ff.

zu Art. 260ter.

5741

9.2

Präventivüberwachung

Im Rahmen der Revision des Bundesgesetztes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS II) wird derzeit geprüft, ob die Instrumente der Präventivüberwachung verstärkt werden müssen. Der Bundesrat wird im zweiten Halbjahr eine entsprechende Botschaft verabschieden.

9.3

Fortsetzungsgefahr

Das Anliegen des Postulats, die Aufnahme eines Haftgrunds der Fortsetzungsgefahr in den BStP zu prüfen, wird durch die neue E-StPO aufgenommen: Deren Entwurf, wie ihn der Bundesrat am 21. Dezember 2005 zu Händen der Eidgenössischen Räte verabschiedet hat, sieht in Artikel 220 Absatz 1 Buchstabe c diesen Haftgrund ausdrücklich vor.

9.4

Verlängerte Aufbewahrungsdauer für DNA-Profile

Schliesslich wird im Postulat die Prüfung einer Verlängerung der Aufbewahrungsdauer für strafprozessuale DNA-Profile verlangt.

Die Aufbewahrungsdauer für diese Profile regeln die Artikel 16 und 17 des DNAProfil-Gesetzes. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die geltenden gesetzlichen Aufbewahrungsfristen so kurz wie möglich bemessen sind (Interesse des Datenschutzes), aber auch so lange wie erforderlich (Interesse der Strafverfolgung). Ein konkretes Beispiel: Das DNA-Profil einer Person, die wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen (terroristischen; Art. 260ter StGB) Organisation zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, wird nach den generellen Voraussetzungen des DNA-Profil-Gesetzes erst 20 Jahre nach der Entlassung aus der Freiheitsstrafe gelöscht (Art. 16 Abs. 4 DNA-Profil-Gesetz). Im Falle von Personen, die eine Freiheitsstrafe zu vollziehen hatten, sieht das Gesetz zudem eine zusätzliche Sicherung vor: Hier darf ein DNA-Profil erst gelöscht werden, wenn die zuständige richterliche Behörde ihre Zustimmung erteilt hat (Art. 17 DNA-Profil-Gesetz). Besteht die Gefahr einer Wiederholungstat, so kann das Gericht die Löschung des Profils ablehnen, worauf dieses auch über die Dauer von 20 Jahren hinaus gespeichert bleibt.

Aufgrund der bis heute gewonnenen Erfahrungen bei der Bekämpfung von Terrorismus und OK beurteilt der Bundesrat die geltende Regelung der Aufbewahrungsdauer für DNA-Profile im DNA-Profil-Gesetz als zufrieden stellend und sieht entsprechend keinen Anlass für eine entsprechende Teilrevision.

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