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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893.

(Vom 2. Dezember 1893.)

Tit.

Der Regierungsrat des Kantons Bern teilt mit Schreiben vom 4. November 1893 dem Bundesrate mit, daß die durch den Großen Rat am 26. April beschlossene neue Kantonsverfassung vom bernischen Volke am 4. Juni 1893 mit 56,424 gegen 15,565 Stimmen angenommen worden sei.

Der Große Rat hat am 30. Juni das Resultat der Volksabstimmung erwahrt und die neue Staatsverfassung als angenommen erklärt. Mit Beschluß vom gleichen Tage hat er das Inkrafttreten derselben auf den 1. Juli 1893 festgesetzt.

Der Regierungsrat ersucht den Bundesrat, bei der Bundesversammlung die Gewährleistung auswirken zu wollen.

Der Text des neuen Grundgesetzes des Kautons Bern ist Ihnen gedruckt ausgeteilt worden.

Wir heben daraus zur Kennzeichnung des Werkes in Vergleichung mit der nun aufgehobenen Verfassung vom 31. Juli 1846 folgende Punkte hervor :

I. Übereinstimmung mit der Bundesverfassung.

Die frühere Verfassung enthielt viele Bestimmungen, welche durch die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 thatsächlich außer Kraft gesetzt worden und daher auszumerzen waren. Es betrifft dies vor allem Änderungen im Kapitel der Kompetenzen des Großen Rates.

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II. Erweiterung der Volksrechte.

Das obligatorische Referendum ist eingeführt (Art. 6). Die alte Verfassung (§ 6, Ziff. 4) kannte nur eine Art fakultatives Referendum.

Art. 9. Das Vorschlagsrecht (Initiative), als Verfassungsinitiative (Art. 102, Alinea 3) und als Gesetzes- und Dekretsinitiative, sowohl in der Form der Anregung als des Entwurfs ohne Möglichkeit eines Gegenentwurfs des Großen Rates, ist aufgenommen worden.

Die Wahl der Regierungsstatthalter und Gerichtspräsidenten geschieht künftig durch die stimmberechtigten Bürger des Amtsbezirks (Art. 46 und 57), während die Verfassung von 1846 (§§ 47 und 58) die Wahl dieser Beamten durch den Großen Rat auf einen doppelten, jedoch unverbindlichen Volksvorschlag hin festgesetzt hatte.

Neu ist auch die Ermöglichung einer Partialrevision der Verfassung (Art. 93, 101--104). Die frühere Verfassung gestattete nur die Totalrevision.

III. Einheit des Kantons.

Die Verfassung von 1846 hatte dein neuen Kantonsteil (Jura) seine Civilgesetzgebung, seine besondere Verwaltung im Armenwesen, .sowie sein Grundsteuersystem garantiert (§ 85, III). Durch die neue Verfassung ist diese Garantie aufgehoben, die Einheit im Steuerwesen zum Teil auf 1. Januar 1894 (Art. 105) und zum Teil auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines neuen Armengesetzes (Art. 108 und 109) eingeführt und die Schaffung einheitlicher Bestimmungen über das Armenwesen und einer einheitlichen Civilgesetzgebung ermöglicht.

IV. Anderweitige Abänderungen.

Im Kapitel ,, S t a a t s b e h ö r d e n " 1 ist der Grundsatz durchgeführt, daß keine öffentliche Stelle auf Lebenszeit vergeben werden darf (Art. 14), während die frühere Verfassung (§ 15) eine Ausnahme für Geistliche und Lehrerstellen zugelassen hatte.

Das Verbot der Annahme von Pensionen etc. von fremden Staaten für Staatsbeamte und Großratsmitglieder (§ 16 alte Verfassung) ist aufgehoben worden.

Im Kapitel ,, G r o ß e r Rat" 1 wurde die Repräsentationsziffer von 2000 (§ 9 a. V.) auf 2500 erhöht (Art. 19), die Beschluß-

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fähigkeitsziffer von 80 (§ 29 a. V.) auf die Mehrheit der Mitglieder festgesetzt (Art. 28) und die dreimonatliche Frist zwischen erster und zweiter Gesetzesberatung (§ 30 a. V.) gestrichen (Art. 29).

Im Kapitel ,, R e g i e r u n g s b e h ö r d e n " haben folgende neue Bestimmungen Aufnahme gefunden: Bei der Bestellung des Regierungsrats ist auf Vertretung der Minderheit angemessene Rücksicht zu nehmen (Art. 33).

Auch der Vizepräsident des Regierungsrates wird vom Großen Rate gewählt (Art. 35).

Es soll ein besonderer Verwaltungsgerichtshof geschaffen werden (Art. 40).

Im Kapitel ,, G e m e i n d e n 1 1 ist die Zusammenlegung und Teilung von Gemeinden auf dem Dekretswege (Art. 63) vorgesehen.

Die Burgergemeinden haben auch im Falle der Einführung der örtlichen Armenpflege im ganzen Kanton die bisherigen Leistungen au die Armenpflege ihrer Angehörigen fortzusetzen (Art. 68).

Verwaltungsbehörden und Gemeinden können Straf bestimmungen aufstellen (Art. 49 und 71).

I m Kapitel ,, A l l g e m e i n e G r u n d s ä t z e u n d G e w ä h r l e i s t u n g e n " ist der Schutz der Sonntagsruhe aufgenommen (Art. 82); drei Landeskirchen, nämlich die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische (Art. 84), sind anerkannt, während die frühere Verfassung deren nur zwei anerkannte (§ 80). .

Ferner enthält die neue Vei-fassung den Grundsatz der Wahl der Geistlichen durch die Kirchgemeinden (Art. 84), die Abschaffung des ,,Placet" (Art. 86), die Aufhebung der Beschränkung des Staatsbeitrages zu Armenzwecken (Art. 91 neue und § 85 I alte Verfassung) und endlich die Wegräumung der Hindernisse zur Einführung eines neuen Steuersystems (Art. 92 neue und § 86 alte Verfassung).

In Art. 113 endlich ist die fakultative Ablegung eines des religiösen Charakters entkleideten Amtsgelübdes ausdrücklich gestattet; § 99 der bisherigen Verfassung hatte diese Fakultät nicht vorgesehen.

Tit.

Die Prüfung nische Verfassung Bedingungen der erfüllt und nichts

der einzelnen Artikel ergiebt, daß die neue berdie in Art. 6 der Bundesverfassung aufgestellten eidgenössischen Gewährleistung in allen Teilen dem Bundesrechte Zuwiderlaufendes enthält.

237 Wir beantragen deshalb, ihr die Garantie des Bundes zu erteilen, indem wir Sie ersuchen, den unten folgenden Beschlußentwurf anzunehmen Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

B e r n , den 2. Dezember 1893.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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(Entwurf.)

Bundesbeschluß betreffend

eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 2. Dezember 1893 über die Verfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893; in Betracht: daß diese Verfassung nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthält, daß sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen sichert, daß sie in der Volksabstimmung vom 4. Juni 1893 vom Berner Volke angenommen worden ist, daß sie revidiert werden kann, Wenn die absolute Mehrheit der stimmenden Bürger es verlangt; in Anwendung von Art. 6 der Bundesverfassung, beschließt: 1. Der Verfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893 wird die Bundesgarantie erteilt.

2. Der Bundesrat ist mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die eidgenössische Gewährleistung der Verfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893. (Vom 2. Dezember 1893.)

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06.12.1893

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