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Schweizerische Bundesversammlung,

Die gesetzgebenden Räte der Eidgenossenschaft sind am 4. Dezember 1893 zur ersten Session der XVI. Amtsperiode zusammengetreten.

Herr Oberst Joseph Vonmatt von und in Luzern, geboren den 23. Mai 1815, eröffnete als Alterspräsident die Sitzung des N a t i o n a l r a t e s mit folgender Ansprache: Meine Herren Nationalräte!

Ich heiße Sie kollegialisch willkommen bei Ihrem Zusammentritt zur ersten Session der 16. Amtsperiode des Nationalrates.

Die kurze Dauer derselben mahnt zu möglichster Ausnützung der Zeit, um am Schlüsse der Session heimkehren zu können mit dem Bewußtsein gewissenhafter Pflichterfüllung.

Wohl wird es auch bei aller Thätigkeit kaum gelingen, die reiche Fülle von Traktanden zu erledigen, und es dürfte nicht ausbleiben, daß ein Teil derselben auf eine spätere Session übergehen wird.

Die Wahlen in den Nationalrat haben einen dem bedeutungsvollen Akt würdigen Verlauf genommen ; es liegt darin der Beweis, daß in unserm Volke die Achtung vor der Gleichberechtigung aller Bürger als oberstes Gesetz gilt.

Haben auch politische Gegensätze am Wahltage ihren scharfen Ausdruck gefunden, wie es im republikanischen Leben auch nicht anders sein kann, so muß mit wahrer Befriedigung konstatiert werden, daß der Wahlakt im allgemeinen nur auf gesetzlichem Wege sich vollzogen hat.

Einsprüche, welche gegen die Wahlen im 21., 38., 48. und 49. Kreise gemacht worden sind, wird der Nationalrat prüfen und darüber endgültig entscheiden.

Übergehend zu den Traktanden dieser Session, so wird die Frage der Zündhölzchenfabrikation nicht länger unerledigt bleiben dürfen. Angesichts der konstatierten Thatsache, daß durch die VerBundesblatt. 45. Jahrg. Bd. V.

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vvendung von gelbem Phosphor viele der bei dieser Fabrikation beschäftigten Arbeiter der Phosphor-Nekrose zum Opfer fielen, hat die Bundesversammlung im Jahre 1879 gegen diese Fabrikationsweise ein Verbot erlassen, dasselbe aber im Jahre 1882 wieder aufgehoben.

Dagegen wurden vom Bundesrat Vorschriften erlassen, welche den Arbeitern Schutz gewähren sollten ; dessenungeachtet erneuerten sich die gleichen beklagenswerten Erscheinungen, welche nun das Einschreiten des Bundes gebieterisch fordern; eine längere Duldung dieser in ihren Wirkuagen verderblichen Fabrikation wäre im Widerspruche mit der dem Bunde durch Art. 34 der Verfassung überbundenen Pflicht, Vorschriften zum Schütze der Arbeiter zu erlassen gegen einen die Gesundheit schädigenden Gewerbebetrieb.

Die Bundesverfassung statuiert sodann in den Art. 43, 45, 47r 66 und 74 die Grundsätze, welche für Ausübung der politischen Rechte der Schweizerbürger Gellung haben sollen. Allein bis auf den heutigen Tag ist es nicht gelungen, diesen Grundsätzen in der Gesetzgebung Ausdruck zu geben. Zwei Entwürfe der Bundesversammlung, der eine vom Jahr 1875, der andere vom Jahr 1877, unterlagen in der Volksabstimmung. Ein Entwurf des Bundesrates vom Jahr 1882 wurde im März dieses Jahres von beiden Räten ,,für einmal von der Traktandenliste gestrichen", in der Erwartung und Aussicht auf einen neuen Entwurf des Bundesrates. Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß man es hier mit einer der schwierigsten Aufgaben der Bundesgeselzgebung zu thun hat; die Ansichten über das Maß der Gleichberechtigung der schweizerischen Niedergelassenen und Aufenthalter gegenüber den kantonalen Bürgern gehen vielfach auseinander und lassen den Widerstand gegen das Zustandekommen dieses Gesetzes einigermaßen erklären. Allein eine längere Vertagung dieser verfassungsmäßigen Aufgabe der Bundesversammlung dürfte sich kaum rechtfertigen gegenüber den durch die Bundesverfassung proklamierten Grundsätzen für Schöpfung eines schweizerischen Bürgerrechts.

In der Vollziehung des Gesetzes über Civilstand und Ehe waltet bezüglich der Ehescheidung da und dort eine Praxis, welche im Widerspruche steht nicht nur mit dem klaren Wortlaut des Gesetzes, sondern auch mit dem Wesen der Ehe selbst.

Während die Ehe nur geschieden werden soll aus Gründen, welche das Gesetz namhaft macht und wenn
deren thatsächliches Vorhandensein durch richterlichen Untersuch sich erwahrt hat, wird vielfach auch ohne einen solchen auf dem Wege des Kontumacialverfahrens dem einseitigen Klaggesuch auch nur eines Ehegatten entsprochen und die Ehe geschieden.

379 Dieses Verfahren entzieht dem Richter die ihm durch das Gesetz überbuudene Kognition der behaupteten Scbeidungsgründe und stellt es gänzlich in die Willkür der die Scheidung anstrebenden Ehegatten, ihr Ziel zu erreichen und die Bande der Ehe ohne irgend welche Anstrengung zu -lösen.

Selbst in offiziellen Publikationsorganen sind derartige Urteile nicht selten zu lesen.

Daß dem Eingehen leichtsinniger Ehen durch die Aussicht, sich beliebig von den eingegangenen Verpflichtungen wieder frei machen zu können, Vorschub geleistet wird, darf wohl nicht bezweifelt werden. Der Bund hat aber nicht nur die Gesetze zu erlassen, sondern auch deren Vollziehung zu überwachen.

Wenn es nun am Tage liegt, daß das erwähnte Verfahren eine Umgehung des Gesetzes ist, so wird der Gesetzgeber dagegen einschreiten müssen.

Der Bundesrat hat jeweilen bei Genehmigung kantonaler Vollziehungsverordnungen den ausdrücklichen Vorbehalt gemacht, auf seine Genehmigungsschlußnahme zurückzukommen, ,,wenn in der Ausführung einzelner Bestimmungen Übelstände sich zeigen oder Lücken zu Tage treten solltena.

Dieser Vorbehalt bietet dem Bundesrat das wirksame Mittel, der Umgehung des Gesetzes Schranken zu setzen, indem er die betreffenden Kantone anweist, in ihre Vollziehungsverordnung die strikte Bestimmung aufzunehmen, daß eine Ehescheidung nur auf Grund vorangegangener Prüfung und Erwahrung der behaupteten Scheidungsgründe vom Richter ausgesprochen werden dürfe.

Mit der Kranken- und Unfallversicherung wird eine unserer dringendsten soeialen Fragen ihre Lösung finden; durch sie allein kann den vielen Bedrängten, welche von mannigfachen Leiden heimgesucht sind, die helfende Bruderhand geboten werden.

An diesem segensreichen Werke wird mit Eifer und Ausdauer gearbeitet; vor allem aus gebührt dankbare Anerkennung unserm Kollegen, Herrn Forrer, für dessen energische Initiative zur Verwirklichung dieser humanen Schöpfung.

Die aus den Beratungen der Expertenkommission hervorgegangenen Entwürfe sind auch bereits in weitern Kreisen besprochen worden.

Gehen nun auch die Ansichten über die Beschaffung der für diesen Zweck erforderlichen Mittel zur Zeit noch erheblich auseinander, so wird schließlich über alle Schwierigkeiten die Überzeugung obsiegen, daß nur durch rückhaltslose Solidarität aller Interessenten das Werk zu stände kommen könne.

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Der Versuch des Bundesrates, durch Aufstellung eines für fünf Jahre maßgebenden Budgets allmählich das Gleichgewicht in den Bundesfinanzen herzustellen, wird unzweifelhaft von Erfolg sein, jedoch nur dann, wenn die eidgenössischen Räte die Grenzen dieses Budgets wachsam zu hüten und jede Überschreitung desselben unerbittlich abzuwehren entschlossen sind.

Die Ausgaben für unsere Wehrkraft sind immer noch sehr hoch, allein sie erreichen doch nur einen kleinen Teil der schweren Verluste, welche unser Volk am Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts durch das Eindringen fremder Heere in unsere Gauen erlitten hat und gegen welche eine kräftige und gut ausgerüstete Volkswehr sicheren Schutz gewährt hätte.

Die Art. 23 und 24 der Bundesverfassung, welche den Bund ermächtigen, öffentliche Werke im Gebiete der Kantone zu unterstützen und zur Verbauung der Wildwasser hülfreiche Hand zu bieten, sind zu voller werklhätiger Ausführung gelangt. Die zu diesen Zwecken gewährten Bundessubventionen erreichen bis Ende dieses Jahres die Summe von Fr. 54,600,000.

Mit berechtigtem Stolze darf sich unser Vaterland dieser segensreichen Hülfeleistung rühmen, die in gleichem Maße wohl wenig ändern Völkern beschieden sein mag. Wie mancher unserer Miteidgenossen, deren mit harter Arbeit angebauten Gelände von schonungslosen Elementen verheert worden, ist in seiner trostlosen Lage wieder aufgerichtet worden durch die ihm gewährte Hülfe des Bundes, ohne welche er seinen heimatlichen Herd hätte verlassen und fern von demselben eine neue Wohnstätte suchen müssen !

Mit dem Wunsche, daß aus Ihren Verhandlungen reichlicher Same .ersprießen möge für die Wohlfahrt des Vaterlandes, erkläre ich die konstituierende Sitzung des Nationalrates für eröffnet.

Am 5. Dezember 1893 bestellte der Nationalrat sein Bureau wie folgt: Präsident : Herr Robert C o m t e s s e , Staatsrat, von La Sagne, in Neuenburg.

Vizepräsident : ,, Dr. Ernst B r e n n e r , Regierungsrat, von und in Basel.

Stimmenzähler : ,, Adrien T h è l i n, Oberstbrigadier, von BiolleyOrjulaz, in La Sarraz.

,, Wilhelm G o o d , gew. Bezirksammann, von und in Mels.

,, Johannes Mo s er, Bezirksstatthalter, von und in Klein-Andelfingen.

,, Johann Z i m m e r m a n n , Gerichtspräsident, von Lyß, in Aarberg.

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Der neugewählte Präsident, Herr Comtesse, gedachte, nachdem er seine Wahl verdankt, der verstorbenen Herren Nationalrat Dufour und Bundesrat Ruchonnet mit folgenden Worten : Meine Herren !

Unser Kollege Johann Stefan Dufour ist in der Blüte der Jahre und im Vollbesitz seiner Kräfte vom Tode dahingerafft worden.

Ursprünglich Handwerker, hatte sich Dufour durch ausdauernde Arbeit auf industriellem Gebiet stufenweise zur Stellung des Leiters eines bedeutenden Uhrenmachereigeschäftes emporgeschwungen, und diese Uhrenindustrie, der er die Erfolge und die Genugtuungen seines arbeitsvollen Lebens verdankte, hat stets den Gegenstand seiner Hauptbeschäftigung und seiner Vorliebe gebildet. Überall, unter allen Umständen, ist er der treue und wachsame Verteidiger ihrer Interessen gewesen ; er war in Genf ihr Vertrauensmann, und gewiß war es als eine Belohnung für die so nutzbringende Thätigkeit, die er auf diesem Gebiete entwickelt, sowie für die zahlreichen Dienste, die er seinem Kantone geleistet hat, aufzufassen, als ihn das Vertrauen seiuer Mitbürger zur obersten Leitung der Landesausstellung berief, und ohne Zweifel hätte er diese schwierige Aufgabe mit all der Gewissenhaftigkeit, der Hingebung und dem Pflichtgefühl, die ihm eigen waren, erfüllt. Als Politiker gehörte Dufour zu denjenigen Menschen, die durch ihre Bescheidenheit, die Aufrichtigkeit ihrer Sprache, die Rechtlichkeit ihrer Gesinnung und die Lauterkeit ihres Lebenswandels die feste Grundlage und die Ehre einer Partei bilden. Deshalb genoß er auch in Genf einer echten Volkstümlichkeit, die sich nach der großen Zahl der von ihm geleisteten Dienste bemaß.

Wir werden, meine Herren, das Bild dieses ausgezeichneten, liebenswürdigen und von dem Gefühle treuester Pflichterfüllung beseelten Kollegen, dessen Biederkeit und Güte wir alle geschätzt haben, nie vergessen.

Meine Herren und liebe Kollegen !

Über den hervorragenden Staatsmann, den wir in Louis Ruchonnet betrauern, ist schon alles gesagt worden, und ich will deshalb nicht vor Ihnen das Bild dieser seiner schönen, ganz und gar, bis zum letzten Augenblicke des Lebens, seinem Lande und den Pflichten der ihm übertragenen Aufgabe gewidmeten Laufbahn entrollen ; aber, so schwach auch meine Worte sein mögen, · so glaube ich doch, daß ich in Ihrem Namen eine patriotische Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen habe, und daß es gerade hier, in diesem parlamentarischen Kreise, dem er mit seiner hohen Begabung und

382 seiner Beredsamkeit Glanz verliehen hat, eher als anderswo am Platze ist, diese Pflicht zu erfüllen und dem Andenken des geliebten und hochgeachteten Staatsmanns, den wir verloren haben, einige Worte dankbarer Verehrung zu widmen.

Wir zollen diese Huldigung zunächst dem Politiker ersten Ranges, dem musterhaften Staatsmanne, dem feingebildeten Juristen und dem unvergleichlichen Parlamentsredner. Wir alle, die wir Zeugen seines Lebens gewesen sind, müssen bekennen, daß alle seine staatsmännischen Handlungen stets nur von der aufrichtigsten Liebe zur Gerechtigkeit und zum Vaterlande eingegeben gewesen sind. Wir müssen bekennen, daß er als republikanischer Staatsmann diejenigen Tugenden besaß, die ein Magistrat im öffentlichen Leben zu bewähren hat: Einfachheit, Milde, Lauterkeit der Gesinnung, Selbstlosigkeit, UneigennUtzigkeit, Nachsicht und Mitleid mit den Geringen und Schwachen. Als Jurist hat er immer Rechtsfragen mit der durchgebildetsten Wissenschaftlichkeit, mit vollkommener Klarheit und Schärfe behandelt; er hat stets mit raschem und sicherm Blick die richtigen Lösungen erkannt und uns einen Maßstab für seine seltenen Fähigkeiten gegeben in dem so schwierigen gesetzgeberischen Werke, das er glücklich zum Ziele geführt hat und das stets ein Denkmal seiner emsigen und fruchtbringenden Thätigkeit sein wird.

Wer von uns, meine Herren, könnte vergessen, was er als Redner gewesen ist? Ist es uns nicht immer, als ob er noch da wäre? Und diese Stelle, von der aus er zu uns zu sprechen pflegte, mit seiner hohen, etwas nach vorn gebeugten Gestalt -- hat sie nicht einen Abglanz noch behalten von dem, den wir so gerne anhörten, und um den wir uns im Kreise scharten? Sobald Ruchonnet sprach, stand man unter dem stets einfachen und natürlichen Zauber seiner, wenn es sein mußte, einschneidenden, manchmal .aber weichen und bewegten Worte; er wußte mit seiner etwas verschleierten, aber feinen und durchdringenden Stimme alle Saiten in den Herzen seiner Zuhörer anklingen zu lassen und besser als irgend jemand Gutherzigkeit und Scharfsinn mit der höchsten Beredsamkeit zu vereinen. Diese Beredsamkeit, meine Herren, welche seinen Vortrag belebte, war gleichsam nur der Hauch seiner edeln Seele, seines weitblickenden und erhabenen Geistes, der sich immer über unsere Verhandlungen, über unsere allzu oft kleinlichen
und engherzigen Anschauungen erhob und in die heitern Höhen der Vernunft, des Gedankens und der Idealwelt emporstieg. Sie war nur der Ausdruck des demokratischen und republikanischen Ideals, das Ruchonnet in seiner Brust trug und das ihn zum feurigen Vorkämpfer aller gerechten und edeln Gedanken, aller großherzigen Bestrebungen, aller bedeutsamen Fortschritte im Interesse des Vater-

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landes und der Menschheit, aller Freiheiten und insbesondere, wie Sie sich erinnern, der wichtigsten derselben, der Gewissensfreiheit, machte.

Aber wir sind Ruchonnet auch insbesondere unsere Huldigung schuldig, weil er ein weitherziger Mann war, der in sich Einfachheit des Charakters, Aufrichtigkeit der Gesinnung und tiefe Empfindung mit unaussprechlicher Herzensgüte und einem unwiderstehlichen Drange zürn Wohlthun und zur Brüderlichkeit vereinigte.

Sein Bild wird in der Geschichte fortleben; aber wir können schon jetzt sagen, daß das Urteil über ihn in folgende paar Worte zusammengefaßt werden wird : Louis Ruchonnet war ein großherziger Mann und ein großer Bürger ! Aus diesem Grunde, meine Herren, hat er den ersten Anspruch auf unsere Bewunderung und unsere Anerkennung.

Zur Eröffnung der Sitzung des S t ä n d e r a t e s hielt der abtretende Präsident, Herr E g g l i , folgende Ansprache: Hochgeehrte Herren Ständeräte !

Zu Beginn der XVI. Legislaturperiode heiße ich Sie in der Bundesstadt auf das freundlichste willkommen!

Gestatten Sie mir, bei diesem Anlaße einen Rückblick zu werfen auf Ereignisse des öffentlichen Lebens, welche sich seit der letzten Tagung der eidgenössischen Räte in unserm Vaterlande zugetragen haben.

Diese kurze Spanne Zeit wird besonders deshalb bedeutungsvoll bleiben, weil während derselben das Schweizervolk zum erstenmale sich aus eigener Initiative neues Verfassungsrecht gegeben hat und bereits wieder weitere Volkskreise im Begriffe sind, neue Bestimmungen zum eidgenössischen Grundgesetze vorzuschlagen.

Dem Volksbeschlusse vom 20. August, betreffend das sogenannte Schächtverbot, wurden in der vorausgegangenen Diskussion wesentlich zwei Einwendungen entgegengehalten : Einmal, daß der bezügliche Gegenstand sich überhaupt nicht zur Aufnahme in eine StaatsVerfassung eigne und seinen Platz richtiger in einer Polizeiverordnung gefunden hätte, sodann daß durch denselben der Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit gegenüber unsern Mitbürgern israelitischer Konfession verletzt worden sei.

Was den erstem Einwand anbetrifft, so werden wir auf doktrinäre Unterscheidungen zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht für so lange verzichten müssen, als dem Volke neben der

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Verfassungs- nicht auch die Gesetzesinitiative eingeräumt sein wird.

Wenn es übrigens der Mehrheit des Schweizervolkes daran gelegen war, eine nach seiner Ansicht, unnötig quälerische Schlachtmethode abzuschaffen, so konnte es dies, bei der bekannten Auslegung der Bundesverfassung durch die eidgenössischen Räte, selbst bei gegebener Gesetzesinitiative nicht wohl anders thun, als durch eine Zusatzbestimmung zur Verfassung.

In sachlicher Beziehung darf der Volksbeschluß ungekünstelt nur dahin interpretiert werden, daß das Mitgefühl der Menschen für die Leiden der ihnen dienenden Tierwelt höher anzuschlagen sei, als kirchliche Satzungen von anfechtbarem Werte, und daß auf diesem Gebiete gleiches Recht für Alle gelten solle. Bei der Natur des Gegenstandes läge allerdings die Vermutung nahe, es möchten antisemitische Eingebungen eine hervorragende Rolle gespielt haben. Zur Ehre des Schweizervolkes sei jedoch konstatiert, daß nach allen Beobachtungen solche Motive nur in sehr untergeordneter Weise zur Geltung gekommen sind.

Bereits liegt der Bunderversammlung ein zweites Initiativbegehren zu Händen der Volksabstimmung vor, durch welches das Recht auf ausreichend lohnende Arbeit postuliert wird, -- und weiterhin vernimmt man, daß einleitende Schritte getroffen seien, um in der Frage der Krankenversicherung neue, von den behördlichen Vorarbeiten wesentlich abweichende Grundlagen zu schaffen.

Es steht nicht an mir, von diesem Platze aus ein Urteil über die ins Werk gesetzten Volksbegehren abzugeben. Doch kann ich mich einiger Bemerkungen nicht enthalten.

Das Schweizervolk anerkennt gewiß im vollsten Umfange nicht nur die Berechtigung, sondern ganz besonders auch die Pflicht zur Arbeit; auf der ändern Seite wird dasselbe aber behutsam erwägen, ob es gewillt sei, an Platz dieses in der sittlichen Ordnung begründeten Prinzips einen formalen Rechtssntz zu sanktionieren, dessen praktische Tragweite von vornherein nicht bernessen werden kann und im Lichte der bisherigen Erfahrungen geradezu gefährlich erscheint. Das Schweizervolk ist auch festen Willens, die, bei uns übrigens in viel milderer Form als anderwärts, vorhandenen socialen Gegensätze auf dem Wege einer gesunden Reformarbeit auszugleichen5 dagegen ist dasselbe gewagter Experimentalpolitik abhold und wird erreichbare, praktische Ziele jeder Zeit
vorzuziehen wissen.

Sei dem übrigens wie ihm wolle, so ist jedenfalls der angelegentliche Wunsch berechtigt, daß in der kommenden öffentlichen Diskussion über die angeregten social politischen Fragen alles vermieden werden möchte, was Klassenhaß heraufbeschwören könnte.

385 Wir Schweizer sind zur Erhaltung unserer nationalen und wirtschaftlichen Selbständigkeit alle aufeinander angewiesen. Klassenhaß kann uns ebensowenig frommen als Haß zwischen den verschiedenen Volksstämmen oder den verschiedenen Konfessionen.

Die einzig korrekte Richtschnur in der Behandlung unserer öffentlichen Angelegenheiten ist und bleibt die Rücksichtnahme auf das allgemeine Wohl und die gemeinsame Liebe zum Vaterlande.

Hochgeehrte Herren Kollegen !

Der Tod hat in den Reihen schweizerischer Staatsmänner reiche Ernte gehalten, reich nicht sowohl nach der Zahl als vielmehr nach der Qualität der dahingerafften Personen.

Am 8. September verstarb in Tverdon, wo er Heilung von einem an sich nicht lebensgefährlichen Leiden suchte, ganz unerwartet Nationalrat und Staatsratspräsident Jean Etienne Dufour von Genf.

Der Verstorbene gehörte ursprünglich dem Handelsstande an und hat eine politische Laufbahn persönlich nie angestrebt. Das Vertrauen seiner Mitbürger mußte ihn zu derselben ganz eigentlich aufsuchen. Einmal der an ihn herangetretenen patriotischen Pflicht nachgebend, genoß er dann zum Lohne einer unbegrenzten Volkstümlichkeit.

Nacheinander in den Gemeinderat der Stadt Genf, in den Großen Rat und in den Staatsrat des Kantons Genf berufen, war er Mitglied dieser letztern Behörde von 1879--1885 und dann wieder von 1889 bis an sein Lebensende. Dem Nationalrate gehörte Dufour seit dem Jahre 1884 an; im laufenden Jahre erlangte derselbe den Grad eines Obersten der Artillerie und um die gleiche Zeit übertrugen ihm seine Mitbürger das Präsidium der Schweiz.

Landesausstellung von 1896, deren Vorbereitung er sich mit ganzer Hingabe widmete und deren glückliche Durchführung seine öffentliche Wirksamkeit krönen sollte.

Persönlicher Neigung folgend, beschäftigte sich der Verstorbene vorzugsweise mit handelspolitischen Fragen, in welchen ihm ein kompetentes Urteil zukam. Ohne oratorisch glänzen zu wollen, verstund es derselbe, durch präcise Diktion seiner Meinung im Rate Geltung zu verschaffen. Politisch der gemäßigt konservativen Richtung angehörend, wußte Dufour gut schweizerischen Sinn mit föderalistischen Grundsätzen zu vereinigen.

Was wir an dem dahingeschiedenen Kollegen aber vor allem aus hochschätzen wollen, das ist sein offenes, biederes Wesen, seine

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Liebenswürdigkeil, und Herzensgüte, sowie seine auch dem politischen Gegner gerecht v/erdende Unabhängigkeit des Charakters.

Das Vaterland trauert am Grabe eines braven Patrioten !

Kaum hatte sich dieses Grab geschlossen, als am 14, des gleichen Monats die Kunde von dem Hinscheide des Bundesrates Dr. Louis Ruchonnet durch das Land ging und Aller Herzen mit tiefster Trauer erfüllte. Denn es hatte ein für Vaterland und Menschenliebe glühendes Herz, dessen mächtige Impulse hinausdrangen in alle Schweizergaue und zumeist in den Hütten der Armen und Bedrängten den stärksten Wiederhall fanden, urplötzlich aufgehört .zu schlagen. Dabei wollte es ein gütiges Geschick, daß der Lebende im Tode noch verherrlicht werden sollte, ist ja der Tod an Ruchonnet herangetreten inmitten treuester Pflichterfüllung, bei dei; Arbeit, also auf dem Feld der Ehre.

Ich brauche Ihnen nicht viele Worte zu machen von dem, was Bundesrat Ruchonnet seinem Vaterlande gewesen ist und was es an ihm verloren hat.

Wir alle lauschten jeweilen seinen beredten und doch so prunklosen Worten, in denen er, gleichsam spielend, die schwierigsten juristischen und politischen Probleme zu lösen verstand. Wir sahen durch seine Meiisterhand wichtige Gesetze des öffentlichen und Privatrechts entstehen, unter welchen er ganz besonders an dem Gesetz über Schuldbetreibung und Konkurs mit allen Fasern seines Lebens hing. Wir bewunderten den erhabenen Standpunkt des Staatsmannes, von dem er aus tief religiösem Gemute über die Rechte der verschiedenen Konfessionen wachte und das geheiligte Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch für den Schwächsten in sichern Schutz nahm. Wir zollten Anerkennung seiner durch Menschenliebe diktierten Fürsorge für die ökonomisch hintangesetzte Klasse gegenüber der mißbräuchlich angewendeten Macht des Kapitals. Und endlich sahen wir auflodern die heilige Flamme der Begeisterung für Recht und Gerechtigkeit nicht allein unter den einzelnen Menschen, sondern auch zwischen den Staaten unter sich.

In vollendeter Harmonie hatten wir vor uns umfassendste Bildung des Geistes, hohen idealen Sinn, Lauterkeit des Charakters, unwandelbares Gerechtigkeitsgefühl und glühende Vaterlandsliebe, als das Gesamtbild aines der ersten schweizerischen Staatsmänner der Gegenwart.

Ich will nicht schließen, ohne des besondern Vermächtnisses zu gedenken, das uns der Verstorbene hinterlassen hat. Auf höchster eidgenössischer Warte stehend, hatte es sein auf das Wohl des

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Ganzen gerichteter Blick bald erfaßt, daß einheitliche Ordnung des Straf- und Civilrechts dem Schweizervolk not thue Wie in allem, was Ruchonnet unternahm, nicht autoritäres Einschreiten, sondern Belehrung seine Ziele fördern sollte, so hat er auch hier durch die Erstellung umfassender Vorarbeiten und mustergültiger Entwürfe dem Gedanken der Rechtseinheit Eingang zu verschaffen gesucht.

Fehlt nun zwar der bisherige Meister, welcher, mit deutscher und romanischer Rechtsauffassung gleichmäßig vertraut, wie kein anderer berufen gewesen wäre, das begonnene Werk zu gutem Ende zu führen, so wohnt doch diesem Werke bereits so viel treibende Schwungkraft inné, daß es, so hoffen wir, den ihm durch die Macht der Verhältnisse vorgezeichneten Weg von seihst gehen wird.

Hochgeehrte Herren Kollegen ! Um das Andenken der Verstorbenen, Bundesrat Ruchonnet und Nationalrat Dufour, zu ehren, lade ich Sie ein, sich von Ihren Sitzen zu erheben.

Das Bureau des Ständerates wurde am 4. Dezember 1893 neu bestellt. Es wurden gewählt : Präsident : Herr Oskar M u n z i n g e r , Landammann, von Ölten und Solothurn, in Solothurn.

Vizepräsident: Henri de T o r r e n t e , Staatsratspräsident, von und in Sitten.

Stimmenzähler: ,, Johann Jakob H o h l , alt Landammann, von Heidea, in Herisau.'

,, Josef H i l d e b r a n d , Staatsanwalt, von Cham, in Zug.

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06.12.1893

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