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Kreisschreiben des

schweizerischen Bundesgerichtes an die kantonalen Obergerichte, betreffend den Vollzug des Bundesgesetzes Über die Organisation der Bundesrechtspflege (Verfahren in Civil- und Strafsachen).

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(Vom 17. Oktober 1893.)

Hochgeehrte Herren!

Das neue Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März d. J., welches mit dem 1. Oktober d. J.

in Kraft getreten ist, enthält sowohl mit Bezug auf das Verfahren in Civil- und Strafsachen vor den kantonalen Gerichten, als mit Bezug auf die Einlegung der Rechtsmittel der Berufung und der Kassationsbeschwerde an das Bundesgericht einige neue Vorschriften, auf welche wir hiermit Ihre Aufmerksamkeit hinlenken möchten.

I. Civilsachen.

1. Das Rechtsmittel der Berufung an das Bundesgericht ist auch nach dem neuen Gesetze dadurch bedingt, daß die Civilstreitigkeit nach eidgenössischen Gesetzen zu entscheiden oder von den kantonalen Gerichten nach solchen entschieden worden ist (Art. 56). Ebenso hält das neue Gesetz daran fest, daß, wenn der Streitgegenstand seiner Natur nach einer vermögensrechtliehen Schätzung nicht unterliegt, die Berufung vom Streitwerte unabhängig ist (Art. 61). Dagegen läßt das neue Gesetz die Berufung nur noch gegen die in der l e t z t e n kantonalen Instanz erlassenen

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Haupturteile zu und kennt also eine Überspringung dieser Instanz durch Vereinbarung der Parteien nicht mehr. Sodann enthält es aber mit Bezug auf diejenigen Civilstreitigkeiten, bei welchen der Streitgegenstand einer vermögensrechtlichen Schätzung f ä h i g ist, zwei Neuerungen. Die eine ist enthalten in Art. 62, indem in den dort bezeichneten Streitigkeiten die Berufung ohne Rücksicht auf den Streitwert zulässig ist. Die andere befindet sich in Art. 59.

Während nämlich nach dem frühern Gesetz für die Wertbestimmung derjenige Betrag maßgebend war, welcher bei dem l e t z t e n Entscheide der kantonalen Gerichte noch streitig war, kommt es nunmehr für die Zulässigkeit der Berufung an das Bundesgericht auf den Streitwert an, welcher sich aus den Rechtsbegehren der Parteien in K l a g e und A n t w o r t vor dem e r s t i n s t a n z l i c h e n kantonalen Gerichte ergiebt.

Über diesen Streitwert besteht nun kein Zweifel, wenn die Klage auf Bezahlung einer b e s t i m m t e n G e l d s u m m e geht. Ist dies nicht der Fall, so hat der Kläger den Streitwert in einer Geldsumme, anzugeben, damit der Beklagte sich in seiner Antwort über denselben aussprechen kann. Sind die Parteien über den Wert des Streitgegenstandes einig, so hat es dabei sein Bewenden. Sind sie dagegen uneinig, so hat das Bundesgericht diesen Wert festzustellen, jedoch erst, wenn die Streitigkeit auf dem Wege der Berufung an dasselbe gezogen werden will. Bis dahin haben die kantonalen Gerichte d i e j e n i g e P a r t e i e r k l ä r u n g für maßgebend zu betrachten, nach welcher der W e r t des S t r e i t g e g e n s t a n d e s die bundesgerichtliche Kompetenz erreichen würde, außer wenn dieselbe sich von vornherein als offenbar unrichtig darstellt. Es ist dies namentlich deshalb erforderlich, weil das neue Organisationsgesetz in Art. 63 auch mit Bezug auf das V e r f a h r e n vor den k a n t o n a l e n G e r i c h t e n in Streitigkeiten, welche an das Bundesgericbt weitergezogen werden können, einige Vorschriften enthält, auf welche wir speciell Ihre Aufmerksamkeit hinlenken möchten. Diese Vorschriften beziehen sich : a. Auf den I n h a l t des K l a g e b e g e h r e n s bei S c h a d e n e r s a t z - und ä h n l i c h e n A n s p r ü c h e n (Art. 63, Ziff. 1).

Bei solchen Streitigkeiten soll in der Klage angegeben werden,
ob der geforderte Höchstbetrag mindestens Fr. 2000 erreicht.

Wie bereits hervorgehoben worden, ist es nämlich nunmehr unbedingt notwendig, daß in den in Art. 59 erwähnten Streitigkeiten der Streitwert wenigstens insoweit, als die Zulässigkeit der Berufung ans Bundesgericht durch denselben bedingt ist, schon vor e r s t e r k a n t o n a l e r I n s t a n z festgestellt werde.

Diesem Zwecke dient Art. 63, Ziff. 1. Es ist also nicht mehr

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b. Auf die A b f a s s u n g der U r t e i l e . In Art. 63, Ziff. 3, ist a l i g e m e i n vorgeschrieben, daß die kantonalgerichtlichen Urteile das E r g e b n i s d e r B e w e i s f ü h r u n g f e s t z u s t e l l e n und ferner anzugeben haben, inwieweit die Entscheidung auf der Anwendung e i d g e n ö s s i s c h e r , k a n t o n a l e r oder a u s l ä n d i s c h er Gesetzesbestimmungen beruht. Die genaue Beobachtung dieser Vorschrift ist notwendig wegen Art. 64, Art. 79, Abs. 2, und Art. 83 des Organisationsgesetzes. Dieselbe bezieht sich insbesondere auf die Abfassung des l e t z t i n s t a n z l i c h e n kantonalen Urteils, schließt indessen nicht aus, daß die letzte kantonale Instanz auf die Urteilsbegründung der ersten Instanz Bezug nimmt, soweit sie mit derselben einverstanden ist und dieselbe dem Art. 63, Ziff. 3, Genüge leistet.

Eine besondere Bestimmung für diejenigen Kantone, in welchen das Verfahren vor den kantonalen Gerichten m ü n d l i c h ist und über die Parteiverhandlungen, soweit dieselben für die Urteilsfällung maßgebend sind, ein g e n a u e s S i t z u n g s p r o t o k o l l n i c h t geführt wird, enthält Art. 63, Ziff. 2.

Danach sind die Gerichte der betreffenden Kantone verpflichtet, in dem Urteile die A n t r ä g e der Parteien, die zu deren Begründung a n g e f ü h r t e n Thatsachen, die E r k l ä r u n g e n (Anerkennungen, Bestreitungen) der Parteien, sowie von denselben angeführten H a u p t - und G e g e n b e w e i s m i t t e l vollständig anzuführen.

Überdies räumt diese Gesetzesbestimmung (Art. 63, Ziff. 2, Abs. 2) den Parteien das Recht ein, vor Schluß der kantonalen Gerichtsverhandlung eine Zusammenfassung ihrer mündlichen Vorträge zu den Akten zu legen.

Diese Vorschrift bezieht sich natürlich nicht bloß auf das Verfahren vor der z w e i t e n , sondern namentlich auch auf dasjenige vor der e r s t e n kantonalen Instanz, insofern n i c h
t der ganze Prozeß vor der zweiten kantonalen Instanz von n e u e m verhandelt wird, sondern die vor e r s t e r Instanz erfolgten Parteivorbringen ganz oder teilweise auch ihre W i r k samkeit für die zweite kantonale Instanz behalten.

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In a l l e n F ä l l e n sind die vor der ersten und zweiten kantonalen Instanz von b e i d e n Parteien gestellten Hauptund prozessualischen Begehren g e n a u und v o l l s t ä n d i g im Urteil anzugeben.

c. Auf die M i t t e i l u n g der l e t z t i n s t a n z l i c h e n U r t e i l e (Art. 63, Ziff. 4). Diese Urteile sind den Parteien von A m t e s wegen s c h r i f t l i c h mitzuteilen; jedoch gilt im o r d e n t l i c h e n Verfahren (also n i c h t im b e s c h l e u n i g t e n Verfahren, Art. 148, 250 und 284 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs) als schriftliche Mitteilung auch die -- z. B. im Kanton Neuenburg vorkommende -- schriftliche Eröffnung an die Parteien, daß das Urteil b e i m G e r i c h t e zu i h r e r E i n s i c h t aufliege.

Im b e s c h l e u n i g t e n Verfahren muß das Urteil i m m e r s c h r i f t l i c h mitgeteilt werden, und zwar innerhalb z e h n Tagen nach dessen Ausfällung (Art. 63, Ziff. 4, Abs. 2). Der Tag der s c h r i f t l i c h e n M i t t e i l u n g der Urteile, beziehungsweise der nach Art. 63, Ziff. 4, Abs. 3, derselben gleichstehenden s c h r i f t l i c h e n E r ö f f n u n g ist in den Akten immer g e n a u f e s t z u s t e l l e n , weil die Berufungsfrist von 20, beziehungsweise im beschleunigten Verfahren von 5 Tagen gemäß Art. 65 von demselben an berechnet wird.

2. Auch mit Bezug auf die Einlegung des Rechtsmittels der Berufung enthält das neue Organisationsgesetz Neuerungen in folgenden Richtungen: a. Die Berufung kann nicht mehr mündlich, sondern nur mittelst Einreichungeiner s c h r i f t l i c h e n E r k l ä r u n g , deren notwendiger Inhalt in Art. 67, Abs. 2 und 3, näher angegeben ist, bei dem Gerichte, welches das Urteil erlassen hat, eingelegt werden (Art. 67, Abs. 1).

Wenn der Wert des Streitgegenstandes den Betrag von Fr. 4000 n i c h t erreicht, so hat die Partei, welche die Berufung ergreift, der Berufungserklärung eine R e c h t s s c h r i f t beizulegen, welche die Berufung begründet (Art. 67, Abs. 4).

b. Die kantonale Gerichtsstelle, welcher die Berufungserklärung eingereicht wird, hat von der Berufung s o f o r t der G e g e n p a r t e i s c h r i f t l i c h und gegen E m p f a n g s c h e i n Kenntnis zu geben, und zwar auch dann, wenn die Berufung verspätet erklärt worden ist (Art. 68).

Haben b
e i d e Parteien die Berufung erklärt, so ist von beiden Berufungserklärungen je der Gegenpartei s c h r i f t l i c h e M i t t e i l u n g zu machen (Art. 69).

441 e. In a l l e n Fällen, auch wenn die Berufung nach Ansicht des kantonalen Gerichts nicht zulässig oder verspätet eingereicht worden ist, hat dasselbe die s ä m t l i c h e n A k t e n mit einer A b s c h r i f t des U r t e i l s im ordentlichen Verfahren innerhalb z e h n , im beschleunigten Verfahren innerhalb f ü n f Tagen seit der Berufung dem Bundesgerichte einzusenden (Art. 68).

3. Nach Art. 89 des Organisationsgesetzes kann in denjenigen Rechtsstreitigkeiten, welche nach eidgenössischen Gesetzen zu entscheiden sind, bei denen aber nach Art. 59 die Berufung an das Bundesgericht nicht zulässig ist, die K a s s a t i o n des letztinstanzlichen kantonalen Urteils beim Bundesgerichte verlangt werden, wenn statt des eidgenössischen kantonales oder ausländisches Recht in Anwendung gebracht worden ist.

Gemäß Art. 90 muß auch dieses Rechtsmittel mittelst Einreichung einer R e c h t s - oder B e s c h w e r d e s c h r i f t bei der k a n t o n a l e n G e r i c h t s s t e l l e , welche das Urteil erlassen hat, eingelegt werden, und hat die kantonale Behörde hiervon sowohl sofort der Gegenpartei schriftlich Kenntnis zu geben, als innert der in Art. 68 festgesetzten Frist die Akten und eine Abschrift des Urteils dem Bundessrerichte einzusenden.

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IL Strafsachen.

Während bisher die Bundesgesetzgebung -- abgesehen von Art. 18 des Bundesgesetzes vom 30. Juni 1849 betreffend die Übertretung fiskalischer und polizeilicher Bundeagesetze -- ein Rechtsmittel gegen die Endurteile der k a n t o n a l e n G e r i c h t e , sowie gegen die Entscheide der kantonalen Ü b e r w e i s u n g s b e h ö r d e n in Strafsachen, die nach e i d g e n ö s s i s c h e n Gesetzen zu beurteilen sind, nicht kannte, hat das neue Organisationsgesetz in der K a s s a t i o n s b e s c h w e r d e ein solches Rechtsmittel eingeführt (Art. 160 ff.)- Und zwar ist dasselbe in a l l e n Strafsachen, die nach eidgenössischen Gesetzen zu entscheiden sind, statthaft, mögen dieselben unmittelbar durch ein Bundesgesetz oder durch Beschluß des Bundesrates den kantonalen Gerichten zur Beurteilung zugewiesen worden sein (Art. 146).

Das Verfahren vor den kantonalen Gerichten richtet sich im wesentlichen nach den kantonalen Strafprozeßgesetzen. Doch enthalten die Art. 147 S. auch in dieser Beziehung einige Vorschriften, von welchen wir diejenigen, welche für das neu geschaffene Rechtsmittel der Kassation von Bedeutung sind, hervorheben :

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1. Das Rechtsmittel ist nur zulässig gegen die l e t z t i n s t a n z l i c h e n Urteile, sowie gegen a b l e h n e n d e E n t s c h e i d e der kantonalen Überweisungsbehörde (Art. 160 und 162).

2. Die E r ö f f n u n g dieser Urteile und Entscheide an die Parteien kann m ü n d l i c h oder s c h r i f t l i c h erfolgen. Die s c h r i f t l i c h e Mitteilung hat gegen E m p f a n g s c h e i n zu geschehen. Erfolgt die Eröffnung dagegen m ü n d l i c h , so ist im V e r h a n d l u n g s p r o t o k o l l e der,Tag, an welchem sie stattgefunden hat, g e n a u a n z u g e b e n (Art. 152). Es ist die strenge Beobachtung dieser Vorschrift deshalb unbedingt notwendig, weil nach Art. 164 die zehntägige Kassationsfrist von dem Tage der Eröffnung des Urteils oder Entscheides an läuft.

Für die Mitteilung dieser Entscheidungen und Urteile an den B u n d e s r a t enthalten die Art. 153 und 155 besondere Bestimmungen.

3. Die E i n l e g u n g der Kassationsbeschwerde muß bei derjenigen Behörde, welche das Urteil erlassen oder den Entscheid getroffen hat, geschehen, und zwar s c h r i f t l i c h (Art. 165").

4. Die B i n s e n d u n g des angefochtenen Urteils oder E n t s c h e i d e s samt den Akten seitens der kantonalen Amtsstellen an das B u n d e s g e r i e h t hat s p ä t e s t e n s innerhalb z e h n Tagen nach Einlegung des Rechtsmittels zu geschehen (Art. 166).

Wir machen Sie schließlich darauf aufmerksam, daß das neue Organisationsgesetz nicht bloß auf diejenigen Civil- und Strafsachen Anwendung findet, welche nach Inkrafttreten desselben bei den kantonalen Behörden anhängig gemacht worden sind, sondern auch auf diejenigen, welche am 1. Oktober d. J. bei den kantonalen Civil- und Strafgerichten und Überweisungsbehörden s c h o n , resp.

n o c h a n h ä n g i g gewesen sind. Keine Anwendung finden die Bestimmungen des neuen Organisationsgesetzes also nur auf diejenigen Civil- und Strafsachen, in welchen am 1. Oktober d. J.

bereits das E n d u r t e i l , resp. der ablehnende Entscheid, der l e t z t e n k a n t o n a l e n Instanz ausgefällt war und welche dadurch für die kantonalen Gerichte, resp. Überweisungsbehörden, ihre definitive Erledigung gefunden hatten. Gegen alle vor dem 1. Oktober d. J. von den kantonalen Gerichten ausgefällten Civilurteile ist also nur das in Art. 29
des frühern Organisationsgesetzes vorgesehene Rechtsmittel der Anrufung des Bundesgerichts zulässig.

Wir ersuchen Sie, dieses Kreisschreiben auch Ihren untern kantonalen Gerichten, soweit es dieselben nach Ihrer Gerichts-

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organisation angeht, zur Kenntnis bringen zu wollen, und benutzen diesen Anlaß, Sie, hochgeehrte Herren, unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

L a u s a n n e , den 17. Oktober 1893.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichts, Der Präsident: Dr. Hafner.

Der G e r i c h t s s c h r e i b e r : Dr. Honegger.

Bundesblatt. 45. Jahrg. Bd. IV.

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25.10.1893

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