zu 99.464 Parlamentarische Initiative Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 29. Oktober 2002 Stellungnahme des Bundesrates vom 9. Dezember 2002

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, zum Bericht vom 29. Oktober 2002 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates betreffend die Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus nehmen wir nach Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. Dezember 2002

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Kaspar Villiger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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2002-2604

Stellungnahme Anlässlich der Veröffentlichung des Berichts «Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus» hat der Bundesrat am 10. Dezember 1999 erklärt, dass der Bergier-Bericht einen grundlegenden Beitrag zum besseren Verständnis der schweizerischen Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus darstellt. Der Bericht erinnere uns daran, dass die Schweiz in dieser dunklen Epoche der Menschheitsgeschichte ihrer humanitären Tradition nicht in dem Masse entsprochen habe, wie sie dies hätte tun können und müssen.

Der Bundesrat erinnerte bei dieser Gelegenheit an die 1995 vom Bundespräsidenten im Namen des Bundesrates ausgesprochene Entschuldigung und erklärte, der durch den Bergier-Bericht ausgelöste Bewusstwerdungsprozess dürfe nicht dazu verleiten, die Verantwortlichen von damals auf der Basis heutiger Empfindungen zu verurteilen.

In diesem Sinne gab der Nationalrat am 14. Dezember 2000 der Parlamentarischen Initiative Paul Rechsteiner «Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus» mit 104 zu 50 Stimmen Folge. Seine Kommission für Rechtsfragen hielt aber vorgängig fest, dass die Umsetzung der Parlamentarischen Initiative noch offen sei, und wies darauf hin, dass eine Amnestie der ehemaligen Brigadisten (Spanienkämpfer) und der Résistance-Kämpfer heikle Fragen aufwerfe, weil deren Verurteilung nicht aufgrund von Sonderrecht, sondern wegen Verstosses gegen das heute noch bestehende Verbot fremden Militärdienstes (Art. 94 MStG; SR 321.0) erfolgt sei.

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats hat daraufhin eine Subkommission unter dem Vorsitz von Nationalrat de Dardel mit der Ausarbeitung eines Beschlussentwurfs beauftragt. Der von der Kommission ohne Gegenstimme verabschiedete Gesetzesentwurf trägt diesen Bedenken Rechnung und beschränkt sich auf die Aufhebung der Urteile gegen Flüchtlingshelfer und -helferinnen.

Die Aufhebung erfolgt, weil die Verhängung dieser Urteile heute als schwere Verletzung der Gerechtigkeit empfunden wird, und berücksichtigt, dass viele der Flüchtlingshelfer und -helferinnen unter grossem persönlichen Einsatz handelten und nicht wenige durch die Verurteilung wegen Fluchthilfe selbst in Not gerieten. Zur Haltung des Bundesrates zur damaligen Justiz verweist der Bundesrat auf seine Erklärung
anlässlich der Veröffentlichung des Bergier-Berichts.

Vom Konzept her erachtet es der Bundesrat als sachgerecht, dass die Urteile gegen Flüchtlingshelfer und -helferinnen zur Zeit des Nationalsozialismus durch Gesetz aufgehoben (Art. 3) und die Flüchtlingshelfer und -helferinnen noch einmal ­ durch Gesetzesnorm ­ rehabilitiert werden (Art. 4). Nicht als Flüchtlingshelfer oder -helferinnen im Sinne des Gesetzes gelten Personen, welche verfolgte Menschen anlässlich der «Fluchthilfe» ausgenützt, im Stich gelassen oder denunziert haben (Art. 2 Abs. 2). Beging ein Flüchtlingshelfer oder eine Flüchtlingshelferin anlässlich der Fluchthilfe eine weitere Straftat (z.B. ein Verkehrsdelikt oder eine Tätlichkeit), so gilt das Urteil auch diesbezüglich als aufgehoben, wenn dieser Straftatbestand aufgrund einer Gesamtwürdigung als untergeordnet erscheint (Art. 5).

Im Weiteren macht es Sinn, ein Feststellungsverfahren vorzusehen, in welchem jeder und jede Betroffene feststellen lassen kann, dass das über ihn oder sie ergangene Urteil von der Aufhebung erfasst ist (Art. 9 ff.).

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Da die Entscheide der Rehabilitierungskommission zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Artikel 6 Ziffer 1 EMRK; SR 0.101, betreffen können, unterliegen sie der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht (Art. 14).

Wichtig erscheint dem Bundesrat auch, dass Feststellungsentscheide über die Aufhebung von Strafurteilen weder im Hinblick auf die ausgesprochenen Strafen und Nebenstrafen noch hinsichtlich indirekter Folgen der Strafurteile einen Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung begründen (Art. 16).

Der Bundesrat kann sich daher ­ im Rahmen der ihm angesichts der kurzen Frist möglichen summarischen Stellungnahme ­ Bericht und Antrag der Kommission betreffend den Erlass eines Bundesgesetzes über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer und -helferinnen zur Zeit des Nationalsozialismus anschliessen.

Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass die Schaffung einer besonderen Rehabilitierungskommission einen in Budget und Finanzplanung nicht eingestellten zeitlich befristeten zusätzlichen Stellen- und Kreditbedarf von 400 000 Franken auslöst (s. Ziff. 4 des Berichts).

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