96.464 Parlamentarische Initiative Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt Revision von Artikel 123 StGB 96.465 Parlamentarische Initiative Sexuelle Gewalt in der Ehe als Offizialdelikt Revision von Artikel 189 und 190 StGB Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 28. Oktober 2002

Sehr geehrte Frau Präsidentin sehr geehrte Damen und Herren, Wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Gesetzesentwurf zuzustimmen.

28. Oktober 2002

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anita Thanei

2002-2548

1909

Übersicht Der soziale Nahraum ist grundsätzlich ein Bereich des Vertrauens, der Verständigung und der Fürsorge. In der Realität kann die Situation jedoch missbraucht werden. Eine Umfrage im Rahmen einer Studie des nationalen Forschungsprogramms «Frauen in Recht und Gesellschaft» macht betroffen, zeigt sie doch auf, dass mehr als eine von fünf Frauen im Verlaufe ihres bisherigen Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner erleiden mussten.

Nach heutiger Regelung gelten die meisten in häuslicher Gemeinschaft begangenen Gewalthandlungen als Antragsdelikte. Demnach werden, falls der Täter mit dem Opfer verheiratet ist und mit diesem im gemeinsamen Haushalt lebt, sowohl die sexuelle Nötigung als auch die Vergewaltigung nur auf Antrag verfolgt. Das Gleiche gilt für die einfache Körperverletzung, wiederholte Tätlichkeiten und Drohungen.

Nationalrätin Margrith von Felten verlangte mit ihren beiden parlamentarischen Initiativen vom Dezember 1996, das Strafrecht bezüglich häuslicher Gewalt so zu ändern, dass diese Delikte, d.h. einfache Körperverletzungen, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, von Amtes wegen verfolgt werden. Der Nationalrat hat diesen beiden Initiativen auf Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen am 15. Dezember 1997 Folge gegeben.

Die Kommission erarbeitete in der Folge einen Vorschlag zur Änderung der entsprechenden Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Dabei werden die in der Ehe begangene sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung, die bisher nur auf Antrag verfolgt wurden, zu Offizialdelikten erhoben. Die zwischen Ehegatten und Lebenspartnern begangenen einfachen Körperverletzungen, wiederholten Tätlichkeiten und Drohungen werden ebenfalls zu Offizialdelikten. Allerdings besteht die Befürchtung, dass damit auch Verfahren eingeleitet oder zu Ende geführt werden, obwohl sie aus einer Gesamtbeurteilung und aus der Sicht beider Ehepartner in Einzelfällen unerwünscht sein könnten. Deshalb sieht die Kommission für die weniger schweren Delikte eine Bestimmung vor, wonach das Verfahren mit Einverständnis des Opfers eingestellt werden kann.

Da die im Zusammenhang mit der häuslichen Gewalt stehenden Delikte im Militärstrafrecht bereits heute von Amtes wegen verfolgt werden, betrifft die Revision des Militärstrafgesetzes hauptsächlich die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung.

1910

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Ausgangslage

Nationalrätin Margrith von Felten reichte am 13. Dezember 1996 zwei parlamentarische Initiativen zur Revision des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB)1 ein.

Die erste Initiative (96.464) verlangt, Artikel 123 StGB so zu ändern, dass der Täter nicht mehr wie bisher auf Antrag, sondern von Amtes wegen verfolgt wird, wenn er der Ehegatte des Opfers ist oder mit diesem in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebt. Die zweite Initiative (96.465) verlangt, dass bei sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 2 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 2 StGB) in der Ehe das Antragserfordernis aufgehoben wird.

Der Nationalrat hat am 15. Dezember 1997 auf Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen der Initiative 96.464 mit 72 zu 70 Stimmen und der Initiative 96.465 mit 82 zu 66 Stimmen Folge gegeben.2

1.2

Die Arbeiten der Kommission für Rechtsfragen

Der Nationalrat beauftragte seine Kommission für Rechtsfragen gemäss Artikel 21quater Absatz 1 des Geschäftsverkehrsgesetzes3 mit der Ausarbeitung einer Vorlage.

Die Kommission hat am 11. Januar 2000 eine Subkommission mit der Behandlung der beiden Initiativen beauftragt. Diese Subkommission (der die Nationalrätinnen Thanei und Leuthard und die Nationalräte Chiffelle, Gendotti und Siegrist angehörten) hat an ihren drei Sitzungen vom Februar, März und August 2000 einen Vorentwurf zu Handen der Kommission ausgearbeitet. Am 20. November 2000 hat die Kommission einen Vorentwurf angenommen und den Bundesrat beauftragt, dazu eine Vernehmlassung einzuleiten. Sie hat am 8. Juli 2002 von den Vernehmlassungsergebnissen Kenntnis genommen und den Vorentwurf im Lichte der Vernehmlassung überarbeitet. Am 3. September 2002 hat die Kommission dem Entwurf mit 13 Stimmen und einer Enthaltung zugestimmt.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Gewalt in Ehe und Partnerschaft

Der soziale Nahraum gilt im Allgemeinen als ein Bereich des Vertrauens, der Verständigung und der Fürsorge. In der Realität ergibt sich indes ein anderes Bild. Das Ergebnis einer Umfrage im Rahmen einer Studie des nationalen Forschungsprogramms «Frauen in Recht und Gesellschaft» macht betroffen: Den in diesem 1 2 3

SR 311.0 AB 1997 N 2633 SR 171.11

1911

Zusammenhang jüngst erschienenen Hauptwerken, die die Ergebnisse der Umfrage auf die Gesamtbevölkerung unseres Landes hochrechnen4, ist zu entnehmen, dass 12,6 % aller Frauen im Verlaufe ihres bisherigen Lebens körperliche Gewalt durch einen Partner erleiden mussten. In beiden Werken wird überdies angegeben, dass an 20,7 % der Frauen ­ also an mehr als einer von fünf Frauen, wie die Initiantin in ihrer Begründung erwähnt ­ durch einen Partner körperliche oder sexuelle Gewalthandlungen begangen wurden. Gewalt in Ehe und Partnerschaft ist gekennzeichnet durch eine besondere Täter-Opfer-Beziehung. Sie findet statt zwischen Personen, die durch eine enge Beziehung, durch Gefühle, Rechte und Pflichten miteinander verbunden sind. Wenn von Gewalt gesprochen wird, so sind dabei nicht nur die sichtbaren psychischen, physischen und sexuellen Übergriffe gemeint, sondern alle, zum Teil sehr subtilen Formen der Erniedrigung und Demütigung, der Ausbeutung und Benachteiligung, der Diffamierung und Diskriminierung in allen Bereichen.

Zahlreiche Erscheinungsformen dieser Gewalt stellen strafrechtlich verbotene und sanktionierte Handlungen dar. Viele der in Frage kommenden Strafrechtsnormen sind aber Antragsdelikte, und in den Begründungen der Initiativen wird darauf hingewiesen, dass es Opfern von Gewalt im sozialen Nahraum ausgesprochen schwer fällt, einen Strafantrag zu stellen oder einen solchen aufrechtzuerhalten, «da sie vom Täter oder von Angehörigen leicht unter Druck gesetzt werden können».

2.2

Heutige Regelung

Die in diesem Zusammenhang wohl am ehesten in Frage kommenden Delikte sind die einfache Körperverletzung (Art. 123 StGB), Tätlichkeiten (Art. 126 StGB), Drohungen (Art. 180 StGB), sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Ist der Täter der Ehegatte des Opfers und lebt er mit diesem in einer Lebensgemeinschaft, werden die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung auf Antrag verfolgt. Für die einfache Körperverletzung, die Tätlichkeiten und die Drohungen gibt es zudem keine Sondernorm für Eheverhältnisse. Sie werden somit ebenfalls auf Antrag verfolgt. Es ist nicht zu bestreiten, dass in vielen Fällen das Opfer diesen Antrag nicht stellt oder ihn zurückzieht. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: An erster Stelle steht die Angst vor weiteren Gewalthandlungen und Drohungen. Der misshandelnde Partner setzt häufig seine Macht zu seinem Vorteil ein und zwingt oder beeinflusst das Opfer dahingehend, jegliche Schritte zur Einleitung oder Unterstützung der Strafverfolgung zu unterlassen. Dazu kommen Schuld- und Schamgefühle der Opfer, emotionale, wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit, Hoffnung, Existenzängste und Angst um die Kinder.

4

«Domination et violence envers la femme dans le couple»; Autorinnen: Lucienne Gillioz, Jacqueline De Puy, Véronique Ducret; Editions Payot Lausanne, 1997 ­ und «Beziehung mit Schlagseite», erschienen im eFeF-Verlag Bern im Rahmen der Kampagne «Halt Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft»; Hrsg.: Schweizerische Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten.

1912

2.3

Rechtsvergleich

2.3.1

Deutschland

Sexuelle Nötigung und Gewalt gelten als Verbrechen und werden von Amtes wegen verfolgt, und zwar unabhängig davon, in welchem Verhältnis Täter und Opfer zueinander stehen (verheiratete Paare, Konkubinatspaare, homosexuelle Paare, Ausländer).

Die einfache Körperverletzung wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amtes wegen für geboten hält.

Bei Verbrechen ist der Scheidungsrichter verpflichtet, den Täter anzuzeigen.

Bei Verbrechen gibt es keine Umstände, die eine Einstellung des Verfahrens rechtfertigen würden, auch nicht bei mangelndem Interesse des Opfers an einer Strafverfolgung.

2.3.2

Österreich

Vergewaltigung und sexuelle Nötigung gegenüber einem Ehegatten oder Konkubinatspartner werden auf Antrag verfolgt. Wenn das Opfer die Lebensgemeinschaft mit dem Täter weiterführen will, kann die Strafe gemildert werden.

Einfache Körperverletzungen gelten als Offizialdelikte; wer allerdings seinen Ehepartner ohne schweres eigenes Verschulden verletzt, ist nicht strafbar.

In der Regel ist der Scheidungsrichter verpflichtet, Offizialdelikte, von denen er in Ausübung seines Amtes Kenntnis erlangt, den Strafverfolgungsbehörden zu melden.

Der Strafrichter muss das Gesetz anwenden und kann folglich das Verfahren nicht aufgrund von Zweckmässigkeitserwägungen einstellen.

2.3.3

Italien

Gewalt und sexuelle Nötigung ­ sei es gegen einen Ehegatten, einen Konkubinatsoder anderen Lebenspartner ­ werden immer gleich bestraft. Diese Delikte werden auf Antrag verfolgt, wobei die Klage innert sechs Monaten eingereicht werden muss.

Die Klage ist unwiderruflich. Das Verfahren kann ebenfalls nicht aus Zweckmässigkeitsgründen ­ u.a. wegen mangelnden Interesses des Opfers an einer Strafverfolgung ­ eingestellt werden.

Von Amtes wegen verfolgt wird hingegen die Misshandlung eines Ehegatten. Das Strafverfahren ist hier obligatorisch. Der Richter, der von einem solchen Vergehen Kenntnis hat, ist verpflichtet, dieses dem Staatsanwalt zu melden.

1913

2.3.4

Spanien

Sexuelle Tätlichkeiten und sexuelle Misshandlung werden auf Antrag verfolgt. Vergewaltigung wird von Amtes wegen verfolgt, unabhängig davon, ob das Opfer eine Strafverfolgung anstrebt oder nicht.

Einfache Körperverletzungen gegenüber einem Ehegatten, Konkubinats- oder anderen Lebenspartner werden von Amtes wegen verfolgt.

2.3.5

Frankreich

Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und einfache Körperverletzung gegen einen Ehe-, Konkubinats- oder gleichgeschlechtlichen Partner werden in der Regel auf Antrag verfolgt. Die Einreichung einer Zivilklage beim Untersuchungsrichter ermöglicht den Opfern, die Verfolgung selbst in die Wege zu leiten. Liegt kein Strafantrag vor, kann der Staatsanwalt eine Verfolgung von Amtes wegen einleiten, ist aber nicht dazu verpflichtet.

Der Scheidungsrichter ist nicht verpflichtet, Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und einfache Körperverletzungen, von denen er Kenntnis hat, anzuzeigen.

Der angerufene Strafrichter ist nicht zur Strafverfolgung verpflichtet und die Staatsanwaltschaft kann das Verfahren aus Zweckmässigkeitsgründen einstellen.

2.4

Vernehmlassung

Der Vorentwurf wird von den Vernehmlassungsteilnehmern generell begrüsst. Alle Kantone sowie das Bundesgericht, die FDP, die SP, die SVP, die LPS und die GPS und 45 interessierte Organisationen haben sich geäussert.

Die Mehrheit der Kantone5 und der interessierten Organisationen6 sowie zwei politische Parteien7 begrüssen den Vorschlag, die einfache Körperverletzung (Art. 123 StGB), Tätlichkeiten (Art. 126 StGB), die Drohung (Art. 180 StGB), die sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und die Vergewaltigung (Art. 190 StGB) gegenüber einem Ehegatten oder hetero- oder homosexuellen Lebenspartner künftig von Amtes wegen zu verfolgen. Viele unter ihnen zweifeln jedoch an der Wirksamkeit dieser neuen Normen, namentlich mit Blick auf Beweisschwierigkeiten. Sie betonen ausserdem nachdrücklich, dass das Strafrecht allein das Problem der häuslichen Gewalt nicht lösen kann und dass weitere Massnahmen ergriffen werden müssen (Schaffung von Empfangsstellen; Präventionskampagnen; Einrichtung von Media5 6

7

ZH, BE, LU, SZ (Regierungsrat), NW, GL, ZG (Ablehnung von Art. 180 VE-StGB), FR, BS, BL, SG, TG, TI, VD, VS, NE.

DJS, AGFPDS (Ablehnung von Art. 180 VE-StGB), Violence et Famille, EKF, FSP, SKF, SGP, FMH (Verwerfung von Art. 180 VE-StGB), Christkatholische Kirche der Schweiz, WR, Pink Cross, SVR, Nottelefon Beratungsstelle für Frauen, Uni Lausanne, LIMITA, SAMW, SLFV, Dachorganisation der Frauenhäuser, Schweiz. Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten, Interventionsprojekte und ­stellen gegen häusliche Gewalt, BSF, sek, EFS, svf, Zürcher Frauenzentrale, SGF, SPV, TFZ, KKPKS, Opferhilfe Aargau, VIRES.

SP, GPS.

1914

tionsstrukturen; Bildung spezialisierter Polizeieinheiten; Änderung der kantonalen Verfahren, des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten und des Polizeirechts; Ausweisung des Täters usw.).

Sechs Kantone8, eine Partei9 und drei Organisationen10 lehnen die Aufhebung des Antragserfordernisses bei der häuslichen Gewalt (Art. 123, 126 und 180 StGB) ab, stimmen ihr aber bei der sexuellen Nötigung (Art. 189 StGB) und bei der Vergewaltigung (Art. 190 StGB) zu. Sie sind der Ansicht, dass die beiden letzteren Straftaten schwerwiegende Delikte darstellen und deshalb von Amtes wegen verfolgt werden müssen, und zwar unabhängig vom Verhältnis, das zwischen Täter und Opfer besteht.

Demgegenüber unterstützen ein Kanton11 und eine Partei12 die Verfolgung von Amtes wegen bei der häuslichen Gewalt (Art. 123, 126 und 180 StGB), lehnen diese aber bei der sexuellen Nötigung (Art. 189 StGB) und bei der Vergewaltigung (Art. 190 StGB) wegen Beweisschwierigkeiten ab.

Sechs Kantone13, zwei Parteien14 und elf Organisationen15 sprechen sich für die Lösung der Minderheit II bei Art. 66ter StGB aus.

Schliesslich lehnen drei Kantone16, eine Partei17 und zwei Organisationen18 die Revision generell ab. Sie sind der Auffassung, dass der Staat nicht übermässig in die Intimsphäre der Paare eingreifen soll19. Ihrer Meinung nach besteht heute ein genügender Schutz, zumal der Vorentwurf Anwendungsprobleme schaffen wird, namentlich im Bereich der Beweisbarkeit20. Das Strafrecht ist als «ultima ratio» einzusetzen, die Lösungen müssen ausserhalb des Strafrechts gesucht und namentlich die Betreuung der Opfer verbessert werden21.

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

SO, SH, AR, GR, AG, GE.

FDP.

Centre patronal, Uni Genf, Konferenz der Schweiz. Staatsanwälte.

UR (Ablehnung von Art. 180 VE-StGB).

LPS.

GL, TG, NE, ZH, ZG, FR.

GPS, SP Opferhilfe AG, FSP, SKF, Nottelefon Beratungsstelle für Frauen, EFS, sek, svf, SPV, EKF, DJS, Interventionsprojekte und ­stellen gegen häusliche Gewalt.

OW, AI und JU (und die Kantonspolizei SZ).

SVP.

Sgv, SKG (In der SKG sind die Meinungen dazu, ob sexuelle Nötigung und Vergewaltigung in der Ehe künftig von Amtes wegen zu verfolgen sind, geteilt).

Sgv.

SVP.

AI, SKG.

1915

3

Erläuterungen der Gesetzesänderungen im StGB

3.1

Häusliche Gewalt als Offizialdelikt

3.1.1

Einfache Körperverletzung als Offizialdelikt

3.1.1.1

Artikel 123 Ziffer 2 Absätze 3 und 4 (neu)

Ziffer 2 von Artikel 123 StGB (einfache Körperverletzung) wird mit einem 3. und einem 4. Absatz folgenden Inhalts ergänzt: 2. Die Strafe ist Gefängnis, und der Täter wird von Amtes wegen verfolgt 3

wenn er der Ehegatte des Opfers ist und die Tat während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde;

4 wenn er der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Tat während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.

3.1.1.2

Verheiratete Paare

Der neue Absatz 3 von Artikel 123 Ziffer 2 bietet dem Opfer, das mit dem Täter verheiratet ist, einen besonderen Schutz. Das Anwendungskriterium für diesen Absatz ist die eheliche Verbindung; dabei ist es unwesentlich, ob die Ehegatten getrennte Wohnsitze haben22 oder ob sie im Sinne von Artikel 117 ff. des Zivilgesetzbuches23 getrennt leben.

3.1.1.3

Kriterien der Lebensgemeinschaft für nicht verheiratete Paare

Ein besonderer Schutz von Amtes wegen des nicht mit dem Täter verheirateten Opfers rechtfertigt sich nur, wenn Täter und Opfer der einfachen Körperverletzung eine Lebensgemeinschaft24 bilden. Dazu müssen folgende beiden Kriterien erfüllt sein: 22 23 24

Seit der Inkraftsetzung des neuen Eherechts (BG vom 5. Oktober 1984, in Kraft seit dem 1. Januar 1988) ist jeder Ehegatte befugt, einen eigenen Wohnsitz zu gründen.

SR 210 Gemäss zivilrechtlicher Rechtsprechung des Bundesgerichts «(gilt) als Konkubinat im engeren Sinne eine längere Zeit, wenn nicht auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft von zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts mit Ausschliesslichkeitscharakter, die sowohl eine geistig-seelische als auch eine körperliche und eine wirtschaftliche Komponente aufweist und auch etwa als Wohn-, Tisch- und Bettgemeinschaft bezeichnet wird (...) Indessen kommt nicht allen drei Komponenten dieselbe Bedeutung zu. Fehlt die Geschlechtsgemeinschaft oder die wirtschaftliche Komponente, leben die beiden Partner aber trotzdem in einer festen und ausschliesslichen Zweierbeziehung, halten sich gegenseitig die Treue und leisten sich umfassenden Beistand, so ist eine eheähnliche Gemeinschaft zu bejahen.» Die Bundesrichter haben die Tatsachenvermutung aufgestellt, dass ein Konkubinat, das bereits fünf Jahre gedauert hat, grundsätzlich als eine eheähnliche Gemeinschaft gilt (vgl. BGE 118 II 237/238). Vgl. auch Henri Deschenaux und Pierre Tercier, Le mariage et le divorce, La formation et la dissolution du lien conjugal, 3e édition, Berne 1985, N 892).

1916

­

Der Täter muss der hetero- bzw. homosexuelle Lebenspartner des Opfers sein.

Der Schutz darf sich nicht nur auf verheiratete Paare beschränken. Der neue Absatz 4 von Artikel 123 Ziffer 2 erweitert den Schutz auch auf nicht verheiratete Paare, da heute nichteheliche Lebensgemeinschaften immer mehr an Bedeutung gewinnen25. Der Täter muss mit dem Opfer ein intimes Verhältnis pflegen; dies schliesst die anderen, im selben Haushalt wohnenden Familienmitglieder aus (beispielsweise die Grossmutter oder die Kinder)26.

Die Verfolgung von Amtes wegen soll auch gelten, wenn die Partner keine intimen Beziehungen mehr pflegen. Die Bestimmung ist neutral formuliert, so dass sie auch jene ­ seltenen ­ Fälle einschliesst, wo die Frau gegenüber dem Mann Gewalt anwendet.

Der Einbezug homosexueller Paare rechtfertigt sich aus Gleichbehandlungsgründen, denn die Revision soll für Gewalthandlungen in Partnerschaften mit einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis gelten. Diese Abhängigkeit besteht sowohl zwischen Ehe- und Konkubinatspaaren als auch in einer stabilen Beziehung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern.

­

Der Täter muss mit dem Opfer auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen.

Ein besonderer Schutz rechtfertigt sich nur bei häuslicher Gewalt, d.h. wenn der Täter mit dem Opfer im gleichen Haushalt lebt. Das Opfer, das mit dem Täter zusammenlebt, steht oft in einem ­ materiellen oder emotionalen ­ Abhängigkeitsverhältnis zum Täter und kann deshalb nicht frei entscheiden, ob es einen Strafantrag einreichen soll27. Hingegen dürfte das Opfer, das mit dem Täter nicht im gleichen Haushalt lebt, unabhängig genug sein, um zu entscheiden, ob es den Täter strafrechtlich verfolgen will, und es braucht deshalb keinen besonderen Schutz. Das Erfordernis der Lebensgemeinschaft gilt, wie dies die parlamentarische Initiative verlangt28, nur für Konkubinatspaare und nicht für verheiratete Paare.

Die Lebensgemeinschaft muss auf eine lebenslange oder zumindest langwährende Partnerschaft ausgerichtet sein. Vorübergehende Beziehungen oder andere zeitlich befristete Gemeinschaften sollten hier ausgeklammert werden. Deshalb schlagen wir vor zu präzisieren, dass der Täter und das Opfer «auf eine unbestimmte Zeit» einen gemeinsamen Haushalt führen.

25 26 27 28

Vgl. Henri Deschenaux und Pierre Tercier, a.a.O., N 886 ff.

Die einfachen Körperverletzungen werden schon heute von Amtes wegen verfolgt, wenn es sich beim Opfer um ein Kind handelt (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 2 StGB).

Vgl. Ulrich Weder, Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft, Zusammenfassung und Ausblick, Vortrag vom 12. Oktober 1997, S. 5.

Parlamentarische Initiative «Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt. Revision von Artikel 123 StGB» (96.464).

1917

3.1.1.4

Verfolgung von Amtes wegen nach der Scheidung oder nach der Trennung unverheirateter Paare

Die parlamentarische Initiative29 verlangt, einfache Körperverletzungen auch dann von Amtes wegen zu verfolgen, «wenn die Tat nach Aufhebung des Zusammenlebens» begangen wird, dies mit der Begründung, dass gemäss verschiedener Studien «Frauen nach Aufhebung des Zusammenlebens besonders stark gefährdet» seien.

Die Zeit nach der Trennung oder Scheidung ist häufig von starken Emotionen und Spannungen zwischen den beiden Partnern geprägt. Der bis zu einem Jahr nach dem Scheidungsurteil oder bei nicht verheirateten Paaren bis zu einem Jahr nach Auflösung des gemeinsamen Haushalts erweiterte Schutz ermöglicht es, der oftmals schwierigen und heiklen Lage Rechnung zu tragen, in der sich ein potenzielles Opfer nach der endgültigen Auflösung der Lebensgemeinschaft befindet.

3.1.2

Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung als Offizialdelikte (Art. 189 und 190 StGB)

Gemäss geltendem Recht werden sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) und Vergewaltigung (Art. 190 StGB) von Amtes wegen verfolgt, dies unter Vorbehalt von Absatz 2, wonach die Tat auf Antrag erfolgt, wenn der Täter der Ehegatte des Opfers ist und mit diesem in einer Lebensgemeinschaft lebt.

Soll, wie in der parlamentarischen Initiative vorgeschlagen30, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung zwischen Ehegatten von Amtes wegen verfolgt werden, müssten lediglich die Absätze 2 dieser beiden Artikel aufgehoben werden, die eine Ausnahme vom Prinzip der Verfolgung von Amtes wegen bilden. Die Straftaten dieser beiden Bestimmungen würden in allen Fällen ­ und selbstverständlich auch nach der Scheidung ­ von Amtes wegen verfolgt.

Der zweite Satz von Absatz 3 der Artikel 189 und 190 StGB, wonach der Täter, der grausam handelt, in jedem Fall von Amtes wegen verfolgt wird, ist unter diesen Umständen nicht mehr nötig und ist deshalb zu streichen.

3.1.3

Weitere strafbare Handlungen als Offizialdelikte

Die häusliche Gewalt umfasst neben einfachen Körperverletzungen, sexuellen Nötigungen und Vergewaltigungen noch weitere strafbare Handlungen. In diesem Zusammenhang schlägt Ulrich Weder31 vor, sämtliche in der häuslichen Gemeinschaft begangenen strafbaren Handlungen gegen die körperliche, seelische und sexuelle Integrität, die heute auf Antrag verfolgt werden, zu Offizialdelikten zu erheben und dafür dem Richter zu ermöglichen, das Verfahren unter gewissen

29 30 31

Parlamentarische Initiative «Gewalt gegen Frauen als Offizialdelikt. Revision von Artikel 123 StGB» (96.464).

Parlamentarische Initiative «Sexuelle Gewalt in der Ehe als Offizialdelikt. Revision von Artikel 189 und Artikel 190 StGB» (96.465).

Ulrich Weder, a.a.O., S. 5.

1918

Umständen einzustellen. Nach Andrea Büchler32 sollten sämtliche im sozialen Nahbereich begangenen Gewalthandlungen ­ d.h. sexuelle Nötigungen, Vergewaltigungen, Tätlichkeiten, einfache Körperverletzungen und Drohungen ­ von Amtes wegen verfolgt werden.

In diesem Sinne beantragt die Kommission, die Verfolgung von Amtes wegen auch auf wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 StGB) und auf Drohungen (Art. 180 StGB) anzuwenden.

3.1.3.1

Wiederholte Tätlichkeiten als Offizialdelikte (Art. 126 Abs. 2 StGB)

Die Ausweitung der Verfolgung von Amtes wegen auf wiederholte Tätlichkeiten ist insbesondere aus folgenden Gründen angebracht: ­

Artikel 126 Absatz 2 StGB sieht wie Artikel 123 Ziffer 2 Absatz 2 StGB (einfache Körperverletzungen) bereits vor, dass ein Täter von Amtes wegen verfolgt wird, wenn er die Tat wiederholt an einer Person begeht, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind.

Es wäre deshalb angebracht, die Verfolgung von Amtes wegen ­ wie in Artikel 123 StGB ­ auch auf wiederholte Tätlichkeiten anzuwenden, die am im gleichen Haushalt lebenden Ehegatten oder hetero- bzw. homosexuellen Lebenspartner begangen werden.

­

Es ist oft schwierig, zwischen einfacher Körperverletzung und Tätlichkeiten zu unterscheiden. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung dient die Intensität des zugefügten Schmerzes als Massgabe zur Unterscheidung dieser beiden unbestimmten Rechtsbegriffe33.

Artikel 126 Absatz 2 StGB wird wie folgt ergänzt: 2

Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er die Tat wiederholt begeht:

32

33

a.

an einer Person, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind, oder

b.

an seinem Ehegatten während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung, oder

c.

an seinem hetero- oder homosexuellen Lebenspartner, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Tat während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.

Andrea Büchler, Gewalt in Ehe und Partnerschaft, Polizei-, straf- und zivilrechtliche Interventionen am Beispiel des Kantons Basel-Stadt, Basel, Genf und München 1998, S. 211; vgl. auch Andrea Büchler, Gewalt in Ehe und Partnerschaft, in: Plädoyer 2/99, S. 28 ff.

BGE 119 IV 1, 107 IV 40.

1919

3.1.3.2

Drohungen als Offizialdelikt (Art. 180 StGB)

Es steht ausser Zweifel, dass das Delikt der Drohung (das darin besteht, jemanden durch schwere Drohung in Angst und Schrecken zu versetzen) eine der häufigsten strafbaren Handlungen innerhalb einer Paarbeziehung ist. Deshalb sollte nach Andrea Büchler34 auch die Drohung gegen den Ehegatten oder Lebenspartner von Amtes wegen verfolgt werden.

Die Drohung dient oft dazu, vom Partner ­ unter Ausnützung dessen Unterlegenheit ­ einen Vorteil oder ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen und ist daher Ausdruck psychischer Gewalteinwirkung. Die Kommission beantragt, in Artikel 180 StGB einen zweiten Absatz mit folgendem Wortlaut hinzuzufügen: 2

Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt: a.

wenn er der Ehegatte des Opfers ist und die Drohung während der Ehe oder bis zu einem Jahr nach der Scheidung begangen wurde; oder

b.

wenn er der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, sofern sie auf unbestimmte Zeit einen gemeinsamem Haushalt führen und die Drohung während dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.

3.2

Einstellung des Strafverfahrens

3.2.1

Allgemeines

3.2.1.1

Problemstellung

Durch die Einführung der Offizialmaxime für Delikte im sozialen Nahbereich will die Kommission ein klares Signal setzen, dass der Staat «häusliche Gewalt» nicht mehr länger als reine Privatsache betrachten will.

Die Aufhebung des Antragserfordernisses hat jedoch zur Folge, dass die Strafverfolgungsbehörden derjenigen Kantone, in denen das Legalitätsprinzip gilt, verpflichtet sind, ein Verfahren einzuleiten, sobald sie von begangenen einfachen Körperverletzungen, wiederholten Tätlichkeiten, Drohungen, sexuellen Nötigungen oder Vergewaltigungen erfahren.

Diese Konsequenz wird nicht in allen Fällen als angemessene staatliche Reaktion empfunden. Obschon die Offizialmaxime das Opfer von der moralischen Last befreit, für die Eröffnung des Strafverfahrens verantwortlich zu sein, trägt sie nicht allen Opferinteressen in gleichem Masse Rechnung. Eine Strafverfolgung von Amtes wegen verbessert zwar den Schutz für diejenigen Opfer, welche den Druckversuchen des Täters wehrlos ausgesetzt sind. Demgegenüber gefährdet die Abkehr vom Antragsdelikt aber auch die legitimen Interessen derjenigen Opfer, die eine Verurteilung ihres Partners nicht wünschen. Es kann Fälle geben, in denen eine automatische Strafuntersuchung den Privatbereich des Paares auf eine Weise tangiert, die dem Opfer mehr schadet als nützt. So könnte beispielsweise eine Frau, die von ihrem Mann misshandelt wird und aus einer momentanen Bedrängnis heraus die Polizei um Hilfe ersucht, die dadurch in Gang gesetzte Strafverfolgung nicht mehr 34

Andrea Büchler, a.a.O.

1920

aufhalten, wenn sie sich später mit ihrem Mann wieder versöhnt. Die Verfolgung von Amtes wegen könnte paradoxerweise zu einer Verschlimmerung der Situation der misshandelten Frau führen, indem sie auf jeglichen Beistand der Behörden verzichtet aus Angst, eine unerwünschte Strafverfolgung auszulösen35.

Es gilt auch darauf hinzuweisen, dass in vielen Kantonen die Behörden, namentlich die Scheidungsrichter, verpflichtet oder wenigstens befugt sind, die Delikte anzuzeigen, von denen sie in der Ausübung ihres Amtes erfahren. Da die Weitergabe solcher Informationen gesetzlich erlaubt bzw. vorgeschrieben ist, stellt sie keine Verletzung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 StGB) dar. Offenbar machen die Richter aber in der Praxis davon nicht Gebrauch.

In diesem Zusammenhang ist jedoch zu präzisieren, dass das neue Scheidungsrecht einen gemeinsamen Scheidungsantrag ohne Schuldvorwurf ermöglicht. Dieses weniger streitige Verfahren ermöglicht den Parteien, dem Richter eine einvernehmliche Scheidungskonvention vorzulegen. Auch ist es nicht mehr nötig, die Schuld des Ehepartners nachzuweisen, und etwaige Vorfälle, welche die Lebensgemeinschaft belastet haben, brauchen dem Richter nicht mehr zur Kenntnis gebracht zu werden. Die Gefahr, dass das Scheidungsverfahren über eine Strafanzeige durch den Scheidungsrichter eine von den Ehegatten nicht gewünschte Strafuntersuchung nach sich zieht, ist somit weniger gross, da es das Ehepaar selbst in der Hand hat, wie es dem Richter den Sachverhalt darstellen will. Gerade im Rahmen von Eheschutzverfahren besteht hingegen das Risiko, dass gegen die Absicht und den Willen der Ehepartner Strafanzeige erstattet wird.

3.2.1.2

Möglichkeiten zur Verhinderung eines Strafverfahrens

Die Möglichkeiten des Opfers, die Durchführung eines Strafverfahrens gegenüber seinem Partner zu verhindern, sind sehr beschränkt.

In den parlamentarischen Beratungen zu den Initiativen von Felten war die Rede davon, dass das Opfer der Strafverfolgung ein Ende setzen könnte, indem es die Zeugenaussage verweigert. Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass die kantonalen Strafprozessordnungen in der Regel nur Ehepartner von der Zeugnispflicht entbinden, nicht aber Konkubinats- oder homosexuelle Partner. Doch selbst wenn diese letzteren ein Recht hätten, die Zeugenaussage zu verweigern, könnte sich der Richter immer noch auf die Aussagen eines Nachbarn, einer Freundin oder gar auf einen Polizeirapport berufen.

Wo dies zum Schutz bestimmter Opferinteressen sinnvoll erscheint, ist deshalb die gesetzliche Möglichkeit zu schaffen, das Strafverfahren zu stoppen.

Aus diesem Grunde beantragt die Kommission die Einführung einer neuen Bestimmung im Allgemeinen Teil des StGB (neuer Art. 66ter), welche die zuständige Behörde der Strafrechtspflege in weniger schwerwiegenden Fällen häuslicher Gewalt ermächtigt, mit Zustimmung des Opfers das Verfahren einstellen zu können.

35

Martin Killias, Zweischneidiger Vergewaltigungstatbestand, Scheidung ohne Schuldvorwurf ­ dafür mit Strafverfahren?, in: NZZ vom 11.2.1998, S. 15; gleicher Autor, Kompendium zum allgemeinen Strafrecht, Bern 1998, Nr. 838, S. 131.

1921

Auch nach den Vorschlägen von Ulrich Weder36 und Martin Killias37 ist die Lösung des oben dargestellten Interessenkonfliktes in der Berücksichtigung des Opportunitätsprinzips zu suchen.

3.2.1.3

Grundsätzliches Konzept des neuen Artikels 66ter

Die Mehrheit der Kommission stimmt folgendem neuen Artikel 66ter zu: 1

Bei einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3 und 4), wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 Bst. b und c), Drohung (Art. 180 Abs. 2) und Nötigung (Art. 181) kann die zuständige Behörde der Strafrechtspflege das Verfahren provisorisch einstellen: a.

wenn das Opfer der Ehegatte, bzw. der noch nicht ein Jahr geschiedene Ehegatte oder der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner, bzw. der noch nicht ein Jahr getrennt lebende Ex-Lebenspartner des Täters ist; und

b.

wenn das Opfer oder, falls dieses nicht handlungsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter darum ersucht oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt.

2 Das Verfahren wird wieder aufgenommen, wenn das Opfer oder, falls dieses nicht handlungsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter seine Zustimmung innerhalb von sechs Monaten schriftlich oder mündlich widerruft.

3 Wird die Zustimmung nicht widerrufen, verfügt die zuständige Behörde der Strafrechtspflege die definitive Einstellung.

4 Der definitive Einstellungsentscheid der letzten kantonalen Instanz unterliegt der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts. Beschwerdeberechtigt sind der Beschuldigte, der kantonale öffentliche Ankläger und das Opfer.

Der Ausnahmetatbestand des Artikels 66ter stellt das grundsätzliche Bekenntnis zur Offizialmaxime nicht in Frage; er versucht lediglich bei einem genau bestimmten Kreis von Delikten die negativen Folgen für das Opfer zu korrigieren, welche die Durchführung des Strafverfahrens mit sich bringen könnten.

Massgeblicher Gesichtspunkt ist dabei das Opferinteresse. Deshalb darf eine Verfahrenseinstellung nur dann erfolgen, wenn das Opfer seine ausdrückliche Zustimmung gibt.

Die zuständige Behörde soll die Einstellung jedoch nicht blind verfügen (KannFormulierung). Sie soll vielmehr prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nicht doch im Einzelfall höher zu gewichten ist. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn das Opfer vom Täter unter Druck gesetzt worden ist, oder wenn Grund zur Annahme besteht, dass das Opfer vom Täter irregeführt wurde, um in den Genuss der Einstellung zu gelangen.

Hält auch die zuständige Behörde eine Einstellung für angemessen, so verfügt sie die provisorische Einstellung. Die provisorische Einstellung hat den Vorteil, dass dem Täter eine Art «Probezeit» auferlegt wird, die dem Opfer die Möglichkeit gibt, 36 37

Ulrich Weder, a.a.O., S. 5.

Martin Killias, NZZ, a.a.O., S. 15; ders., Kompendium, a.a.O., Nr. 838, S. 131.

1922

seine Zustimmung noch einmal gründlich zu überdenken und gegebenenfalls innert sechs Monaten zu widerrufen, falls sich die Erwartungen nicht erfüllen sollten, welche das Opfer an das künftige Täterverhalten geknüpft hat.

Verzichtet das Opfer binnen sechs Monaten auf die Wiederaufnahme des Verfahrens, so verfügt die zuständige Behörde die definitive Einstellung.

Gegen den definitiven Einstellungsentscheid kann sowohl der Beschuldigte als auch der öffentliche Ankläger und das Opfer Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht erheben.

Da bei einer definitiven Einstellung des Verfahrens kein Sachurteil (mit Schuldspruch) gefällt wird, sondern lediglich ein Prozessurteil, versteht es sich von selbst, dass der Einstellungsentscheid nicht auf den Widerruf des bedingten Strafvollzuges (vgl. Art. 41 Ziff. 3 StGB) oder der bedingten Entlassung (vgl. Art. 45 Ziff. 3 StGB) nach sich ziehen kann.

3.2.2

Kommentar

3.2.2.1

Provisorische Verfahrenseinstellung

a. Betroffener Deliktskatalog Da das Opportunitätsprinzip die Aufhebung des Antragserfordernisses kompensieren soll, muss die neue Regelung bei einfacher Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2), wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2) und Drohung (Art. 180) anwendbar sein. Hingegen rechtfertigt sie sich nicht, wenn der Täter einer sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 1) oder Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1) der Ehegatte bzw. der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, da in solchen Fällen angesichts der Schwere des Deliktes das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung mehr Gewicht hat, als das Interesse des Opfers an einer Einstellung des Verfahrens.

Eine Minderheit I der Kommission bestreitet diese Begründung und beantragt, auch die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung in der Ehe in die Liste der einstellungswürdigen Delikte aufzunehmen, da auch bei diesen Tatbeständen eine Verfahrenseinstellung im Interesse des Opfers liegen könne. Da es sich neu um Offizialdelikte handelt, ist es durchaus möglich, dass die Information der Strafverfolgungsbehörden nicht vom betroffenen Partnerschaftsteil ausgeht, und zwar entgegen dem Willen des Opfers. Beispielweise will eine Ehefrau nicht, dass ihr Gatte in ein Strafverfahren gerät und sie darunter in der Folge namentlich wirtschaftlich zu leiden hat.

Nicht von der Hand zu weisen ist überdies die Gefahr falscher Anschuldigungen mit unabsehbaren Folgen für die angeschuldigte Person (vgl. Minderheit I: Baumann J. Alexander, Glasson).

In die Liste der strafbaren Handlungen, bei denen Einstellungsentscheide möglich sind, ist auch die Nötigung im Sinne von Artikel 181 StGB aufzunehmen, die bereits von Amtes wegen verfolgt wird. Dieses Delikt geht meistens mit der Körperverletzung einher und bildet daher Bestandteil dieser strafbaren Handlung (unechte Gesetzeskonkurrenz)38. So macht sich der Ehemann, der seine Frau nötigt, ihm zu folgen, indem er sie gewaltsam mit sich reisst und ihr dabei den Arm verstaucht, der einfa38

Vgl. Bernard Corboz, Les principales infractions, Bern 1997, Nr. 42 zu 181, S. 234 ff.

1923

chen Körperverletzung strafbar; das Nötigungsdelikt ist hier in der strafbaren Handlung von Artikel 123 StGB inbegriffen. Die Möglichkeit des Einstellungsentscheids gilt somit auch für das Nötigungsdelikt, ohne dass dies im Gesetz ausdrücklich festgehalten werden muss39. Es kann allerdings vorkommen, dass der Täter sich nur der Nötigung schuldig macht, ohne dabei eine einfache Körperverletzung oder eine sexuelle Misshandlung zu begehen (wenn z.B. der Mann seine Frau gewaltsam mit sich reisst, ohne sie dabei zu verletzen). Wird die Nötigung nicht zu den strafbaren Handlungen des neuen Artikels 66ter gezählt, kann der Richter in solchen Fällen das Verfahren nicht einstellen, was widersinnig wäre.

b. Für den Einstellungsentscheid zuständige Behörde Durch die Formulierung «zuständige Behörde der Strafrechtspflege» wird sichergestellt, dass nur Rechtspflegeorgane (also Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaft oder das Gericht) ­ nicht aber die Polizei ­ die Einstellung des Strafverfahrens verfügen dürfen.

Eine ähnliche Bestimmung findet sich bereits in Artikel 66bis Absatz 3 StGB40 und in Artikel 55 Absatz 2 des Revisionsentwurfes zum StGB (Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches).

Falls das Strafverfahren bereits im Stadium der gerichtlichen Beurteilung ist, stellt der Richter ­ im Unterschied etwa zu Artikel 66bis StGB ­ das Verfahren ein, sofern die betreffenden Voraussetzungen erfüllt sind. Die Kommission hat aus Gründen der Gleichbehandlung in den verschiedenen Verfahrensstadien bewusst auf die Möglichkeit des «Absehens von Strafe» (Schuldspruch ohne Strafe) verzichtet.

c. Mögliche Opfer (Abs. 1 Bst. a) Obschon die einstellungsrelevante Täter/Opfer-Beziehung bereits aus dem in Artikel 66ter Absatz 1 enthaltenen Verweis auf Artikel 123 Ziffer 2 Absatz 2 und 4 (einfache Körperverletzung), Artikel 126 Absatz 2 Buchstaben b und c (wiederholten Tätlichkeiten) und Artikel 180 Absatz 2 (Drohung) hervorgeht, kann auf eine Beschreibung der Täter/Opfer-Relation nicht verzichtet werden.

Der Grund liegt darin, dass nach Meinung der Kommission eine Einstellung auch bei der Nötigung erfolgen soll. Da die Nötigung gemäss Artikel 181 StGB aber bereits heute als Offizialdelikt ausgestaltet ist, wird dort nirgends auf den von der häuslichen Gewalt erfassten Personenkreis Bezug genommen.

Daher ist
es nötig, den persönlichen Anwendungsbereich häuslicher Gewalt nochmals explizit zu nennen. Aus redaktionellen Gründen wurde gleichwohl eine etwas schlankere Formulierung gewählt, welche klarstellt, dass die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung ­ entsprechend dem Geltungsbereich der Offizialmaxime ­ auch für Opfer besteht, welche noch nicht ein Jahr geschieden sind (bei Ehepartnern) bzw. getrennt leben (bei Ex-Lebenspartnern).

39

40

Die Lehre (contra: Trechsel) räumt ein, dass bei einer Vergewaltigung in der Ehe mit dem Rückzug des Strafantrags auch die Strafverfolgung wegen Nötigung dahinfällt (vgl.

Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Nr. 14 zu 189).

Vgl. BBl 1985 II 1009 ff. (1016 ff.).

1924

d. Zustimmung des Opfers (Abs. 1 Bst. b) Wichtigste Voraussetzung für die Einstellung des Verfahrens ist die Zustimmung des Opfers. Die Möglichkeit der Einstellung wird ja gerade aus Rücksicht auf diejenigen Opfer vorgesehen, die aus freier Überzeugung (d.h. ohne Druck, Angst oder blinde Hoffnung) keine Strafverfolgung des Partners wünschen, weil sie ihrem Partner verziehen haben oder ihre Partnerschaft durch ein Strafverfahren bedroht sehen.

Das Opfer soll die Verfahrenseinstelllung selbst beantragen oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmen können. Ist das Opfer handlungsunfähig, kann sein gesetzlicher Vertreter die Zustimmung geben. Die Zustimmung hat nur Gültigkeit, wenn sie frei und nicht unter Drohungen gegeben wurde.

e. Muss- oder Kann-Vorschrift Um den Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen, wird der Einstellungsentscheid in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt (Kann-Vorschrift). Gemäss vorgeschlagener Regelung kann die zuständige Behörde die Strafverfolgung daher selbst dann fortführen, wenn die Einstellungsbedingungen erfüllt sind, d.h. wenn das Opfer seine Zustimmung zur Verfahrenseinstellung gegeben hat. Mit der KannFormulierung lässt sich einerseits vermeiden, dass der Nichteinstellungsentscheid alleine auf dem Opfer lastet. Sie hat aber auch den Vorteil, dass die zuständige Behörde das Verfahren fortführen kann, wenn sie den Ausführungen des Opfers oder den Versprechungen des Täters misstraut. Die zuständige Behörde kann sich allerdings der Überprüfung der Bedingungen nicht entziehen und wird insbesondere ihren Entscheid, die Strafverfolgung gegen den bekundeten Willen des Opfers weiterzuführen, begründen müssen.

f. Gründe für einen Verzicht auf Rückfallprognose als Voraussetzung für Verfahrenseinstellung Nach Ulrich Weder41 sollte das Strafverfahren eingestellt oder auch nur ausgesetzt werden können, wenn das Opfer kein Interesse mehr an einer Strafverfolgung hat oder wenn ernsthaft damit gerechnet werden kann, dass der Täter in Zukunft keine gleichartigen Straftaten mehr begehen wird, namentlich, wenn er sich einer speziellen Behandlung unterzieht. Nach Martin Killias42 lässt sich das Antragserfordernis nur aufheben, wenn das Gesetz gleichzeitig die Möglichkeit einräumt, von der Strafverfolgung abzusehen, beispielsweise, wenn das Opfer
den Täter nicht mehr strafrechtlich verfolgen will oder wenn keine Gefahr auf Rückfälligkeit des Täters besteht.

In diesem Sinne beantragt auch eine Kommissionsminderheit II, dass die Einstellungsvoraussetzungen in Artikel 66ter durch einen Buchstaben c ergänzt werden, der vorsieht, dass die zuständige Behörde das Verfahren nur dann provisorisch einstellen kann, «wenn anzunehmen ist, dass der Täter nicht weitere gleichartige Straftaten begehen wird, weil er Schritte unternommen hat, um sein Verhalten zu ändern» (vgl.

Minderheitsantrag II: Ménétrey-Savary, Garbani, Gross Jost).

Die Kommissionsmehrheit ist jedoch der Auffassung, dass es falsch wäre, die Einstellung zwingend an eine positive Rückfallprognose oder an konkrete Schritte zur Verhaltensänderung zu knüpfen. Obschon auch von Seiten der Vernehmlasser ver41 42

Ulrich Weder, a.a.O., S. 5.

Martin Killias, NZZ, a.a.O., S. 15.

1925

schiedentlich gefordert wurde, dass die Entscheidung über die Einstellung an möglichst klare Voraussetzungen geknüpft werden sollte, hat die Kommissionsmehrheit bewusst auf die Erwähnung einer besonderen Rückfallprognose als kumulative Einstellungsvoraussetzung verzichtet. Die Kommission weist namentlich auf folgende Punkte hin: ­

In vielen Fällen werden kaum genügend Anhaltspunkte vorliegen, welche das Stellen einer solchen Prognose überhaupt ermöglichen. Kann die zuständige Behörde aber keine positive Prognose stellen, so wäre sie aufgrund des vorgeschlagenen Wortlauts des Minderheitsantrages II verpflichtet, das Strafverfahren durchzuführen.

­

Ferner beruht das Stellen einer solchen Prognose auf einer unzulässigen Vorverurteilung. In einem Verfahrensstadium, in dem über die Schuld des Täters noch nicht entschieden ist, würde bereits über «weitere gleichartige Straftaten» spekuliert werden. Dies wäre aus Sicht der Unschuldsvermutung sehr bedenklich.

­

Ferner könnte das Erfordernis, vom Täter konkrete Schritte zur Verhaltensänderung zu verlangen, dazu führen, dass gerade solche Täter nicht mehr von einer Einstellung profitieren könnten, bei denen dies besonders angezeigt wäre: nämlich bei Tätern, die in einer absoluten Ausnahmesituation einmalig entgleist sind oder bei solchen, die zu unrecht angeschuldigt worden sind. Es macht keinen Sinn, von diesen Personen zu verlangen, dass sie Massnahmen treffen, um ihr Verhalten zu ändern. Es ist daher verfehlt, das Einleiten konkreter Schritte zur Verhaltensänderung als gernerelle Einstellungsvoraussetzung zu definieren.

­

Auf eine Rückfallprognose kann auch deshalb verzichtet werden, weil dem Opfer die Möglichkeit eingeräumt wird, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu verlangen. Das Opfer, welches von der zuständigen Behörde bereits im Vorverfahren über seine Rechte und entsprechende Hilfsangebote informiert worden ist, kann so bereits vor erneuten Übergriffen durch den Täter die Strafverfolgungsbehörden wieder einschalten. Die sechsmonatige Widerrufsfrist ermöglicht es dem «aufgeklärten» Opfer, sich für die individuell bestmöglichste Lösung zu entscheiden.

Insgesamt bringt die provisorische Einstellung des Verfahrens mit Zustimmung des Opfers die gewünschte Flexibilität. Sie erlaubt dem Opfer, seine Zustimmung noch einmal gründlich zu überdenken und gibt dem Täter die Möglichkeit, sein Verhalten zu ändern. Damit muss auch die zuständige Behörde ihre Entscheidung, ob das Verfahren eingestellt werden soll, nicht mehr von einer vagen Prognose über das künftige Wohlverhalten des Täters abhängig machen.

Zudem ist es nicht so, dass das Täterverhalten bei der Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen schlechterdings nicht berücksichtigt würde. So wird die zuständige Behörde im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung sehr genau darauf achten, ob der Täter versucht hat, das Opfer unter Druck zu setzen oder ob das Opfer vom Täter irregeführt wurde, um in den Genuss der Einstellung zu gelangen.

1926

3.2.2.2

Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens

Bei einer provisorischen Verfahrenseinstellung sind nicht nur die Einstellungsvoraussetzungen zu regeln, sondern auch die Wiederaufnahmebedingungen.

Um sicherzugehen, dass sich das Opfer tatsächlich frei entscheiden konnte, wird ihm die Möglichkeit gegeben, seine Entscheidungsgrundlagen nochmals zu überdenken.

Deshalb wird dem Opfer in Artikel 66ter Absatz 2 eine sechsmonatige Widerrufsfrist eingräumt. Ist das Opfer nicht handlungsfähig, steht die Widerrufsmöglichkeit seinem gesetzlichen Vertreter zu.

Das Opfer soll sich innerhalb dieser Frist jederzeit für die Fortsetzung des Verfahrens entscheiden können. Es kann seinen Entscheid der zuständigen Behörde schriftlich oder mündlich mitteilen. Wurden die Erwartungen des Opfers enttäuscht, so soll es nicht länger zuwarten müssen und so Gefahr laufen, erneut den falschen Versprechungen des Täters zu erliegen. Damit wird dem Täter faktisch eine Probezeit von sechs Monaten auferlegt.

Um unnötige Beweisschwierigkeiten zu vermeiden, sollte die Bedenkfrist nicht länger als sechs Monate betragen.

Demgegenüber beantragt eine Minderheit III der Kommission, dass dem Opfer lediglich eine Bedenkzeit von drei Monaten eingeräumt wird (Minderheitsantrag III: Eggly, Baumann J. Alexander, Bangerter, Bosshard, Gutzwiller, Joder, Leuthard).

Es wird befürchtet, dass das Ende des Strafverfahrens bei einer sechsmonatigen Frist unnötig in die Länge gezogen würde.

Die Kommission hat sich auch die Frage gestellt, ob der Rückfall nicht selbständig geregelt und als alternative Wiederaufnahmevoraussetzung ausgestaltet werden sollte. An sich wäre es nämlich durchaus denkbar, das Verfahren von Amtes wegen wieder aufzunehmen, wenn der Täter innerhalb von sechs Monaten rückfällig geworden ist ­ sprich eine gleichartige Straftat begangen hat.

Das Problem besteht aber darin, dass neue Taten unter Umständen innerhalb von sechs Monaten angezeigt, aber kaum abgeurteilt werden können. Der Eingang einer Anzeige an sich rechtfertigt noch keine sofortige Wiederaufnahme des Verfahrens.

Würde die definitive Einstellung des Verfahrens allein wegen einer erfolgten Anzeige verweigert, so würde dieser Entscheid ebenfalls auf eine Vorverurteilung gestützt, da in diesem Verfahrensstadium noch nicht feststeht, ob der Angeschuldigte die ihm vorgeworfene Rückfalltat überhaupt begangen hat.
Die zuständige Behörde müsste daher ihre Wiederaufnahme- bzw. Einstellungsentscheidung solange hinauszögern, bis der Täter wegen der neuen Tat rechtskräftig verurteilt (bzw. freigesprochen) worden ist ­ was in Anbetracht der bestehenden Rechtsmittelmöglichkeiten unter Umständen Jahre dauern könnte. Gerade in Fällen, wo das Verfahren bereits in einem frühen Stadium provisorisch eingestellt worden ist, dürfte es in Anbetracht der bestehenden Beweisschwierigkeiten kaum Sinn machen, die Ermittlungen nach Jahren wieder aufzunehmen.

Bei der Prüfung der Wiederaufnahmevoraussetzungen ist auf eine «Kann-Formel» zu verzichten. Anders als beim Entscheid über die provisorische Einstellung besteht beim Entscheid über die Wiederaufnahme keine Notwendigkeit, der zuständigen

1927

Behörde ein Ermessen einzuräumen. Denn wenn das Opfer seine Zustimmung zur provisorischen Einstellung widerruft, kommt erneut die Offizialmaxime zum Tragen.

3.2.2.3

Definitive Verfahrenseinstellung

Wird das Verfahren nicht wieder aufgenommen, verfügt die zuständige Behörde die definitive Einstellung.

3.2.2.4

Rechtsmittel

Die Kommission ist der Auffassung, dass die Nichtigkeitsbeschwerde nur im Umfang von Artikel 268 Ziffer 2 Bundesstrafprozess garantiert werden sollte. Demnach würde die Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht für das Opfer, den öffentlichen Ankläger und den Angeschuldigten nur gegen den definitiven Einstellungsentscheid zur Verfügung stehen (vgl. Abs. 4).

Folgende Gründe sprechen für die Unzulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde bei einer provisorischen Einstellung des Verfahrens, bei einer Verweigerung der provisorischen Einstellung oder bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens (d.h. bei einer Verweigerung der definitiven Einstellung): ­

Bei einer provisorischen Einstellung des Verfahrens besteht keine Notwendigkeit ein Rechtsmittel vorzusehen, denn in diesem Falle kann immer noch gegen den definitiven Einstellungsentscheid Nichtigkeitsbeschwerde geführt werden. Zudem sind gegen provisorische Entscheide in der Regel keine Rechtsmittel möglich.

­

Weniger klar ist die Situation in den Fällen der Verweigerung der provisorischen Einstellung. Es ist denkbar, dass die Einstellung verweigert wird (weil z.B. die zuständige Behörde glaubt, das Opfer werde vom Täter unter Druck gesetzt), obschon das Opfer dies verlangt hat. Irrt die zuständige Behörde, so kann das Opfer diese Entscheidung nicht überprüfen lassen. Das Problem könnte durch Streichung der «Kann-Formulierung» gelöst werden. Dies ist aber gerade im Hinblick auf den umgekehrten Fall (Behörde irrt nicht) kaum sinnvoll.

­

Für eine restriktive Ausgestaltung der Rechtsmittelmöglichkeiten spricht, dass sich der Gesetzgeber prinzipiell für die Offizialmaxime ausgesprochen hat. Der Ausnahmecharakter des Artikels 66ter StGB spricht gegen einen Weiterzug ans Bundesgericht. Schliesslich hat das Opfer seine Argumente ausführlich darlegen können. Zudem besteht die Gefahr, dass der Täter Druck auf das Opfer ausübt, gegen die Verweigerung der Einstellung zu rekurrieren.

­

Im Falle der Wiederaufnahme (Verweigerung der definitiven Einstellung) dürfte das Opfer kaum ein Interesse an der Ergreifung der Nichtigkeitsbeschwerde haben, da es ja selbst die Wiederaufnahme verlangt hat.

1928

3.2.2.5

Ansiedlung der vorgeschlagenen Bestimmung

Da diese neue Bestimmung vier strafbare Handlungen betrifft und sich in vier Absätze gliedert, dürfte eine Einfügung in die Artikel 123, 126, 180 und 181 StGB zu schwerfällig sein. Aufgrund des unterschiedlichen Charakters der geschützten Rechtsgüter scheint es auch schwierig, die Bestimmung am Ende des ersten Titels (strafbare Handlungen gegen Leib und Leben) oder des vierten Titels (Verbrechen und Vergehen gegen die Freiheit) anzusiedeln. Die beste Lösung ist deshalb, sie anschliessend an Artikel 66bis StGB in einem neuen Artikel 66ter StGB unterzubringen.

4

Erläuterungen der Gesetzesänderungen im MStG

4.1

Einleitung

Wie bei den früheren Revisionen des Schweizerischen Strafgesetzbuches gehen auch die vorgesehenen Änderungen mit einer entsprechenden Anpassung des Militärstrafgesetzes (MStG)43 einher.

Das MStG kennt kein Antragsdelikt im Sinne von Artikel 28­31 StGB, ausser in Bezug auf die Ehrverletzung (siehe Art. 145, 146, 148 und 148a MStG sowie Art. 91­93 MStV44). Es muss deshalb betont werden, dass bereits zum jetzigen Zeitpunkt die Straftatbestände des MStG (d.h. also auch die einfache Körperverletzung, Tätlichkeiten, Drohung und Nötigung) als Offizialdelikte ausgestaltet sind.

Deshalb besteht kein Grund, im MStG bezüglich der Offizialdelikte Anpassungen, wie sie im StGB gemacht wurden, vorzunehmen (siehe die neuen Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3 und 4, Art. 126 Abs. 2, Art. 180 Abs. 2, Art. 189 Abs. 2 und 3 und Art. 190 Abs. 2 und 3 StGB).

Hingegen ist im MStG eine analoge Bestimmung zu Artikel 66ter StGB zu schaffen und Artikel 155a MStG aufzuheben, dessen Bedeutung mit der geplanten Anpassung obsolet wird.

4.2

Kommentar zum neuen Artikel 47b

Der neue Artikel 47b MStG entspricht dem Artikel 66ter StGB mit den für das Militärstrafgesetz und den Militärstrafprozess (MStP)45 notwendigen Anpassungen.

Die in Absatz 1 genannten Vergehen stimmen mit jenen in Artikel 66ter StGB und den entsprechenden Artikeln überein. Da das MStG in Artikel 122 nicht zwischen einfachen und wiederholten Tätlichkeiten unterscheidet, die Offizialmaxime also auch für einfache Tätlichkeiten gilt, ist die Möglichkeit der provisorischen Einstellung gemäss Artikel 47b nicht auf «wiederholte» Tätlichkeiten zu beschränken. Auf die Nennung des Wortes «wiederholten» ist daher zu verzichten.

43 44 45

SR 321 Verordnung vom 24. Oktober 1979 über die Militärstrafrechtspflege (SR 322.2).

SR 322.1

1929

Eine Minderheit IV der Kommission beantragt, wie bereits beim StGB, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung ebenfalls in die Liste der einstellungswürdigen Delikte aufzunehmen (vgl. Minderheit IV: Baumann J. Alexander, Mathys).

Der in Artikel 66ter Absatz 1 genannte Begriff «zuständige Behörde der Strafrechtspflege» kann im MStG präzisiert werden: Je nach Stadium des militärischen Strafverfahrens kann nur entweder der Auditor oder das Militärgericht das Verfahren provisorisch einstellen. Unter «Militärgericht» ist ebenso das erstinstanzliche Militärgericht (Divisionsgericht) wie auch das Militärappellationsgericht zu verstehen.

Hingegen ist es für den (militärischen) Untersuchungsrichter nicht möglich, seinerseits ein Verfahren provisorisch oder definitiv einzustellen (siehe Abs. 3). Er kann hingegen selbstverständlich das Ersuchen des Opfers zur provisorischen Einstellung entgegennehmen oder selber den Antrag hiezu machen und anschliessend die Akten dem Auditor zur provisorischen Einstellung zukommen lassen.

Die Formulierung in Litera a lautet im Vergleich zur Formulierung von Artikel 66ter StGB anders. Da in Artikel 123 Ziffer 2 Absatz 3 und 4, Artikel 126 Absatz 2 Buchstabe b und c sowie in Artikel 180 Absatz 2 StGB der Anwendungsbereich der Offizialmaxime bei häuslicher Gewalt ganz klar umschrieben ist, wurde in Artikel 66ter Absatz 1 Buchstabe a StGB eine etwas einfachere Formulierung gewählt. Da die entsprechenden Tatbestände des MStG jedoch nicht speziell auf die Anwendungsfälle häuslicher Gewalt Bezug nehmen, ist in Artikel 47b Absatz 1 Litera a MStG die Beziehung zwischen Täter und Opfer präzise zu umschreiben.

Artikel 47b Absatz 2 MStG ist identisch mit Artikel 66ter StGB.

Der Ausdruck «Zuständige Behörde der Strafrechtspflege», der in Artikel 66ter Absatz 3 StGB erscheint, muss in Artikel 47b Absatz 3 präzisiert werden. Die definitive Einstellung des Verfahrens kann je nach Verfahrensstadium vom Auditor oder vom Militärgericht verfügt werden.

Absatz 4 ist ebenfalls anzupassen. Der Rekurs ans erstinstanzliche Militärgericht (Divisionsgericht) ist gegeben gegen die definitive Einstellungsverfügung des Auditors (MStP 118), während der Rekurs ans Militärkassationsgericht möglich ist gegen die definitive Einstellungsverfügung des erstinstanzlichen Militärgerichts oder des
Militärappellationsgerichts (MStP 195).

Durch Absatz 5 wird die Durchführung eines Disziplinarstrafverfahrens ausgeschlossen, aber nicht die disziplinarische Strafe bei leichten Fällen (vgl. Art. 122 Ziff. 1, 2. Satz, Art. 149 Abs. 2 und Art. 150 Abs. 2 MStG).

Das Disziplinarstrafrecht dient zur Aufrechterhaltung der Disziplin in der Truppe und stellt somit ein Mittel für die Kommandanten dar, leichte Fälle von Widerhandlungen gegen Bestimmungen des Besonderen Teils des Militärstrafgesetzes unmittelbar und für die Truppe ersichtlich zu ahnden. Die provisorische Einstellung des Verfahrens im Sinne von Artikel 47b (bis sechs Monate ab Antrag des Opfers) würde der Maxime der sofortigen Sanktionierung widersprechen und liesse sich zudem nicht mit den militärischen Dienstleistungszeiten vereinbaren. Zudem sollten sich Kommandanten im Rahmen einer militärischen Dienstleistung nicht mit Sachverhalten nach Artikel 47b befassen müssen.

Sachverhalte die unter Artikel 47b subsumiert werden können, sind somit analog der bürgerlichen Regelung, in einem Strafverfahren zu untersuchen. Zurzeit könnte des-

1930

halb nur das Militärgericht, ohne ein Disziplinarstrafverfahren durchzuführen, eine disziplinarische Strafe direkt aussprechen (Art. 149 MStP).

4.3

Kommentar zur Aufhebung des Artikel 155a MStG

Der Artikel 155a MStG lautet in seiner aktuellen Fassung wie folgt: «Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind dem zivilen Strafrecht und der zivilen Strafgerichtsbarkeit unterworfen, wenn der Täter der Ehegatte des Opfers ist und mit diesem in einer Lebensgemeinschaft lebt».

Da die Kommission beschlossen hat, die sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung eines Ehe- oder Lebenspartners nicht mehr nur auf Antrag, sondern von Amtes wegen zu verfolgen ist (Aufhebung der Art. 189 Abs. 2 und Art. 190 Abs. 2 StGB), ist Artikel 155a MStG nicht mehr gerechtfertigt. Die Aufhebung dieser Bestimmung wird zur Konsequenz haben, dass die Vergewaltigung oder die sexuelle Nötigung, auch wenn sie am Ehepartner begangen wurde, unter die Militärgerichtsbarkeit fällt (immer unter dem Vorbehalt, dass er gemäss Artikel 2 MStG, insbesondere Artikel 2 Ziffer 1, dem MStG unterstellt ist). Die Verfolgung wird von Amtes wegen erfolgen.

5

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die vorgesehene Änderung des Strafgesetzbuches könnte für den Bund (Bundesgericht) und die Kantone Mehrausgaben zur Folge haben, da die Gerichtsbehörden sich aufgrund der Ausdehnung der Offizialdelikte mit mehr Fällen werden befassen müssen. Wie hoch gegebenenfalls die daraus erwachsenden Mehrkosten sein werden, lässt sich heute schwer abschätzen.

6

Verfassungsmässigkeit

Die Zuständigkeit des Bundes zur Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts ergibt sich aus Artikel 123 der Bundesverfassung46.

46

SR 101

1931