03.008 Botschaft zur Änderung des Militärstrafprozesses (Zeugenschutz) vom 22. Januar 2003

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, mit der vorliegenden Botschaft unterbreiten wir Ihnen den Entwurfeiner Änderung des Militärstrafprozesses betreffend den Zeugenschutz mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

22. Januar 2003

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Pascal Couchepin Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2001-1386

767

Übersicht Auslöser für die vorliegende Revision des Militärstrafprozesses ist die Erkenntnis, die aus den in der Schweiz durchgeführten Untersuchungen gegen mutmassliche Kriegsverbrecher gewonnen wurde: Zeugen müssen besser geschützt werden. Aus Angst vor Racheakten oder Druckversuchen mittels Drohungen oder Angriffen gegen Leib und Leben der Zeuginnen und Zeugen oder ihrer Angehörigen sind Zeuginnen und Zeugen in Verfahren gegen die organisierte Kriminalität oder in Kriegsverbrecherprozessen oftmals nicht bereit, vor Gericht auszusagen. Gerade in solchen Verfahren sind die Strafverfolgungsbehörden aber mangels anderer Beweismittel besonders stark auf Zeugenaussagen angewiesen.

Durch diese Revisionsvorlage sollen daher besondere verfahrensrechtliche Bestimmungen in den Militärstrafprozess eingeführt werden. Sie sollen es erlauben, Zeuginnen und Zeugen insbesondere durch Geheimhaltung ihrer Identität gegenüber der Öffentlichkeit und gegebenenfalls auch gegenüber der Verteidigung zu schützen.

Dazu kommt die Möglichkeit, gefährdete Zeuginnen und Zeugen durch polizeilichen Personenschutz vor, während und nach dem Verfahren vor unmittelbaren Angriffen zu bewahren. Auf eigentliche Zeugenschutzprogramme wird hingegen verzichtet.

Mit dem Umfang der prozessualen Zeugenschutzmassnahmen steigt die Gefahr, dass die Partei- und Verteidigungsrechte einer beschuldigten Person beeinträchtigt werden. Damit der Zeugenschutz nicht zu einer unzulässigen Schmälerung der elementaren Verteidigungsrechte führt und das Strafverfahren in seiner Gesamtheit fair bleibt, wird vorgesehen, dass Zeugenschutzmassnahmen in jedem konkreten Fall individuell geprüft und angeordnet werden müssen. In einem Genehmigungsverfahren nach dem Muster des Verfahrens für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ist zu prüfen, ob dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an den Schutzmassnahmen besteht, die angeordneten Schutzmassnahmen verhältnismässig sind und so weit wie möglich Kompensationsmassnahmen zum Ausgleich der beeinträchtigten Verteidigungsrechte getroffen wurden. Gibt es kein Massnahmensystem, welches sowohl den Zeugenschutz gewährleisten als auch die Beschränkung der Verteidigungsrechte ausgleichen kann, so muss auf die entsprechende Zeugenaussage verzichtet werden.

Diese Vorlage soll eine Vorreiterfunktion für die
im Vorentwurf für die Schweizerische Strafprozessordnung vorgesehenen Zeugenschutzregeln übernehmen. Sie wurde daher formell und materiell mit dem Vorentwurf koordiniert.

768

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Gefahr für die Zeugen und Bedeutung des Zeugenbeweises

Zwischen Mitte 1996 und Mitte 1997 sind zwei Zeugen, die in den Verfahren gegen die mutmasslichen Kriegsverbrecher Jean-Paul Akayesu und Obed Ruzindana vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Rwanda ausgesagt haben, ermordet worden1.

Die Gefahren, denen sich Personen aussetzen, welche als Zeuginnen oder Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen aussagen, sind ­ wie die angeführten Beispiele zeigen ­ real und belegbar.

Bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen sind die üblichen Aufklärungsmittel wie Spurensicherung, Durchsuchungen oder Fotografien wegen der Kriegswirren in der Regel nicht verfügbar. Die Beweisführung muss sich deshalb fast ausschliesslich auf Zeugenaussagen beschränken. Der schlüssige Nachweis eines Kriegsverbrechens durch Zeugenbeweis wird aber dadurch stark erschwert, dass viele Zeugen und Opfer Angst davor haben, sich selbst oder Angehörige durch Aussagen im Untersuchungs- oder im Gerichtsverfahren Repressalien oder Racheakten auszusetzen2.

1.1.2

Regelungslücken im Bereich Zeugenschutz

Schon 1995 kam der damalige Oberauditor der Armee, Brigadier Jürg van Wijnkoop, zum Schluss, «wir müssen Zeugen besser schützen können»3, weil andernfalls Zeuginnen oder Zeugen aus Gründen des Selbstschutzes schweigen und Kriegsverbrechen möglicherweise deshalb nicht aufgeklärt und nicht bestraft werden können.

Bereits in den Jahren 1994 und 1995, im Zusammenhang mit den ersten Strafuntersuchungen gegen mutmassliche Kriegsverbrecher der Konflikte in Ex-Jugoslawien und in Rwanda, stellte sich für die Militärjustiz konkret die Frage nach Möglichkeiten zum Schutz von Zeuginnen und Zeugen. Mangels genügender Schutzmöglichkeiten kam es zu Behinderungen der Strafuntersuchung4. In einem daraufhin vom Oberauditor in Auftrag gegebenen Gutachten zur Frage des Schutzes von Zeugen und Opfern im Militärstrafverfahren wurde festgestellt, dass es nach dem geltenden 1 2

3

4

Vgl. David Donat-Cattin, in: Otto Triffterer, Commentary on the Rome Statute, Baden-Baden 1999, article 68, No. 2.

Vgl. dazu etwa Dieter Weber, Kriegsverbrechen und deren Verfolgung in der Schweiz, in: Das Strafrecht vor alten und neuen Herausforderungen, Schweizerisches Institut für Verwaltungskurse an der Universität St. Gallen (Hrsg.), Tagungsdokumentation zur Tagung vom 18.11.1999 in Luzern, S. 8 f.

Vgl. Jürg van Wijnkoop, Die Aussage wird zur Tortur, Interview mit Daniel Amman, SonntagsZeitung Nr. 33 vom 13.8.1995, S. 3; vgl. auch Peter Müller, Effektivität und Effizienz in der Strafverfolgung ­ Ansätze, Chancen, Risiken, ZStrR 1998, S. 273­290, 281.

Vgl. dazu van Wijnkoop (Anm. 3), a.a.O.; NZZ Nr. 186 vom 14.8.1995, S. 15.

769

Militärstrafprozessrecht5 zwar gewisse Möglichkeiten zum Zeugenschutz gebe, dass in dieser Hinsicht aber Regelungslücken bestünden, welche durch eine Revision des Militärstrafprozesses zu schliessen seien6.

1.1.3

Zeugenschutz: Interessen und Spannungsfeld

1.1.3.1

Notwendigkeit des Zeugenschutzes

Beim Zeugenschutz geht es darum, Personen, welche in einem Strafverfahren über einen von ihnen wahrgenommenen Sachverhalt aussagen sollen, vor Leuten aus deliktischen Kreisen zu schützen, welche sie mit Drohungen, Angriffen gegen Leib und Leben oder anderen Mitteln unter Druck setzen, mit dem Ziel, ihr Aussageverhalten zu beeinflussen und den Beschuldigten möglichst der Strafverfolgung zu entziehen. Je wichtiger ein bestimmter Zeuge für den Nachweis einer Straftat ist, umso grösser ist die Versuchung, ihn «auszuschalten» und so die Strafverfolgung zu behindern. Zeugenbeeinflussung und damit Zeugenschutz ist dementsprechend überall dort ein zunehmendes Problem, wo die Strafverfolgungsbehörden mangels anderer Beweismittel besonders stark auf Zeugenaussagen angewiesen sind, z.B. in Verfahren gegen die organisierte Kriminalität oder in Kriegsverbrecherprozessen7.

1.1.3.2

Schutzinteressen und Schutzpflichten

Bei dieser Sachlage drängen sich Zeugenschutzmassnahmen einerseits im Interesse der Wahrheitsfindung und der wirksamen Strafverfolgung auf, wird doch ein in Angst und Schrecken versetzter oder nur schon belästigter, bedrängter oder eingeschüchterter potenzieller Zeuge im Strafverfahren kaum mehr einen verwertbaren Beitrag leisten. Andererseits ist der Staat auch im Interesse der Zeugin oder des Zeugen zu Schutzmassnahmen verpflichtet. Eine staatliche Schutzpflicht folgt als Korrelat zu den als Bürgerpflicht bezeichneten Aussage- bzw. Mitwirkungspflichten des Zeugen am Strafverfahren8. Zudem ist der Staat schon auf Grund der aus Artikel 10 BV fliessenden positiven Schutzpflichten bei ernsthafter Gefahr von Leib und Leben einer bestimmten Person zur Ergreifung von Schutzmassnahmen verpflichtet9.

5 6 7 8 9

770

Militärstrafprozess vom 23.3.1979 (MStP; SR 322.1) und Verordnung über die Militärstrafrechtspflege vom 24.10.1979 (MStV; SR 322.2).

Vgl. Stefan Wehrenberg, Schutz von Zeugen und Opfern im Militärstrafverfahren, Bern 1996, S. 72.

Vgl. etwa Thomas Hug, Zeugenschutz im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen der Verfahrensbeteiligten, ZStrR 1998, S. 404­417, 404 f.; BGE 125 I 127, 141 ff. E. 7a.

Vgl. BGE 125 I 127, 142 mit zahlreichen Hinweisen; Wehrenberg (Anm. 6), S. 5 f.; Hug (Anm. 7), S. 405 f.

Vgl. Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 18 und 28; Urteil BGer. in: EuGRZ 2000, S. 451.

1.1.3.3

Zeugenschutzmassnahmen

Zeugenschutzmassnahmen lassen sich in prozessuale und ausserprozessuale Massnahmen einteilen: Bei den prozessualen Zeugenschutzmassnahmen geht es um Massnahmen, die durch besondere verfahrensrechtliche Bestimmungen, v.a. im Bereich der allgemeinen Verfahrensgarantien und des Beweisrechts, zum Schutz der Zeugin oder des Zeugen im Strafverfahren getroffen werden können. Als solche Massnahmen kommen etwa in Betracht: Zeugnisverweigerungsrechte, teilweise oder vollständige Geheimhaltung der Identität der Zeugen vor der Öffentlichkeit oder der Verteidigung (Anonymität), Ausschluss der Öffentlichkeit von Zeugenbefragungen, Befragung in Abwesenheit des Angeschuldigten bzw. der Verteidigung (Ausschluss der Konfrontation des Beschuldigten mit Zeugen), optische und akustische Abschirmung der Zeugen, audiovisuelle Übertragung der an einem anderen Ort durchgeführten Befragung, Ersetzen der mündlichen Zeugenaussage durch Verlesung von Protokollen in der Gerichtsverhandlung10.

Zu den ausserprozessualen Massnahmen gehören polizeilicher Personenschutz vor, während und nach dem Verfahren, Hilfs- und Betreuungsvorkehrungen ­ insbesondere zu Gunsten kindlicher, traumatisierter und selbst als Opfer betroffener Zeugen ­, rechtliche Beratung und schliesslich auch eigentliche Zeugenschutzprogramme11.

1.1.3.4

Verteidigungsrechte

Während ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen die Rechte des Beschuldigten in der Regel nicht tangieren, werden mit zunehmendem Umfang des prozessualen Zeugenschutzes die Partei- und Verteidigungsrechte des Beschuldigten immer stärker beeinträchtigt. Durch Massnahmen des prozessualen Zeugenschutzes können die Anwesenheits-, die Befragungs- sowie die weiteren Informationsrechte wie etwa das Akteneinsichtsrecht mehr oder weniger stark beschnitten werden. So steht insbesondere eine umfassende Geheimhaltung der Identität von gefährdeten Zeugen vor der Verteidigung den aus den verfassungsrechtlich geschützten elementaren Verteidigungsrechten fliessenden Konfrontations- und Befragungsrechten des Beschuldigten entgegen12. Kernpunkt dieser Rechte ist, dass die Verteidigung mindestens einmal im Laufe des Verfahrens angemessen und ausreichend Gelegenheit dazu erhält, Belastungszeugen in tatsächlich wirksamer Art und Weise zu befragen. Der Beschuldigte bzw. die Verteidigung muss in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert auf die Probe und in Frage stellen zu können.

Grundsätzlich muss es ihm bzw. ihr auch möglich sein, die Identität des Zeugen zu erfahren, um dessen persönliche Glaubwürdigkeit sowie allfällige Zeugenaus-

10 11 12

Vgl. BGE 125 I 127, 143 m.H.; Hug (Anm. 7), S. 409 ff.; Wehrenberg (Anm. 6), S. 6 und 60 ff.

Vgl. BGE 125 I 127, 143 m.H.; Hug (Anm. 7), S. 416 f.; Wehrenberg (Anm. 6), S. 70 f.

Zu den Zeugenschutzprogrammen siehe auch Ziff. 1.4.1.2.

Art. 29 Abs. 2 i.V.m. Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Vgl. BGE 125 I 127, 131 ff. E. 6.; Wehrenberg (Anm. 6), S. 6; Dorrit Schleiminger, Konfrontation im Strafprozess, Diss., Fribourg 2000, S. 23 ff.

771

schluss- und Ablehnungsgründe überprüfen zu können. Insbesondere die Glaubwürdigkeitsprüfung ist bei Aussagen von anonymen Zeugen in Frage gestellt13.

1.1.3.5

Spannungsfeld der Interessen und Notwendigkeit des Interessensausgleichs

Zeugenschutzmassnahmen stehen damit im Spannungsfeld verschiedener, einander teilweise diametral entgegengesetzter Interessen der verschiedenen Verfahrensbeteiligten, nämlich den Aufklärungsbedürfnissen der Gesellschaft und der Strafverfolgungsbehörden sowie den Sicherheitsinteressen der Zeugin oder des Zeugen einerseits und den Rechten der beschuldigten Person andererseits.

Der staatliche Strafverfolgungsanspruch und die Justizgewährungspflicht verlangen eine möglichst umfassende und ungehinderte Aufklärung von Straftaten. Dazu gehört in erster Linie die Pflicht der Behörden zur Ermittlung der materiellen Wahrheit eines Sachverhaltes. Wie bereits erläutert, ist gerade bei Kriegsverbrechen die wahrheitsgemässe und umfassende Aussage von Tatzeugen ein wichtiges Mittel zur Wahrheitsfindung. Diese Wahrheitsfindung wird gefährdet, wenn Zeuginnen und Zeugen unter Druck gesetzt werden, wenn sie bedroht werden oder wenn sie Racheakte zu befürchten haben. Dies wiederum bedeutet, dass der Staat auf Grund seiner Pflicht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit dazu angehalten ist, durch wirkungsvolle Zeugenschutzmassnahmen eine Beeinflussung des Zeugen, welche ihn von einer wahrheitsgemässen Aussage abhalten könnten, zu verhindern14.

Für den Zeugenschutz spricht ausserdem, dass die Zeuginnen und Zeugen von Gesetztes wegen und unter erheblicher Strafandrohung zum Erscheinen, zur Aussage und zur Wahrheit verpflichtet sind. Im Gegenzug zu diesen Pflichten haben sie Anspruch auf Schutz ihrer Person sowie von ihnen nahe stehenden Personen vor Beeinträchtigungen aller Art, insbesondere vor Angriffen gegen Leib und Leben (vgl. Ziff. 1.1.3.2).

Diesen Interessen von Strafverfolgungsbehörden und Zeugen stehen gewisse strafprozessuale Grundsätze wie etwa das Unmittelbarkeitsprinzip, insbesondere aber die Verteidigungsrechte des Beschuldigten gegenüber.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist anerkannt, dass es in einem veränderten Kriminalitätsumfeld «grundsätzlich möglich sein muss, die Anonymität von Zeugen, Auskunftspersonen, Anzeigern und anderen Gewährspersonen im Falle von überwiegenden schutzwürdigen Interessen zu wahren»15, und dass «dieser Umstand einschränkende Massnahmen rechtfertigen kann»16. Der Zeugenschutz darf dabei aber nicht zu
einer untragbaren Schmälerung elementarer Verteidigungsrechte führen.

Vielmehr sind die gegenläufigen Interessen der Verteidigung und des Zeugenschutzes im Einzelfall gegeneinander abzuwägen. Allfällige Einschränkungen der Verteidigungsrechte durch Zeugenschutzmassnahmen müssen durch das Verfahren und dessen Ausgestaltung im Einzelfall so kompensiert werden, dass sie «das Verfahren 13 14 15 16

772

Vgl. BGE 125 I 127, 137 E. 6c/ff.; BGE 118 Ia 457, 461 E. 3b­c.

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 407; Wehrenberg (Anm. 6), S. 7.

BGE 118 Ia 457, 461 E. 3b; 125 I 127, 141 E. 6d/ee.

BGE 125 I 127, 146.

in seiner Gesamtheit noch als fair erscheinen lassen»17. Entscheidend ist dabei, ob die Umstände aus Sicht der Verteidigung eine hinreichend effektive Befragung ermöglichen und daher die Beeinträchtigung in den Verteidigungsrechten auszugleichen vermögen18. Eine (nahezu) absolute Grenze, wo auch ausgleichende Massnahmen keine hinreichende Kompensation für eingeschränkte Verteidigungsrechte mehr bieten können, wird dort erreicht, wo die belastenden Aussagen eines anonymen Zeugen die einzigen oder überwiegend ausschlaggebenden Beweise darstellen. Entsprechend dem Grundsatz, wonach sich eine Verurteilung nicht auf Aussagen stützen darf, zu denen sich der Beschuldigte nicht hat äussern können und deren Urheber er nicht mindestens einmal angemessen und tatsächlich wirksam hat befragen können, muss in derartigen Situationen die Konsequenz gezogen werden, dass auf die Aussage des anonymen Zeugen nicht abgestellt werden darf und der Beschuldigte entsprechend dem Grundsatz «in dubio pro reo» freizusprechen ist19.

1.1.4

Völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Völkermord

Angesichts der verschiedenen rechtlichen und praktischen Probleme, welche der Zeugenschutz grundsätzlich und bei Kriegsverbrecherprozessen noch verstärkt aufwirft, könnte man versucht sein, das Problem (vorerst) durch einen Verzicht auf Verfahren im Bereich Kriegsverbrechen zu «lösen». Mit einem solchen «pragmatischen» Schritt würde die Schweiz jedoch ihre völkerrechtlichen Pflichten verletzen.

Mit der Ratifizierung vor allem der Genfer Abkommen20 und der Genozidkonvention21 hat sich die Schweiz verpflichtet, alle Personen, d.h. sowohl Militär- als auch Zivilpersonen, die der Begehung von Kriegsverbrechen oder von Völkermord beschuldigt werden, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit und den Begehungsort vor ihre Gerichte zu stellen22. Die genannten Abkommen sehen allerdings die Möglichkeit vor, dass beschuldigte Personen zum Zwecke der Beurteilung und Bestrafung einem anderen an der gerichtlichen Verfolgung interessierten Vertrags17 18 19 20

21

22

Vgl. BGE 125 I 127, 131 f. mit zahlreichen Hinweisen. Siehe aber die Kritik an der «Gesamteindruck-Rechtsprechung» bei Schleiminger (Anm. 12), S. 8 f.

BGE 125 I 127, 139; vgl. zudem BGE 125 I 127, 145.

BGE 125 I 127, 157.

Die vier Genfer Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer (GAbk., auch als Genfer Konventionen bezeichnet) sind: [I] GAbk. zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde (VKA; SR 0.518.12), [II] GAbk. zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See (VKS; SR 0.518.23), [III] GAbk. über die Behandlung der Kriegsgefangenen (KGA; SR 0.518.42) und [IV] GAbk. über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (ZPA; SR 0.518.51). Sie beruhen auf Anregungen und Ausarbeitungen der Schweiz, wurden am 12.8.1949 in Genf abgeschlossen und traten am 21.10.1950 für die Schweiz in Kraft.

Internationales Übereinkommen vom 9.12.1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (bezeichnet als Genozidkonvention oder Völkermordübereinkommen; SR 0.311.11). Diesem Übereinkommen ist die Schweiz am 7.9.2000 beigetreten, und am 7.12.2000 ist das Übereinkommen für die Schweiz in Kraft getreten (vgl.

Pressemitteilung des EJPD vom 27.11.2000, http://www.ofj.admin.ch/d/index.html ).

Siehe auch die Botschaft zur Genozidkonvention vom 31.3.1999, BBl 1999 5327.

Vgl. Botschaft Genozidkonvention (Anm. 21), BBl 1999 5349; Wehrenberg (Anm. 6), S. 3 f.

773

staat oder an einen internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden können23.

Unter der Voraussetzung, dass die Anforderungen an eine Auslieferung erfüllt sind, macht die Schweiz normalerweise von dieser Möglichkeit Gebrauch24. Zwar werden Personen ausländischer Staatsangehörigkeit, die im Ausland begangener schwerer Verletzungen der Genfer Abkommen oder des Völkermords beschuldigt werden, von den Schweizer Behörden in der Regel nur dann strafrechtlich verfolgt und gerichtlich beurteilt, wenn eine Auslieferung nicht verlangt wird, nicht zulässig oder nicht möglich ist. Wie jedoch z.B. das Verfahren gegen den im April 1999 in Lausanne von der Militärjustiz beurteilten rwandischen Kriegsverbrecher F.N. zeigt, gibt es trotz des Bestehens der Internationalen Strafgerichte für Ex-Jugoslawien und Rwanda nach wie vor Angelegenheiten, in denen keine Auslieferung bzw. Überstellung stattfindet oder keine solche stattfinden kann. Es muss davon ausgegangen werden, dass dies auch weiterhin der Fall sein wird. Da die Schweiz ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung, Personen, die der Begehung von Kriegsverbrechen beschuldigt werden, entweder auszuliefern oder zu verfolgen und zu beurteilen (aut dedere aut iudicare), weiterhin nachkommen wird, ist damit zu rechnen, dass Kriegsverbrecherverfahren auch inskünftig in der Schweiz durchgeführt werden müssen25.

Die Schweiz ist ihrer völkerrechtlichen Pflicht, Strafbestimmungen zu erlassen, durch welche auch im Ausland begangene Kriegsverbrechen erfasst werden, 1967 durch eine Revision26 des Militärstrafgesetzes27 nachgekommen (Art. 2 Ziff. 9 und Art. 108­114 MStG). Demnach unterstehen auch Ausländer und Zivilpersonen, die sich im Ausland der Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte schuldig machen, der Schweizer Militärstrafgerichtsbarkeit28. Die sich aus der Genozidkonvention ergebenden Gesetzgebungspflichten hat die Schweiz erfüllt, in dem sie am 15. Dezember 2000 den neuen Artikel 264 StGB zur Strafbarkeit von Völkermord in Kraft gesetzt hat29. Während für Kriegsverbrechen grundsätzlich die Militärjustiz zuständig ist (und bleibt), werden zur Verfolgung und Ahndung von Völkermord die zivilen Bundesbehörden zuständig sein30, sobald die dafür notwen-

23 24

25

26 27 28

29

30

774

Vgl. z.B. Art. 50 Abs. 2 zweiter Satz VKS; Art. 129 Abs. 2 zweiter Satz KGA; Art. VI Genozidkonvention; vgl. auch Ziff. 3.1.

Vgl. BBl 1967 I 589; BBl 1995 IV 1114 ff. und Art. 10 ff. des Bundesbeschlusses vom 21.12.1995 über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts (BB Kriegsverbrechertribunale; SR 351.20); sowie BGE 123 II 176 ff. als Beispiel für eine auf ein entsprechendes Gesuch des Internationalen Strafgerichtshofs für Rwanda gestützte Überstellung eines mutmasslichen rwandischen Kriegsverbrechers.

Vgl. Protokoll der Sitzung der Expertenkommission «Zeugenschutz» vom 8.2.2000, S. 1. Zur Justizgewährungspflicht vgl. etwa Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 3. Aufl., Zürich 1997, N 7 sowie N 74­82.

Botschaft vom 6.3.1967 über die Teilrevision des Militärstrafgesetzes, BBl 1967 I 581 ff.

Militärstrafgesetz vom 13.6.1927 (MStG; SR 321.0).

Vgl. Jean-Dominique Schouwey, Crimes de guerre: un état des lieux du droit suisse, Revue internationale de criminologie et de police technique 1995, S. 46­56, 48 f.; Wehrenberg (Anm. 6), S. 4 f. mit Anm. 12.

Vgl. Bundesgesetz vom 24.3.2000 über die Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und der Bundesrechtspflege, AS 2000 2725 ff., 2729 («Genozidvorlage»; Botschaft vom 31.3.1999 betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts, BBl 1999 5327 ff. («Botschaft Genozidvorlage»).

Vgl. Art. 340 Ziff. 2 StGB in der Fassung vom 24.3.2000, in Kraft seit 15.12.2000.

digen Strukturen bei den Strafverfolgungsbehörden des Bundes und beim erstinstanzlichen Bundesstrafgericht zur Verfügung stehen31.

Nachdem die Bundesanwaltschaft im Hinblick auf die Inkraftsetzung der sogenannten Effizienzvorlage am 1. Januar 2002 beträchtlich ausgebaut und neu strukturiert worden ist32, wurde auf dieses Datum auch der im Rahmen der Genozidvorlage geänderte Artikel 18bis Bundesstrafrechtspflege33 in Kraft gesetzt34. Danach ist die Bundesanwaltschaft zuständig, Taten im Sinne von Artikel 264 StGB zu untersuchen. Laut Artikel 25 Buchstabe a E-Strafgerichtsgesetz35 wird in Zukunft die Strafkammer des erstinstanzlichen Bundesstrafgerichts auch Anklagen wegen Völkermords beurteilen36. Indessen steht das Bundestrafgericht vorläufig noch nicht zur Verfügung. Die bis zu dessen Arbeitsaufnahme geltende Übergangsregelung von Artikel 18bis BStP, wonach die Bundesanwaltschaft die Wahl zwischen einer Anklageerhebung vor Bundesgericht und der Übertragung an einen Kanton zur gerichtlichen Beurteilung hat, ist auf wenig Anklang gestossen37. Deshalb wurde der neue Absatz 2 zu Artikel 221 MStG38, der eine Konzentration der Strafverfolgungskompetenz bei den zivilen Strafbehörden vorsieht, wenn es sich bei einer der zu beurteilenden Handlungen um Völkermord im Sinne von Artikel 264 StGB handelt, vorläufig nicht in Kraft gesetzt. Bis auf weiteres bleibt daher gestützt auf Artikel 221 MStG i.V.m. Artikel 46 Absatz 2 der Verordnung über die Militärstrafrechtspflege39 die Militärjustiz auch für die Verfolgung von Völkermord zuständig.

1.2

Zeugen und ihre Gefährdung

1.2.1

Begriff des Zeugen

Unter einer Zeugin oder einem Zeugen im strafprozessualen Sinn versteht man eine Person, die nicht beschuldigte Person ist und die in den dafür vorgesehenen gesetzlichen Formen vor einer Untersuchungsbehörde oder einem Gericht über die von ihr wahrgenommenen Tatsachen aussagen soll40. Als Zeugin oder Zeuge kommt somit grundsätzlich jede Person ausser der beschuldigten Person und allfälligen in demselben Verfahren zu beurteilenden Tatbeteiligten in Frage ­ neben «normalen» Zeu31 32

33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Pressemitteilung des EJPD vom 27.11.2000 (Anm. 21), a.a.O.

Vgl. Botschaft vom 28.1.1998 über die Änderung des Strafgesetzbuches, der Bundesstrafrechtspflege und des Verwaltungsstrafrechtsgesetzes (Massnahmen zur Verbesserung der Effizienz und der Rechtsstaatlichkeit in der Strafverfolgung), BBl 1998 1529 ff.; Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspflege, Änderung vom 22.12.1999, AS 2001 3308 ff., 3314; Felix Bänziger/Luc Leimgruber, Das neue Engagement des Bundes in der Strafverfolgung, Kurzkommentar zur «Effizienzvorlage», Bern 2001, N. 30 ff.

Bundesgesetz vom 15.6.1934 über die Bundesstrafrechtspflege (BStP; SR 312.0).

AS 2001 3315.

Entwurf für das Bundesgesetz über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz, SGG), BBl 2001 4517 ff., 4522.

Vgl. Botschaft vom 28.2.2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202 ff., 4361.

Vgl. Botschaft Genozidvorlage (Anm. 29), BBl 1999 5352; Bänziger/Leimgruber (Anm. 32), N. 96 und 98.

Vgl. Genozidvorlage (Anm. 29), AS 2000 2728.

Verordnung vom 24.10.1979 über die Militärstrafrechtspflege (MStV; SR 322.2).

Vgl. statt vieler Schmid (Anm. 25), N 628; Robert Hauser/Erhard Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 1999, § 62.1.

775

gen also auch Opfer bzw. Geschädigte, in einem anderen Verfahren beurteilte bzw.

zu beurteilende Tatbeteiligte, Verteidiger sowie Angehörige der Ermittlungs-, Untersuchungs- und Anklagebehörden. Hinsichtlich des Zeugenschutzes im Strafverfahren darf der Zeugenbegriff indessen nicht eng verstanden werden und muss ausgedehnt werden41. Schutzmassnahmen müssen zu Gunsten sämtlicher Personen angeordnet werden können, welche im Rahmen eines Strafverfahrens über Wahrnehmungen zum Sachverhalt aussagen oder an einer Aussage, z.B. als Übersetzer, mitwirken. Es darf nicht von Bedeutung sein, ob es sich um Zeugen im strafprozessualen Sinn, um Auskunftspersonen oder um mitzubeurteilende Tatbeteiligte handelt. Dieser erweiterte Zeugenbegriff wird im Übrigen auch vom Ministerkomitee des Europarates, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und von den internationalen Strafgerichten im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz verwendet42.

Entsprechend der Eigenschaft, in welcher eine Zeugin oder ein Zeuge den Sachverhalt wahrgenommen hat, werden Zeugen grundsätzlich in die folgenden vier Kategorien eingeteilt; dabei unterscheiden sich Art und Ausmass der potenziellen Gefahren für die Zeugen sowie ihre daraus folgenden Schutzbedürfnisse nach den einzelnen Zeugenkategorien43:

1.2.1.1

Zufallszeugen

Zufallszeugen oder «normale» Zeugen sind Personen, die Wahrnehmungen zum Sachverhalt gemacht haben, ohne selbst als Geschädigte bzw. Opfer, auf Grund eines Auftrages oder ihres Berufes oder als Tatbeteiligte darin involviert zu sein. Je nach dem Inhalt seiner Aussagen kann der Zufallszeuge ein Belastungszeuge und deswegen unter Umständen der Gefahr von Repressalien oder nachträglichen Racheakten ausgesetzt sein44.

1.2.1.2

Opferzeugen

Opferzeugen sind Personen, die den betreffenden Sachverhalt als Geschädigte selbst erlebt haben. Immer wieder kommt es vor, dass Opfer nach der Tat von Seiten des Beschuldigten unter Druck gesetzt werden; es wird versucht, ihr Aussageverhalten zu beeinflussen, sie z.B. zum Verzicht auf belastende Aussagen oder zur Rücknahme einer Strafanzeige zu bewegen. Vor allem im sozialen Nahbereich sind solche Druckversuche häufig und leider oft erfolgreich. Seltener kommt es hingegen vor, dass Opferzeugen nachträglichen Racheakten ausgesetzt sind. Rollentypisch ist es

41 42 43

44

776

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 406.

Vgl. BGE 125 I 127, 132 E. 6a.

Vgl. «Aus 29 mach 1», Konzept einer eidgenössischen Strafprozessordnung, Bericht der Expertenkommission «Vereinheitlichung des Strafprozessrechts», EJPD, Bern Dezember 1997, S. 61 f.; BGE 125 I 127, 143 m.w.H.; Andreas Kley, Zeugenschutz im internationalen Recht ­ Erfahrungen im Hinblick auf das künftige eidgenössische Strafprozessrecht, AJP 2000, S. 177­181, 177.

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 406; Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 62.

jedoch, dass es bei Opferzeugen zu (zusätzlichen) psychischen Belastungen durch die Mitwirkung am Strafverfahren, zur sog. sekundären Viktimisierung, kommt45.

1.2.1.3

Berufsmässige Zeugen

Berufsmässige Zeugen sind in erster Linie Polizeibeamte, welche bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Wahrnehmungen zum Sachverhalt gemacht haben. Als Organe der Strafverfolgung können sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sein, Zielscheibe von Racheakten zu werden. Besonders ausgeprägt gilt dies für verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler. Dabei handelt es sich in der Regel um Polizeibeamte, gegebenenfalls aber auch um vorübergehend mit Polizeiaufgaben betraute zivile Polizeiangestellte, die durch geheime Ermittlungen zur Überführung der Täterschaft beitragen. Nicht unter den Begriff «Verdeckte Ermittlerin bzw. verdeckter Ermittler» fallen jedoch Privatpersonen, welche die Strafuntersuchungsbehörden mit Informationen beliefern, und zwar selbst dann nicht, wenn diese Informanten (bzw. V-Leute, V-Personen oder V-Männer) für ihre freiwillige Tätigkeit entschädigt werden46.

Verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler müssen aber nicht zuletzt auch zu dem Zweck als Zeugen geschützt werden, damit ihre Identität im Hinblick auf zukünftige weitere Einsätze geheim bleibt47. Angesichts der besonderen Rolle von verdeckten Ermittlerinnen und Ermittlern als wirksames Instrument im Kampf gegen das organisierte Verbrechen erstaunt es nicht, dass sich die Bemühungen zur Einführung von Zeugenschutzregelungen in der Schweiz bisher vor allem auf die verdeckte Ermittlung konzentriert haben48.

Während Racheakte eine ernsthafte Gefahr für berufsmässige Zeugen sind, kommen gegen sie gerichtete Druckversuche seltener vor.

1.2.1.4

Tatbeteiligte als Zeugen

Gefahren können sich auch für Personen ergeben, welche als Mitbeteiligte eines Deliktes belastend gegen andere Täter aussagen. Sie werden von den belasteten Beschuldigten und ihrem Umfeld oftmals als «Verräter» eingestuft und haben entsprechende Repressalien und nachträgliche Racheakte zu fürchten. Bei diesen Aussagepersonen handelt es sich um Mitangeschuldigte oder Auskunftspersonen, welche in der Regel keiner Aussage- und sicher nicht der Wahrheitspflicht unterliegen.

Sie sind zwar keine Zeugen im strafprozessualen Sinn, wohl aber Zeuginnen und Zeugen im Sinn des erweiterten Zeugenbegriffs49.

45 46

47 48 49

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 406; Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 62.

Botschaft des Bundesrates vom 1.7.1998 zu den Bundesgesetzen betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und über die verdeckte Ermittlung (Botschaft BÜPF/BVE), BBl 1998 4241, 4283.

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 407; Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 61 f.; BGE 125 I 127, 138 E. 6d/cc und 146 E. 8a.

Vgl. Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 62; BGE 125 I 127, 143; Botschaft BÜPF/BVE (Anm. 46), BBl 1998 4245.

Vgl. Hug (Anm. 7), S. 407; Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 62.

777

Gewisse Prozessordnungen ­ wie etwa amerikanische, die britische und die italienische ­ kennen das in der Schweiz mehrheitlich abgelehnte Institut des Kronzeugen, wonach ein geständiger Täter als formeller Zeuge im Sinn des Prozessrechts gegen Mitbeteiligte aussagt und zur Belohnung milder bestraft oder sogar von Verfolgung und Strafe befreit wird50.

1.2.2

Gefährdung

Gefährdet ist eine Zeugin oder ein Zeuge im Allgemeinen dann, wenn damit zu rechnen ist oder es möglich scheint, dass mit einem Angriff auf Leib oder Leben, Bewegungs- oder Entschlussfreiheit, Eigentum, wirtschaftliche Existenz, berufliches Fortkommen oder ein sonstiges geschütztes Rechtsgut auf ihr bzw. sein Aussageverhalten Einfluss genommen werden soll51. Der Angriff kann sich gegen den Zeugen selber oder gegen eine ihm nahe stehende Person richten. Das Ausmass der Gefährdung kann nicht allgemein gültig bestimmt werden. Die Gefährdung muss vielmehr in jedem einzelnen Anwendungsfall individuell beurteilt werden. Abhängig ist die Schutzbedürftigkeit der Zeugin oder des Zeugen insbesondere von der Natur des bedrohten Rechtsgutes sowie von Art, Ausmass und Ziel des Angriffs.

Mögliche Schutzmassnahmen, welche gegenüber solchen Gefahren für Zeuginnen und Zeugen ergriffen werden können, wurden bereits in Ziffer 1.1.3.3 überblicksweise aufgeführt.

1.3

Ablauf der Arbeiten

1.3.1

Arbeitsgruppe des Oberauditors und Erfahrungen aus der Praxis

Bereits beim ersten Fall eines Gerichtsverfahrens gegen einen mutmasslichen Kriegsverbrecher vor einem Divisionsgericht bot der Zeugenschutz Anlass für einen Verfahrensentscheid52. Darauf setzte der jetzige Oberauditor der Armee, Brigadier Dieter Weber, anfangs 1998 eine Arbeitsgruppe «Revision Militärstrafprozess» ein.

Diese Arbeitsgruppe kam zum Ergebnis, dass bei der Frage des Zeugenschutzes dringender Handlungsbedarf besteht und eine entsprechende Revision des Militärstrafprozessrechts nicht bis zur Vereinheitlichung in einer schweizerischen Strafprozessordnung aufgeschoben werden kann53.

Im April 1999 kam es dann vor dem Divisionsgericht 2 zum Prozess gegen den mittlerweile rechtskräftig verurteilten rwandischen Kriegsverbrecher F.N. Mehr als zehn gefährdete Zeuginnen und Zeugen wurden für die Einvernahme in der Haupt50 51

52 53

778

Vgl. Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 53 ff.; vgl. auch hinten Ziff. 1.4.1.2.

Vgl. Kurt Rebmann/Karl Heinz Schnarr, Der Schutz des gefährdeten Zeugen im Strafverfahren, NJW 1989, S. 1186; Nathan Landshut, Zeugnispflichten und Zeugniszwang im Zürcher Strafprozess, Diss., Zürich 1998, S. 114; Ernst Gnägi, Der V-Mann-Einsatz im Betäubungsmittelbereich, Diss., Bern 1991, S. 160 f.; Bernard Corboz, L'agent infiltré, ZStrR 1993, S. 328 f.

Vgl. VPB 62/1998 Nr. 22.

Vgl. Protokoll ExKo «Zeugenschutz» (Anm. 25), S. 1; Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe «Revision Militärstrafprozess» vom 5.10.1998, S. 1 f.

verhandlung aus Rwanda in die Schweiz gebracht. Deshalb mussten umfangreiche Massnahmen getroffen werden. Einerseits musste die Sicherheit dieser Zeugen garantiert und andererseits für deren Unterkunft sowie Verpflegung gesorgt werden.

Für Massnahmen zur Sicherheit der Zeuginnen und Zeugen, des Angeklagten und des Gerichts während der gesamten Zeit des Prozesses standen über 100 Militärpolizisten im Einsatz. Die Einvernahme gefährdeter Zeuginnen und Zeugen wurde mit technischen Mitteln so gestaltet, dass deren Identität gegenüber der Öffentlichkeit, nicht aber gegenüber dem Angeklagten, geheim gehalten werden konnte54. Die getroffenen Massnahmen entsprachen zwar im Wesentlichen denjenigen, welche auch bei Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Rwanda angewendet werden, konnten aber nicht auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im schweizerischen Recht gestützt werden55. Auch aus dem Bundesbeschluss vom 21. Dezember 199556, mit dem sich die Schweiz zur Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwer wiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts, insbesondere derjenigen in Ex-Jugoslawien und Rwanda, verpflichtet hat, lässt sich keine direkte gesetzliche Grundlage für Zeugenschutzmassnahmen in Verfahren der schweizerischen Militärjustiz ableiten. So mussten die getroffenen Massnahmen mit Sinn und Zweck der Verfahrensrechte nach der Bundesverfassung57 und dem Militärstrafprozess gerechtfertigt sowie direkt auf die Praxis zu Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)58 gestützt werden.

Um den Zeugenschutz zu verbessern und dazu eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im Militärstrafprozess zu schaffen, hat das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) mit Verfügung vom 23. November 1999 die Expertenkommission «Zeugenschutz» eingesetzt59.

1.3.2

Expertenkommission Zeugenschutz

Der Expertenkommission gehörten an: Als Präsident: Hausheer Heinz, Prof. Dr. iur., ehem. Präsident des Militärkassationsgerichts, Bern.

Als Mitglieder: Corboz Bernard, Dr en droit, juge fédéral, Tribunal fédéral, Lausanne; Gnägi Ernst, Dr. iur. und Fürsprecher, Bundesamt für Justiz, Dienst für internationales Strafrecht, Bern; Hug Thomas, Dr. iur., Erster Staatsanwalt Kanton Basel-Stadt, Basel; 54 55 56 57 58 59

Vgl. Dieter Weber (Anm. 2), S. 12.

Vgl. Protokoll ExKo «Zeugenschutz» (Anm. 25), S. 2 f.; Kley (Anm. 43), S. 177 und 178.

BB Kriegsverbrechertribunale (Anm. 24).

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (Bundesverfassung; BV; SR 101).

Konvention vom 4.11.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention; EMRK; SR 0.101).

Vgl. Pressemitteilung des VBS vom 23.11.1999.

779

Ott Barbara, avocate, juge d'instruction militaire, Neuchâtel; Riklin Franz, Prof. Dr. iur., Universität Freiburg i.Ü., Fribourg; Schmid Niklaus, em. Prof. Dr. iur., Zürich; Schwenter Jean-Marc, procureur général du canton de Vaud, Lausanne; Steinmann Gerold, Dr. iur., Gerichtsschreiber Bundesgericht, Lausanne; Wehrenberg Stefan, Rechtsanwalt, militärischer Untersuchungsrichter, Berichterstatter der Expertenkommission, Zürich.

1.3.3

Auftrag der Expertenkommission

Mit der Verfügung vom 23. November 1999 wurde der Kommission der Auftrag erteilt, einzelne Artikel des Militärstrafprozesses einer allfälligen Revision zu unterziehen und insbesondere Bestimmungen bezüglich Zeugenschutz auszuarbeiten und in den MStP zu integrieren. Sie wurde angewiesen, ihre Arbeit mit derjenigen des vom EJPD am 10. März 1999 eingesetzten Experten für die Vereinheitlichung des Strafprozesses in der Schweiz zu koordinieren, sodass die Kommissionsergebnisse über den Militärstrafprozess hinaus auch bei den Vorarbeiten für einen vereinheitlichten bürgerlichen Strafprozess Verwendung finden können. Ein vernehmlassungsreifer Vorentwurf sollte mit Begleitbericht bis 31. Dezember 2001 vorgelegt werden.

1.4

Verhältnis zu anderen Gesetzgebungsvorhaben

Mit dem geschilderten Auftrag an die Expertenkommission wurde die Idee verfolgt, dass die Kommission ein Modul «Zeugenschutz» ausarbeitet, das anschliessend in die vereinheitlichte bürgerliche Strafprozessordnung und die entsprechende Nebengesetzgebung übernommen werden kann und das mit der im Entwurf befindlichen Regelung der verdeckten Ermittlung sowie mit dem Opferhilfegesetz im Einklang steht60.

1.4.1

Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in der Schweiz

1.4.1.1

Koordination mit den Vereinheitlichungsarbeiten

Im März 1999 wurde Niklaus Schmid mit der Ausarbeitung des Vorentwurfs für die vereinheitlichte schweizerische Strafprozessordnung (chStPO) betraut61. Damals wurde angekündigt, dass der Vorentwurf zur chStPO im Verlaufe des Jahres 2001 in die Vernehmlassung gehen soll62. Mit diesem Zeitplan war die ursprüngliche Idee, 60 61 62

780

Vgl. Protokoll ExKo «Zeugenschutz» (Anm. 25), S. 5 f.; Kley (Anm. 43), S. 178.

Pressemitteilung des EJPD vom 6.4.1999.

Nach der Pressemitteilung des BJ vom 16.3.2001 sollten Vorentwurf und Begleitbericht zur schweizerischen StPO Mitte 2001 in die Vernehmlassung geschickt werden, http://www.ofj.admin.ch/d/index.html.

die der Verfügung zur Einsetzung der Expertenkommission «Zeugenschutz» zugrunde lag, wonach die von der Expertenkommission «Zeugenschutz» bis Ende 2001 zu erarbeitende Zeugenschutzregelung als Modul in die vereinheitlichte bürgerliche Strafprozessordnung übernommen werden soll, von Anfang an unvereinbar.

Die Koordination zwischen dem mit dem Entwurf der schweizerischen Strafprozessordnung befassten Experten und der Expertenkommission «Zeugenschutz» wurde formal dadurch gewährleistet, dass Niklaus Schmid ebenfalls Mitglied der Expertenkommission «Zeugenschutz» und somit mit beiden Aufgaben befasst war.

Inhaltlich hat insofern eine Abstimmung stattgefunden, als Schmid seine im Zusammenhang mit dem Vorentwurf zur chStPO angestellten Überlegungen von Anfang an hat in die Kommissionsarbeit einfliessen lassen.

Wie vorgesehen wurden der Vorentwurf zur chStPO (VE-chStPO) sowie der Begleitbericht von Prof. Schmid Ende Juni 2001 in die Vernehmlassung geschickt, welche bis Ende Februar 2002 dauerte63. Da zu erwarten ist, dass die Vorlage der Zeugenschutzregelung im MStP vor dem Entwurf der chStPO dem Parlament vorgelegt werden kann, kommt einer für das Militärstrafverfahren vorgeschlagenen Regelung eine gewisse Vorreiterfunktion zu. Die Reaktionen und Erfahrungen auf eine Zeugenschutzregelung im MStP können in die Erarbeitung und Beratungen der schweizerischen Strafprozessordnung einfliessen. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass der VE-chStPO den Militärstrafprozess nicht umfasst; vielmehr bleibt dieser ­ neben anderen bundesrechtlichen Strafverfahren ­ gemäss Artikel 1 Absatz 2 VE-chStPO bewusst ausgeklammert64. Dies rechtfertigt eine eigenständige, auf die Bedürfnisse des Militärstrafprozesses ausgerichtete Zeugenschutzregelung.

1.4.1.2

Inhaltliche Vorgaben der Vereinheitlichungsarbeiten

Die Expertenkommission «Zeugenschutz» hat in Übereinstimmung mit dem Konzeptbericht der Expertenkommission «Vereinheitlichung des Strafprozessrechts» und des VE-chStPO auf die Einführung einer Kronzeugenreglung und eigentlicher Zeugenschutzprogramme verzichtet65.

Eine Kronzeugenregelung, wonach ein Täter milder bestraft oder sogar von jeder Verfolgung und Bestrafung freigestellt werden kann, wenn er als Zeuge zum Beispiel im Verfahren gegen Mittäter zur Aufklärung von schwer wiegenden Straftaten oder zur Verhinderung weiterer solcher Taten beiträgt, kommt grundsätzlich durchaus als Mittel zur Verbesserung der Beweislage bei Kriegsverbrecherprozessen in Betracht. Angesichts der erheblichen Verstösse einer Kronzeugenregelung gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit, das Legalitätsprinzip und die Idee des Schuldstrafrechts sowie des erhöhten Risikos der Irreführung der Justiz erscheint die Ein63

64 65

Vgl. Pressemitteilung des EJPD vom 27.6.2001, http://www.ofj.admin.ch/themen/stgbvstrafp/vn-com-d.htm; Vorentwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung, Bundesamt für Justiz, Bern, Juni 2001, (zit. VE-chStPO); und Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung, Bundesamt für Justiz, Bern, Juni 2001, (zit. Begleitbericht VE-chStPO), beide unter http://www.ofj.admin.ch/themen/stgb-vstrafp/intro-d.htm.

Vgl. Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 31.

Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 17; Protokoll ExKo «Zeugenschutz» (Anm. 25), S. 4 ff.; vgl. auch Peter Müller (Anm. 3), S. 276; Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 29 f.

und 116.

781

busse an Rechtsstaatlichkeit gegenüber den Vorteilen einer Kronzeugenregelung aber als zu hoch. Deshalb ist von einer solchen abzusehen66.

Allein durch organisatorische und verfahrensmässige prozessuale und ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen sowie durch sachliche Schutzvorkehrungen wird ein lückenloser Zeugenschutz nicht erreicht werden können. Insbesondere auch nach Abschluss eines Strafverfahrens können Zeuginnen und Zeugen einer starken Gefährdung ausgesetzt sein. Hierfür wären eigentliche Zeugenschutzprogramme nach dem Vorbild ausländischer Staaten erforderlich, in deren Rahmen hochgradig gefährdete Zeuginnen und Zeugen und ihre Angehörigen an einen anderen Aufenthaltsort gebracht und dort mit einer neuen Existenzgrundlage und einer neuen Identität ausgestattet werden können. Zeugenschutzprogramme sind wegen der für einen Identitätswechsel der Zeugin oder des Zeugen notwendigen Datenmanipulationen aber rechtsstaatlich nicht unbedenklich. Ausserdem weisen sie in kleinräumigen Verhältnissen wie der Schweiz erhebliche praktische Schwierigkeiten auf. Schliesslich ist der finanzielle Aufwand für solche Programme enorm. Zeugenschutzprogramme werden im Bericht «Aus 29 mach 1» denn auch als Ultima Ratio und ihre Schaffung als gegenwärtig nicht gerechtfertigt bezeichnet. Sollte sich im Rahmen eines Kriegsverbrecherprozesses in der Schweiz bei einem hochgradig gefährdeten Zeugen einmal die Frage nach einem Zeugenschutzprogramm stellen, kann immer noch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit einem der internationalen Strafgerichtshöfe oder einem derjenigen Staaten, welche über entsprechende Zeugenschutzprogramme verfügen, gesucht werden67.

1.4.2

Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE)

Mit Botschaft vom 1. Juli 1998 hat der Bundesrat dem Parlament zusammen mit dem Entwurf für das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) auch einen Entwurf für ein Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE) vorgelegt68, über den bis jetzt ­ im Gegensatz zum BÜPF69 ­ allerdings noch nicht definitiv Beschluss gefasst worden ist70. Fest steht jedoch, dass in der neuen chStPO Bestimmungen über die verdeckte Ermittlung enthalten sein werden71.

66 67 68 69

70

71

782

Vgl. Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 53 ff.; Peter Müller (Anm. 3), S. 279 ff.

Vgl. Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 67 f.; Peter Müller (Anm. 3), S. 282; Wehrenberg (Anm. 6), S. 70 f.

Vgl. Botschaft BÜPF/BVE (Anm. 46), BBl 1998 4317.

Bundesgesetz vom 6.10.2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF; SR 780.1; in Kraft seit 1.1.2002). Vgl. BBl 2000 5128; AS 2001 3096, 3106.

National- und Ständerat haben den Entwurf am 11.12.2001 bzw. am 20.06.2002 in einer vom Bundesrat abweichenden Fassung angenommen, vgl. AB N Wintersession 2001, http://www.parlament.ch/ab/frameset/d/n/4611/44739/d_n_4611_44739_44858.htm sowie AB S Sommersession 2002, http://www.parlament.ch/ab/frameset/d/s/4614/62104/d_s_4614_62104_62254.htm.

Über die noch bestehenden Differenzen hat der Nationalrat am 18.09.2002 entschieden.

Im Ständerat ist die Differenzbereinigung für die Wintersession 2002 traktandiert.

«Aus 29 mach 1 ... unterwegs ...», Information des Bundesamtes für Justiz, Bern März 2001, S. 2.

In Artikel 20 E-BVE des Parlaments sind Massnahmen zum Schutz von verdeckten Ermittlerinnen und Ermittlern vorgesehen72. Polizeibeamte und -beamtinnen sind im Allgemeinen nur bereit, bei einer verdeckten Ermittlung eingesetzt zu werden, wenn ihnen zum Voraus eine Vertraulichkeitszusage erteilt wird. Nach Artikel 20 E-BVE sollen verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler gestützt auf Artikel 3 E-BVE regelmässig mit einer Legende ausgestattet werden und wird ihnen ebenso regelmässig eine Vertraulichkeitszusage als primäre und hauptsächliche Schutzmassnahme erteilt. Ist die Vertraulichkeitszusage erteilt und vom zuständigen Richter genehmigt (Art. 13 Abs. 2 E-BVE), wird die Identität der betreffenden Person vor, während und nach dem Verfahren wie auch in den Akten geheim gehalten; der oder die Vorsitzende des urteilenden Gerichts kann zur Glaubwürdigkeitsüberprüfung aber Angaben über die Identität verlangen (Art. 20 Abs. 1 E-BVE). Ausserdem soll der zuständige Richter zur Klärung der Frage, ob der verdeckte Ermittler im Strafverfahren beteiligt war, wenn nötig Angaben über die wahre Identität des verdeckten Ermittlers verlangen und ihn auch selber einvernehmen können (Art. 20 Abs. 1bis E-BVE)73. Ist eine Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten notwendig, können zum Schutz der verdeckten Ermittlerinnen und Ermittler deren Aussehen und Stimme verändert werden oder kann die Einvernahme in räumlicher Trennung durchgeführt werden (sog. Abschirmungsmassnahmen, Art. 20 Abs. 2 E-BVE). Die Einvernahme vor Gericht soll nur ausnahmsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden (Art. 20 Abs. 4 E-BVE).

Nach Artikel 20 Absatz 5 E-BVE können diese Schutzmassnahmen zwar auch für Drittpersonen, welche an der verdeckten Ermittlung mitgewirkt haben, getroffen werden; gleichwohl handelt es sich hierbei nicht um eine gesetzliche Grundlage für allgemeine Zeugenschutzmassnahmen.

1.4.3

Präzisierung des Auftrags der Expertenkommission

Bei dieser Sachlage hat die Expertenkommission ihren Auftrag in dem Sinne an die Hand genommen, dass sie eine Zeugenschutzregelung ausgearbeitet hat, welche in erster Linie auf die Anforderungen des Zeugenschutzes in Militärstrafverfahren ausgerichtet ist, aber die Aspekte des Zeugenschutzes im bürgerlichen Strafverfahren so weit berücksichtigt, dass die Ergebnisse der Kommissionsarbeit für die Arbeiten an der chStPO von Nutzen sind. Angestrebt wurde eine Regelung, welche über eine Grundlagennorm hinausgeht, dabei aber nicht jedes Detail regelt, sondern genügend Spielraum für die im Einzelfall angemessene Handhabung der möglichen Zeugenschutzmassnahmen lässt.

Nicht in die Kommissionsarbeit aufgenommen wurden die Fragen nach einer Kronzeugenregelung, nach der Regelung der Schutzmassnahmen für Berufszeugen sowie nach ausserprozessualen Zeugenschutzmassnahmen.

72 73

Vgl. Botschaft BÜPF/BVE (Anm. 46), BBl 1998 4300; die in Anm. 70 angeführten Ratsprotokolle; sowie Hug (Anm. 7), S. 415 f.

http://www.parlament.ch/ab/data/d/s/4614/62104/d_s_4614_62104_62254.htm.

783

1.5

Heutige Rechtslage

1.5.1

Bund: OHG

Im geltenden Bundesrecht sind eigentliche Zeugenschutzbestimmungen nur gerade in der Form von Schutzbestimmungen für Opferzeugen im dritten Abschnitt des Opferhilfegesetzes (OHG)74 vorgesehen. Diese Schutzmöglichkeiten können nach Artikel 2 Absatz 1 OHG jedoch nur solchen Personen gewährt werden, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden sind. Zeugenschutz auf Grund des OHG kann mit anderen Worten nicht allen Zeuginnen und Zeugen, ja nicht einmal allen Opfern, sondern nur Opfern i.S. des OHG gewährt werden.

Zum Schutz von Opfern ist im OHG insbesondere vorgesehen, dass die Öffentlichkeit von Verhandlungen ausgeschlossen werden kann, wenn überwiegende Interessen des Opfers dies erfordern, und dass bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität die Öffentlichkeit auf Antrag des Opfers ausgeschlossen wird (Art. 5 Abs. 3 OHG).

Wenn das Opfer dies verlangt, soll eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten vermieden werden (Art. 5 Abs. 4 OHG). Die Behörden sorgen diesfalls dafür, dass durch Kompensationsmassnahmen dem Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör in anderer Weise Rechnung getragen werden kann. Dennoch kann eine Gegenüberstellung zur Wahrung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten auch gegen den Willen des Opfers angeordnet werden75. Schliesslich hält Artikel 5 Absatz 5 OHG ausdrücklich fest, dass eine Konfrontation des Opfers mit dem Beschuldigten gegen den Willen des Opfers nur dann angeordnet werden darf, wenn der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann. Zu den Schutzmassnahmen gehört auch die Regelung von Artikel 7 Absatz 2 OHG, wonach das Opfer Aussagen zu Fragen verweigern kann, die seine Intimsphäre betreffen.

Im Militärstrafprozess finden die Artikel 5­7, 8 Absatz 2 sowie Artikel 10 OHG durch den Verweis in Artikel 84a MStP Anwendung. Zudem ist der Norminhalt der Artikel 8 Absatz 1 und 9 OHG durch die Revision verschiedener Bestimmungen in den MStP integriert worden. Die hier vorgeschlagenen neuen Bestimmungen sollen als besondere Bestimmungen zum Schutz von Zeugen, Auskunftspersonen und weiteren Verfahrensbeteiligten neben den durch das OHG in Verbindung mit Artikel 84a MStP gewährleisteten Opferschutz treten.

Mit Beschluss vom
23. März 200176 hat das Parlament eine Änderung des OHG zur Verbesserung der Stellung des kindlichen, d.h. weniger als 18 Jahren alten Opfers im Strafverfahren angenommen (Art. 10a­10d OHG), die am 1. Oktober 2002 in Kraft getreten ist77. Danach ist eine Gegenüberstellung von Kind und Beschuldigtem bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität und bei Gefahr einer schweren psychischen Belastung des Kindes ausgeschlossen, ausser der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör könne nicht auf andere Weise gewährleistet werden (Art. 10b 74 75 76 77

784

Bundesgesetz vom 4.10.1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (SR 312.5).

Vgl. BGE 125 I 127, 131 ff. E 6a und b; 124 I 274, 284 ff. E 5b.

BBl 2001 1341. Zu dieser Revision vgl. Eva Weishaupt, Besonderer Schutz minderjähriger Opfer im Strafverfahren, Teilrevision OHG, ZStrR 2002, S. 231­248.

AS 2002 2997; vgl. Pressemitteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 13.11.2001, http://www.ofj.admin.ch/themen/opferhilfe/revcom-d.htm.

OHG). Weiter sind die Grundsätze der Einvernahme eines Kindes ausführlich geregelt worden (Art. 10c OHG), wobei es sich da um Grundsätze handelt, die für die Einvernahme aller Opfer Geltung haben müssen: Einvernahmen sollen danach nicht mehr als zweimal während des gesamten Verfahrens durchgeführt werden; die erste Einvernahme soll so rasch wie möglich durch eine dazu ausgebildete ermittelnde Person und im Beisein einer darauf spezialisierten zusätzlichen Person stattfinden; die Einvernahme soll in einem geeigneten Raum stattfinden und auf Video aufgenommen werden; die befragende und die spezialisierte Person haben einen Bericht über besondere Beobachtungen anzufertigen; eine zweite Befragung soll nur durchgeführt werden, wenn dies zur Wahrung der Parteirechte oder im Interesse der Ermittlungen oder im Interesse des Kindes unumgänglich ist; für die zweite Befragung gelten dieselben Bedingungen wie für die erste, zudem soll sie soweit möglich von derselben befragenden Person durchgeführt werden. Wenn es das offensichtlich überwiegende Interesse des Kindes zwingend verlangt und das Kind zustimmt, kann die zuständige Behörde das Strafverfahren ausnahmsweise sogar einstellen (Art. 10d OHG). Bedauerlicherweise wurde es bei dieser Revision des OHG unterlassen, die Formulierung von Artikel 84a MStP um einen ausdrücklichen Verweis auf Artikel 10a­10d OHG zu ergänzen. Dieses Versäumnis soll im Rahmen der vorliegenden Revision behoben werden (vgl. Ziff. 2.1.3).

Zu den Zeugenschutzrechten im weiteren Sinne, nämlich zu den Betreuungsmassnahmen, gehört das Recht des Opfers von Straftaten gegen die sexuelle Integrität, zu verlangen, dass es von Angehörigen gleichen Geschlechts einvernommen wird.

Ausserdem kann sich jedes Opfer bei einer Befragung als Zeuge oder als Auskunftsperson durch eine Vertrauensperson begleiten lassen (Art. 7 Abs. 1 OHG).

Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die prozessualen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes in die chStPO überführt werden sollen78. Indessen hat die im Juli 2000 vom EJPD eingesetzte Expertenkommission zur Revision des OHG nicht nur die im VE-chStPO enthaltenen Bestimmungen darauf geprüft, ob sie einen Schutz bieten, der demjenigen des OHG zumindest gleichwertig ist. Vielmehr hat sie darüber hinaus auch verschiedene Änderungen zum verstärkten Schutz der Opfer, insbesondere hinsichtlich des Schutzes vor Identifikation in der Öffentlichkeit und des Kataloges der verschiedenen Schutzmassnahmen vorgeschlagen79.

1.5.2

Kantone

1.5.2.1

Kantone mit allgemeinen Zeugenschutzbestimmungen

1.5.2.1.1

Bern

Das Strafverfahrensgesetz des Kantons Bern vom 15. März 1995 (StrV), in Kraft seit dem 1. Januar 1997, enthält in Artikel 124 Absatz 3 eine Zeugenschutzbestimmung. Danach können die in Artikel 124 Absätze 1 und 2 für V-Leute vorgesehenen 78 79

Aus 29 mach 1 (Anm. 43), S. 43; Aus 29 mach 1 ...unterwegs... (Anm. 71), S. 2; Art. 163 VE-chStPO; Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 120 f.

Vgl. Zwischenbericht vom 5.2.2001 der Expertenkommission für die Revision des OHG, http://www.ofj.admin.ch/d/index.html unter Sicherheit & Schutz /Opferhilfe/Revision des Opferhilfegesetzes/Zwischenbericht. Dieser Zwischenbericht wurde ausserdem den Vernehmlassungsunterlagen zum VE-chStPO beigefügt.

785

Schutzmassnahmen in ähnlicher Weise für andere Personen angeordnet werden, wenn diese glaubhaft dartun, dass ihre wahrheitsgemässe Aussage sie oder eine ihnen nahestehende Person ernstlich an Leib und Leben gefährden könnte. Als Schutzmassnahme ist vorgesehen, dass die Personalien in Abweichung von Artikel 103 StrV nur dem Gericht gegenüber bekannt gegeben und nicht aktenkundig gemacht werden. Zudem soll durch geeignete technische Vorkehrungen die Einvernahme so gestaltet werden können, dass die aussagenden Personen den Parteien und der Öffentlichkeit nicht zu Gesicht kommen80.

Diese sehr offen formulierte Norm gibt keine genaueren Anweisungen, wie die Einvernahme konkret durchzuführen ist. Es fehlt insbesondere ein Hinweis darauf, dass Zeugenschutzmassnahmen nicht grenzenlos, sondern nur so weit zulässig sind, als die elementaren Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens gewahrt bleiben.

1.5.2.1.2

Freiburg

Die Strafprozessordnung des Kantons Freiburg vom 14. November 1996 (StPO), in Kraft seit dem 1. Dezember 1998, sieht in Artikel 82 Absatz 4 i.V.m. den Artikeln 81 Buchstabe a und 43 Absatz 1 Buchstabe a StPO Massnahmen zum Zeugenschutz vor. Nach Artikel 82 Absatz 4 StPO kann der Richter ausnahmsweise, insbesondere um die Sicherheit von Zeugen zu gewährleisten, anordnen, dass die Identität eines Zeugen in Abwesenheit der Parteien festgestellt wird, dass die Angaben, welche eine Identifizierung erlauben, ganz oder teilweise von den (Haupt-)Akten getrennt aufbewahrt werden oder dass der Zeuge während der Einvernahme nicht sichtbar ist.

Nach Artikel 170 Absatz 2 StPO kann im Interesse der Sicherheit eines Zeugen die Öffentlichkeit ganz oder teilweise von der Anwesenheit am Hauptverfahren ausgeschlossen werden. Zudem steht dem Zeugen das Recht zu, bei der Einvernahme gewisse Fragen nicht zu beantworten, wenn er oder eine ihm nahe stehende Person wegen seiner Antwort Gefahr läuft, das Leben zu verlieren oder Eingriffe in die körperliche Integrität zu erleiden (Art. 81 Bst. a StPO). Schliesslich wird in Artikel 43 Absatz 1 Buchstabe a ausdrücklich festgehalten, dass der in Artikel 42 umschriebene Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. die aufgeführten Verteidigungsrechte eingeschränkt werden können, wenn dies für die Sicherheit einer Person notwendig ist.

Es fehlt ein ausdrücklicher Hinweis auf die vorzunehmende Abwägung von Verteidigungs- und Zeugenschutzinteressen und die Garantie einer wirksamen Verteidigung sowie eines fairen Verfahrens.

1.5.2.1.3

Basel-Stadt

Die revidierte Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt vom 8. Januar 1997 (StPO), in Kraft seit dem 1. Januar 1998, enthält in § 50 Absatz 3 eine Zeugenschutzbestimmung. Danach kann die Identität der Zeuginnen und Zeugen zu deren 80

786

Vgl. Thomas Maurer, Das bernische Strafverfahren, Bern 1999, S. 211 ff.; Jürg Aeschlimann, Einführung in das Strafprozessrecht. Die neuen bernischen Gesetze, Bern 1997, N 906­908.

persönlichem Schutz im Strafverfahren ausnahmsweise geheim gehalten werden.

Auch wenn die Bestimmung nicht weiter konkretisiert wird, so ist doch davon auszugehen, dass wie bei der Parallel-Bestimmung zum Schutz von verdeckten Ermittlerinnen und Ermittlern (§ 93 StPO) die Zeugenaussagen unter Wahrung der Verteidigungsrechte in die richterliche Beweiswürdigung einzubeziehen sind.

Es ist fraglich, ob diese Norm den Anforderungen an eine genügend konkretisierte gesetzliche Grundlage für die Einschränkung der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten genügt.

1.5.2.1.4

Basel-Landschaft

Die revidierte Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft vom 3. Juni 1999 (StPO), in Kraft seit dem 1. Januar 2000, enthält in § 40 eine Bestimmung zum Schutz von Verfahrensbeteiligten. Gestützt darauf kann beim Vorliegen besonderer Umstände zum persönlichen Schutz von Zeuginnen und Zeugen, Auskunftspersonen, sachverständigen Personen sowie Übersetzerinnen und Übersetzern ausnahmsweise deren Identität im Strafverfahren geheim gehalten werden. Welche Massnahmen zur Geheimhaltung getroffen werden können, wird nicht aufgeführt. Es dürfte jedoch den Intentionen des Gesetzgebers entsprechen, wenn die in § 117 Absatz 2 Buchstben b und c StPO für den Schutz von V-Personen vorgesehenen Massnahmen81 (Ausschluss der Öffentlichkeit und andere geeignete Massnahmen wie optische Abschirmung oder Stimmenverzerrung) sinngemäss auf den Schutz von Verfahrensbeteiligten Anwendung finden.

1.5.2.1.5

St. Gallen

Das Strafprozessgesetz des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999 (StPG), in Kraft seit dem 1. Juli 2000, enthält in Artikel 83 eine Zeugenschutzbestimmung. Danach kann der Untersuchungsrichter dem Zeugen die vertrauliche Behandlung der Identität zusichern, wenn wichtige Interessen, insbesondere die körperliche oder psychische Integrität des Zeugen, dies erfordern (Art. 83 Abs. 1 StPG). Ausdrücklich geregelt wird, dass die Aussage im Beisein eines weiteren Mitglieds der Strafverfolgungsbehörden zu protokollieren und dabei jeder Hinweis auf die Identität des Zeugen zu vermeiden ist (Art. 83 Abs. 2 StPG). In Artikel 92 Absatz 2 StPG wird klargestellt, dass dem Angeklagten zu Gunsten von Massnahmen zur Wahrung der Anonymität des Zeugen nach Artikel 83 die Teilnahme an Zeugeneinvernahmen verweigert werden kann. Nicht geregelt ist hingegen, ob die Verteidigungsrechte auch in anderer Hinsicht eingeschränkt werden können, ob weitere Zeugenschutzmassnahmen zulässig sind und wie die anonyme Zeugenaussage in der Hauptverhandlung zu verwerten ist. Zudem fehlt der Hinweis, dass die Verteidigungsrechte auf jeden Fall nur so weit eingeschränkt werden können, als eine wirksame Verteidigung möglich und die Fairness des Verfahrens gewahrt bleiben.

Ob damit aber die Anforderungen an eine genügende gesetzliche Grundlage für die Beschränkung der Verteidigungsrechte erfüllt werden, ist zweifelhaft.

81

Vgl. dazu BGE 125 I 127 ff.

787

1.5.2.1.6

Zürich

Mit einem am 15. Januar 2001 vom Kantonsparlament verabschiedeten und per 1. Januar 2002 in Kraft gesetzten § 131a der Zürcher Strafprozessordnung soll im Kanton Zürich die Möglichkeit zum Schutz von verdeckten Ermittlern und anderen einzuvernehmenden Personen geschaffen werden. Wenn eine erhebliche oder ernstliche Gefahr glaubhaft ist (Einleitungssatz zu Absatz 1), sollen nach der nicht abschliessenden Aufzählung insbesondere folgende Schutzmöglichkeiten angeordnet werden können: Ausschluss der Öffentlichkeit, vertrauliche Behandlung der Personalien, Ausschluss der direkten Konfrontation der einzuvernehmenden Person mit dem Angeschuldigten und Dritten sowie die optische und akustische Abschirmung der einzuvernehmenden Person durch technische Mittel (Absatz 1 Ziffer 1­4).

Absatz 2 der Bestimmung stellt klar, dass die drohende Gefahr einerseits nicht anders abwendbar sein darf und andererseits die Schutzmassnahmen verhältnismässig sein müssen. Bei verdeckt ermittelnden Personen können zur Gewährung der persönlichen Sicherheit und zum Schutz vor Enttarnung die Personalien geheim gehalten werden. Als Ausgleich muss dann aber ein Polizeioffizier die Eigenschaft der verdeckt ermittelnden Person bezeugen und Aussagen über deren Glaubwürdigkeit machen, soweit dies ohne Enttarnung möglich ist.

Auffallend an dieser Bestimmung ist in erster Linie, dass die Personalien verdeckt ermittelnder Personen geheim gehalten werden können, während diejenigen von anderen zu schützenden Personen offenbar nur vertraulich behandelt werden sollen.

Zudem ist die Kompensation der Einschränkung von Verteidigungsrechten durch Schutzmassnahmen nur im Zusammenhang mit der Geheimhaltung der Personalien von verdeckt ermittelnden Personen vorgesehen. Zeugenschutzmassnahmen sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR regelmässig aber nur dann zulässig, wenn die damit verbundenen Einschränkungen der Verteidigungsrechte ausgeglichen werden. Die neue Zürcher Bestimmung lässt sich wohl entsprechend auslegen, ist aber zumindest nicht hinreichend klar formuliert.

1.5.2.2

Kantone mit Zeugenschutzbestimmungen für verdeckte Ermittler bzw. V-Leute

1.5.2.2.1

Thurgau

Die Strafprozessordnung des Kantons Thurgau vom 30. Juni 1970/5. November 1991 (StPO) enthält keine allgemeinen Zeugenschutzbestimmungen. Indessen sind in § 127d StPO Massnahmen zum Schutz von gefährdeten V-Personen vorgesehen.

Weil aber jeglicher Hinweis auf eine Anwendbarkeit dieser Schutzmassnahmen auf andere Personen fehlt, können sie nicht zum Schutz von «normalen» Zeugen angewendet werden.

788

1.5.2.2.2

Wallis

Wie die StPO TG sieht auch die Strafprozessordnung des Kanton Wallis vom 22. Februar 1962/13. Mai 1992 (StPO) Massnahmen zum Schutz von V-Personen vor. So enthält Artikel 103k Ziffer 4 StPO VS eine summarische Grundlage für Schutzmassnahmen zu Gunsten von V-Leuten. Eine allgemeine Bestimmungen zum Schutz aller Zeugen fehlt jedoch ebenso wie eine gesetzliche Grundlage, um die für V-Leute vorgesehenen Schutzmassnahmen auf Zufallszeugen ausdehnen zu können.

1.5.2.3

Kantone ohne Zeugenschutzbestimmungen

Überhaupt keine Zeugenschutzbestimmungen kennen folgende Kantone: AG, AI, AR, GE, GL, GR, JU, LU, NE, NW, OW, SH, SO, SZ, TI, UR, VD, ZG.

1.5.3

Ausland

1.5.3.1

UN-Tribunale für Rwanda und Ex-Jugoslawien

Die internationalen Strafgerichtshöfe für Rwanda (ICTR) und Ex-Jugoslawien (ICTY) gewähren Angeklagten in Artikel 20 bzw. 21 des jeweiligen Gerichtsstatuts Verfahrensgarantien und Verteidigungsrechte, die im Wesentlichen denjenigen nach Artikel 6 EMRK und den Artikeln 29­32 BV entsprechen. In beiden Statuten ist zudem der Schutz der Opfer und Zeugen ausdrücklich vorgesehen (Art. 21 Statut ICTR und Art. 22 Statut ICTY). So soll der jeweilige Strafgerichtshof in seinem Erlass zur Verfahrensordnung und seinen Beweisregeln (Rules of Procedure and Evidence, RPE) für Zeugenschutzmassnahmen sorgen, insbesondere für die Möglichkeit, Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen und die Identität der Opfer zu schützen.

Die RPE des ICTR82 sehen in Regel 75 vor, dass der Richter oder die Strafkammer von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei, des betreffenden Opfers oder von Zeugen angemessene Massnahmen ergreifen, die mit den Verteidigungsrechten vereinbar sind. Als Massnahmen werden insbesondere vorgesehen, dass die Verhandlung nicht öffentlich durchgeführt wird, dass die Aussagen gefährdeter Opfer und Zeugen durch gerichtsinternes Ein-Weg-Fernsehen erleichtert werden oder dass die Zeugen gegenüber Publikum oder Medien anonym bleiben. Letztere Massnahme soll gewährleistet werden, indem Name und der Identifizierung dienende Informationen in der Verhandlung und in den Akten nicht genannt werden oder indem die Aussagen mittels bild- oder stimmverändernder Vorrichtungen oder gerichtsinternes Fernsehen gemacht werden. Regel 69 ermöglicht zudem, dass der Ankläger oder die Verteidigung bei aussergewöhnlichen Umständen der Strafkammer die Geheimhaltung der Identität von Opfern oder Zeugen beantragen können, die möglicherweise einer Gefahr oder einem Risiko ausgesetzt sind. Die Kammer kann bis auf Widerruf die Geheimhaltung der Identität anordnen. Allerdings muss gemäss Regel 69 C die Identität des Opfers oder Zeugen rechtzeitig vor dem Prozess offengelegt werden,

82

http://www.ictr.org/wwwroot/english/rules/index.htm.

789

damit der Verteidigung genügend Zeit verbleibt, um eine genügende und wirksame Verteidigung vorzubereiten.

Neben diesen prozessualen Vorkehren kann die Strafkammer gefährdete Opfer bzw.

gefährdete Zeugen und ihre Angehörigen unter die Obhut des Gerichts stellen und ausserprozessuale Schutz- und Betreuungsmassnahmen durch die «Witnesses and Victims Support Unit» anordnen (Regel 69 RPE). Diese Einheit sorgt dafür, dass die Zeugen und ihre Angehörigen ruhig und sicher zum Verfahren anreisen und in einer sicheren und angenehmen Umgebung aussagen können. Diese Betreuung und Unterstützung schliessen einerseits physische und psychische Wiederherstellung ein, andererseits bestehen sie aber auch in der Übernahme sämtlicher Kosten für Reise, Kleider, Unterkunft etc. der Zeugen, im Beschaffen von Reisedokumenten und Erledigen von Einreiseformalitäten sowie im Zur-Verfügung-Stellen von Übersetzern, sicherer Unterkunft und finanzieller Unterstützung für sämtliche im Zusammenhang mit der Zeugenstellung notwendigen Ausgaben. Eigentliche polizeiliche Schutzmassnahmen reichen vom Personenschutz vor, während und nach dem Verfahren für den Zeugen und seine Familie über den Schutz des Eigentums bis hin zur Verschaffung einer neuen Identität sowie der Umsiedlung mit dazugehörender finanzieller und persönlicher Unterstützung bei der Eingliederung am neuen Ort (sog.

Zeugenschutzprogramm).

Bei der Beurteilung von Zeugenschutzmassnahmen nehmen die internationalen Strafgerichtshöfe eine Abwägung der gegenläufigen Interessen von gefährdeten Zeugen und von Angeschuldigten vor. Inzwischen ist anerkannt, dass die folgenden Voraussetzungen für die Anonymisierung von Zeugenaussagen kumulativ erfüllt sein müssen: ­

Es besteht eine reale Gefahr für die Zeugen und ihre Familien.

­

Die Zeugenaussage ist für dieAnklage von so hoher Bedeutung, dass es aus Sicht der Anklage unfair wäre, darauf verzichten zu müssen.

­

Es ist nicht von Anfang an offensichtlich, dass der Zeuge unglaubwürdig ist.

­

Es besteht kein oder nur ein ungenügendes Schutzprogramm für den Zeugen und seine Familie.

­

Die getroffenen Massnahmen sind unbedingt notwendig.

Dabei anerkennen die Gerichte auch, dass anonyme Zeugenaussagen die Verteidigungsrechte einschränken. Die Befragung anonymer Zeugen muss daher an bestimmte Grundsätze bzw. an ausgleichende Massnahmen gebunden werden: ­

Die Richter müssen die Identität der Zeugen kennen und ihr Verhalten während der Einvernahme beobachten können.

­

Die Verteidigung muss ausreichende Möglichkeiten haben, die Zeugen zum Inhalt ihrer Aussage und zu den Umständen ihrer Wahrnehmung zu befragen, soweit diese Fragen nicht die Anonymität des Zeugen gefährden.

­

Die Identität der Zeugen darf nur so lange geheimgehalten werden, als dies für den Zeugenschutz erforderlich ist.

790

­

Kann die Beschränkung wesentlicher Aspekte der Verteidigungsrechte durch die Anonymität der Zeugen nicht ausreichend kompensiert werden und kommen keine anderen Zeugenschutzmassnahmen in Betracht, so muss auf die Zeugenaussage verzichtet werden83.

Von grosser Bedeutung ist, dass die Strafgerichtshöfe anerkannt haben, dass weder die Verfahrensrechte des Angeschuldigten noch die Rechte des Zeugen absolute Geltung beanspruchen. Vielmehr muss mit einer Interessensabwägung für einen angemessenen Ausgleich und ein insgesamt faires Verfahren gesorgt werden.

1.5.3.2

Internationaler Strafgerichtshof

Grundsätzlich sollen dieselben Zeugenschutzmöglichkeiten, wie sie die Statuten des ICTR und des ICTY erlauben, auch für Verfahren vor dem ständigen Internationalen Strafgerichtshof gelten. Die Verteidigungsrechte sind in Artikel 67 und der Schutz von Opfern und Zeugen in Artikel 68 des Römer Statuts geregelt84. In den Regeln 87 und 88 der Rules of Procedures and Evidences sind die einzelnen Schutzmassnahmen näher ausgeführt und festgelegt. Sie entsprechen im Wesentlichen der soeben für den ICTR skizzierten Anordnung.

1.5.3.3

Europarat

Das Ministerkomitee des Europarates hat am 10. September 1997 eine Empfehlung über Massnahmen zum Schutz von Zeugen gegen jegliche Art von Einschüchterungsversuchen und über ihre Vereinbarkeit mit den Verteidigungsrechten verabschiedet85. Dabei geht das Komitee davon aus, dass es für ein rechtsstaatliches Strafjustizsystem nicht akzeptabel ist, dass eine erfolgreiche Strafverfolgung unter Umständen daran scheitert, dass Zeugen vermehrt eingeschüchtert werden und deshalb nicht mehr bereit sind, wahrheitsgemäss und vollständig auszusagen. Es wird festgestellt, dass Zeugenaussagen zwar zur Bürgerpflicht gehören, dass die Strafverfolgungsbehörden aber den Rechten und Bedürfnissen der Zeugen grössere Beachtung schenken müssen, damit diese die Strafverfolgungsbehörden bei der wirksamen Strafverfolgung unterstützen. Mit der Empfehlung werden die Staaten daher aufgerufen, effiziente Massnahmen zum Schutze von Zeugen zu treffen, gleichzeitig aber die unverzichtbaren Rechte auf wirksame Strafverteidigung ent83

84

85

Vgl. den sogenannten Tadic-Schutzmassnahmen-Entscheid vom 10.8.1995, www.un.org/icty/tadic/trialc2/decision-e/100895pm.htm; die Kommentierung dieses Entscheids durch Faizer Patel King/Anne-Marie La Rosa, International Criminal Tribunal for the Former Yugoslawia: Current Survey, European Journal of International Law 1997, S. 123­179, v.a. 146­150; Kley (Anm. 43), S. 180 f.

Vgl. Botschaft vom 15.11.2000 über das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und eine Revision des Strafgesetzbuches, BBl 2001 391, insbesondere Anhang 3, 559.

Recommendation No. R (97) 13 of the Committee of Ministers to Member States concerning Intimidation of Witnesses and the Rights of the Defence, adopted by the Committee of Ministers on 10 September 1997, http://www.coe.fr/cm/ta/rec/1997/97r13.html; auf Französisch publiziert in: RUDH 1997, S. 298. Zur Empfehlung vgl. Kley (Anm. 43), S. 178 f.; BGE 125 I 127, 144 f. E. 7b­c.

791

sprechend der europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des EGMR zu wahren.

Im eigentlichen materiellen Teil der Empfehlung werden unter dem Titel «allgemeine Grundsätze» (Ziffer 1­7) angemessene gesetzgeberische und praktische Massnahmen gefordert, welche unter Wahrung der Verteidigungsrechte den Schutz von Zeugen vor Beeinträchtigungen gewährleisten und dadurch die Strafverfolgung unterstützen (Ziffer 1 f.). Empfohlen wird zudem, dass Taten, mit denen Zeugen gefährdet oder unter Druck gesetzt werden, unter Strafe gestellt werden (Ziffer 3).

Schliesslich wird dazu angehalten, Zeugen alternative Formen der Beweisaufnahme zur Verfügung zu stellen, so dass sie unter Wahrung der Verteidigungsrechte davor geschützt werden können, in Folge einer Konfrontation mit dem Beschuldigten Einschüchterungs- oder Rachetaten ausgesetzt zu werden. Als Beispiel wird die Einvernahme des Zeugen in einem anderen Raum als demjenigen, in dem sich der Beschuldigte aufhält, angeführt (Ziffer 6).

Die Empfehlung des Ministerkomitees bezieht sich in erster Linie auf Zufallszeugen, auf Opferzeugen und tatbeteiligte Zeugen, welche häufig als Einzige Zeugnis über eine bestimmte Wahrnehmung ablegen können und wegen ihrer schwachen und exponierten Stellung des besonderen Schutzes bedürfen. In zwei spezifischen Kapiteln geht die Empfehlung auf besonders schutzbedürftige Zeugen bei Verbrechen innerhalb der Familie, wie Kinder, Frauen und ältere Leute, ein (Ziffer 17 ff.), Probleme, welche in der Schweiz derzeit in erster Linie durch das OHG erfasst und deren Regelungen im Rahmen der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in die chStPO überführt werden sollen. Ausserdem handelt die Empfehlung in einem eigenen Abschnitt von Massnahmen, welche im Bereich der organisierten Kriminalität getroffen werden können (Ziffer 8 ff.).

Für die Frage des Zeugenschutzes im Kriegsverbrecherprozess ist vor allem dieser Abschnitt von Bedeutung. Danach sollen Aussagen aus der Untersuchung vermehrt mit technischen Mitteln aufgenommen und vor Gericht als (formelles) Zeugnis anerkannt werden (Ziffer 9). Zentral ist die Empfehlung, dass Aussagepersonen die Wahrung ihrer Anonymität nur dann ­ und zwar im Sinne einer ausserordentlichen Massnahme ­ zugesichert werden soll, wenn es sich um eine wichtige Aussage handelt und von einer
ernstlichen Gefährdung von Leib und Leben der Aussageperson ausgegangen werden muss (Ziffer 10). Dabei soll ein Verfahren dem Beschuldigten ermöglichen, die Gründe für die Geheimhaltung des Zeugen, dessen Glaubwürdigkeit und den Ursprung der Kenntnisse des Zeugen in Zweifel zu ziehen (Ziffer 11).

Falls erforderlich sollen Massnahmen wie die Veränderung von Bild und Stimme bei technischen Übertragungen ergriffen werden können (Ziffer 12). Deutlich gemacht wird sodann in Ziffer 13, dass Verurteilungen nicht ausschliesslich oder in der Hauptsache auf Aussagen von anonymen Zeugen gestützt werden sollten. In den Motiven, Ziffer 79, wird dazu erläutert, dass beim Festhalten an der Anonymität des einzigen Zeugen in Kauf zu nehmen ist, dass unter Umständen auf eine Anklage verzichtet oder ein Angeklagter mangels anderer Beweise freigesprochen werden muss. Schliesslich wird darauf hingewiesen, dass spezielle Schutzprogramme wie etwa Polizeischutz oder Massnahmen zur Veränderung der Identität sowie des Lebens- und Arbeitsfeldes den Zeugenschutz bei besonders schutzbedürftigen Zeugen und bei Kronzeugen ergänzen können (Ziffer 14­16).

Das Bundesgericht hat in BGE 125 I 127, 145 festgehalten, dass diese Empfehlungen lediglich den Charakter von Richtlinien haben und keine bindenden Regeln dar792

stellen, deren Missachtung für sich alleine als Verstoss gegen verfassungsmässige Rechte oder als Verletzung eines Staatsvertrages angefochten werden könnten. Weil die Empfehlungen des Ministerkomitees aber die gemeinsame Rechtsüberzeugung der Mitgliedsstaaten des Europarates zum Ausdruck bringen, werden sie vom Bundesgericht bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen durch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention gleichwohl mitberücksichtigt86. Demzufolge sind die Empfehlungen des Ministerkomitees im Rahmen der Revision des MStP ebenfalls zu beachten.

1.5.3.4

Einzelstaaten ­ z.B. Bundesrepublik Deutschland

Veranlasst durch die Notwendigkeit von neuen Instrumenten zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels hat die Bundesrepublik Deutschland (BRD) bereits im Jahre 1992 eine Regelung des Einsatzes von verdeckten Ermittlern mit der Möglichkeit zur Geheimhaltung von deren Identität, aber auch erste allgemeine Zeugenschutzmassnahmen in die Strafprozessordnung aufgenommen87. Seither wurden die Zeugenschutzregelungen in verschiedenen Novellen zur dtStPO, insbesondere durch das sog. Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998, ergänzt und präzisiert88. Die prozessualen Zeugenschutzbestimmungen ermöglichen den Ausschluss der Öffentlichkeit von Einvernahmen und die Geheimhaltung von Namen der gefährdeten Person und aller ihre Identifizierung ermöglichenden Angaben (sog. Vertraulichkeitszusage). Ferner können Zeugen während ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung durch den Einsatz einer Live-Bild-Ton-Übertragung von anderenorts durchgeführten Zeugeneinvernahmen geschützt werden. Zudem wird Zeugen für die Dauer der Vernehmung die anwaltliche Beratung durch einen sog. Zeugenbeistand erlaubt. Darüber hinaus gibt es in der BRD auch ausserprozessuale Zeugenschutzprogramme für Fälle von hochgradig gefährdeten Zeugen. Mit dem Ziel, den gefährdeten Personen für die Dauer ihrer Gefährdung Schutz zu bieten und die Strafverfolgung sowie das Strafverfahren zu sichern, wird dabei etwa Personenschutz vor, während und nach der Hauptverhandlung, Objektschutz im Aufenthaltsbereich der zu schützenden Personen oder Änderung der Identität und Umsiedelung mit Eingliederungshilfe am neuen Ort gewährt89.

Detaillierte Zeugenschutzbestimmungen kennen beispielsweise auch die USA und Italien. Darüber hinaus kennen nahezu alle europäische Staaten zumindest grundsätzliche Regelungen über den Zeugenschutz, so z.B. Frankreich, Grossbritannien, Dänemark, Schweden und die Niederlande.

86 87 88

89

Vgl. BGE 125 I 127, 145 E. 7c m.w.H.

Vgl. BGE 125 I 127, 143 f. m.H.

Vgl. BGBl 1998 I 820; sowie z.B. Rainer Griesbaum, Der gefährdete Zeuge, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1998, S. 433­441; Peter Cäsar, Noch stärkerer Schutz für Zeugen und andere nicht beschuldigte Personen im Strafprozess?, Neue Juristische Wochenschrift 1998, S. 2313­2318; Bernd Schünemann, Der deutsche Strafprozess im Spannungsfeld von Zeugenschutz und materieller Wahrheit, Strafverteidiger 1998, S. 391­401.

Vgl. Gemeinsame Richtlinien der Innenminister/-senatoren und der Justizminister/senatoren der Länder zum Schutz gefährdeter Zeugen vom 16.5.1997, Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Nr. 33 vom 17.6.1997, 624­626.

793

1.6

Konzept der vorgeschlagenen Regelung

1.6.1

Konzept der materiellen Bestimmungen

Den vorgeschlagenen neuen Bestimmungen zum Zeugenschutz liegt die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zugrunde, wonach Zeuginnen und Zeugen in einem veränderten Umfeld der Kriminalität und der staatlichen Strafverfolgungsmassnahmen eines vermehrten Schutzes vor Repressalien aller Art bedürfen und dieser Umstand Massnahmen zur Einschränkung von Verteidigungsrechten des Beschuldigten rechtfertigen kann. Erforderlich ist, dass der Zeugenschutz nicht zu einer untragbaren Schmälerung der elementaren Verteidigungsrechte führt und dass das Strafverfahren in seiner Gesamtheit noch als fair erscheint90. Die hohe Gewichtung dieses Erfordernisses führt dazu, dass für den MStP eine straffere und restriktivere Zeugenschutzregelung vorgeschlagen wird, als dies im VE-chStPO vorgesehen ist (vgl. Artikel 98b E-revMStP und Artikel 162 VE-chStPO).

Zeugenschutzmassnahmen können nicht standardisiert werden, sondern müssen im jeweiligen konkreten Fall individuell geprüft und angeordnet werden. Der Gesetzgeber hat ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, welches es bei glaubhaft gemachter Gefährdung ermöglicht, im Einzelfall zwischen verschiedenen Massnahmen auszusuchen und diese miteinander zu kombinieren, um so durch geeignete Mittel einen angemessenen Zeugenschutz zu gewährleisten.

Da Zeugenschutzmassnahmen je nach ihrer Art und ihrem Ausmass erheblich in die Verteidigungsrechte eingreifen können, sind die Grundvoraussetzungen für deren Anordnung im Gesetz zu regeln: ­

Zeugenschutzmassnahmen dürfen nur dann getroffen werden, wenn sie durch ein die ungeschmälerte Ausübung der Verteidigungsrechte überwiegendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung sowie am Schutz des Zeugen gerechtfertigt werden können. Es muss ein Delikt einer gewissen Schwere zur Strafverfolgung anstehen und der Zeuge muss einer ernsthaften Gefahr einer gewissen Intensität gegenüberstehen, damit Schutzmassnahmen angeordnet werden dürfen, welche die Verteidigungsrechte berühren.

­

Schutzmassnahmen sind stets in verhältnismässiger Weise anzuordnen (Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips): Die Schutzmassnahmen müssen tatsächlich geeignet sein, das Eintreten einer Schädigung des Zeugen oder seiner Angehörigen zu verhindern. Es sind diejenigen Schutzmassnahmen anzuordnen, die dem Schutz so gut wie nötig dienen, dabei aber so wenig wie möglich in die Verteidigungsrechte eingreifen; es ist also die mildeste Erfolg versprechende Massnahme zu ergreifen. Schliesslich muss auch das Verhältnis zwischen dem Eingriffszweck des Schutzes und der Auswirkung des Schutzes auf die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben. Der Kerngehalt der Verteidigungsrechte muss uneingeschränkt erhalten bleiben.

­

Notwendige und an sich verhältnismässige Beschränkungen der Verteidigungsrechte sind so weit wie möglich durch Kompensationsmassnahmen auszugleichen. Massstab ist dabei, ob das Verfahren trotz Beschränkung der

90

794

BGE 118 Ia 457, 461 E. 3b und 125 I 127, 131 f., 139 E. 6d/dd, 141 E. 6d/ee, 146.

Verteidigungsrechte insgesamt noch als fair bezeichnet werden kann. Um das prozessuale Gleichgewicht und die Möglichkeit des Beschuldigten zur wirksamen Verteidigung wiederherzustellen, sind der Verteidigung namentlich durch Information über den Inhalt von Aussagen und das Recht, Ergänzungsfragen zu stellen und Berichte anzufordern, sowie durch einen Glaubwürdigkeitsbericht des Gerichtspräsidenten ausgleichende Mittel zur Verfügung zu stellen. Können die Schwierigkeiten, welche der Verteidigung erwachsen, weil ihre Rechte durch die Schutzmassnahmen beschränkt werden, durch ausgleichende Massnahmen nicht hinreichend kompensiert werden, darf nicht auf das Zeugnis des Betreffenden abgestellt werden; allenfalls muss der Angeschuldigte in Respektierung des Grundsatzes «in dubio pro reo» freigesprochen werden.

Demgemäss wird vorgeschlagen, zunächst als Grundsatz festzuhalten, dass für alle Verfahrensbeteiligten geeignete Schutzmassnahmen allgemeiner Natur getroffen werden können, wenn gerade durch ihre Mitwirkung am Verfahren sie selbst oder ihre Angehörigen einer Gefahr ausgesetzt sein könnten (Art. 98a E-revMStP). Darüber hinaus sehen die Artikel 98b­98d E-revMStP vor, dass unter im Verhältnis zur Grundsatznorm erhöhten Voraussetzungen die besondere Schutzmassnahme der Zusicherung der Anonymitätswahrung an Zeugen und Auskunftspersonen getroffen werden kann. Die Geheimhaltung der Identität soll möglich sein, wenn ein Zeuge oder eine Auskunftsperson in einem Verfahren wegen eines schweren Delikts aussagen soll und glaubhaft ist, dass er oder sie sich selbst oder ihre Angehörigen wegen ihrer Aussage einer ernsthaften Gefahr aussetzt, in strafrechtlich geschützten Rechtsgütern schwer beeinträchtigt zu werden (Art. 98b E-revMStP). Mit der Unterteilung in Schutzmassnahmen allgemeiner Natur zu Gunsten sämtlicher Verfahrensbeteiligter und der Möglichkeit, Zeugen und Auskunftspersonen nötigenfalls die Anonymitätswahrung zusichern zu können, wird bewusst von der im VE-chStPO vorgesehenen Regelung (Art. 160 Abs. 2 i.V.m. Art. 162) abgewichen. Der Bereich, in dem Einschränkungen der Verteidigungsrechte zulässig sein sollen, soll auf das Notwendigste beschränkt werden.

In Artikel 98d Absatz 1 E-revMStP sind die zulässigen Arten von Zeugenschutzmassnahmen abschliessend aufgeführt. Absatz 2 hält fest, dass
Schutzmassnahmen unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zu treffen sind und sie die Verteidigungsrechte nur so weit beschränken dürfen, als dies für den erforderlichen Schutz tatsächlich notwendig ist. Dass sämtlichen Parteien das rechtliche Gehör zu gewähren ist, muss nicht besonders erwähnt werden, da es schon von Verfassungs wegen zu beachten ist (Art. 29 Abs. 2 BV). Gerechtfertigte Beschränkungen der Verteidigungsrechte sind durch Kompensationsmassnahmen auszugleichen, damit ein insgesamt faires Verfahren gewährleistet bleibt. Da es gesetzgeberisch als unmöglich erscheint, sämtliche denkbaren Schutzmassnahmen mit den jeweiligen Abstufungen und den entsprechenden Kompensationsmassnahmen in den Gesetzestext einzubauen, wurde lediglich ein Katalog der Schutzmassnahmen festgelegt, in der Meinung, dass sich daraus auch die im konkreten Fall möglichen Kompensationsmassnahmen ergeben.

Zeugenschutzmassnahmen sind in einem geordneten Verfahren zu treffen. Zum Konzept des Zusicherungsverfahrens siehe Ziffer 1.6.2. Die Identität von Zeugen in Einvernahmen, Protokollen und Akten geheim zu halten, bedingt, dass eine Identifi-

795

zierungsmöglichkeit geschaffen wird, mit der sichergestellt werden kann, dass der Zeuge nicht verwechselt oder vertauscht werden kann. Dazu dient die Regelung in Artikel 98d Absatz 3 E-revMStP.

Bei gewissen Zeugen kann es notwendig sein, sie auch ausserhalb des Verfahrens zu schützen, zu unterstützen oder zu betreuen, damit eine Aussage zustande kommt.

Für solche Unterstützungs- oder Schutzmassnahmen, welche die Parteirechte nicht berühren, wurde mit Artikel 98d Absatz 4 eine gesetzliche Grundlage geschaffen.

Die hier zur Einfügung in den MStP vorgeschlagenen Bestimmungen über den Zeugenschutz und die Opferschutzregelungen des OHG sollen einander ergänzen. Ist ein Opferzeuge derart gefährdet, dass die Voraussetzungen von Artikel 98b E-revMStP erfüllt sind und Massnahmen nach Artikel 98d E-revMStP angeordnet werden können, hat der Schutz nach MStP Vorrang vor demjenigen nach OHG. Ist ein Opferzeuge hingegen in geringerem Ausmass betroffen, kommt nach dem Konzept der vorliegenden Zeugenschutznovelle lediglich die mit breitem Ermessensspielraum ausgestattete Auffangnorm von Artikel 98a E-revMStP zur Anwendung. Weil hier anzunehmen ist, dass das OHG spezifischere Schutz- und Unterstützungsmassnahmen vorsieht, käme in diesem Bereich (d.h. Artikel 98a E-revMStP) das OHG als lex specialis zur Anwendung.

1.6.2

Konzept des Zusicherungsverfahrens

Die Zusicherung der Anonymitätswahrung darf nicht allein in der Hand der anordnenden Behörde liegen, sondern muss in einem Kontrollsystem geprüft werden können. Anhand der Situation bei der Gewährung von Zeugenschutzmassnahmen wurden die Kontrollsysteme, wie sie vom Bundesrat für den Einsatz von verdeckten Ermittlern nach E-BVE vorgeschlagen und im Bereich der Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs im Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) vorgesehen wurden, auf ihre vollständige oder teilweise Übertragbarkeit in die Zeugenschutzregelung geprüft. Auszugehen ist von der Möglichkeit, dass die Zeugenschutzmassnahmen sofort mit der Zusicherung Wirkung erlangen. Gefährdete Personen sollen auf diese Weise möglichst rasch geschützt und entsprechende Aussagen tatsächlich eingeholt werden können. Auf der anderen Seite bedarf die Zusicherung der Anonymitätswahrung als einschneidende Massnahme auf jeden Fall einer richterlichen Kontrolle. Diese soll erfolgen, bevor eine anonyme Einvernahme vor Gericht stattfindet. Ein eigentliches Beschwerdeverfahren über die Anordnung von Zeugenschutzmassnahmen ­ quasi als Verfahren im Verfahren ­ wird aus der Überlegung heraus abgelehnt, dass das Strafverfahren übermässig kompliziert sowie verzögert und auch die Gefahr einer Enttarnung der Zeugin oder des Zeugen mit sich bringen würde. Daher wird dem von der Expertenkommission vorgeschlagenen System, dass die Zusicherung zwingend dem Präsidenten des Militärkassationsgerichtes (MKG) bzw. dessen Stellvertreter zur Prüfung und allfälligen Genehmigung vorzulegen ist, der Vorzug gegeben91. Der Genehmigungsentscheid des Präsidenten des MKG ist endgültig, d.h. er ist für sämtliche mit dem Fall

91

796

Siehe dazu sogleich Ziff. 2.1.1 und 2.1.6.

betrauten Behörden verbindlich und kann nicht mehr aufgehoben werden. Dieses Genehmigungssystem entspricht demjenigen der richterlichen Prüfung von Telefonabhörungen92.

Der Genehmigungsbehörde sollen dabei die wesentlichen Informationen unterbreitet werden, die zur Erteilung der Zusicherung geführt haben. Die Genehmigungsbehörde nimmt dann eine Abwägung der verschiedenen betroffenen Interessen vor und sorgt für allfällige Kompensationsmöglichkeiten. Das rechtliche Gehör kann in diesem Stadium jedoch nicht gewährt werden, da ein solches die Schutzmassnahme in der Regel unnütz machen würde. Hingegen ersetzt die Genehmigung der Zusicherung nicht die Prüfung des urteilenden Gerichts, ob die Beweismittel durch gesetzeskonforme Massnahmen beschafft worden sind und ob die Beschränkung der Verteidigungsrechte durch die Anonymität genügend ausgeglichen worden ist, so dass insgesamt noch von einem fairen Verfahren gesprochen werden kann. Allerdings ist die Zusicherung der Anonymitätswahrung unwiderruflich und für sämtliche mit dem Fall befassten Behörden in allen Verfahrensstadien verbindlich, sobald sie einmal genehmigt worden ist. Ein Zeuge, dem die Anonymitätswahrung zugesichert und genehmigt worden ist, soll auf jeden Fall darauf vertrauen können, dass seine Identität geheim bleibt. Andernfalls wird er bei den geringsten Zweifeln an der Beständigkeit der Zusicherung überhaupt nicht aussagen. Auch wenn das urteilende Gericht bei der Prüfung der Beweise im Beweisverfahren zum Schluss kommt, dass die Anonymität zu Unrecht zugesichert wurde, kann die Zusicherung nicht widerrufen werden. Aussagen, welche auf Grund einer zu Unrecht zugesicherten Geheimhaltung der Identität erlangt worden sind, stellen unrechtmässig erlangte Beweismittel dar und dürfen vom Gericht nicht verwertet werden; die entsprechenden Protokolle sowie sonstige Aktenstücke sind zu vernichten. Ist der Zeuge dann nicht mehr zur erneuten Aussage ohne Schutzmassnahmen bereit, muss der Verzicht auf das Beweismittel in Kauf und ein allfälliger Freispruch «in dubio pro reo» hingenommen werden (vgl. Ziff. 2.1.6).

1.7

Ergebnisse des Vorverfahrens

Auf die Durchführung eines Vernehmlassungsverfahrens bei den Kantonsregierungen, den politischen Parteien sowie weiteren interessierten Organisationen wurde verzichtet, weil die vorgesehene Revision die Kantone nicht unmittelbar betrifft, politisch nicht umstritten ist und die finanziellen und personellen Auswirkungen gering sind. Indessen wurde die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren über die Revision orientiert. Diese ersuchte den bernischen Justizdirektor um Stellungnahme, der das Ansuchen an den Generalprokurator des Kantons Bern weiterleitete. Letzterer legte eine ausführliche Stellungnahme vor, deren Anregungen teilweise in der Botschaft berücksichtigt werden konnten.

92

Vgl. Art. 7 BÜPF (SR 780.1).

797

2

Besonderer Teil

2.1

Änderung des Militärstrafprozesses

2.1.1

Stellvertreter des Präsidenten des Militärkassationsgerichtes (Art. 15 Abs. 3 Satz 2 E-revMStP)

Mit der Ergänzung von Artikel 15 Absatz 3 MStP durch einen zweiten Satz wird vorgeschlagen, den Genehmigungsentscheid über Zeugenschutzmassnahmen dem Stellvertreter des Präsidenten des Militärkassationsgerichtes (MKG) zu übertragen.

Dies aus der Überlegung, dass die Befassung mit den getroffenen und nun zur Prüfung vorgelegten Zeugenschutzmassnahmen dazu führen kann, dass die mit der Genehmigung betraute Person in einem allfälligen späteren Verfahren vor dem MKG wegen Vorbefassung von der Mitwirkung ausgeschlossen sein oder abgelehnt werden könnte. Mit der Regelung, wonach der Stellvertreter des Präsidenten MKG für den Genehmigungentscheid zuständig ist, bleibt der Präsident MKG für ein allfälliges späteres Kassationsverfahren unbeeinflusst.

Weil diese Problematik auch bei Entscheiden des Präsidenten MKG auf dem Gebiet der Untersuchungs- und Sicherheitshaft sowie der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs besteht, wird mit dem vorgeschlagenen zweiten Satz zu Artikel 15 Absatz 3 MStP der Stellvertreter des Präsidenten MKG für diese drei Gebiete als zuständig bezeichnet. Mit dem Wort «insbesondere» wird darauf hingewiesen, dass dem Stellvertreter auch die Präsidialentscheide in ähnlichen Fragen zugewiesen werden können.

2.1.2

Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 75 Bst. a und c E-revMStP)

Im geltenden Artikel 75 Buchstabe a MStP wird Ehegatten, nicht aber Konkubinatspaaren bzw. eheähnlich zusammenlebenden Personen das Privileg des Zeugnisverweigerungsrechts eingeräumt. Zweck dieses Privilegs ist es, die Zeugin oder den Zeugen nicht in den Gewissenskonflikt zu bringen, zwischen der Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage und seiner Beziehung bzw. der Loyalität zur Partnerin bzw.

zum Partner entscheiden zu müssen. Deshalb soll im Verfahren gegen den Partner oder die Partnerin die Aussage verweigert werden dürfen. Nach der heute herrschenden gesellschaftlichen Anschauung ist es nicht mehr gerechtfertigt, dieses Privileg des Zeugnisverweigerungsrechts auf Ehegatten zu beschränken. Vielmehr ist es auch allen eheähnlich zusammenlebenden Personen einzuräumen. Die Formulierung «eheähnlich zusammenlebende Person» entspricht derjenigen in Artikel 176 Absatz 1 Buchstabe a VE-chStPO. Sie erfasst sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Konkubinatspaare.

Artikel 75 Buchstabe c MStP statuiert u.a. das Recht des Zeugen, seine Aussage zu verweigern, wenn er durch das Zeugnis nach glaubwürdiger Angabe sich selbst oder einen Angehörigen der Gefahr eines schweren Nachteils aussetzen würde. Dieses Zeugnisverweigerungsrecht soll den Zeugen und seine Angehörigen vor ideeller

798

Unbill und materiellen Nachteilen schützen93. In einer Gefährdung von Leib und Leben liegt sicherlich ein schwerer Nachteil im Sinne dieser Bestimmung, der es dem Zeugen in der konkreten Situation erlauben würde, das Zeugnis zu verweigern94.

Dieses Zeugnisverweigerungsrecht kann somit als eine von mehreren Möglichkeiten zum Zeugenschutz betrachtet werden. Aus Sicht des Zeugen handelt es sich dabei um ein besonders effizientes Schutzmittel, da es eine massive Verringerung der Gefährdung bewirkt. Unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an einer wirksamen Strafverfolgung ist die Zeugnisverweigerung jedoch diejenige Schutzmassnahme, die möglicherweise den vollständigen Verlust eines vielleicht entscheidenden Beweismittels bewirkt95. Daher soll ein Anreiz geschaffen werden, der den Ängsten des Zeugen entgegenwirkt und diesen dazu bewegt, auf die Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts zu verzichten und durch seine Aussage zur wirksamen Strafverfolgung beizutragen. Einen solchen Anreiz sollen die Zeugenschutzmassnahmen in den Artikeln 98a­98d des vorliegenden Entwurfs darstellen.

Werden dem Zeugen zur Anonymitätswahrung spezifische Zeugenschutzmassnahmen nach Artikel 98b­98d dieses Entwurfs zugesagt, Massnahmen, die individuellkonkret auf seine Gefährdungssituation zugeschnitten werden und objektiv geeignet sind, die Verwirklichung einer Gefahr zu verhindern, so soll es ihm im Gegenzug jedoch untersagt sein, sich gleichwohl noch auf das Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen. Wenn der Staat an seine Vertraulichkeitszusage gebunden sein soll (Art. 98c Abs. 4 E-revMStP), so soll der Zeuge seinerseits an seine Aussagepflicht gebunden sein. Ein Zeuge, der trotz zugesicherter Schutzmassnahmen nicht aussagen will, wird die gesetzlichen Straffolgen von Artikel 82 MStP zu gewärtigen haben. Missbräuchlich wäre es, einem Zeugen objektiv ungenügende Schutzmassnahmen zuzusagen und ihm dadurch das Zeugnisverweigerungsrecht nach Artikel 75 Buchstabe c MStP abzuschneiden.

2.1.3

Hinweis auf die neuen Bestimmungen von Artikel 10a­10d OHG (Art. 84a E-revMStP)

Mit Beschluss vom 23. März 2001 hat das Parlament die unter Ziff. 1.5.1 erläuterte Ergänzung des OHG um die Artikel 10a­10d angenommen. Diese Bestimmungen dienen der Verbesserung der verfahrensrechtlichen Stellung von Opfern unter 18 Jahren, z.B. hinsichtlich der Vermeidung einer Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität. Bedauerlicherweise wurde es dabei unterlassen, Artikel 84a MStP, der mittels Verweis die Artikel 5­7, 8 Absatz 2 und Artikel 10 OHG für im Militärstrafverfahren anwendbar erklärt, um einen ausdrücklichen Verweis auf die Artikel 10a­10d OHG zu ergänzen. Dieses Versäumnis soll im Rahmen der vorliegenden Revision behoben werden. Damit sollen die Artikel 10a­10d OHG unterschiedslos auch im Militärstrafverfahren gelten.

93 94 95

Vgl. Robert Hauser, Der Zeugenbeweis, Zürich 1974, S. 163, 167­175.

Vgl. etwa Landshut (Anm. 51), S. 117 f.

Vgl. etwa Hug (Anm. 7), S. 409 f.

799

2.1.4

Titel zum neuen Vierzehnten Abschnittbis und Artikel 98a E-revMStP: Grundsatz

Der neue zwischen Artikel 98 und Artikel 99 MStP eingefügte Vierzehnte Abschnittbis E-revMStP trägt den Titel «Schutz der Verfahrensbeteiligten», weil i.S.

des erweiterten Zeugenbegriffs (vgl. vorne Ziffer 1.2.1) nötigenfalls sämtliche Personen geschützt werden sollen, welche im Rahmen eines Strafverfahrens über eine Sachverhaltswahrnehmung aussagen oder an einer solchen Aussage mitwirken. Dieser Gedanke wird in Artikel 98a E-revMStP aufgenommen, indem sämtliche Verfahrensbeteiligten aufgeführt werden, welche in den Genuss von allgemeinen Schutzmassnahmen kommen können. Damit wird die gesetzliche Grundlage für Schutzmassnahmen zu Gunsten aller Prozessbeteiligten geschaffen und nicht nur zu Gunsten des Gerichts und des Angeklagten wie bisher (vgl. Artikel 48­50 MStP).

Erfasst werden insbesondere auch die berufsmässigen Zeuginnen und Zeugen, auch wenn die Regelung über den Einsatz von solchen Leuten den besonderen Bestimmungen im BVE überlassen bleibt. Festzuhalten ist schliesslich, dass Zeugenschutzmassnahmen sowohl zu Gunsten von Belastungszeugen als auch zu Gunsten von Entlastungszeugen getroffen werden können, der Schutz von Belastungszeugen steht in der Praxis allerdings im Vordergrund.

Systematisch sind die neuen Bestimmungen nach den Artikeln über die Verfahrensbeteiligten einzuführen, denen sie zu Gute kommen sollen, und vor denjenigen, welche nicht von ihnen erfasst werden. Diese Stelle liegt nach den Artikeln 74­98 MStP über die Zeugen, Auskunftspersonen, Opfer, Sachverständigen, Dolmetscher und Übersetzer und vor Artikel 99 MStP über den Verteidiger. Die neuen Bestimmungen sollen demnach als Artikel 98a­98d in einen Vierzehnten Abschnittbis zwischen Artikel 98 und 99 MStP eingefügt werden.

Inhaltlich stellt Artikel 98a E-revMStP die Grundsatzbestimmung des Zeugenschutzes im Vierzehnten Abschnittbis E-revMStP dar. Sie soll sämtliche möglichen Massnahmen erlauben, welche geeignet sind, im weitesten Sinne zum Schutz der gefährdeten Person beizutragen, mit Ausnahme der spezifischen Schutzmassnahmen nach den Artikeln 98b­98d E-revMStP. Ihr kommt damit die Bedeutung einer Generalklausel für allgemein erforderliche Zeugenschutzmassnahmen zu. Für besondere Massnahmen, insbesondere für die Zusicherung der Anonymitätswahrung, welche stark in die Verteidigungsrechte eingreift, werden in Artikel
98b E-revMStP zusätzlich besondere Voraussetzungen verlangt. Mit diesem Konzept wird bewusst von demjenigen des VE-chStPO abgewichen. Die für die Verteidigungsrechte besonders einschneidende Massnahme der Anonymitätswahrung soll nach Artikel 98b E-revMStP nur bei Zeugen und Auskunftspersonen, nicht aber bei anderen Verfahrensbeteiligten möglich sein, weil erstere für ein konkretes Verfahren unersetztlich sind, während letztere im Falle einer möglichen Gefährdung durch andere Personen ersetzt werden können.

Damit Schutzmassnahmen angeordnet werden können, muss die Mitwirkung im Verfahren Anlass für die Annahme einer Gefährdung geben. Als bewusst weit gefasste Grundsatznorm soll Artikel 98a E-revMStP nicht nur die Gefährdung von Leib und Leben sowie andere schwere Nachteile erfassen, sondern die Möglichkeit einräumen, auch bei minderen Gefährdungen adäquate Schutzmassnahmen zu treffen, die regelmässig untergeordneter Natur sind und nicht in die Verteidigungsrechte eingreifen oder sich jedenfalls ohne weiteres kompensieren lassen. Besteht eine

800

Gefährdungslage, können Schutzmassnahmen getroffen werden, auch wenn die Mitwirkung im Verfahren erst bevorsteht, insbesondere schon bevor Aussagen erfolgt sind. Bewusst wurde auf eine zeitliche Begrenzung für Schutzmassnahmen verzichtet. Zwar kann der Untersuchungsrichter oder Gerichtspräsident nicht noch Jahre später Massnahmen treffen. Schutzmassnahmen sollen jedoch nicht durch den formellen Abschluss des Verfahrens begrenzt werden. Vielmehr sollte es gegebenenfalls möglich sein, dass diese nach Abschluss des Verfahrens soweit nötig durch andere Behörden weitergeführt werden können.

2.1.5

Zusicherung der Anonymitätswahrung, Voraussetzungen (Art. 98b E-revMStP)

Unter Anonymität wird jeder Fall verstanden, in dem keine Verbindung zwischen den Personalien und den Charakteristika einer Person hergestellt werden kann.

Erfasst ist somit nicht nur der Fall, dass Personalien, Erscheinungsbild und besondere Charakteristika geheim gehalten werden, sondern auch derjenige, in dem z.B. das äussere Erscheinungsbild der Zeugin oder des Zeugen bekannt ist, aber die Zuordnung der Personalien verhindert werden soll. Mit Zusicherung der Anonymitätswahrung werden diejenigen Zeugenschutzmassnahmen bzw. die Zusicherung, dass diese Massnahmen getroffen werden, bezeichnet, welche bewirken sollen, dass die Identität des Zeugen geheim gehalten wird und weder eruiert noch unabsichtlich oder zufällig offenbart werden kann. Dadurch, dass der Begriff der «Anonymitätswahrung» statt bloss der «Anonymität» gewählt wurde, soll verdeutlicht werden, dass die Anonymität nicht absolut garantiert werden kann. Wenn z.B. eine gefährdete Person ihre Identität schon vor der Schutzzusage gegenüber irgendwelchen Personen nicht ausreichend geheimgehalten hat, kann nicht mehr die absolute Anonymität garantiert werden. Garantiert werden kann nur noch, dass die Strafbehörden ihre Zusicherung , die Identität der Zeugin, des Zeugen oder der Auskunftsperson im Rahmen des Strafverfahrens geheimzuhalten, während des gesamten Verfahrens einhalten werden. Dieser Formulierungsunterschied bedeutet, dass der Staat nicht für eine schon vor der Zusicherung erfolgte (fahrlässige) Identitätspreisgabe durch die betroffene Person selbst einstehen muss. Im Übrigen spricht auch der VE-chStPO von «Zusicherung der Anonymitätswahrung» (z.B. im Titel zu Art. 162).

Mit der Wendung «damit die Identität von Zeugen und Auskunftspersonen den Personen, welche ihnen Schaden zufügen könnten, nicht bekannt wird», wird inhaltlich einerseits deutlich gemacht, dass gegenüber den Behörden wie etwa Untersuchungsrichter und Gericht kein Recht auf Anonymität besteht. Die Identifikation gegenüber diesen ist unverzichtbar. Allerdings ist auch hier die Identität nur dann offenzulegen, wenn dies notwendig ist. Bei einem Kollegialgericht mit fünf Richtern wie den Divisionsgerichten ist es ausreichend, wenn die wahre Identität dem Gerichtspräsidenten bekannt ist (vgl. Ziff. 2.1.7 zu Artikel 98d Absatz 2 E-revMStP). Je kleiner der Kreis der
Eingeweihten ist, umso grösser ist auch die Chance, dass die geheim zu haltende Tatsache tatsächlich geheim bleibt. Entsprechend kannte im Fall F.N. nur der Gerichtspräsident die wahre Identität der Zeugen. Andererseits verdeutlicht der Einleitungssatz von Artikel 98b E-revMStP, dass die Identität gegenüber allen Personen geheim gehalten werden können soll, welche eine Gefährdung darstellen könnten.

801

In Artikel 98b Buchstabe a E-revMStP ist festgehalten, dass Straftaten, die mit mehr als fünf Jahren Zuchthaus bedroht sind, Gegenstand des Verfahrens sein müssen, damit die Zusicherung der Anonymitätswahrung abgegeben werden kann. Mit dieser Formulierung wird von Artikel 160 Absatz 1 VE-chStPO abgewichen. Die Anonymität von Zeuginnen und Zeugen stellt eine ernst zu nehmende Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte dar (vgl. vorne Ziff. 1.1.3.4 und 1.1.3.5); sie soll daher nicht in Verfahren wegen Delikten von geringerer Bedeutung gewährt werden können (dort können nötigenfalls Massnahmen nach Artikel 98a E-revMStP, welche nicht in die Verteidigungsrechte eingreifen, angeordnet werden). Nur bei ausserordentlichen Sachlagen ist die Anwendung ausserordentlicher Massnahmen gerechtfertigt96. Die Anonymitätsgarantie wird durch das besondere Interesse der Strafverfolgung an der Erhaltung des Beweismittels begründet. Ein solches, die uneingeschränkte Ausübung der Verteidigungsrechte überwiegendes Strafverfolgungsinteresse liegt in der Regel nur bei besonders gewichtigen Straftaten vor. Zu den besonders gewichtigen Straftaten gehören schwere Verbrechen, mithin Straftaten, die mit mehr als fünf Jahren Zuchthaus bedroht sind. Dazu gehören all jene Delikte, deren angedrohte Maximalstrafe über fünf Jahren Zuchthaus liegt. Es handelt sich vor allem um folgende Delikte: ­

vorsätzliche Tötung, Mord und Totschlag (Art. 115­117 MStG);

­

schwere Körperverletzung (Art. 121 MStG);

­

Raub (Art. 132 MStG) sowie qualifizierte Formen von Veruntreuung (Art. 130 Ziff. 2 MStG), Diebstahl (Art. 131 Ziff. 3 und 4 MStG), Betrug (Art. 135 Abs. 4 MStG), Erpressung (Art. 137a Ziff. 2 MStG), Hehlerei (Art. 137b Ziff. 2 MStG), Plünderung (Art. 139 Ziff. 2 MStG) und Kriegsraub (Art. 140 Abs. 2 MStG);

­

qualifizierte Geiselnahme (Artkel 151c Ziffer 3 MStG), nicht aber Freiheitsberaubung und Entführung (Art. 151a MStG);

­

sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Schändung (Art. 153­155 MStG);

­

Brandstiftung, Verursachung von Explosionen, Sprengstoffdelikte u.ä.

(Art. 160, 161, 162, 164 MStG);

­

qualifizierte Formen und in Kriegszeiten begangene spezifisch militärische Delikte wie Ungehorsam, Meuterei, Feigheit, Kapitulation, Spionage, militärischer Landesverrat, Begünstigung des Feindes (Art. 61, 63, 74, 75, 86­91 MStG);

­

schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten (Art. 109 MStG).

Die spezifische Zeugenschutzmassnahme der Zusicherung der Anonymitätswahrung kommt nur für Zeugen und Auskunftspersonen in Frage97. Mit der Anonymitätszusicherung wird ­ wie gesagt98 ­ erheblich in die Verteidigungsrechte eingegriffen.

Dies soll nur dann möglich sein, wenn es dafür ein wesentliches öffentliches Interes96 97

98

802

Anders aber der VE-chStPO, nach dem Anonymitätszusagen auch bei minderschweren Delikten zulässig sein sollen, vgl. Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 118.

Vgl. aber Art. 160 Abs. 1 VE-chStPO sowie Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 118, wonach die Anonymitätszusage auch für Übersetzer und Sachverständige möglich sein soll.

Vgl. Ziff. 2.1.4.

se gibt, d.h. wenn die Behörden für eine wirksame Strafverfolgung tatsächlich auf die Aussage angewiesen sind. Während andere Verfahrensbeteiligte wie etwa Übersetzer, Sachverständige etc. im Allgemeinen dadurch geschützt werden können, dass man sie auswechselt, sind Zeuginnen, Zeugen und Auskunftspersonen häufig unersetzbar, sofern man nicht auf das Strafverfahren verzichten will. Erfahrungsgemäss hat ein Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen Angst um die Sicherheit seiner Person und seiner Angehörigen. In der Regel erwartet er daher von der Verfahrensleitung die Zusicherung der Anonymität, damit er überhaupt über die nur ihm bekannten Vorgänge berichtet. Will man gefährdete Person zur Mitarbeit bzw. zur Aussage bewegen können, muss den Strafverfolgungsbehörden das Instrument der Zusicherung der Anonymitätswahrung an Zeugen und Auskunftspersonen in die Hand gegeben werden.

Der Schutz nach Artikel 98b E-revMStP ist im Verhältnis zu Artikel 98a E-revMStP und zu Artikel 160 Absatz 1 VE-chStPO enger. Er kann in jedem Fall nur Zeugen und Auskunftspersonen gewährt werden, nicht aber anderen Verfahrensbeteiligten.

Sollten einmal Gerichtspersonal, Übersetzer oder Sachverständige so erheblich bedroht sein, dass allgemeine Schutzmassnahmen nach Artikel 98a E-revMStP nicht ausreichen, muss man sie zu ihrem Schutz auswechseln. Nicht geschützt werden auch die Parteien, z.B. Zeugen, welche auch als Zivilkläger auftreten oder der Verteidiger bzw. die Verteidigerin. Die Verfahrensstellung einer Partei ist mit der Anonymitätszusicherung unvereinbar. Man kann nicht Parteirechte ausüben, ohne identifizierbar zu sein. Fühlt sich eine Zivilpartei bedroht, muss sie sich entscheiden, ob sie nur als Zeuge aussagen will und dabei nötigenfalls geschützt wird oder ob sie ohne Anonymitätszusicherung bzw. ohne Schutzmassnahmen als Partei aussagen und Zivilansprüche geltend machen will. Für den Fall, dass es sich um eine Inlandstat handelt, ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass eine Entschädigung oder Genugtuung nach OHG beantragt werden kann, wenn die als Zeuge, Auskunftsperson oder Partei auftretende Person durch eine in der Schweiz begangene Straftat Opfer i.S. des OHG geworden oder Angehöriger bzw. Angehörige eines Opfers ist und die Tat zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führt. Schliesslich ist festzuhalten, dass die
Tatsache, dass Massnahmen nach Artikel 98d E-revMStP, die zum Zweck des Zeugenschutzes angeordnet werden sollen, die Voraussetzungen von Artikel 98b E-revMStP erfüllen müssen. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben und ist die Anordnung solcher Massnahmen zum Zeugenschutz deshalb nicht zulässig, so schliesst dies nicht aus, dass z.B. Massnahmen zur Vermeidung einer Begegnung zwischen Täter und Opfer gestützt auf das Artikel 5 OHG als Opferschutzmassnahmen angeordnet werden.

Wird wegen schweren Verbrechen i.S.v. Artikel 98b Buchstabe a E-revMStP ein Strafverfahren durchgeführt und liegen die weiteren Voraussetzungen ebenfalls vor, können Zeugenschutzmassnahmen zugesichert werden, unabhängig davon, ob dafür ein Gesuch des Zeugen vorliegt oder ob der Untersuchungsrichter bzw. der Gerichtspräsident von Amtes wegen tätig wird. Angeordnet werden können dabei aber lediglich die angemessenen und geeignet scheinenden Massnahmen gemäss Artikel 98d E-revMStP.

Während Buchstabe a die Anforderungen an den Gegenstand des Verfahrens stellt, führt Buchstabe b diejenigen Voraussetzungen auf, die erforderlich sind, damit eine Zusicherung der Anonymitätswahrung abgegeben werden darf.

803

Vorausgesetzt wird, dass der Zeuge oder die Auskunftsperson gerade durch die Aussage sich selbst oder Angehörige i.S.v. Artikel 75 Buchstabe a MStP in Gefahr bringt. Auf Grund der Tatsache, dass die Verteidigungsrechte durch die Anonymität in nicht leicht zu nehmender Weise beschränkt werden, muss die Gefahr eines Nachteils von einiger Bedeutung sein, damit die Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte gerechtfertigt ist. Mit dem Begriff «strafrechtlich geschützte Rechtsgüter» wird eine weitere bzw. allgemeinere Formulierung als in Artikel 160 Absatz 1 VE-chStPO und in Artikel 98b Buchstabe a E-revMStP verwendet. Der Begriff umschreibt, welcher Art die Gefahr ist, die die Aussage bewirken muss, damit die Zusicherung der Anonymitätswahrung berechtigt erscheint, nämlich die Gefahr einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität oder der wirtschaftlichen Existenz. Im Gegensatz zu Artikel 160 Absatz 1 VE-chStPO wird in Artikel 98b Buchstabe b E-revMStP indessen verlangt, dass glaubhaft erscheint, dass die Gefahr ernsthaft besteht. Eine Gefahr erscheint glaubhaft, wenn die Aussage nach objektiver Ansicht tatsächlich eine Gefahr hervorrufen kann. Der Begriff «ernsthaft» macht deutlich, dass es sich um eine konkrete Gefahr handeln muss, eine bloss entfernte oder abstrakte Gefahr soll für Zeugenschutzmassnahmen nicht genügen.

2.1.6

Verfahren (Art. 98c E-revMStP)

Zuständig für die Zusicherung der Anonymitätswahrung ist entweder der Untersuchungsrichter oder, wenn sich die Notwendigkeit von Zeugenschutzmassnahmen erst im späteren Verlauf des Verfahrens herausstellt, der Präsident des befassten Gerichts (Art. 98c Abs. 1 E-revMStP). In erster Linie wird Zusicherung der Anonymitätswahrung durch den Untersuchungsrichter abgegeben werden, weil er in der Regel als erster mit dem Zeugen Kontakt hat und dieser nicht wird aussagen wollen, bevor er die Zusicherung hat. Beim Schutz von Entlastungszeugen ist es hingegen denkbar, dass der Gerichtspräsident schon im Untersuchungsstadium für die Anordnung von Zeugenschutzmassnahmen zuständig ist, z.B. dann, wenn es sowohl gefährdete Belastungs- als auch gefährdete Entlastungszeugen gibt und eine Befassung des Untersuchungsrichters mit den Schutzmassnahmen beider Zeugengruppen zu Schwierigkeiten führen könnte.

Die Zusicherung der Anonymitätswahrung entfaltet sofortige Wirkung. Schutzmassnahmen können ­ z.B. hinsichtlich der Führung der Untersuchungsakten ­ unmittelbar getroffen werden. Sie gelten für sämtliche Verfahrensstufen und Verfahrensbeteiligte. Verbindlich bzw. unwiderruflich werden sie jedoch erst, wenn sie von der zuständigen Stelle, dem Präsidenten MKG, geprüft und genehmigt worden sind (Art. 98c Abs. 4 E-revMStP; vgl. dazu auch vorne Ziff. 1.6.2). Zu genehmigen ist die Zusicherung der Anonymitätswahrung als solche und nicht die Art der getroffenen Schutzmassnahmen und deren Umsetzung in die Praxis. Eine Einvernahme eines Zeugen, dem die Anonymitätswahrung zugesichert worden ist, darf durch das Gericht jedenfalls erst dann vorgenommen werden, wenn die Genehmigung vorliegt (Art. 98c Abs. 3 Satz 2 E-revMStP). Das erstinstanzliche Gericht hat mit der Zeugeneinvernahme mithin zuzuwarten, bis die Genehmigungsinstanz den Entscheid über die Anonymitätswahrung getroffen hat.

804

Die Stelle, welche die Zusicherung abgibt, muss innert 30 Tagen beim Präsidenten des Militärkassationsgerichts (MKG) bzw. bei seinem Stellvertreter (vgl. Ziff. 2.1.1) um die Genehmigung der Zusicherung ersuchen und ihm hierfür alle für die Beurteilung der Rechtmässigkeit erforderlichen Angaben vorlegen. Der Genehmigungsbehörde sollen die wesentlichen Informationen, die zur Erteilung der Zusicherung geführt haben, unterbreitet werden, nicht aber die vollständigen Akten, weil die Prüfung sonst viel zu umfangreich würde und zu lange dauern würde. Der Gefahr, dass zu wenig Informationen zur Verfügung gestellt werden, wird dadurch begegnet, dass der Präsident MKG bzw. sein Stellvertreter nötigenfalls die Erteilung zusätzlicher Auskünfte und die Vorlage weiterer Beweisstücke verlangen kann (Art. 98c Abs. 2 E-revMStP). Wird die erteilte Zusicherung nicht innert Frist zur Genehmigung vorgelegt, so sind die unter der Zusicherung erlangten Aussagen unverwertbar und müssen aus den Strafakten entfernt, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens separat unter Verschluss gehalten und danach vernichtet werden (Art. 98c Abs. 3 Satz 1 E-revMStP). Dabei bleibt es der zusichernden Stelle unbenommen, die Anonymität erneut zuzusichern, diese neue Zusicherung genehmigen zu lassen und die Einvernahmen zu wiederholen.

Bei seiner Prüfung der Rechtmässigkeit der Zusicherung nimmt der Präsident MKG bzw. sein Stellvertreter gemäss Artikel 98d Absatz 2 E-revMStP eine Abwägung der Interessen des Beschuldigten, derjenigen der Strafverfolgung und derjenigen des gefährdeten Zeugen vor. Genehmigt er die Zusicherung der Anonymitätswahrung, wird sie für sämtliche mit dem Fall betrauten Behörden verbindlich und kann nicht mehr aufgehoben werden (Art. 98c Abs. 4 E-revMStP)99. Verweigert er die Genehmigung, dürfen die unter der Zusicherung bereits erlangten Aussagen im Verfahren nicht verwendet werden. Vielmehr müssen die entsprechenden Protokolle und sämtliche daraus gezogenen Schlussfolgerungen aus den Strafakten entfernt, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens separat unter Verschluss gehalten und danach vernichtet werden (Artikel 98c Abs. 3 Satz 1 E-revMStP)100. Ist der Zeuge ohne Schutzmassnahmen nicht mehr zur Aussage bereit, muss der Verzicht auf das Beweismittel ­ also auf die Zeugenaussage ­ in Kauf genommen werden.
Für den Genehmigungsentscheid des Präsidenten MKG bzw. seines Stellvertreters wurde bewusst auf eine Entscheidungsfrist verzichtet. Er soll zwar so rasch wie möglich entscheiden, es darf jedoch nicht vorkommen, dass ein wichtiges komplexes Verfahren daran scheitert, dass es ihm nicht möglich war, die Zusicherung der Anonymitätswahrung innert Frist sorgfältig zu prüfen. Damit soll ein gewisser Qualitätsschutz des Genehmigungsentscheids erreicht werden.

Der Genehmigungsentscheid des Präsidenten MKG bzw. seines Stellvertreters ist endgültig. Eine einmal genehmigte Zusicherung ist für sämtliche mit dem Fall betrauten Behörden verbindlich und kann nicht mehr aufgehoben werden; sie ist in diesem Sinne unwiderruflich (Artikel 98c Absatz 4 E-revMStP)101. Massgebend für die Beurteilung der Gefährdung ist die Situation im Zeitpunkt der Zusicherung. Dass die Gefährdungslage ändern kann und z.B. im Zeitpunkt des Urteils nicht mehr besteht, darf nicht zu einer Aufhebung der Anonymität führen, ohne dass die betroffene Zeugin oder der betroffene Zeuge zustimmt. Auch eine auf illegale Weise erlangte Zusicherung ist verbindlich und unwiderruflich. Damit soll Rechtssicher99 100 101

So auch Art. 162 Abs. 4 VE-chStPO, vgl. Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 119.

So auch Art. 162 Abs. 3 VE-chStPO.

So auch Art. 162 Abs. 4 VE-chStPO.

805

heit geschaffen werden. Der Zeuge soll sich bei seinem Entscheid, im Verfahren auszusagen, auf den Bestand einer genehmigten Zusicherung verlassen können. Ist eine Zusicherung aber mit Mängeln behaftet, sei es, dass sie auf illegale Weise erlangt oder in Verkennung der Sachlage erteilt wurde, hat dies die Nichtverwertbarkeit der Aussagen zur Folge. Das zuständige Gericht kann eine Zusicherung der Anonymitätswahrung zwar nicht widerrufen. Im Rahmen des Beweisverfahrens kann es jedoch die Umstände der Zusicherungserteilung und ­genehmigung überprüfen und bei der Feststellung von Mängeln die Unverwertbarkeit der Aussage verfügen.

Schliesslich kann die geschützte Person in solchen Fällen freiwillig, im Sinne einer Ausnahme vom Grundsatz der Unwiderruflichkeit der Anonymitätszusicherung, auf die Anonymitätswahrung verzichten und wie ein «normaler» Zeuge vor Gericht aussagen. Denkbar ist auch, dass der geschützte Zeuge im Interesse der Strafverfolgung auf die Anonymitätswahrung verzichtet, wenn seine Aussage das einzige oder das ausschlaggebende Beweismittel ist und es nach Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR zu einem Freispruch kommen müsste, wenn er nicht unter voller Aufdeckung der Identität aussagt.

Nicht praktikabel erscheint es jedoch, die Zusicherung der Anonymitätswahrung für den Fall, dass sie sich als nicht oder nicht mehr nötig erweist oder missbräuchlich erlangt wurde, als widerruflich bzw. als abänderbar auszugestalten. Müssten Zeuginnen oder Zeuge damit rechnen, dass die Zusicherung ohne ihre Zustimmung im Laufe eines Verfahrens aufgehoben werden könnte, wäre wohl kaum jemand bereit, als Zeugin oder Zeuge vor Gericht auszusagen. Zudem fehlt es im schweizerischen Recht ­ im Gegensatz zu demjenigen der internationalen Strafgerichte ­ an Zeugenschutzprogrammen, mit denen die Sicherheit eines identifizierten Zeugen gewährleistet werden könnte102. Auch im Falle von eigentlich nicht oder nicht mehr benötigten Schutzmassnahmen oder einer missbräuchlich erlangten Zusicherung dürfen die Schutzmassnahmen bzw. darf die Zusicherung daher nicht aufgehoben werden, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass dadurch eine ernsthafte Gefahr für den Zeugen oder seine Angehörigen entstehen könnte. Bei einer missbräuchlich erlangten Zusicherung der Anonymitätswahrung wie auch bei nicht mehr nötigen
Schutzmassnahmen wird jedoch in ungerechtfertigter bzw. unverhältnismässiger Weise in die Verteidigungsrechte eingegriffen. Kommt das zuständige Gericht im Rahmen des Beweisverfahrens zu diesem Ergebnis, kann es zwar die Zusicherung der Anonymitätswahrung nicht widerrufen, muss aber feststellen, dass die betreffende Aussage nicht als Beweis verwertet werden darf und diese aus dem Recht weisen. Zudem ist ein Zeuge, der die anordnende Stelle in missbräuchlicher Weise zur Zusicherung der Anonymitätswahrung verleitet hat, gegebenenfalls wegen eines Rechtspflegedeliktes (Artikel 176­179a MStG) zur Rechenschaft zu ziehen.

Einmal genehmigte Schutzmassnahmen sind ­ wenn sie nicht schon im Gange sind ­ beförderlich umzusetzen. Es ist unzulässig, Schutzmassnahmen quasi «auf Vorrat» genehmigen zu lassen und erst Wochen oder gar Monate später zu verwirklichen103.

102 103

806

Vgl. Ziff. 1.4.1.2.

Vgl. Urteil des EGMR vom 14.2.2002 i.S. Visser c. Niederlande, Beschwerde Nr. 26668/ 95, § 47.

2.1.7

Massnahmen (Art. 98d E-revMStP)

In Absatz 1 werden diejenigen Massnahmen aufgeführt, welche getroffen werden können, um die Zusicherung der Anonymitätswahrung in die Tat umzusetzen. Bei den aufgeführten Massnahmen handelt es sich um Arten bzw. Kategorien von Massnahmen. Diese Arten der zulässigen Massnahmen werden abschliessend aufgezählt104; zu den in den Buchstaben a­g aufgeführten Arten von Zeugenschutzmassnahmen können durch die Praxis also keine neuen Massnahmekategorien hinzugefügt werden. Wegen des mit solchen Massnahmen verbundenen schweren Eingriffs in die Verteidigungsrechte soll es Sache des Gesetzgebers und nicht der Praxis sein, die zulässigen Massnahmekategorien festzulegen. Innerhalb einer der vorgesehenen Massnahmenarten, z.B. der «Veränderung von Aussehen und Stimme oder Abschirmung der einzuvernehmenden Person» gemäss Buchstabe d, sind hingegen verschiedene Möglichkeiten zulässig, wie die Massnahmenart in der Praxis umgesetzt werden kann. So kann die Abschirmung z.B. vorgenommen werden durch einen Wandschirm, der im Gerichtssaal den Zeugen von denjenigen Personen trennt, welche ihn nicht sehen sollen, oder durch eine Einvernahme des Zeugen in einem Nebenraum und Live-Übertragung von Bild und Ton in den Gerichtssaal, wobei dann durch technische Vorkehrungen Aussehen oder Stimme verändert werden können. Die verschiedenen in Absatz 1 aufgezählten Massnahmearten können auch miteinander kombiniert angeordnet werden. So wird zur Wahrung der Anonymität in der Regel das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung eingeschränkt werden müssen (Buchstabe f). Diese Massnahme allein wird zum Zeugenschutz im Allgemeinen nicht ausreichen, weshalb meistens noch die eine oder andere ergänzende Massnahme wie z.B. die Einvernahme der Person ohne Namensnennung gemäss Buchstabe c zu treffen ist. Festzuhalten ist zudem, dass zusätzlich zu den in Artikel 98d E-revMStP aufgeführten Massnahmen Zeugenschutz auch gestützt auf andere Bestimmungen des MStP, z.B. Ausschluss der Öffentlichkeit gemäss Artikel 48 MStP, möglich bleibt.

Buchstabe a erlaubt nötigenfalls die Einvernahme der zu schützenden Person in Abwesenheit der Parteien. Die Befragung kann z.B. in Abwesenheit der beschuldigten Person, aber unter Teilnahme des Verteidigers durchgeführt werden. Je nach den Umständen können aber ausnahmsweise sowohl die beschuldigte Person als auch ihre
Verteidigerin bzw. ihr Verteidiger von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Gegebenenfalls kann auch die Anklägerin bzw. der Ankläger von der Teilnahme an einer Einvernahme vor Gericht ausgeschlossen werden. Beim Ausschluss der Parteien von der Einvernahme ­ vor allem, wenn sowohl die beschuldigte Person als auch der Verteidiger ausgeschlossen werden ­ handelt es sich um eine besonders einschneidende Massnahme, weil dadurch die unmittelbare Wahrnehmung von Art und Weise der Aussage sowie von Reaktionen, Mimik und Körpersprache des Zeugen während seiner Aussage und damit ein wesentlicher Aspekt der Glaubwürdigkeitsbeurteilung verunmöglicht wird. Wie beispielsweise die Prozesse gegen die RAF-Terroristen in Deutschland gezeigt haben, ist es indessen nicht ausgeschlossen, dass sensitive Informationen über den Verteidiger zur Kenntnis von gefährlichen Personen gelangen können. Daher muss auch die Möglichkeit bestehen,

104

Vgl. aber Art. 161 Abs. 2 VE-chStPO sowie Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 118, wonach die aufgelisteten Schutzmassnahmen nicht als abschliessend zu verstehen sind.

807

in Ausnahmefällen den Verteidiger von der Teilnahme an einer Einvernahme vor Gericht ausschliessen zu können.

Buchstabe b ermöglicht es dem Gericht, die in jedem Fall notwendige Identifikation der einzuvernehmenden Person anhand ihrer Personalien in Abwesenheit der Parteien vorzunehmen, während die eigentliche Aussage im Beisein der Parteien erfolgt. So wurden beispielsweise im Fall F.N. die Zeugen vom Gerichtspräsidenten in einem Nebenraum identifiziert, worauf ihre Einvernahme im Gerichtssaal ohne Nennung von Personalien und identifizierenden Merkmalen stattgefunden hat.

Buchstabe c legt ausdrücklich fest, dass eine Einvernahme ohne Namensnennung stattfinden kann. Damit wird die Grundlage für eine Abweichung von der Pflicht zur Angabe der persönlichen Verhältnisse nach Artikel 80 MStP geschaffen. Diese Schutzmassnahme wird meistens in Kombination mit den Massnahmen nach den Buchstaben b und f getroffen. Zur Anonymisierung können Decknamen, Decknummern oder andere Methoden verwendet werden. Die Wahl des geeigneten Anonymisierungsmittels steht im Ermessen der zuständigen Behörde.

Buchstabe d stellt die Grundlage für die Möglichkeiten der optischen und akustischen Abschirmung durch technische und andere Vorkehrungen sowie für Veränderung von Aussehen und Stimme dar. Zu denken ist an die Unkenntlichmachung des Gesichts z.B. durch Schminke, Perücken, dunkle Brillen; eine Veränderung der Stimme kann z.B. durch vor dem Mund gehaltene Stofftücher oder mittels Tonverzerrungen bei einer Videoübertragung erfolgen105. In Anbetracht der Tatsache, dass es aus Sicht der Verteidigung wie auch im Interesse der Verfahrensfairness jedenfalls vorzuziehen ist, dass der Zeuge vor Gericht erscheint und ­ wenn auch abgeschirmt ­ im Beisein der Verteidigung live aussagt, anstatt in Abwesenheit der Verteidigung mündlich oder schriftlich Zeugnis abzulegen (Buchstaben a und e), kommt den Zeugenschutzmassnahmen nach Buchstabe d grosse Bedeutung zu106. Die Wahl der in einem konkreten Fall geeigneten Vorkehrungen steht im Ermessen der zuständigen Behörde.

Buchstabe e gestattet es ausnahmsweise, die vor dem Untersuchungsrichter gemachte Aussage in Form einer Protokollverlesung in die Gerichtsverhandlung einbringen zu können. Diese Massnahme stellt wie diejenige nach Buchstabe a eine besonders schwer wiegende Einschränkung
der Verteidigungsrechte dar, weil sie der Verteidigung die Möglichkeit nimmt, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen anhand seines Aussageverhaltens vor Gericht zu beurteilen und in Frage zu stellen107. Die Protokollverlesung soll nur in Frage kommen, wenn die Befragung in der Hauptverhandlung zu einer Aufhebung der zugesicherten Anonymität führen könnte.

Buchstabe f hält die Grundlage dafür fest, dass in Abweichung von Artikel 110 Absatz 3 MStP die Akteneinsicht der Verteidigung auch nach Abschluss der Voruntersuchung eingeschränkt werden und bleiben kann. Die Beschränkung der Akteneinsicht ist auf Grund von Buchstabe f jedoch nur zulässig hinsichtlich der Identität der geschützten Person und aller Informationen, welche ihre Identifizierung erlauben könnten. Buchstabe f erlaubt im Allgemeinen keine vollständige Sperrung der Akten oder bestimmter Aktenstücke. Vielmehr muss Einsicht in die eigentlichen 105 106 107

808

Vgl. BGE 125 I 149 f.

Vgl. BGE 125 I 127, 149 f., 156.

Vgl. BGE 125 I 127, 156.

Aussagen oder mindestens Teile davon gewährt werden, soweit dies ohne Nachteil für die Schutzmassnahmen möglich ist108. Ist dies nicht möglich, muss der Verteidigung ersatzweise immerhin der wesentliche Inhalt der Aussagen mitgeteilt werden.

Die auf Grund von Buchstabe f gesperrten Akten oder Aktenstücke werden in versiegelten Couverts aufbewahrt, nach jeder erlaubten Einsichtnahme wieder versiegelt und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens im versiegelten Couvert mit den Akten archiviert.

Buchstabe g erlaubt es, den an der Hauptverhandlung anwesenden Zeugen schriftlich anstatt mündlich zu befragen. Dabei können entweder nur die Antwort, nur die Frage oder auch Frage und Antwort schriftlich erfolgen. Diese Massnahme wird vor allem dann getroffen, wenn die einzuvernehmende Person in ihrer Sprechweise eine besondere Eigenart hat, z.B. einen Sprachfehler, welche die Identifizierung ermöglichen könnte und nicht anders verdeckt werden kann109 oder wenn der Inhalt der Frage die Identifizierung ermöglichen könnte.

Absatz 2 von Artikel 98d E-revMStP verlangt, dass eine Abwägung der verschiedenen involvierten Interessen des Beschuldigten, der Strafverfolgung und der zu schützenden Person vorgenommen wird, wenn die Schutzmassnahmen festgelegt werden110. Die angeordneten Massnahmen müssen verhältnismässig sein, d.h. sie müssen zum angestrebten Schutz geeignet sein, sie müssen in angemessenem Verhältnis zu der dadurch bewirkten Beschränkung der Verteidigungsrechte stehen und sie müssen das mildeste Mittel darstellen, um den angestrebten Schutz zu erreichen.

Der Umfang der Schutzmassnahmen muss ausserdem in personeller und zeitlicher Hinsicht geeignet und angemessen sein und entsprechend festgelegt werden. Je nach Art, Dauer, Intensität und Ausmass der Schutzmassnahmen wird stärker oder weniger stark in die Verteidigungsrechte eingegriffen. Grundsätzlich ist Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der einzuvernehmenden Person notwendig erscheint, ein wesentliches bzw. überwiegendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und die Unmöglichkeit der Strafverfolgung mangels Zeugenaussage nicht in Kauf genommen werden kann (vgl. Ziff.

2.1.6). Die Verteidigungsrechte ­ einschliesslich des in Artikel 29 Absatz 2 BV garantierten rechtlichen Gehörs ­
dürfen auf jeden Fall nur so weit beschränkt werden, als dies zum Schutz der Zeuginnen und Zeugen wirklich notwendig erscheint.

Die mit den jeweils angeordneten Schutzmassnahmen verbundene Beschränkung der Verteidigungsrechte muss durch ausgleichende Massnahmen kompensiert werden111. Damit die zuständige Behörde bei der Anordnung der Massnahmen diesen Anforderungen nachkommen kann, muss sie zunächst die Gefährdung feststellen bzw. einschätzen, die möglichen Schutzmassnahmen prüfen und dabei auch gleich berücksichtigen, welche Kompensationsmöglichkeiten bestehen. Können die Verteidigungsrechte nicht ausreichend ausgeglichen werden und bleibt nicht insgesamt ein faires Verfahren mit der Möglichkeit der wirksamen Verteidigung gewährleistet, muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR (vgl.

Ziff. 1.1.3.5) auf die Aussage der gefährdeten Person verzichtet werden112.

108 109 110 111 112

Vgl. BGE 125 I 127, 146, 156 f.

Vgl. BGE 125 I 127, 150.

Vgl. BGE 125 I 127, 155.

Vgl. BGE 125 I 127, 139 E. 6d/dd, 145 E. 8, 151 ff. E. 9, 156 ff. E. 10a.

Vgl. BGE 125 I 127, 157.

809

Die Schutzmassnahmen und die Wahrung der Verteidigungsrechte stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis113. Dabei kommt einer Zeugenaussage bei der Urteilsbegründung umso weniger Gewicht zu, je stärker die Verteidigungsrechte eingeschränkt worden sind. Es liegt daher im Interesse der Strafverfolgung, dass einem gefährdeten Zeugen nicht zu wenig Schutz zugesagt wird, weil er sonst trotz Schutzzusicherung nicht aussagt, dass ihm aber auch nicht zu viel Schutz gewährt wird, weil sonst die Verteidigungsrechte so stark beschnitten werden, dass sie nicht oder nur noch zu wenig ausgeglichen werden können, wodurch die anonyme Zeugenaussage an Beweiswert verliert. So erlaubt es beispielsweise die mündliche Einvernahme eines abgeschirmten Zeugen in der Hauptverhandlung den Parteien und dem Gericht wenigstens, die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen selbst zu beurteilen, weil sie sein Aussageverhalten, seine Reaktionen, seine Mimik, seine Körpersprache etc. unmittelbar wahrnehmen können. Das Verlesen protokollierter Aussagen aus der Untersuchung an Stelle der mündlichen Einvernahme vor Gericht verunmöglicht der Verteidigung dagegen die eigenständige Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage. Die Verteidigungsrechte werden erheblich eingeschränkt, und die Kompensation durch eine Glaubhaftigkeitsbeurteilung in Form der Befragung durch eine Drittperson ist nur eingeschränkt möglich. Noch schwieriger ist die Situation hinsichtlich der persönlichen Glaubwürdigkeit einer Zeugin oder eines Zeugen. Bei einem anonymen oder abgeschirmten Zeugen kann die persönliche Glaubwürdigkeit auch bei einer unmittelbaren Aussage vor Gericht von der Verteidigung selbst nicht überprüft werden. Für die Überprüfung der Glaubwürdigkeit bedürfte die Verteidigung der Angaben über die Person des Zeugen, seine allgemeine Persönlichkeit, seinen Werdegang, seine Familienverhältnisse, seine Lebensverhältnisse und seine privaten sowie beruflichen Beziehungen, also gerade diejenigen Angaben, die bei zu schützenden Personen geheim gehalten werden sollen. Die Verteidigung muss sich daher im Wesentlichen darauf beschränken, die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen zur Sache selber zu bestreiten. Dies stellt eine wesentliche Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte dar. Dem stehen Massnahmen gegenüber, die diese Schwierigkeiten wenigstens teilweise
ausgleichen. Im Vordergrund steht dabei, dass der vorsitzende Richter, dem volle Einsicht in die Akten einschliesslich der Identität des Zeugen sowie die persönliche und uneingeschränkte Einvernahme der Zeugin oder des Zeugen möglich ist, seine Kenntnisse, Erfahrungen und Beobachtungen aus der Einvernahme in einem schriftlichen Bericht festhält, welcher der Verteidigung eine ­ wenn auch lediglich indirekte ­ Beurteilung der Glaubwürdigkeit ermöglicht114.

Die im Rahmen der Ausgleichsmassnahmen gewonnenen Erkenntnisse bzw. Beweise erfordern jedenfalls eine besonders sorgfältige Würdigung durch das Gericht und eine Prüfung darauf hin, was im Einzelfall tatsächlich bezeugt ist und was subjektive Beurteilung ist115.

Nach Absatz 3 hat die für eine Einvernahme verantwortliche Person vor Beginn der Einvernahme einer zu schützenden Person sicherzustellen, dass einerseits die richtige Person einvernommen wird und sowohl eine Verwechslung von verschiedenen Zeugen als auch eine Vertauschung mit Drittpersonen ausgeschlossen ist116, und dass andererseits durch eine solche Prüfung der Identität die zugesicherte Anony-

113 114 115 116

810

Vgl. BGE 125 I 127, 155 ff. E. 10a, 157; sowie vorne Ziff. 1.1.3.5.

Vgl. BGE 125 I 127, 156 f.

Vgl. BGE 125 I 127, 157; Gnägi (Anm. 51), S. 153 ff.

So auch Art. 162 Abs. 5 VE-chStPO.

mität nicht gefährdet wird117. Am ICTR wird die Identität der einzuvernehmenden mit der tatsächlich einvernommenen Person dadurch sichergestellt, dass ihr bei der Zusicherung der Anonymitätswahrung eine Nummer, ein Pseudonym oder ein fiktives Kürzel zugewiesen wird, die bzw. das in einem geheimen Dokument zusammen mit den wahren Personalien festgehalten und vom Gerichtshof unter Verschluss aufbewahrt wird. Während sämtlichen Einvernahmen sowie in allen Protokollen und Aktenstücken wird die Person mit dieser Kennzeichnung benannt. Bei Bedarf, wie etwa zu Beginn der Einvernahme vor Gericht, kann die Person dann vor der Einvernahme vom Gerichtspräsidenten unter Ausschluss der Parteien und der Öffentlichkeit anhand der Kennzeichnung und des geheimen Dokuments identifiziert werden.

Der Gerichtspräsident kann sich die Identität aber auch durch den das Vorverfahren führenden Untersuchungsrichter oder den Präsidenten einer allfälligen Vorinstanz bestätigen lassen118.

Absatz 4 bildet die Grundlage für Unterstützungs- und Schutzmassnahmen, welche die Parteirechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, nicht beschränken. Die umfassende Betreuung und Beratung, wie sie z.B. bei Zeugen aus Rwanda wegen des Kulturunterschiedes notwendig ist, tangiert die Verteidigungsrechte grundsätzlich nicht und soll gestützt auf Absatz 4 von Artikel 98d E-revMStP möglich sein.

Auch weitere ausserprozessuale Schutzmassnahmen, welche weder die Verteidigungsrechte noch die Interessen der Strafverfolgung berühren, können auf diese Bestimmung abgestützt werden. Solche neutralen Schutzmassnahmen sollen vor, während und nach dem Verfahren durch die zuständige Stelle ­ was v.a. bei Betreuungs- und Beratungsmassnahmen auch eine Verwaltungsbehörde sein kann ­ angeordnet werden können. Nicht zu diesen neutralen Unterstützungs- und Schutzmassnahmen gehört jedoch die Gewährung eines anwaltlichen Zeugenbeistands, weil mit der Einführung eines Zeugenbeistands in das Verhältnis zwischen den Prozessbeteiligten eingegriffen wird. Im Gegensatz zu Artikel 161 Absatz 3 VE-chStPO soll bewusst auf die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für einen Zeugenbeistand verzichtet werden, weil die Zeugen im schweizerischen Justizsystem diesbezüglich genügend Unterstützung von den Behörden erfahren.

2.2

Änderung des Militärstrafgesetzes

2.2.1

Ausgangslage

Als die Schweiz 1967 das Militärstrafgesetzbuch revidierte und die neuen Bestimmungen über die Bestrafung von Verletzungen des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte einführte, geschah dies hauptsächlich, um ihren mit der Unterzeichnung der Genfer Abkommen übernommenen völkerrechtlichen Strafverfolgungspflichten nachzukommen (vgl. Ziffer 1.1.4). Diese Abkommen verpflichten die Vertragsparteien dazu, Personen, die einer Abkommensverletzung beschuldigt sind ­ mithin mutmassliche Kriegsverbrecher ­, zu ermitteln und ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit entweder vor Gericht zu stellen oder an eine an der Verfolgung interessierte Vertragspartei auszuliefern119. Aus dieser Formulierung der Pflicht der

117 118 119

Vgl. BGE 125 I 127, 153 E. 9c.

Vgl. dazu auch Begleitbericht VE-chStPO (Anm. 63), S. 119 f.

Vgl. z.B. Art. 50 Abs. 2 VKS (Anm. 20); Art. 129 Abs. 2 KGA (Anm. 20).

811

Vertragsparteien wird nicht klar, ob damit das Weltrechts- bzw. Universalitätsprinzip oder das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege gelten soll120. Der Sinn sowohl des Weltrechtsprinzips als auch des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege besteht darin, dass durch eine besondere Anknüpfung der Zuständigkeit vermieden werden soll, dass sich Täter von Delikten, welche wie etwa Völkermord, Kriegsverbrechen, Frauen-, Kinder- und Sklavenhandel, Flugzeugentführungen, Piraterie und bestimmte Formen von terroristischen Gewalttaten von der internationalen Rechtsgemeinschaft als besonders schwer wiegend anerkannt sind, durch Flucht vom Tatort in ein anderes Land der Strafverfolgung entziehen können121.

Nach dem reinen Weltrechtsprinzip verpflichten sich alle Staaten gegenseitig, Täter von Delikten, welche von der internationalen Rechtsgemeinschaft als besonders schwer wiegend anerkannt sind, unabhängig von dem Begehungsort, von ihrer Nationalität und der Nationalität des Opfers nach den eigenen Gesetzen zu verfolgen und zu bestrafen122. Das reine Weltrechtsprinzip ist völlig unabhängig von der Frage, ob eine Auslieferung möglich ist oder nicht123. Für die stellvertretende Strafrechtspflege ist es dagegen kennzeichnend, dass die Verpflichtung zur Strafverfolgung bloss subsidiär ist, die Übernahme der Strafverfolgung also möglich ist, wenn und weil eine Auslieferung unannehmbar ist124. Hintergrund dieser Regelung ist, dass die Anknüpfung der Gerichtsbarkeit nach dem Territorialitätsprinzip ­ d.h. die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden am Begehungsort ­ international als die primäre Regel zur Abgrenzung der staatlichen Strafgewalt gilt125. Der Tatortstaat beansprucht somit regelmässig die primäre Zuständigkeit zur Verfolgung von auf seinem Staatsgebiet begangenen Straftaten. Nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege soll nur dann eine Zuständigkeit eines Nicht-Tatortstaates ­ in der Regel ist es der Aufenthaltsstaat ­ bestehen, wenn der Tatortstaat nicht in der Lage oder nicht willens ist, die von der internationalen Rechtsgemeinschaft erwartete Strafverfolgung durchzuführen. Gleiches gilt auch, wenn das Recht des Aufenthaltsstaats einer Auslieferung an den Tatortstaat entgegensteht, weil die Möglichkeit besteht, dass der Täter im Tatortstaat hingerichtet oder durch die Strafverfolgung in seiner körperlichen Integrität beeinträchtigt wird126, eine Auslieferung für den

120

121

122

123 124 125 126

812

Vgl. etwa Dietrich Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., Köln 1983, S. 521; Kathrin Bremer, Nationale Strafverfolgung internationaler Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht, Frankfurt 1999, S. 123 ff.; Marc Henzelin, Le principe de l'universalité en droit pénal international, Basel 2000, S. 351 ff.

Vgl. z.B. Michael Herdegen, Völkerrecht, München 2000, § 26 Rdn. 13; Stefan Trechsel/Peter Noll, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., Zürich 1998, § 14 B.6., S. 61 f.; José Hurtado Pozo, Droit pénal, partie générale I, 2. Aufl., Zürich 1997, N. 443.

Die beiden Begriffe «Weltrechtsprinzip» und «stellvertretende Strafrechtspflege» werden oftmals nicht genau unterschieden; mitunter wird mit «Weltrechtsprinzip» auch eine Regelung bezeichnet, welche eigentlich eine «stellvertretende Strafrechtspflege» statuiert, so Jörg Rehberg/Andreas Donatsch, Strafrecht I, 7. Aufl., Zürich 2001, S. 40; Hurtado Pozo (a.a.O.), N. 446 f.

Vgl. dazu etwa Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 47 f.; Oehler (Anm. 120), S. 497 ff.

und 519 ff.; BGE 116 IV 247 = Pra 1992 Nr. 67 S. 249 E. 3; Bremer (Anm. 120), S. 123 ff., 132 ff. und 258 ff.; Henzelin (Anm. 120), S. 29; Hurtado Pozo (Anm. 121), N. 443 f.; Franz Riklin, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Zürich 1997, § 8 N 34.

BGE 116 IV 247 = Pra 1992 Nr. 67 S. 249 E. 3.

BGE 116 IV 247 = Pra 1992 Nr. 67 S. 249 E. 3; vgl. Hurtado Pozo (Anm. 121), N. 445.

BGE 108 IV 145, 146 E. 3; Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 49.

BGE 113 Ib 183, 185 E. 3; Hauser/Schweri (Anm. 40), § 21.14; vgl. 3.2.

ersuchten Staat also unannehmbar ist. Beim Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege handelt es sich mithin um eine Art «subsidiäres Weltrechtsprinzip»127.

Da die Genfer Abkommen die Möglichkeit einer Auslieferung an Stelle der eigenen Beurteilung vorsehen, hat der Bundesrat die mit diesen Abkommen übernommenen Strafverfolgungspflichten von Anfang an als die Pflicht zur Beurteilung oder Auslieferung des mutmasslichen Täters (aut iudicare aut dedere), also als Pflicht im Sinne der stellvertretenden Strafrechtspflege bzw. des subsidiären Weltrechtsprinzips aufgefasst128. Ausserdem gingen und gehen Bundesrat, Bundesgericht und Lehre ständig davon aus, dass die Pflicht, ausländische Personen, welche sich im Ausland schweren Verletzungen der Genfer Abkommen, des Haager Übereinkommens, anderer von der Schweiz abgeschlossener internationaler Abkommen oder auch des Völkergewohnheitsrechts schuldig gemacht haben, stets voraussetzt, dass sich die beschuldigte Person freiwillig in der Schweiz befindet und in der Schweiz ergriffen oder an die Schweiz ausgeliefert wird129 (eine Art Weltrechts«ergreifungs»prinzip130). Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dieses Inhalts schien jedoch entbehrlich. Dies umso mehr, als die Militärstrafgerichtsbarkeit primär an das Personalitätsprinzip anknüpft und sich bei der Beanspruchung der Zuständigkeit für eine solche Auslandstat nach dem Personalitätsprinzip eine Beurteilung im Abwesenheits- bzw. Kontumazialverfahren grundsätzlich verbietet131.

Im Jahre 1975 wurde das Weltrechtsprinzip, wenn auch in der subsidiären Form der stellvertretenden Strafrechtspflege, erstmals gesetzlich verankert132: Nach Artikel 19 Ziffer 4 BetmG133 ist der Täter bestimmter Betäubungsmitteldelikte auch strafbar, wenn er die Tat im Ausland begangen hat, in der Schweiz angehalten und nicht ausgeliefert wird und wenn die Tat auch am Begehungsort strafbar ist. Als 1981 Artikel 185 StGB als besondere Bestimmung zur Bestrafung von Geiselnahmen eingeführt wurde, sprach sich die Schweiz in Ziffer 5 ausdrücklich die Strafkompetenz über in der Schweiz verhaftete und nicht ausgelieferte Täter einer Auslandstat zu134.

Anlässlich des Beitritts der Schweiz zum Europäischen Übereinkommen zur Terro127 128 129

130 131 132 133 134

Vgl. etwa Henzelin (Anm. 120), S. 29; Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl. Bern 1995, § 5 N 21.

Vgl. BBl 1967 I 586 ff., 589; Bremer (Anm. 120), S. 268 ff.; Hurtado Pozo (Anm. 121), N. 443 ff.

Vgl. BBl 1967 I 586 ff., 589; BGE 116 IV 247 = Pra 1992 Nr. 67 S. 249 E. 3; BBl 1995 IV 1114 ff. und Art. 10 ff. BB Kriegsverbrechertribunale (Anm. 24); BGE 123 II 176 ff.; Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 47; Hurtado Pozo (Anm. 121), N. 443; Stratenwerth (Anm. 127), § 5 N 20; Wehrenberg (Anm. 6), S. 3 f.; Andreas R. Ziegler, Die Kooperation der Schweiz mit den internationalen Strafgerichten der UNO, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1997, S. 382­408, 386; Bremer (Anm. 120), S. 268 ff.

Die Voraussetzung, dass der mutmassliche Täter in der Schweiz ergriffen wird, wird zwar nicht immer ausdrücklich festgehalten. Indessen setzt die Möglichkeit einer Auslieferung begriffsimmanent voraus, dass der Täter dem auslieferungswilligen Staat zur Verfügung steht.

Vgl. etwa Henzelin (Anm. 120), S. 29.

BGE 108 IV 145, 146 f. E. 3; Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 46.

Vgl. Riklin (Anm. 122), § 8 N 34; Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 47 f.; Hurtado Pozo (Anm. 121), N. 447.

Bundesgesetz vom 3.10.1951 über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz; BetmG; SR 812.121).

Vgl. Botschaft vom 10.12.1979 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Gewaltverbrechen), BBl 1980 I 1241, 1262; Stratenwerth (Anm. 127), § 5 N 63.

813

rismusbekämpfung135 schuf der Gesetzgeber 1982 ­ nach dem Vorbild der Spezialbestimmungen in den Artikeln 240 Absatz 3 und 245 Ziffer 1 Absatz 4 StGB ­ den Artikel 6bis StGB als allgemeine gesetzliche Grundlage für die auf einem internationalen Abkommen beruhende Verfolgung von Auslandstaten im Aufenthaltsstaat bei beidseitiger Strafbarkeit und unter der Voraussetzung der Unzulässigkeit oder Unmöglichkeit einer Auslieferung136. Charakteristisch für die schweizerische Gesetzgebung ist, dass das Weltrechtsprinzip nie in seiner reinen Form, sondern immer nur subsidiär vorgesehen ist, d.h. für den Fall, dass keine Auslieferung möglich und zulässig ist. So wurde das Weltrechtsprinzip schliesslich in der mittlerweile üblichen Form der stellvertretenden Strafrechtspflege, also subsidiär zu einer allfälligen zulässigen Auslieferung und mit der Voraussetzung der Anwesenheit des Täters in der Schweiz, bei der Einführung der Strafnorm über den Völkermord im Jahre 2000 auch in Artikel 264 Absatz 2 Satz 1 StGB ausdrücklich verankert. Im MStG wurden das Weltrechtsprinzip resp. das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege und die Voraussetzung der Ergreifung des Täters in der Schweiz für die Verfolgung von Verletzungen des Völkerrechts in bewaffneten Konflikten dagegen nie ausdrücklich verankert.

Ähnlich präsentiert sich die belgische Gesetzgebung: Das belgische Gesetz von 1993 und 1999 zur Ahndung von Verstössen gegen die Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle sowie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Völkermord statuiert das Weltrechtsprinzip, nicht aber die Voraussetzung der Ergreifung des Täters in Belgien137. Daraus wurde abgeleitet, dass die belgische Justiz auch für die Beurteilung dieser Verbrechen zuständig sei, wenn sich der Beschuldigte nicht in Belgien befindet. Daraufhin wurden in Belgien Klagen gegen ausländische Politiker und Machthaber eingereicht, z.B. gegen den israelischen Regierungschef Ariel Sharon, den Palästinenserpräsidenten Yassir Arafat oder den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Zwar trat ein belgisches Gericht in einer umstrittenen Entscheidung im Juni 2002 mangels Anwesenheit des Beschuldigten in Belgien nicht auf die Klage gegen Ariel Sharon ein. Endgültig geklärt ist die Frage einer weltweiten Zuständigkeit der belgischen Gerichte damit aber
noch nicht138.

Vor dem Hintergrund, dass das Weltrechtsprinzip resp. das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege einerseits im StGB in verschiedenen Bestimmungen verankert, in Form der stellvertretenden Strafrechtspflege in Artikel 6bis StGB ausdrücklich vorgesehen, im MStG dagegen nicht festgehalten ist und andererseits die Formulierung des belgischen Gesetzes schwierige Zuständigkeitsfragen aufgeworfen hat, drängt es sich auf, im MStG Klarheit über die Zuständigkeit der schweizerischen Militärjustiz bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern zu schaffen. Daher sollen das ­ bisher stillschweigend vorausgesetzte ­ Prinzip, wonach ausländische 135

Europäisches Übereinkommen vom 27.1.1977 zur Bekämpfung des Terrorismus (SR 0.353.3).

Vgl. Botschaft vom 24.3.1982 über das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus und eine Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, BBl 1982 II 1, 3 ff.; Rehberg/Donatsch (Anm. 121), S. 48.

137 Loi du 16.6.1993 relative à la répression des violations graves de droit international humanitaire (avec les amendements de la loi du 10.2.1999), Art. 7, http://www.worldpolicy.org/americas/treaties/Belgique-loi.html.

138 Vgl. NZZ Nr. 131 vom 9.6.2001, S. 5; Eugenio José Guilherme de Aragao, Grenzen des Weltrechtsgrundsatzes: Der Haftbefehl-Fall des IGH, Humanitäres Völkerrecht 2002, S. 77­88, 77 und 87 f.; sowie NZZ vom 27.6.2002, S. 5;.

136

814

Personen in der Schweiz für bestimmte Auslandstaten zur Rechenschaft gezogen werden, und das Erfordernis, dass der Täter in der Schweiz ergriffen wird, ausdrücklich im MStG verankert werden. Ohne diese Präzisierung könnte beim Studium des blossen Gesetzestextes der falsche Eindruck entstehen, dass im Militärstrafrecht das reine Weltrechtsprinzip Geltung habe und die Militärjustiz demnach auch Verfahren gegen nicht-schweizerische Personen durchführen müsste, die im Ausland begangener Verletzungen gegen das Völkerrecht in bewaffneten Konflikten verdächtigt werden und sich nicht in der Schweiz befinden. Die ausdrückliche Verankerung der geltenden Rechtslage im MStG ist umso wichtiger, als im Rahmen der derzeit hängigen Revision des Allgemeinen Teils des StGB und des MStG Artikel 6bis StGB zwar als Artikel 6 ins revidierte StGB überführt werden soll, während eine entsprechende Bestimmung im revidierten MStG nicht vorgesehen ist139. Entsprechend ist bei Annahme des neuen Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG dafür zu sorgen, dass diese Bestimmung unverändert als Artikel 10 Absatz 1bis in den neuen Allgemeinen Teil MStG übernommen wird.

2.2.2

Zur Bestimmung von Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG

2.2.2.1

Übersicht

Vom vorgeschlagenen neuen Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG werden nur Personen erfasst, die nicht Schweizer oder Schweizerinnen sind und im Ausland eine Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte im Sinne der Artikel 108­114 MStG begehen. Diese Personen sollen dann von schweizerischen Gerichten beurteilt werden, wenn sie sich in der Schweiz befinden und nicht ausgeliefert bzw. überstellt werden können. Dagegen sollen Personen, die nicht Schweizer oder Schweizerinnen sind und in der Schweiz eine Verletzung von Artikel 108­114 MStG begehen, weiterhin gestützt auf Artikel 9 Absatz 1 MStG zur Rechenschaft gezogen werden.

Ebenso sollen Schweizer und Schweizerinnen, die dem MStG unterstehen, für in der Schweiz und im Ausland begangene Straftaten gegen das MStG weiterhin unter Artikel 9 Absatz 1 MStG fallen und unabhängig von ihrem Aufenthaltsort vor schweizerische Gerichte gezogen werden können. Der Unterschied zwischen den beiden Anknüpfungen liegt darin, dass die Schweiz bei Schweizerinnen und Schweizern, welche eine nach MStG strafbare Tat im In- oder im Ausland sowie bei Ausländern, welche eine nach MStG strafbare Tat in der Schweiz begangen haben, auf Grund des aktiven Personalitätsprinzips des MStG in jedem Fall die primäre Zuständigkeit beansprucht und den Aufenthalts- oder Festnahmestaat grundsätzlich um eine Auslieferung in die Schweiz ersucht. Bei Personen, die nicht Schweizer oder Schweizerinnen sind, für eine im Ausland begangene Straftat nach dem MStG beurteilt werden könnten und sich im Ausland aufhalten, wird dagegen nie eine Auslieferung in die Schweiz beantragt werden. Für sie ist die Schweiz nur subsidiär zuständig, nämlich dann, wenn sie sich in der Schweiz befinden und nicht an einen

139

Vgl. Botschaft vom 21.9.1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht (Botschaft StGB AT), BBl 1999 1979, 2300 und 2369 f.

815

an der Strafverfolgung interessierten Staat ausgeliefert oder an ein zuständiges internationales Strafgericht überstellt werden können.

2.2.2.2

Erläuterungen

Mit dem Verweis auf Artikel 2 Ziffer 9 MStG wird klargestellt, dass in persönlicher Hinsicht nur solche Personen von Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG erfasst werden, welche dem MStG unterstehen. Unter Zivilpersonen sind dabei schweizerische und ausländische Zivilpersonen sowie ausländische Militärpersonen zu verstehen140. Die zusätzliche Einschränkung, die in Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG statuiert wird, in dem diese Bestimmung ausdrücklich nur für Personen gilt, die nicht Schweizer oder Schweizerinnen sind, bezweckt sicherzustellen, dass die Rechtslage für Schweizer und Schweizerinnen unverändert bleibt, während das schon bisher (stillschweigend) für Nicht-Schweizer und Nicht-Schweizerinnen geltende Erforderis der Anwesenheit in der Schweiz ausdrücklich verankert wird.

In sachlicher Hinsicht fallen diese Personen unter das MStG, wenn sie eine Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte im Sinne von Artikel 108­114 MStG begehen, was durch den ausdrücklichen Verweis in Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG klargestellt wird. Die Bestimmungen von Artikel 108­114 MStG verankern insbesondere die Strafbarkeit von Verletzungen internationaler Abkommen über die Kriegsführung sowie über den Schutz von Personen und Gütern, denen die Schweiz als Vertragspartei beigetreten ist, wie beispielsweise die Genfer und das Haager Abkommen141.

In räumlicher Hinsicht sollen nicht-schweizerische Personen nur dann für im Ausland begangene Taten gegen Artikel 108­114 MStG von Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG erfasst werden, wenn sie sich in der Schweiz aufhalten und nicht ans Ausland ausgeliefert oder an ein internationales Strafgericht überstellt werden können. Soll einer Person, welche nicht Schweizer oder Schweizerin ist, wegen einer im Ausland begangenen Tat gegen das Völkerrecht im Falle bewaffneter Konflikte in der Schweiz der Prozess gemacht werden, ist deren Anwesenheit in der Schweiz unabdingbare Voraussetzung. Dieses Erfordernis des Aufenthalts von mutmasslichen Tätern von Auslandstaten in der Schweiz besteht nach ständiger Meinung von Gesetzgebung, Lehre und Rechtsprechung schon seit die Schweiz die Zuständigkeit für solche Fälle beansprucht. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die betreffende Person freiwillig in der Schweiz aufhält und hier ergriffen wird oder dass sie an die Schweiz ausgeliefert wird. Auslandstaten von Schweizerinnen und Schweizern 140

Auch wenn Art. 2 Ziff. 9 MStG ausdrücklich von «Zivilpersonen» spricht, ist entsprechend den Formulierungen in den GAbk. (vgl. Anm. 20) und in der Botschaft zur MStG-Revision von 1967 («Personen», vgl. BBl 1967 I 589) davon auszugehen, dass das MStG auf Kriegsverbrechen von schweizerischen und ausländischen Zivil- und Militärpersonen anzuwenden ist. So auch Dietrich Schindler, Fremde Kriegsverbrecher vor Schweizer Militärgerichten?, NZZ vom 14.4.1994, 24; Ziegler (Anm. 129), 386. Im Rahmen der Revision des Allgemeinen Teils des MStG soll eine textliche Präzisierung erfolgen (vgl. Botschaft StGB AT (Anm. 139), BBl 1999 1997, 2202 und 2367).

141 Vgl. Kurt Hauri, Militärstrafgesetz (MStG), Kommentar, Bern 1983, Vorbem.

zu Art. 108­114 MStG sowie Art. 108 ff.; Peter Popp, Kommentar zum Militärstrafgesetz, Besonderer Teil, St. Gallen 1992, vor Art. 118 MStG sowie Art. 108 ff.

816

sowie sämtliche Inlandtaten gegen Artikel 108­114 MStG fallen nach wie vor unter Artikel 9 Absatz 1 MStG.

Die Beurteilung von nicht-schweizerischen Personen durch schweizerische Militärgerichte soll gestützt auf Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG nur dann erfolgen, wenn eine Auslieferung nicht erfolgt, weil sie nicht verlangt wurde, nicht möglich oder nicht zulässig ist. Die Gründe zur Ablehnung einer verlangten Auslieferung sowie die Bedigungen der Schweiz an den ersuchenden Staat sind insbesondere in den Artikeln 32, 37 und 38 IRSG142 aufgeführt und gelten gemäss Artikel 1 IRSG auch für Auslieferungsfälle nach MStG. Grundsätzlich werden nur Nicht-Schweizerinnen und Nicht-Schweizer ausgeliefert. Eine Auslieferung wird aber namentlich dann abgelehnt, wenn Gründe für die Annahme vorliegen, dass im Ausland kein faires Verfahren im Sinne der Verfahrensgrundsätze der EMRK und des IPbpR143 gewährleistet ist (Artikel 2 Buchstabe a IRSG)144, wenn der ersuchende Staat keine Gewähr dafür bietet, dass die verfolgte Person im ersuchenden Staat nicht zum Tode verurteilt oder dass eine bereits verhängte Todesstrafe nicht vollstreckt wird, sowie dann, wenn nicht sichergestellt ist, dass die verfolgte Person im ersuchenden Staat keiner Behandlung unterworfen wird, die ihre körperliche Integrität beeinträchtigt (Artikel 37 Absatz 2 IRSG). Für eine Überstellung an ein internationales Strafgericht ist lediglich vorausgesetzt, dass ein entsprechendes Überstellungsersuchen vorliegt und dass das Gericht von der Schweiz anerkannt ist. Ein Gericht, welches nicht grundsätzlich Gewähr für ein faires Verfahren sowie dafür bieten würde, dass die Bedingungen für eine Auslieferung erfüllt sind und keine Ablehnungsgründe vorliegen, wird bzw. würde von der Schweiz nicht anerkannt. Ob das Gericht wie das Internationale Strafgericht oder die Internationalen Strafgerichte für Ex-Jugoslawien und Rwanda durch ein Bundesgesetz145 oder einen Bundesbeschluss146 oder erst im konkreten Fall offiziell anerkannt wird, spielt keine Rolle.

Das in Artikel 9 Absatz 2 MStG statuierte Anrechnungsprinzip wird auch auf Fälle nach dem vorgeschlagenen neuen Artikel 9 Absatz 1bis MStG Anwendung finden.

2.2.3

Verhältnis zur Totalrevison des Allgemeinen Teils des MStG

Bei der Totalrevision des Allgemeinen Teils des MStG wurde es leider versäumt, das Erfordernis, dass der Täter einer im Ausland begangenen Verletzung des Völkerrechts im Falle bewaffneter Konflikte in der Schweiz ergriffen sein muss147, damit die schweizerische Militärjustiz ein Verfahren durchführen kann, im Gesetz ausdrücklich festzuhalten. Diese Lücke soll durch die vorliegende Revision 142

143

144 145 146 147

Bundesgesetz vom 20.3.1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz; IRSG; SR 351.1). Vgl. dazu auch Hauser/Schweri (Anm. 40), § 21.13 f.

Europäische Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101); Internationaler Pakt vom 16.12.1966 über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2).

Vgl. BGE 123 II 175, 185 E. 7.

Vgl. Bundesgesetz vom 22.6.2001 über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ZISG; SR 351.6).

Vgl. BB Kriegsverbrechertribunale (Anm. 24).

Vgl. Botschaft StGB AT (Anm. 139), BBl 1999 1997, 2202 f. und 2369 f.

817

geschlossen werden. Wird nun der neue Allgemeine Teil des MStG nach der vorliegenden Revision in Kaft gesetzt, würde der hier vorgeschlagene Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG wieder aufgehoben, wenn nicht seine Übernahme ausdrücklich vorgesehen wird. Somit ist der hier vorgeschlagene Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG unverändert als Artikel 10 Absatz 1bis MStG in den kommenden neuen Allgemeinen Teil des MStG zu übertragen.

3

Auswirkungen

3.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die finanziellen und personellen Auswirkungen dieser Vorlage auf den Bund dürften relativ gering bleiben und mit grosser Wahrscheinlichkeit im Rahmen der verfügbaren Mittel aufgefangen werden können, zumindest solange die Militärjustiz für solche Verfahren zuständig ist und diese im Rahmen besoldeter Diensttage erledigen kann. Für Kantone und Gemeinden sollten keine Mehrkosten und kein personeller Mehraufwand entstehen.

Wie der Fall des Rwanders F.N. zeigt (vgl. Ziff. 1.3.1), können Zeugenschutzmassnahmen in Kriegsverbrecherprozessen mit hohen Kosten verbunden sein, wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt. Seit der Annahme des Bundesbeschlusses über die Zusammenarbeit der Schweiz mit den Kriegsverbrechertribunalen (vgl. Anm. 24) wie überhaupt seit der Übernahme der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Verfolgung und Beurteilung von Kriegsverbrechern (vgl. Ziff. 1.1.4), ist es bei diesem einen Fall geblieben. Tatsächlich ins Gewicht fallende finanzielle und personelle Auswirkungen ergeben sich aus dieser Vorlage erst dann, wenn Gerichtsverhandlungen über Kriegsverbrechen in der Schweiz bedeutend zunehmen würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Schweiz zu einer hohen Zahl von Gerichtsverhandlungen über Kriegsverbrechen kommen wird, ist jedoch sehr gering und wird mit der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs weiter abnehmen.

3.2

Internationale Anerkennung der Schweiz

Die Militärjustiz hat die bisherigen schweizerischen Untersuchungs- und Gerichtsverfahren gegen Kriegsverbrecher in vorbildlicher Weise, mit enormem Einsatz und grosser Sachkenntnis durchgeführt; insbesondere dem Prozess gegen den Rwander F.N. wurde hohe internationale Aufmerksamkeit zuteil148. Für die äusserst speditive und kompetente Durchführung des Verfahrens F.N. wurde der Schweiz grosse internationale Anerkernnung ausgesprochen149.

Es gilt diese hohe internationale Anerkennung und Wertschätzung, welche die Schweiz als Rechtsstaat mit kompetenter und effizienter Justiz, als Land der Guten Dienste, als Depositärstaat der Genfer Abkommen und Sitz des IKRK sowie als 148

So Dick Marty für die Kommission bei der Beratung von Art. 264 StGB über die Strafbarkeit von Völkermord, AB S Frühjahrssession 2000, http://www.parlament.ch/ab/data/d/s/4602/8713/d_s_4602_8713_8722.htm.

149 Zuletzt Luc Reydams, Niyonteze v. Public Prosecutor, American Journal of International Law 2002, S. 231­236.

818

Gründungsmitglied des Internationalen Strafgerichtshof geniesst, aufrecht zu erhalten. Dazu muss sichergestellt werden, dass die Schweiz ihren völkerrechtlichen (Strafverfolgungs-) Pflichten weiterhin nachkommen und allfällige Kriegsverbrecherverfahren auch in Zukunft vorbildlich durchführen kann.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Legislaturplanung 1999­2003 nicht angekündigt. Das tatsächliche Ausmass der Regelungslücke im MStP und die adäquaten neuen Regeln haben sich erst im Rahmen eines Kriegsverbrecherverfahrens im April 1999 gezeigt.

Das daraufhin eingeleitete Revisionsvorhaben kann nicht aufgeschoben werden, da weitere Strafuntersuchungen gegen mutmassliche Kriegsverbrecher bei der Militärjustiz pendent sind. Bei einem solchen Verfahren ist es jederzeit möglich, dass Zeugenschutzmassnahmen notwendig werden, auch wenn das Verfahren schliesslich mit den Untersuchungsakten und dem mutmasslichen Täter an ein internationales Gericht übergeben werden kann, wie dies zuletzt im September 2001 im Fall eines ehemaligen rwandischen Seelsorgers geschehen ist150.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 60 Absatz 1 Bundesverfassung ist die Militärgesetzgebung Sache des Bundes. Zur Militärgesetzgebung gehören auch Erlass und Änderung der Gesetzgebung über den Militärstrafprozess.

Auch inhaltlich ist die vorgeschlagene Regelung verfassungskonform, geht es dabei doch gerade darum, die teilweise gegenläufigen Schutzrechte der Verfahrensbeteiligten, die Verteidigungsrechte sowie die Interessen des Staates an der Wahrheitsfindung und einer wirksamen Strafverfolgung so weit wie möglich gleichzeitig und in grösstmöglicher wechselseitiger Berücksichtigung verfassungskonform umzusetzen (vgl. Ziff. 1.1.3 und 1.6.1).

5.2

Erlassform

Da Zeugenschutzmassnahmen in die als Grundrechte geschützten Verteidigungsrechte eingreifen können, bedarf es laut Artikel 36 Absatz 1 Bundesverfassung einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage im formellen Sinn. Die vorliegend vorgeschlagenen Änderungen müssen mithin in einem Bundesgesetz verankert werden.

150

Vgl. Markus Felber, Rukundo wird ausgeliefert, in: Jusletter vom 17.9.2001, http://www.weblaw.ch/jusletter/Artikel.jsp?ArticleNr=1304 mit Hinweis auf den unpublizierten BGE vom 3.9.2001 (Urteil 1A.129/2001).

819

Inhaltsverzeichnis Übersicht

768

1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Gefahr für die Zeugen und Bedeutung des Zeugenbeweises 1.1.2 Regelungslücken im Bereich Zeugenschutz 1.1.3 Zeugenschutz: Interessen und Spannungsfeld 1.1.3.1 Notwendigkeit des Zeugenschutzes 1.1.3.2 Schutzinteressen und Schutzpflichten 1.1.3.3 Zeugenschutzmassnahmen 1.1.3.4 Verteidigungsrechte 1.1.3.5 Spannungsfeld der Interessen und Notwendigkeit des Interessensausgleichs 1.1.4 Völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Völkermord 1.2 Zeugen und ihre Gefährdung 1.2.1 Begriff des Zeugen 1.2.1.1 Zufallszeugen 1.2.1.2 Opferzeugen 1.2.1.3 Berufsmässige Zeugen 1.2.1.4 Tatbeteiligte als Zeugen 1.2.2 Gefährdung 1.3 Ablauf der Arbeiten 1.3.1 Arbeitsgruppe des Oberauditors und Erfahrungen aus der Praxis 1.3.2 Expertenkommission Zeugenschutz 1.3.3 Auftrag der Expertenkommission 1.4 Verhältnis zu anderen Gesetzgebungsvorhaben 1.4.1 Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in der Schweiz 1.4.1.1 Koordination mit den Vereinheitlichungsarbeiten 1.4.1.2 Inhaltliche Vorgaben der Vereinheitlichungsarbeiten 1.4.2 Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung (BVE) 1.4.3 Präzisierung des Auftrags der Expertenkommission 1.5 Heutige Rechtslage 1.5.1 Bund: OHG 1.5.2 Kantone 1.5.2.1 Kantone mit allgemeinen Zeugenschutzbestimmungen 1.5.2.1.1 Bern 1.5.2.1.2 Freiburg 1.5.2.1.3 Basel-Stadt 1.5.2.1.4 Basel-Landschaft 1.5.2.1.5 St. Gallen 1.5.2.1.6 Zürich 1.5.2.2 Kantone mit Zeugenschutzbestimmungen für verdeckte Ermittler bzw. V-Leute

769 769 769 769 770 770 770 771 771

820

772 773 775 775 776 776 777 777 778 778 778 779 780 780 780 780 781 782 783 784 784 785 785 785 786 786 787 787 788 788

1.5.2.2.1 Thurgau 1.5.2.2.2 Wallis 1.5.2.3 Kantone ohne Zeugenschutzbestimmungen 1.5.3 Ausland 1.5.3.1 UN-Tribunale für Rwanda und Ex-Jugoslawien 1.5.3.2 Internationaler Strafgerichtshof 1.5.3.3 Europarat 1.5.3.4 Einzelstaaten ­ z.B. Bundesrepublik Deutschland 1.6 Konzept der vorgeschlagenen Regelung 1.6.1 Konzept der materiellen Bestimmungen 1.6.2 Konzept des Zusicherungsverfahrens 1.7 Ergebnisse des Vorverfahrens

788 789 789 789 789 791 791 793 794 794 796 797

2 Besonderer Teil 2.1 Änderung des Militärstrafprozesses 2.1.1 Stellvertreter des Präsidenten des Militärkassationsgerichtes (Art. 15 Abs. 3 Satz 2 E-revMStP) 2.1.2 Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 75 Bst. a und c E-revMStP) 2.1.3 Hinweis auf die neuen Bestimmungen von Artikel 10a­10d OHG (Art. 84a E-revMStP) 2.1.4 Titel zum neuen Vierzehnten Abschnittbis und Artikel 98a ErevMStP: Grundsatz 2.1.5 Zusicherung der Anonymitätswahrung, Voraussetzungen (Art. 98b E-revMStP) 2.1.6 Verfahren (Art. 98c E-revMStP) 2.1.7 Massnahmen (Art. 98d E-revMStP) 2.2 Änderung des Militärstrafgesetzes 2.2.1 Ausgangslage 2.2.2 Zur Bestimmung von Artikel 9 Absatz 1bis E-revMStG 2.2.2.1 Übersicht 2.2.2.2 Erläuterungen 2.2.3 Verhältnis zur Totalrevison des Allgemeinen Teils des MStG

798 798

801 804 807 811 811 815 815 816 817

3 Auswirkungen 3.1 Finanzielle und personelle Auswirkungen 3.2 Internationale Anerkennung der Schweiz

818 818 818

4 Verhältnis zur Legislaturplanung

819

5 Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Erlassform

819 819 819

Militärstrafprozess (MStP) (Entwurf)

822

798 798 799 800

821