00.459 Parlamentarische Initiative Arbeitnehmerforderungen im Konkursfall (Jutzet) Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2003

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt einstimmig dem beiliegenden Gesetzesentwurf zuzustimmen.

23. Juni 2003

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anita Thanei

2003-2023

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Übersicht Nach geltendem Recht sind nur diejenigen Arbeitnehmerforderungen aus dem Arbeitsverhältnis in der ersten Klasse privilegiert, die in den letzten sechs Monaten vor Konkurseröffnung entstanden sind. Dies hat zur Folge, dass im Falle eines in der zweiten Hälfte des Kalenderjahres über den Arbeitgeber ausgesprochenen Konkurses die Lohnbestandteile mit aufgeschobener Fälligkeit nicht das Privileg einer Kollokation in der ersten Klasse geniessen. Dies gilt insbesondere für den 13. Monatslohn.

Diese Situation hat einen willkürlichen Aspekt und schafft Ungleichbehandlungen, da die Kollokation in der ersten Klasse von der Zufälligkeit des Konkurseröffnungszeitpunktes und von den vereinbarten Fälligkeitsterminen abhängt. Die Kommission beantragt, das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs in dem Sinne zu ändern, dass nicht nur die in den letzten sechs Monaten vor Konkurseröffnung entstandenen, sondern auch die in diesem Zeitraum fällig gewordenen Forderungen in der ersten Klasse kolloziert werden.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Ausgangslage

Am 14. Dezember 2000 reichte Nationalrat Erwin Jutzet eine parlamentarische Initiative ein, welche verlangt, das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)1 so zu ändern, dass nicht nur Arbeitnehmerforderungen, die in den letzten sechs Monaten vor der Konkurseröffnung entstanden sind, in der ersten Klasse kolloziert werden, sondern auch jene, die in diesem Zeitraum fällig geworden sind, insbesondere alle zufallenden Anteile am 13. Monatslohn.

Der Nationalrat schloss sich am 14. März 2002 dem einstimmigen Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen an und gab der Initiative ohne Gegenstimme Folge2.

Hierauf beauftragte er gestützt auf Artikel 21quater Absatz 1 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG)3 seine Kommission für Rechtsfragen mit der Ausarbeitung einer Vorlage.

1.2

Arbeiten der Kommission

Die Kommission für Rechtsfragen befasste sich am 28. April 2003 mit dieser parlamentarischen Initiative. Am 23. Juni 2003 nahm sie den beiliegenden Gesetzesentwurf einstimmig an. Sie wurde bei ihrer Arbeit gemäss Artikel 21quater Absatz 2 GVG durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.

2

Grundzüge des Entwurfs

2.1

Problematik des geltenden Rechts

Artikel 219 Absatz 4 Buchstabe a SchKG sieht vor, dass «die Forderungen von Arbeitnehmern aus dem Arbeitsverhältnis, die in den letzten sechs Monaten vor der Konkurseröffnung entstanden sind, sowie die Forderungen wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses infolge Konkurses des Arbeitgebers und die Rückforderungen von Kautionen» in der ersten Klasse privilegiert sind. Alleine massgebend für diese Privilegierung in der ersten Klasse ist, ob die Forderung in den letzten sechs Monaten vor der Konkurseröffnung entstand. Die Fälligkeit ist dabei nicht relevant.4 Für den 13. Monatslohn, der pro rata temporis entsteht und in der Regel im Dezember fällig wird, kam das Bundesgericht konsequenterweise zum Schluss, dass er nur

1 2 3 4

SR 281.1 AB 2002 N 254 SR 171.11 Meier Kurt, Lohnforderungen im Arbeitgeber-Konkurs in: Plädoyer 1998, S. 38ff., 41; BGE 5C. 155/2000 E. 4c)

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im Umfang des während der letzten sechs Monate vor Konkurseröffnung erarbeiteten Anteils in der ersten Klasse kolloziert wird.5 Wird heute ein Konkurs während des zweiten Halbjahres ausgesprochen, müssen die Arbeitnehmenden sich mit einer teilweisen Kollokation ihres 13. Monatslohnes in der dritten Klasse begnügen6. Da die Arbeitnehmenden zur Vorleistung verpflichtet sind, aber wegen der aufgeschobenen Fälligkeit ihren Anspruch nicht früher geltend machen können, ist die rechtliche Situation unbefriedigend7, was vom Bundesgericht anerkannt worden ist8.

Es scheint in der Tat ungerecht und willkürlich, die Privilegierung aller oder eines Teils der Forderungen, welche nicht beim Entstehen fällig sind, von der Zufälligkeit des Konkurseröffnungszeitpunktes abhängig zu machen. Dies führt dazu, dass Arbeitnehmende eines konkursiten Arbeitgebers ohne plausiblen Grund ungleich behandelt werden, wenn zum Beispiel der Konkurs im einen Falle im Juni und im andern Falle im Dezember eröffnet wird. Zur Zufälligkeit des Konkurseröffnungszeitpunktes kommt die arbeitsvertragliche Regelung über die Fälligkeit von Forderungen (z.B. über die Auszahlung des 13. Monatslohnes entweder in zwei halbjährlichen Tranchen oder einmalig am Jahresende).

Angesichts des Zeitraums, während dem die Arbeitnehmenden ihre Vorleistung für den 13. Monatslohn erbringen müssen, gibt es keinen objektiven Grund für die heutige Einschränkung der Privilegierung in der ersten Klasse, da das Gesetz mit dieser Kollokation ja die Arbeitnehmenden schützen soll.

Für die weiteren Lohnbestandteilen mit hinausgeschobener Fälligkeit (z.B. Gratifikationen, Boni, evtl. 14. Monatslohn), stellen sich bei einem Konkurs des Arbeitgebers dieselben Probleme wie für die monatlichen Anteile am 13. Monatslohn.

Um dieser für die Arbeitnehmenden unbefriedigenden Situation abzuhelfen, beantragt die Kommission, Artikel 219 Absatz 4 Buchstabe a SchKG in dem Sinne zu ergänzen, dass nicht nur die in den letzten sechs Monaten vor Konkurseröffnung entstandenen, sondern auch die in diesem Zeitraum fällig gewordenen Forderungen in der ersten Klasse kolloziert werden.

2.2

Erläuterungen zu den beantragten Änderungen

2.2.1

Privilegierung der fällig gewordenen Forderungen

Der Entwurf ändert die Rechtslage für sämtliche Arbeitnehmerforderungen, deren Fälligkeit hinausgeschoben ist. Er hat eine Erweiterung des klassischen Arbeitnehmerprivilegs zur Folge. Für Forderungen, welche gleichzeitig entstehen und fällig werden, ändert sich dagegen nichts.9

5 6 7 8 9

BGE 5C. 155/2000 Bruni Guglielmo, Die Stellung des Arbeitnehmes im Konkurs des Arbeitgebers in: Basler Juristische Mitteilungen 1982, S. 281 ff., 300 Meier Kurt, op. cit., S. 41 f.

BGE 5C. 155/2000 E. 4e) Entgegen Meier, op. cit., S. 41, ist das Entstehen nicht mit dem Fälligwerden einer Forderung gleichzusetzen; BGE 5C.155/2000/min, E. 4c)

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2.2.1.1

13. Monatslohn

Drei Beispiele mögen die Verbesserungen in der Rechtslage der Arbeitnehemenden durch die beantragten Änderungen verdeutlichen. Es wird davon ausgegangen, dass der 13. Monatslohn gemäss Vereinbarung jeweils am 15. Dezember fällig wird.

Wird der Konkurs Ende Juni eröffnet, ändert sich gegenüber der geltenden Rechtslage im Ergebnis nichts. Das Privileg umfasst den 13. Monatslohn, welcher vom Januar bis Juni pro rata temporis entstand.

Erfolgt die Konkurseröffnung zwischen Juli und Dezember, ist nach dem Entwurf ­ da die Konkurseröffnung die Fälligkeit der Forderungen mit sich bringt10 ­ der ganze 13. Monatslohn, der bis zur Konkurseröffnung erarbeitet wurde, in der ersten Klasse privilegiert. Die Privilegierung beschränkt sich somit nicht ­ wie de lege lata ­ auf den innert der vergangenen sechs Monate erarbeiteten Anspruch.

Sofern der Konkurs zwischen Januar und Mitte Juni eröffnet wird, ist der bis dahin erarbeitete 13. Monatslohn privilegiert, das heisst pro rata temporis für die Zeitspanne vom Januar bis zur Konkurseröffnung. Dazu kommt, dass auch der ganze 13. Monatslohn des vergangenen Jahres privilegiert wird, da dieser am 15. Dezember des vorgehenden Jahres und somit innerhalb der massgebenden sechs Monate fällig wurde. Dies hat eine «Erstreckung» des Privilegs auf 18 Monate zur Folge.

2.2.1.2

Weitere Lohnbestandteile

Der 14. Monatslohn ist in der Regel gleich ausgestaltet wie der 13. Monatslohn: Entstehung pro rata temporis und Fälligkeit aufgeschoben. Er wird daher im gleichen Umfang wie der 13. Monatslohn erfasst.

Im Bezug auf Gratifikationen11 geht das Gesetz davon aus, dass sie bis zu dem Anlass, bei welchem sie regelmässig zur Ausrichtung gelangen, aufschiebend bedingt sind12. Die Gratifikation entsteht somit nicht wie der 13. Monatslohn pro rata temporis, sondern vollumfänglich erst im massgebenden Zeitpunkt. Sofern nicht etwas anderes vereinbart ist, wird sie im gleichen Zeitpunkt fällig.13 Insofern ändert der Entwurf an der Privilegienordnung nichts. Anders ist es, wenn die Vertragsparteien die Fälligkeit der Gratifikation hinausgeschoben haben. Wurde beispielsweise vereinbart, dass am Ende des 10. Dienstjahres eine Gratifikation von Fr. 10 000.­ geschuldet ist, dieser Anspruch aber erst 12 Monate später fällig wird, so ist die Gratifikation privilegiert, sofern der Konkurs nach Entstehen des Anspruchs und vor Ablauf der sechs Monate seit Fälligwerden desselben eröffnet wird; in diesem Bei-

10 11 12

13

Amonn Kurt/Gasser Dominik, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 6. Aufl., Bern 1997, S. 334 Ein Anspruch besteht nur bei entsprechender Vereinbarung, Art. 322d Abs. 1 OR; Vischer Frank, Der Arbeitsvertrag, Basel 1994, S. 114 Art. 322d Abs. 2 OR e contrario; Vischer, op. cit., S. 114; ZürcherKom/Staehelin Adrian/Vischer Frank, Art. 322d OR, N 17; anderer Meinung BaslerKom/Rehbinder Manfred, Art. 322d OR N 2, wobei er sich auf einen Bundesgerichtsentscheid abstützt, in welchem es um die Beurteilung einer «Gratifikation» ging, die alle Merkmale eines Lohnbestandteiles aufwies und daher nicht unter Art. 322d OR subsumiert werden konnte, vgl. BGE 109 II 447 E. 5.c).

ZürcherKom/Staehelin/Vischer, Art. 322d OR, N 16

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spiel beträgt die massgebende Zeitspanne für die Privilegierung somit nicht sechs, sondern 18 Monate.

Die Parteien können vereinbaren, dass die Gratifikation pro rata temporis entsteht.14 Diesbezüglich bringt der Entwurf die bereits bei den Erörterungen zum 13. Monatslohn erläuterten Neuerungen mit sich. Dabei ist zu beachten, dass die Gratifikation ­ im Gegensatz zum 13. Monatslohn ­ in der Regel nicht jährlich ausgerichtet wird.

Sie kann zum Beispiel jeweils auf den Ablauf von fünf Dienstjahren vereinbart sein.

In diesem Fall erarbeitet sich der Arbeitnehmende während fünf Jahren seinen Anspruch. Fällt der Arbeitgeber nach Ablauf von 4,5 Dienstjahren in Konkurs, so wird de lege lata lediglich der während der letzten sechs Monate vor Konkurseröffnung erarbeitete Anspruch privilegiert. Nach dem Entwurf wird dagegen ­ da im Zeitpunkt der Konkurseröffnung sämtliche bestehenden Forderungen fällig werden15 ­ der ganze Anspruch, das heisst der während 4,5 Jahren erarbeitete Anspruch auf Gratifikation, privilegiert.

Für weitere Lohnbestandteile wie beispielsweise Boni gelten diese Ausführungen sinngemäss: massgebend ist, ob die Fälligkeit gegenüber der Entstehung des Anspruchs hinausgeschoben ist.

2.2.2

Übergangsrecht

Praktische Gründe gebieten, dass für die Privilegienordnung jenes Recht anwendbar ist, das im Zeitpunkt der Konkurseröffnung, Pfändung oder Bewilligung der Nachlassstundung gegolten hat. Diesem unbestrittenen Grundsatz folgte das Übergangsrecht bereits bei der Wiedereinführung der Konkursprivilegien für die Sozialversicherungen16.

3

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die beantragten Änderungen haben für den Bund, die Kantone und die Gemeinden keine finanziellen oder personellen Auswirkungen.

4

Verfassungsmässigkeit

Gemäss Artikel 122 der Bundesverfassung17 ist der Bund für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts zuständig.

14 15 16 17

Art. 322d Abs. 2 OR; Bruni, op. cit., S. 301 Amonn/Gasser, op. cit., S. 334 AS 2000 2531 SR 101

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