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Bundesratsbeschluss betreffend

die Beschwerde des Herrn A. Spörry in Baden über einen Entscheid des Regierungsrates des Kantons Aargau in Sachen seiner Fabrikordnung.

(Vom 25. Juni 1896.}

Der schweizerische Bundesrat, auf den Antrag seines Industriedepartements, nach Einsicht der Akten, aus welchen sich ergiebt: Herr A. Spörry, Spinnereibesitzer in Baden, hatte in seiner zur Revision gelangten Fabrikordnung u. a. folgende Bestimmungen vorgesehen : § 14. ,,Sämtliche Arbeiter werden gegen Unfall versichert.

Zur Deckung der Kosten bis zur Hälfte werden die verhängten Bußen verwendet, der Rest wird durch den Arbeitgeber getragen. " § 17. ,,Tritt ein Arbeiter ohne Aufkündigung aus, so verliert er den Lohn von den letzten 6 Arbeitstagen (Décompte."

§ 12. ,,Mit gleicher Buße werden diejenigen Arbeiter belegt, welche an einem konfessionellen Feiertage ohne vorherige Anzeige an den betreffenden Aufseher von der Arbeit wegbleiben."

Die Direktion des Innern des Kantons Aargau verfügte hierauf (23. Oktober 1895), daß a. in § 14 der 2. Absatz durch den Wortlaut: ,,Die Bußen, über deren Höhe und Ursache ein genaues Verzeichnis geführt wird, fallen in die Krankenkasse" ersetzt;

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b. zu § 17 der Zusatz: ,,Die ersten 14 Tage gölten als Probezeit, während welcher Austritt oder Entlassung ohne Kündigung stattfinden kann01 aufgenommen ; c. § 12 gestrichen werde.

Eine von Herrn Spörry gegen diese Verfügung erhobene Rekursbeschwerde wies der Regierungsrat des Kantons Aargau am 22. November als unbegründet ab.

Mit Schreiben vom Dezember 1895 erhob Herr Spörry gegen letzteren Entscheid beim Bundesrat Beschwerde, indem er das Begehren stellte, daß die §§ 12, 14 und 17 seiner Fabrikordnung bestehen bleiben sollen.

In der Sache liegen außerdem vor : 1. Die Vernehmlassung des Regierungsrates des Kantons Aargau vom 16. Januar 1896 5 2. ein Gutachten des Fabrikinspektors des 3. Kreises vom 11. Februar; 3. ein Gutachten des Gesamt-Fabrikinspektorats vom 24. Februar ; 4. ein Bericht des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 30. Mai ; in E r w ä g u n g : a. Setreffend

§ 14 der Fabriicordnuny :

Die Vorinstanzen sehen in der von Herrn Spörry aufgenommenen Bestimmung (2. Absatz des § 14) eine Verletzung von Art. 7, Absatz 3, des Bundesgesetzes betreffend die Arbeit in den Fabriken, welcher lautet : .,,Die verhängten Bußen sind im Interesse der Arbeiter, namentlich für Unterstützungskassen, zu verwenden.a Nach Artikel 9 des Bundesgesetzes betreffend die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb kann der Betriebsunternehmer, wenn seine Arbeiter bei einer Unfallversicherung oder dergleichen versichert waren, wenn er nicht weniger als die Hälfte an die Prämien geleistet hat, und wenn die Versicherung alle (gewerblichen) Unfälle und Erkrankungen umfaßt, die von der Versicherungsanstalt dem Verletzten bezahlten Beträge von der von ihm zu leistenden Entschädigung in Abzug bringen. Herr Spörry verpflichtet sich in seiner Fabrikordnung, seine Arbeiter gegen Unfall zu versichern und wenigstens die Hälfte der Prämien selbst zu bezahlen. Wenn er dies thut und wenn dabei dem 3. Absatz von Art. 9 des er-

639 wähnten Haftpflichtgesetzes Rechnung getragen wird, so sichert er sich den Vorteil dieses Artikels 9. Durch die Verwendung der Bußen zur gänzlichen oder teilweisen Zahlung der ändern Hälfte der Prämien verbessert er nicht seine Stellung, sondern diejenige der Arbeiter, da sie um so viel weniger an die Versicherung direkt zu leisten haben, und es für sie überhaupt ein Vorteil ist, gegen Unfall, und zwar gegen jeden gewerblichen Unfall, versichert zu sein. Die durch Herrn Spörry beabsichtigte Vorwendung der Bußengelder widerspricht also dem Art. 7, Absatz 3, des Fabrikgesetzes nicht, wobei insbesondere hervorzuheben ist, daß der dortige Zusatz ^namentlich für Unterstützungskassena nicht den Sinn einer Beschränkung des Verfügungsrechtes, sondern den eines Beispiels, einer Empfehlung hat. Und wenn in der alten Fabrikordnung die Zuwendung der Bußengelder an die Fabrikkrankenkasse vorgesehen war und dieses Verhältnis als Grund zur Beanstandung der neuen aufgefaßt wird, so ist zu entgegnen, daß mit der Beseitigung eines alten Reglements der Arbeitgeber die Freiheit erhält, Änderungen vorzunehmen, sofern sie dem Gesetze nicht zuwiderlaufen ; er kann also auch über die Vorwendung der Bußengelder andere Bestimmungen vorsehen, wie denn die Entscheidung über diese Verwendung zunächst ihm zusteht (siehe Bundesgerichtliche Entscheidungen Bd. XIII, S. 215).

Gegen den § 14, Absatz 2, der neuen Fabrikordnung kann auch nicht Artikel 10, Absatz 4, des Fabrikgesetzes angerufen werden, wonach ohne gegenseitiges Einverständnis keine Lohnbetreffnisse zu Specialzwecken zurückbehalten werden dürfen ; denn Bußen sind keine Lohnbetreffnisse, der Arbeiter kann nicht verlangen, daß sie ihm ausbezahlt werden; der Arbeitgeber kann vielmehr darüber verfügen, das Gesetz schreibt ihm nur vor, in wessen Interesse er sie verwenden soll. Herr Spörry darf sie also zur Bezahlung der einen Hälfte der Versicherungsprämien verwenden, auch ohne die Zustimmung der Arbeiter.

b. Setreffend

§17 der Fabrikordnunc/:

Da nach den Erfahrungen des Fabrikinspektors und der Lokalbehörde Herr Spörry bisher sein Kündigungsrecht rücksichtslos ausübte und Grund zu zahlreichen Klagen, namentlich von neu eingetretenen Arbeitern gab, sollte er veranlaßt werden, in § 17 seiner Fabrikordnung die Bestimmung aufzunehmen, daß die ersten 14 Tage der Dienstzeit als Probezeit gelten, während welcher Austritt oder Entlassung ohne Kündigung stattfinden können.

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Das Recht, die Aufnahme dieses Zusatzes zu verlangen, wird aus Artikel 8, Absatz 4, des Fabrikgesetzes abgeleitet, lautend : ,,Wenn sich bei der Anwendung der Fabrikordnung Übelstände herausstellen, so kann die Kantonsregierung die Revision derselben anordnen." Die gleiche Bestimmung, wie die in die neue Fabrikordnung einzuführende, sei in Artikel 344 O.-R. enthalten, und immer häufiger in den Fabrikreglementen zu finden.

Die Berufung auf Artikel 344 O.-R. ist unzulässig. Dieser Artikel, der übrigens während der Probezeit noch eine ,,mindestens dreitägige Kündigungsfrist" feststellt, bezieht sich nur auf das ,,Gesellen- und Dienstbotenverhältnisa und ist auf Fabrikarbeiter nicht auszudehnen (siehe auch Artikel 349 O.-R., Ziffer 2).

Die Kündigungsfrist für dieselben ist vielmehr in Artikel 9 des Fabrikgesetzes auf 14 Tage festgesetzt, ,,wo nicht durch schriftliche Übereinkunft etwas anderes bestimmt wird". Darnach ist nicht nur eine Probezeit mit kurzer Kündigungsfrist nicht erforderlich, sondern es ist den Vertragsparteien sogar gestattet, für die ganze Dauer des Dienstverhältnisses eine längere als die 14tägige Kündigungsfrist durch schriftliche Übereinkunft einzuführen. Wenn Herr Spörry die 14tägigo Kündigungsfrist angenommen hat, so hat er nur die vom Gesetze selbst als die im Zweifel zu befolgende Regel gelten lassen. Einer administrativen Behörde kann es nicht zustehen, der Vertragsfreiheit engere Schranken zu ziehen, als das Gesetz es thut.

Allerdings giebt Artikel 8, Absatz 4, des Fabrikgesetzes den Kantonsregierungen das Recht, die Revision von Fabrikordnungen anzuordnen, wenn sich bei deren Anwendung Übelstände herausstellen. Aber nicht jede Bestimmung einer Fabrikordnung ist damit der Revision der kantonalen Regierung unterworfen, sondern nur solche, welche direkt oder indirekt dem Gesetze widersprechen.

Ob dies zutrifft oder nicht, hat allerdings die Regierung zu prüfen.

Sie kann aber keineswegs nach ihrem jürmessen irgendwelche Bestimmungen einer Fabrikordnung, die für die Arbeiter nachteilige Folgen haben können, ohne Rücksicht auf ihre Gesetzmäßigkeit aufheben ; sie kann vielmehr die Revision eines Fabrikreglements nur gestützt auf das Gesetz und in dessen Ausführung anordnen.

Wollte sie weiter gehen und nach ihrem Gutdünken, mit oder ohne Veranlassung der eidgenössischen
Fabrikinspektion, reglementarische Vorschriften darum abändern, weil sie erfahrungsgemäß, im gegebenen Falle vielleicht wegen der Persönlichkeit des Fabrikanten, zum Nachteile der Arbeiter angewendet wurden, während sie unter ändern Umständen unbeanstandet blieben, so würde sie der Willkür verfallen.

641 Die Einführung einer 14tägigen Probezeit mag für die Arbeiter eine "Wohlthat sein, sie gegen Unbilligkeit und Willkür schützen. Es steht aber nur dem Gesetzgeber zu, die Vertragsparteien zu zwingen, diese Klausel in den Dienstvertrag aufzunehmen. Herr Spörry kann also nach der bestehenden Gesetzgebung nicht gezwungen werden, die Bestimmung betreffend die Probezeit in seine Fabrikordnung aufzunehmen.

c. Betreffend

§ 12 der FabriJcordnung :

Die aargauische Regierung hat den § 12 der Fabrikordnung gestrichen, weil das darin Gesagte in den §§ 10 und l schon enthalten sei. In der That ist § 12 eine Wiederholung; welchen Zweck diese haben soll, ist nicht einzusehen. Die Streichung des § 12 hat daher für den Beschwerdeführer sachlich keinen Nachteil; sie ist nur eine redaktionelle Verbesserung der Fabrikordnung. Der Bundesrat hat keine Veranlassung, auf diese Frage einzutreten, beschließt: 1. Die Beschwerde des Herrn A. Spörry, Spinnereibesitzer in Baden, wird in Bezug auf die §§ 14 und 17 seiner neuen Fabrikordnung gutgeheißen, in Bezug auf § 12 derselben abgewiesen.

2. Von diesem Beschluß ist dem Beschwerdeführer, sowie dem Regierungsrate des Kantons Aargau Kenntnis zu geben, unter Zustellung der beigebrachten Akten.

B e r n , den 25. Juni 1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Bingier.

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Bundesratsbeschluss betreffend die Beschwerde des Herrn A. Spörry in Baden über einen Entscheid des Regierungsrates des Kantons Aargau in Sachen seiner Fabrikordnung. (Vom 25. Juni 1896.}

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