#ST#

Schweizerisches Bundesblatt.

48. Jahrgang. III.

Nr. 35.

26. August 1896.

Jahresabonnement (portofrei in der ganzen Schweiz) : 6 Franken.

Einrückungsgebühr per Zeile oder deren Baum 15 Bp. -- Inserate franko an die Expedition.

Druck und Expedition der Buchdruckerei Stämpfli & de. in Bern.

# S T #

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend Abänderung und Ergänzung des Bundesgesetzes über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrt-Unternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Juli 1875 (Motion Brenner und Genossen).

(Vom 18. August 1896.)

Tit.

In dem Urteile des schweizerischen Bundesgerichtes vom 10., 11. und 13. März 1893 in Sachen der Aktiengesellschaft Jura-Simplon-Bahn gegen Julie Stähelin in Basel betreffend Haftpflicht aus dem Eisenbahnbetrieb (Mönchenstein - Katastrophe ; Bundesgerichtliche Entscheidungen, Band XIX, Nr. 37) ist folgende Erwägung aufgenommen : ,,Das Bundesgesetz vom 1. Juli 1875 normiert die Haftpflicht der Eisenbahnunternehmungen für Betriebsunfälle in erschöpfender Weise; wie insbesondere Art. 7 und 3 des Gesetzes deutlich zeigen, richtet sich auch bei Unfällen, welche durch den Betriebsunternehmer selbst oder seine Leute v e r s c h u l d e t sind, die Haftpflicht des Betriebsunternehmers ausschließlich nach den Bestimmungen des Bundesspecialgesetzes und sind nicht neben demselben die Grundsätze des gemeinen Eechts über die Schadenersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen maßgebend. Zur Zeit des Erlasses des Bundesgesetzes vom 1. Juli 1875 waren letztere Bundesblatt. 48. Jahrg. Bd. III.

59

826 noch kantonalrechtlich geordnet. Das-Bundesgesetz vom l, Juli 1875 behielt nun nicht etwa das kantonale Recht insoweit vor, als sich aus demselben weitergehende Ansprüche der Geschädigten ergeben sollten; ein derartiger Vorbehalt war vielmehr offenbar nicht gewollt ; die Haftpflicht der Eisenbahnen für Betriebsunfälle sollte einheitlich und abschließend durch das Bundesgesetz geregelt worden.

Bei Erlaß des eidgenössischen Obligationenrechts sodann war allerdings vorgeschlagen worden, die Bestimmungen des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes nur in Punkten vorzubehalten, in welchen dasselbe eine strengere Haftung statuiert als das Obligationenrecht.

Allein dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, vielmehr in Art. 888 O.-R. ausdrücklich ausgesprochen, daß die Bestimmungen des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes unverändert in Kraft bleiben.

Demnach ist, in Übereinstimmung mit den kantonalen Instanzen, davon auszugehen, daß in der Sache ausschließlich die Bestimmungen des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes und gar nicht diejenigen des Obligationenrechts über die Schadenersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen maßgebend sind ; es kommt also insbesondere Art. 54 O.-R. nicht zur Anwendung, sondern kann eine Entschädigung für andere als vermögensrechtliche Nachteile nur dann gesprochen werden, wenn die Voraussetzungen des Art. 7 des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes gegeben sind, d. h. wenn der Unfall nachweislich durch Arglist oder grobe Fahrlässigkeit der Beklagten oder ihrer Leute herbeigeführt wurde.a (Bundesgerichtliche Entscheidungen a. a. 0. Seite 188.)

Am 15. März 1893 haben die Herren Brenner, Fehr, Jeanhenry, Kinkelin, Kurz, Rosenmund, Scherrer-Füllemann und Speiser im Nationalrate folgende Motion eingebracht: ,,Der Bundesrat wird eingeladen, zu prüfen und darüber zu berichten, ob nicht das Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsunternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Juli 1875, im Sinne der Aufnahme des in Art. 54 des schweizerischen Obligationenrechts aufgestellten Grundsatzes betreffend die Schadenersatzpflicht, zu ergänzen sei.1' Am 9. Juni 1893 wurde diese Motion vom Nationalrate ohne Einrede erheblich erklärt, nachdem der Vertreter des Bundesrates die Erklärung abgegeben hatte, daß der Bundesrat bereit sei, die gewünschte Prüfung vorzunehmen und über das
Resultat in einer spätem Sitzung Bericht zu erstatten.

Namens der Motionssteller erklärten die Herren Nationalräte Brenner und Jeanhenry, daß die Motion keineswegs, wie sie

827 vielorts aufgefaßt werden wollte, einen Protest gegen das bundesgerichtliche Urteil betreffend die Haftbarkeit der Jura-Simplon-Bahn in der Mönchensteiner Angelegenheit bedeute ; der Richter habe nach bestem Wissen und Gewissen das bestehende Recht angewendet ; dagegen bezwecke die Motion, eine Lücke in der Gesetzgebung und wissenschaftlichen Doktrin auszufüllen, welche das Rechtsbewußtsein verletzt und allgemeinen Unwillen hervorgerufen habe im Hinblick auf die schweren Schädigungen an Leib und Leben bei den furchtbaren Katastrophen von Monchenstein, Zollikofen und Ouchy in den Jahren 1891 und 1892.

Die Motionssteiler wiesen auf die Unzulänglichkeit der gesetzlichen Bestimmungen betreffend den Schadenersatz bei Tötungen hin, wonach außer dem Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung und der Beerdigung, sowie des Vermögensnachtciles, welchen der Getötete während der Krankheit durch Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erlitten hat, eine Entschädigung nur dann geleistet werden muß, wenn ein Hinterlassener sie verlangt, der durch den Getöteten unterhalten worden ist und dem gegenüber eine gesetzliche Unterhaltungspflicht des Getöteten bestand, und sie zeigten an konkreten Beispielen, zu welchen Unbilligkeiten und Härten das System des Gesetzes führen kann.

Noch größer erscheinen den Motionsstellern die Härten, welche bei Anwendung des Gesetzes im Falle von Körperverletzungen eintreten. In diesem Falle sieht das Gesetz nur den Ausgleich der ökonomischen Lage des Verletzten vor und nach dem Unfall, aber keinerlei Leistungen vor als Schmerzensgeld, als Äquivalent für physische und seelische Leiden, für Einbuße an Lebenslust und Lebensfreudigkeit, für ideale Güter. Freilich, w e n n d e r T r a n s p o r t a n s t a l t A r g l i s t o d e r g r o b e Fahrlässigkeit n a c h g e w i e s e n w e r d e n k a n n , giebt das Gesetz dem Richter die Möglichkeit, dem Geschädigten oder den Hinterlassenen des Getöteten neben dem Ersatz erweislicher Vermögensnachteile eine angemessene Geldsumme zuzusprechen. Allein bei der Schwierigkeit, den Nachweis grober Fahrlässigkeit zu leisten, sind diese Vorbehalte in den Augen der Motionssteller nicht viel mehr als auf dem Papier stehende Begünstigungen.

Zudem, sagen die Motionäre, ist es an sieh ein schwerer Fehler dieser Gesetzesbestimmung,
daß sie nur die Fälle grober Fahrlässigkeit ins Auge gefaßt. Eine grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem bundesgerichtlichen Urteile im Mönchensteiner Prozesse dann vor, ,,wenn dasjenige Maß von Sorgfalt und Aufmerksamkeit außer Acht gelassen wurde, welches in der Regel unter den ge-

828 gebenen Verhältnissen Jeder, auch der nicht besonders Sorgsame, aufzuwenden pflegta. Eine solche Bestimmung, sagen die Herren Brenner und Konsorten, ist gegenüber Transportanstalten, die einen mit so großen, allgemeinen Gefahren verbundenen Betrieb haben und denen das Publikum allgemeines Vertrauen entgegenzubringen genötigt ist, eine viel zu wenig weit gehende.

Dem gegenüber hat die Fabrikhaftpflichtgesetzgebung seit 1877 eine Entwicklung durchgemacht, die eine Verschärfung der Haftpflicht bedeutet, insbesondere darin, daß der Kreis der Entschädigungsberechtigten bei Tötungen sehr weit gezogen und das Ausmaß der Entschädigung, ohne Festsetzung einer Schuldgrenze, dem freien Ermessen des Richters anheimgegeben ist.

Allein nicht bloß die besondere Fabrikhaftpflichtgesetzgebung weist gegenüber dem Eisenbahnhaftpflichtgesetz eine Erweiterung des Umfanges der Haftpflicht auf, sondern auch das allgemeine schweizerische Obligationenrecht.

Darüber bemerkten die Motionssteller was folgt: Das Obligationenrecht verpflichtet nicht zu Schadenersatz, wenn keine Verschuldung vorliegt; dann aber, für den Fall des Verschuldens, verlangt es Ersatz des vollen Schadens. -- Bei Tötungen ist, gleichviel ob eine Unterhaltungspflicht bestand oder nicht, derjenige anspruchsberechtigt, der seinen Versorger verloren hat. --· Endlich stellt das Obligationenrecht -- und das ist die Hauptsache -- den Grundsatz auf, daß der Richter nach freiem Ermessen, unter Würdigung der Umstände in jedem einzelnen Falle, die Schadenersatzsumme feststellt und dabei über die Grenze des nachweisbaren Vermögensnachteils hinaus in Berücksichtigung der besondern Umstände eine angemessene Geldsumme zusprechen kann -- nicht nur im Falle groben Verschuldens, sondern überall da, wo in irgend einer Richtung subjektiver oder objektiver Art Grund vorhanden ist, über die Höhe des nachweisbaren Vermögensnachteils hinauszugehen.

Die Motionäre bezeichnen als Zweck ihrer Anregung ,,die Aufhebung eines Privilegiums, welches die Eisenbahngesellschaften und Dampfschiffahrtsunternehmungen heute gegenüber den Fabriken genießen, die Beseitigung eines faktischen Monopols"1.

Wir haben nach reiflicher Prüfung die Inbetrachtnahme der Motion als begründet erfunden und uns entschlossen, Ihnen die gesetzgeberische Berücksichtigung derselben zu empfehlen.

Eine Vergleichung der Rechtssätze über Schadenersatzpflicht des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes und des Obligationenrechts, d. h.

829 des gemeinen Eeehts, wird am sichersten ergeben, ob und in welchen Beziehungen eine Ergänzung des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes wünschbar und thunlich ist.

Die Schadenersatzpflicht der Eisenbahn- und DampfschiffahrtUnternehmungen bei Tötungen und Verletzungen unterscheidet sich von der obligationenrechtlichen Haftung (Art. 52 u. ff.) im allgemeinen dadurch, daß die Transportanstalten nach Art. 2 des Specialgesetzes haften, sofern sie nicht nachweisen, daß die Tötung oder Verletzung durch höhere Gewalt, durch Verschulden eines Dritten, ohne eigenes Mit v erschulden der Anstalt, oder durch Verschulden des Verletzten selbst verursacht wurde, während das Obligationenreeht nur Haftung für Verschulden kennt und den Beweis dieses Verschuldens dem Verletzten auferlegt.

Abgesehen von der Umkehrung der Beweislast ist die Haftpflicht der Transportanstalten also dadurch verschärft, daß letztere nicht nur für verschuldeten, sondern auch für zufälligen Schaden einzustehen haben. Die Voraussetzungen, welche in ihrer Person die Haftpflicht begründen, sind wesentlich andere als die, welche sonst bei Schädigungen die Haftung bedingen. D a r i n wollte der Gesetzgeber vom gemeinen Rechte abweichen; darin sollte die weitergehende Haftpflicht der Transportanstalten liegen.

Es wäre nun aber nicht gerechtfertigt und lag auch nicht in der Absicht des Gesetzgebers, dieser Vermehrung der den Transportanstalten zur Last fallenden Haftpflichtfälle eine Verminderung des zu leistenden Schadenersatzes entsprechen zu lassen.

In Bezug auf die Höhe der zu leistenden Entschädigung wollte sich der Gesetzgeber vielmehr möglichst eng an das gemeine Recht anschließen. Die Transportanstalten sollen prinzipiell für a l l e n S c h a d e n einstehen, wenn im übrigen die Voraussetzungen ihrer Haftpflicht zutreffen.

Nach den meisten kantonalen Rechten war ,,Schaden"1 gleich bedeutend mit ,,Vermögensschaden". Es wurde daher als Regel den Eisenbahnen der Ersatz des Vermögensschadens zur Pflicht gemacht. Nur einige Kantone hatten weitergehende Bestimmungen : Bern Art. 966, Luzern § 718, Aargau § 801 und Zürich § 1845 P.-G.-B., welch letztere Stelle wie folgt lautete : ,,Im Falle der Körperverletzung ist der Verletzte berechtigt, ein den Umständen angemessenes Schmerzensgeld und Uberdem, soweit das Fortkommen des Geschädigten erschwert ist, eine durch freies Ermessen zu bestimmende Entschädigung für die verursachte Verstümmelung oder Entstellung zu verlangen".

830

Durch die Einführung des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes, das nicht, wie das deutsche Haftpflichtgesetz, vom 7. Juni 1871, § 9, weitergehende partikularrechtliche Bestimmungen vorbehielt, sollten diese Vorteile, wo sie bestanden, nicht ganz untergehen; andererseits wollte man die Transportanstalten nicht mit der noch nicht allgemein anerkannten, über den Vermögensschaden hinausgehenden Haftung in dem Maße belasten, wie es durch Aufnahme der Zürcher Bestimmung geschehen wäre; es wurde daher als Art. 7 eine erheblich weniger weitgehende Bestimmung aufgenommen.

Seit der Entstehung des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes hat sich nun aber der gemeinrechtliche Begriff der Entschädigung geändert und ist im Obligationenrecht festgestellt worden. Der Gesetzgeber braucht sich daher jetzt nicht mehr die gleiche Zurückhaltung aufzuerlegen wie damals. Zweifellos würde das Eisenbahnhaftpflichtgesetz die Regeln des Obligationenrechts über die Bemessung der Entschädigung unverändert herübergenommen haben, wenn letzteres schon bestanden hätte. Es beantragte denn auch der Bundesrat in seinem Entwurf zu den Übergangsbestimmungen des Obligationenrechts, in Bezug auf die Größe der zu leistenden Entschädigung die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts auch für die Haftpflicht der Transportanstalten gelten zu lassen (Bundesbl. 1880, IV, S. 425 u.'ff. ; insbesondere S. 429). Die gesetzgebenden Räte zogen jedoch vor, das noch nicht 6 Jahre alte Specialgesetz unverändert zu lassen. Die Erfahrung hat die Richtigkeit der Ansicht des Bundesrates bestätigt; wir erlauben uns daher, Ihnen denselben Antrag neuerdings zu stellen. Es ist heute kein Grund mehr vorhanden, die von den Transportanstalten zu leistende Entschädigung für Tötungen und Körperverletzungen nicht mit dem im Obligationenrecht gegebenen Maßstabe zu messen.

Der in der Motion selbst hervorgehobene ist nicht der einzige Unterschied, der zwischen dem Obligationenrecht und dem Eisenbahnhaftpflichtgesetz in der fraglichen Beziehung besteht Das Obligationenrecht geht noch in zwei ändern Bestimmungen weiter : in Art. 52 a. E., wie die Motionssteller in ihren mündlichen Ausführungen selbst erwähnt haben, und in Art. 53, Alinea 2.

Nach unserer Ansicht ist in allen diesen Punkten das Eisenbahnhaftpflichtgesetz mit dem Obligationenrecht in Einklang zu bringen.

Der Unterschied
zwischen Art. 54 O.-R. und Art. 7 des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes wurde oben wiederholt hervorgehoben.

Art. 7 des Specialgesetzes sieht nur ,,bei nachgewiesener Arglist oder grober Fahrlässigkeit der Transportanstalta über den Ersatz

831 des erweislichen Vermögensnachteils hinaus den Zuspruch einer Geldsumme an den Verletzten oder die Angehörigen des Getöteten vor ; Art. 54 O.-R. aber beschränkt einen solchen Zuspruch nicht auf die Fälle von Arglist oder grober Fahrlässigkeit, sondern ermächtigt den Richter hierzu nach Maßgabe der besondern Umstände, auch in Fällen einer nicht groben Fahrlässigkeit des Schädigers. Wir glauben mit den Motionären, daß diese Abweichung vom allgemeinen Rechte innerlich nicht begründet und daher zu beseitigen sei. Es ginge nun aber nicht an, die Eisenbahnen für einen nicht-ökonomischen Nachteil unter den gleichen Voraussetzungen haften zu lassen, wie für den reinen Vermögensschaden, d. h. nach Maßgabe des Art. 2 des Specialgesetzes. Die Voraussetzungen müssen billigerweise die gleichen sein, wie im Obligationenrecht. Die Haftung über den Vermögensschaden hinaus soll im Eisenbahnhaftpflichtgesetz den außergewöhnlichen Charakter erhalten, den sie im Obligationenrecht hat. Es ist daher in Art. 7 das Erfordernis des nachgewiesenen Verschuldens aufzunehmen.

Art. 52, a. E., O.-R. bestimmt: ,,Haben andere Personen durch die Tötung ihren Versorger verloren, so ist auch für diesen Schaden Ersatz zu leisten". Das Eisenbahnhaftpflichtgesetz gewährt dieses Recht auf Schadenersatz nur den Personen, zu deren Unterhalt der Getötete zur Zeit seines Todes v e r p f l i c h t e t war.

Die Fassung des Obligationenrechts entspricht offenbar der Billigkeit. Der Schaden, den die Hinterlassenen infolge des Todes ihres Versorgers erleiden, ist eine direkte Folge des Unfalls, seien nun die Hinterlassenen unterstützungsberechtigt gewesen oder nicht.

Auf Grund des geltenden Art. 5, Absatz 2, des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes sind die Hinterlassenen, zu deren Unterhalt der Getötete nicht verpflichtet war, schlechter gestellt, als wenn die Eisenbahnen nach Obligationenrecht hafteten, was sich nicht rechtfertigen läßt.

Wir empfehlen daher die Aufnahme der obligationenrechtlichen Fassung in das Specialgesetz.

Endlich sieht Art. 53, Absatz 2, O.-R. einen besondern Fall der Schadenersatzpflicht vor, nämlich den einer Verstümmelung oder Entstellung, durch welche das Fortkommen des Verletzten erschwert wird.

Dieser dritte Unterschied ist vielleicht mehr formaler Natur.

Art. 53, Alinea 2, O.-R. findet einerseits Anwendung auf
Körperverletzungen, die einen ökonomischen, aber in Geld nicht unmittelbar abschätzbaren nachteiligen Einfluß auf das künftige Leben des Verletzten ausüben werden (z. B. verminderte Sehkraft eines Auges (^ergl. Urteil der Appellationskammer des zürcherischen

832 Obergerichts vom 3. März 1885 in Revue der Gerichtspraxis, III, Nr. 152; Beilage zur Zeitschrift für schweizerisches Recht, neue Folge, Band III]) ; anderseits auf Verletzungen, die, ohne einen Vermögensnachteil nach sich zu ziehen, dem Verletzten das Leben beschwerlicher machen (vergi. Bundesgerichtliche Entscheidungen, Bd. XVIII, Nr. 134, Erwägung 6). Der erste Zweck der Obligationenrechtlichen Bestimmung wird wohl schon jetzt auf Grund des Art. 6, Alinea 2, des Specialgesetzes (Vorbehalt der späteren Rektifizierung des Urteils) durch den Richter erreicht werden können, der zweite durch Anwendung des im Art. 54 O.-R. enthaltenen Grundsatzes.

Die praktische Tragweite dieser Bestimmung dürfte daher nicht groß sein. Um aber die Übereinstimmung zwischen dem Obligationenrecht und dem Eisenbahnhaftpflichtgesetz in allen Punkten herzustellen und jeder Meinungsverschiedenheit vorzubeugen, empfiehlt es sich, die Bestimmung als Absatz 4 in Art. 5 des letztern aufzunehmen.

Demnach würde Art. 5 folgendermaßen lauten : ,,Im Falle der Tötung ist Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung und der Beerdigung, sowie des Vermögensnachteils zu leisten, welchen der Getötete während der Krankheit durch Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erlitten hat. (Wie bisher.)

,,Haben andere Personen durch die Tötung ihren Versorger verloren, so ist auch für diesen Schaden E r s a t z zu l e i s t e n .

,,Im Falle einer Körperverletzung ist Ersatz der Heilungskosten und des Vermögensnachteils zu leisten, welchen der Verletzte durch eine infolge der Verletzung eingetretene zeitweise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet. (Wie bisher.)

,,Überdies kann der Richter bei einer V e r s t ü m melung oder Entstellung, durch welche das Fortk o m m e n d e s V e r l e t z t e n e r s c h w e r t w i r d , auch dafür eine Entschädigung zusprechen.a In dieser Fassung wird Art. 5, Absatz l--3, s a c h l i c h mit Art. 52 und 53 des Obligationenrechts übereinstimmen. Die Redaktion bleibt eine verschiedene. Es scheint uns aber nicht zweckmäßig, von der bisherigen Form des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes ohne Not abzuweichen.

Art. 7 dagegen kann nicht einfach durch Art. 54 O.-R. ersetzt werden, da letzterer stillschweigend von der in Art. 50 ibidem aufgestellten allgemeinen Voraussetzung ausgeht, wonach die Ersatz-

833

pflicht nur für absichtlich oder aus Fahrlässigkeit zugefügten Schaden eintreten soll. Wenn Art. 7 des Haftpflichtgesetzes auf a l l e Fälle eines Verschuldens der Transportanstalt ausgedehnt werden, sich nicht mehr bloß auf Fälle von Arglist oder grober Fahrlässigkeit beziehen soll, so muß dies ausdrücklich gesagt werden. In Anlehnung an die bisherige Fassung würde daher Art. 7 lauten : ,,Bei n a c h g e w i e s e n e m V e r s c h u l d e n d e r T r a n s portanstalt kann der Richter, unter Würdigung der b e s o n d e r n Umstände, n a m e n t l i c h i n F ä l l e n v o n A r g list oder g r o b e r F a h r l ä s s i g k e i t , dem V e r l e t z t e n oder den Angehörigen des G e t ö t e t e n , auch abgesehen von dem Ersatz erweislichen Schadens, eine angem e s s e n e G e l d s u m m e zusprechen.' 1 Die von uns vorgeschlagenen Ergänzungen des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes sind nur der Ausbau des Gesetzes gemäß der ursprünglichen Anlage desselben. Die Haftpflicht der Eisenbahnund Dampfschiffahrt-Unternehmungen wird allerdings verschärft, aber nicht in erheblichem Maße.

Die Einfügung des Art. 53, Alinea 2, O.-R. wird die Zahl der Haftpflichtfälle sozusagen nicht vermehren, aus dem schon angeführten Grunde.

Auch die Abänderung des Art. 7 ·wird den Transportanstalten keinen erheblichen ökonomischen Nachteil bringen. Wie die bisherige Praxis des Bundesgerichtes, die fürderhin auch für die Transportanstalten maßgebend sein wird, zeigt, wird Art. 54 nur selten in Fällen zur Anwendung gebracht, in denen weder Arglist noch grobe Fahrlässigkeit vorliegt.

Folgenreicher ist vielleicht die Abänderung des Art. 5, Absatz 2. Immerhin wird die Zahl der neu hinzukommenden Unfälle verhältnismäßig nicht groß sein ; eine finanzielle Mehrbelastung von daher dürfte den Transportanstalten kaum fühlbar werden.

Die vorgeschlagenen Abänderungen geben also in Bezug auf ihre ökonomischen Wirkungen zu berechtigten Bedenken keinen Anlaß ; vom formaljuristischen, wie vom Standpunkt der Billigkeit aus bringen sie eine bedeutende Verbesserung des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes.

Wir weisen zum Schlüsse noch darauf hin, daß das Anwendungsgebiet des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes nach dem Entwurfe zu einem Bundesgesetze betreffend die Unfallversicherung bedeutend verkleinert werden soll ; Art. 98 dieses Entwurfes lautet nämlich : ^Das Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht der

834

Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsunternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Heumonat 1875, wird mit Bezug auf die Haftbarkeit dieser Unternehmungen für Unfälle, durch welche die von. ihnen beschäftigten Personen als solche beim Betrieb betroffen werden, außer Kraft gesetzt und durch die Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend das Obligationenrecht vom 14. Brachmonat 1881 ersetzt"1.

Wir beantragen Ihnen, auf unsern Gesetzesentwurf einzutreten und denselben inhaltlich zu genehmigen.

Um die Vergleichung mit den bisherigen Bestimmungen zu erleichtern, legen wir Ihnen im Anhange unter I den Text des Gesetzes vom 1. Juli 1875 vor Augen und lassen unter II den Inhalt des Entwurfes folgen.

Im französischen Text des Gesetzes vom 1. Juli 1875 sind in Art. 5 die Beerdigungskosten weggelassen, deren Ersatz im Falle der Tötung nach dem deutschen Texte vorgeschrieben ist. Es erscheint geboten, bei diesem Anlasse den französischen Text mit dem deutschen in Übereinstimmung zu bringen, was wir in der französischen Ausgabe anläßlich der Reproduktion des Gesetzes von 1875 gethan haben.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 18. August 1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

835

.A. ri li a n g-.

I.

Bundesgesetz betreffend

die Haftpflicht der Eisenbahn- und DampfschiffahrtUnternehmungen bei Tötungen und Verletzungen.

(Vom Ì. Juli 1875.)

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 26. Mai 1874, beschließt: Art. 1. Wenn beim Bau einer Eisenbahn durch irgend welche Verschuldung der konzessionierten Unternehmung ein Mensch getötet oder körperlich verletzt wird, so haftet dieselbe für den dadurch entstandenen Schaden.

Art. 2. Wenn beim Betriebe einer Eisenbahn- oder Dampfschiffahrt-Unternehmung ein Mensch getötet oder körperlich verletzt wird, so haftet die Transportanstalt für den dadurch entstandenen Schaden, sofern sie nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt, oder durch Versehen und Vergehen der Reisenden oder dritter bei der Trans-

836

portanstalt nicht angestellter Personen (Art. 3) ohne eigenes Mitverschulden der Anstalt, oder durch die Schuld des Getöteten oder Verletzten selbst verursacht worden ist.

Art. 3. Die Eisenbahn- und Dampfschiffahrt-Unternehmungen haften sowohl für ihre Angestellten als für andere Personen, deren sie sich zum Betriebe des Transportgeschäftes, beziehungsweise zum Bau der Bahn bedienen.

Es bleibt ihnen jedoch in Fällen von Verschuldung diesen Personen gegenüber das Rückgriffsrecht vorbehalten.

Art. 4. Wenn nachgewiesen werden kann, daß der Getötete oder Verletzte sich durch eine verbrecherische oder unredliche Handlung oder mit wissentlicher Übertretung polizeilicher Vorschriften mit der Transportanstalt in Berührung gebracht hat, so kann kein Schadenersatz im Sinne der Artikel l und 2 dieses Gesetzes gefordert werden, selbst wenn der Unfall auch ohne sein Verschulden eingetreten sein sollte.

Art. 5. Im Falle der Tötung ist Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung und der Beerdigung, sowie des Vermögensnachteils zu leisten, welchen der Getötete während der Krankheit durch Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erlitten hat.

War der Getötete zur Zeit seines Todes verpflichtet, einem ändern Unterhalt zu gewähren, so kaon dieser insoweit Ersatz fordern, als ihm infolge des Todesfalles der Unterhalt entzogen worden ist.

Im Falle einer Körperverletzung ist Ersatz der Heilungskosten und des Vermögensnachteils zu leisten, welchen der Verletzte durch eine infolge der Verletzung eingetretene zeitweise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet.

Art. 6. Als Ersatz für den zukünftigen Unterhalt oder Erwerb ist, je nach dem Ermessen des Gerichtes, entweder eine Kapitalsumme oder eine jährliche Rente zuzusprechen.

837

Wenn im Momente der Urteilsfällung die Folgen einer Körperverletzung noch nicht genügend klar vorliegen, so kann der Richter ausnahmsweise für den Fall des nachfolgenden Todes oder einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes des Verletzten eine spätere Rektifizierung des Urteils vorbehalten.

Art. 7. Bei nachgewiesener Arglist oder grober Fahrlässigkeit der Transportanstalt kann dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten, auch ganz abgesehen vom Ersätze erweislicher Vermögensnachteile, eine angemessene Geldsumme zugesprochen werden.

Art. 8. Sind bei Gelegenheit der Tötung oder Körperverletzung eines Menschen, für welche die Transportanstalt nach den obigen Bestimmungen verantwortlich ist, und im Zusammenhange mit dem betreffenden Unfälle Sachen, welche der Getötete oder Verletzte unter seiner eigenen Obhut mit sich führte, ganz oder teilweise beschädigt worden oder abhanden gekommen, so ist auch dafür Schadenersatz zu leisten.

Außerdem ist für Abhandenkommen, Zerstörung oder Beschädigung von Sachen, welche der Transportanstalt weder als Frachtgut noch als Reisegepäck anvertraut worden sind, nur Schadenersatz zu leisten, wenn ein Verschulden der Transportanstalt nachgewiesen wird.

Art. 9. In den Fällen des Art. 8 ist der Schadenberechnung der wirkliche Wert der abhanden gekommenen, verstörten oder beschädigten Sache zu Grunde zu legen, ein weiteres Interesse dagegen nur bei nachgewiesener Arglist oder grober Fahrlässigkeit der Transportanstalt zu ersetzen.

Art. 10. Die in diesem Gesetze gewährten Schadenersatzansprüche verjähren in zwei Jahren von dem Tage an, an welchem die Tötung, Verletzung, Zerstörung oder Beschädigung, beziehungsweise das Abhandenkommen (Art. 8) .stattgefunden hat.

838

Diese Verjährung wird nicht allein durch Anstellung der Klage, sondern auch durch die schriftliche Anbringung der Reklamation bei der Direktion der betreffenden Anstalt unterbrochen, in der Meinung, daß, solange die Reklamation unerledigt bleibt, überhaupt kein Ablauf der Verjährung stattfinden kann.

Ergeht hierauf ein abschlägiger Bescheid, so beginnt vom Empfange desselben eine neue zweijährige Verjährung der Klage, welche durch eine neue Reklamation gegen jenen Bescheid nicht unterbrochen wird.

Art. 11. Bei Streitigkeiten über die aus diesem Gesetze entspringenden Schadenersatzansprüche hat das Gericht über die Höhe des Schadenersatzes und die Wahrheit der thatsächlichen Behauptungen nach freier Würdigung des gesamten Inhaltes der Verhandlungen zu entscheiden, ohne an die Beweisgrundsätze der einschlagenden Prozeßgesetze gebunden zu sein.

Art. 12. Réglemente, Publikationen oder specielle Vereinbarungen, durch welche die Schadenersatzverbindlichkeit nach den Bestimmungen dieses Gesetzes zum voraus wegbedungen oder beschränkt wird, haben keine rechtliche Wirkung.

Art. 13. Alle bundesgesetzlichen, kantonalgesetzlichen und reglementarischen Bestimmungen, sowie Publikationen und Vereinbarungen, welche mit den Bestimmungen dieses Gesetzes in Widerspruch stehen, sind aufgehoben.

Art. 14. Der Bundesrat wird beauftragt, auf Grundlage der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874, betreffend die Volksabstimmungen über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, die Publikation dieses Gesetzes zu veranstalten und den Beginn der Wirksamkeit desselben festzusetzen.

839

II.

Entwurf zu einem

Bundesgesetz betreffend

Abänderung und Ergänzung des Bundesgesetzes über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrt-Unternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Juli 1875.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht 18. August 1896,

einer Botschaft des Bundesrates vom beschließt:

I. Das Bundesgesetz betreffend Öie Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrt - Unternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Juli 1875, wird in folgenden Punkten abgeändert und ergänzt:

Art. 5.

Absatz 2 erhält folgende Fassung: ,,Haben andere Personen durch die Tötung ihren Versorger verloren, so ist auch für diesen Schaden Ersatz zu leisten.1*

840

Als Absatz 4 wird folgende Bestimmuüg aufgenommen : ,,Überdies kann der Richter bei einer Verstümmelung oder Entstellung, durch welche das Fortkommen des Verletzten erschwert wird, auch dafür eine Entschädigung zusprechen.u Art. 7 erhält folgende Fassung: ,,Bei nachgewiesenem Verschulden der Transportanstalt kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände, namentlich in Fällen von Arglist oder grober Fahrlässigkeit, dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten auch abgesehen von dem Ersatz erweislichen Schadens eine angemessene Geldsumme zusprechen.11 II. Der Bundesrat wird beauftragt, auf Grundlage der Bestimmungen des Buudesgesetzes vom 17. Juni 1874, betreffend die Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlusse, die Bekanntmachung dieses Gesetzes zu veranstalten und den Beginn der Wirksamkeit desselben festzusetzen.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend Abänderung und Ergänzung des Bundesgesetzes über die Haftpflicht der Eisenbahn- und DampfschiffahrtUnternehmungen bei Tötungen und Verletzungen, vom 1. Juli 1875 (Motion Brenner und Geno...

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1896

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

35

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

26.08.1896

Date Data Seite

825-840

Page Pagina Ref. No

10 017 540

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.