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Bericht des

schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1895.

(Vom 10. Februar 1896.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Wir haben die Ehre, Ihnen nach Vorschrift des Art. 47 des Gesetzes betreffend die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 über unsere Geschäftsführung im Jahre 1895 Bericht za erstatten.

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A.Allgemeines.

Die Organisation des Bundesgerichts, welche vor etwas mehr als zwei Jahren fast gänzlich umgestaltet worden war, hat neuerdings im Laufe des Berichtsjahres eine wesentliche Änderung erfahren, dies durch das Gesetz vom 28. Juni 1895, welches die bisher vom Bundesrate geübte Oberaufsicht über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen dem Bundesgerichte übertragen hat. Die Zahl der Mitglieder des Bundesgerichts hat das neue Gesetz auf sechzehn erhöht, eine Bestimmung, welche es dem Gerichte möglich machen wird, die ihm obliegende Mehrarbeit zu bewältigen, sowie zur Beseitigung der mit der Bestimmung des Art. 25 .-G. von 1893 verbundenen Nachteile wesentlich beitragen wird, auf welche wir in unserem letztjährigen Bericht Ihre hohe Versammlung aufmerksam gemacht hatten. Übrigens haben wir das in Art. 9 des neuen Gesetzes

1000 vorgesehene Reglement ausgearbeitet und unser Kanzleipersonal durch Ernennung eines dritten Gerichtsschreibers und eines vierten Sekretärs ergänzt, erstem in der Person des Herrn Dr. Merz, Gerichtsschreiber des Appellations- und Kassationshofes des Kantons Bern, den zweiten in der Person des Herrn Dr. Lansel in Lausanne.

Auch wurden zwei Kanzlisten ernannt und der neuen Abteilung für Schuldbetreibung und Konkurs zugeteilt, welche mit Rucksicht auf deren mehrjährige Thätigkeit als Mitglieder der frühern Oberaufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen aus den Herren Bundesrichtern Bachmann und Lienhard bestellt worden isL Durch diese Vermehrung des Personals wurde die Schaffung von drei neuen Bureaux nötig, für welche in Ermangelung anderer verfügbaren Räume die Westseite des obern Stockwerkes des Montbenongebäudes benutzt werden mußte. Beizufügen ist, daß die Lausanner Gemeindebehörde diesen an sie gestellten Anforderungen/ bereitwilligst nachgekommen ist, so daß die neuen Einrichtungen schon Ende Dezember, d. h. zu der vom Bundesrate für das Inkrafttreten des Gesetzes vom 28. Juni 1895 festgesetzten Zeit, ausgeführt waren.

Die Zahl der Gerichtssitzungen belief sich im Berichtsjahre auf 150, wovon 16 Plenarsitzungen.

Das Kassationsgericht hat vier Sitzungen gehalten, das Strafgericht hingegen eine einzige.

Die Anklagekammer und die Kriminalkammer hatten im Jahre 1895 keine Sitzung.

B. Specieller Teil.

I. Ciyilrechtspflege.

Die Civilsachen, welche im Berichtsjahre beim Bundesgericht anhängig waren, sind in folgender Tabelle zusammengestellt:

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1. Erst- und leUtinstanzlich zu beurteilende Civilsachen .

2. Rekurse gegen Entscheide eidgenössischer Schatzungskommissionen 3. Rekurse gegen Entscheide des Massaverwalters in Zwangsliquidationen von Eisenbahnen 4. Rekurse gegen Urteile kantonaler Gerichte . . . .

5. Kassationsbegehren gegen Urteile kantonaler Gerichte Total

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Ad 1. Die 52 erst- und letztinstanzlich beurteilten Civilsachen zerfallen in : 13 Prozesse, die den Bund betrafen, wovon 12, in denen er Beklagter war; 2 Prozesse zwischen Kantonen; 24 Prozesse zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen anderseits; 1 Bürgerrechtsstreitigkeit zwischen Gemeinden verschiedener Kantone; 2 Prozesse zwischen Eisenbahngesellschaften aus Art. 33, Abs. 4, des Bundesgesetzes über Bau und Betrieb der Eisenbahnen ; 3 Prozesse gegen Eisenbahngesellschaften, wovon 2 aus Art. 23 und der dritte aus Art. 47 des eidgenössischen Expropriationsgesetzes ; l Klage auf Entschädigung gegen die Liquidation einer Eisenbahngesellschaft; 6 Prozesse, in denen das Bundesgericht als vereinbarter Gerichtsstand angerufen wurde.

1002 Siebzehn dieser Prozesse wurden im Berichtsjahre erledigt.

Sechs derselben fielen unter die Kompetenz der 1. Abteilung, elf unter diejenige der 2. Abteilung. Es waren: 2 den Bund betreffende Prozesse, wovon einer auf die Zurückforderung von Mobilien, der andere auf vorzeitige Rückzahlung eines kantonalen Anleihens Bezug hatte; beide wurden zu gunsten des eidgenössischen Fiskus entschieden ; l von Kanton Schwyz gegen den Kanton Bern angestrengter Prozeß betreffend das kantonale Bürgerrecht; das Begehren von Schwyz wurde abgewiesen ; 9 Prozesse zwischen Kantonen und Privaten; dieselben beachlugen sehr verschiedenartige Materien, wie Steuerprivilegien, Wasserrechte, Fischereirechte, Schadenersatzforderungen (zumeist aus Art. 50 ff. O.-R.); l Forderung aus Fabrikhaftpflicht; l Prozeß gegen eine Versicherungsgesellschaft; l Rekurs einer zur Zahlung einer Entschädigung verurteilten Gesellschaft; l Forderung aus Art. 23 des Bundesgesetzes über Expropriation; l Forderung aus Art. 4? desselben Gesetzes.

Ad a. Eine große Anzahl von Expropriationsstreitigkeiten haben in das Jahr 1896 übertragen werden müssen. Es erklärt sich dies daraus, daß viele derselben erst in den letzten Monaten des Berichtsjahres vor das Bundesgericht gebracht wurden, d. h.

zu einer Zeit, wo die Witterung eine zweckdienliche Vornahme der von den Parteien verlangten Beweisoperationen nicht mehr zuließ.

Ad 3. Diese Rekurse konnten nicht erledigt werden, indem auf Ersuchen einer Partei das benötigte Beweisverfahren von neuem vorgenommen werden mußte. In die Liquidation der Rolhornlinie spielen übrigens andere Prozesse hinein, die noch nicht zu Ende geführt werden konnten. ' Ad 4. Die Berufungen gegen kantonale Urteile gemäß Art. 56 ff.

des Organisationsgesetzes betrafen, soweit sie sich überhaupt auf eidgenössisch geregelte Privatrechtsgebiete bezogen, folgende Materien : 15 Ehescheidungen; 18 Forderungen aus Eisenbahnhaftpflicht; 16 Forderungen aus Fabrikhaftpflicht; l Forderung aus Eisenbahntransport; 33 Forderungen aus unerlaubten Handlungen (Art. 50 ff. O.-R.J; 83 Übertrag.

1003 83 Übertrag.

3 Forderungen aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 70 ff.

O.-R.);

2 Verrechnungsstreitigkeiten; l Abtretung einer Forderung; ^ Eigentumsstreitigkeiten ; l Faustpfand- und Retentionsrecht ; 17 Kauf und Tausch; 4 Miete; l Pacht; 5 Darlehen; 9 Dienstmiete; 3 Werkvertrag; 9 Mandat; l Kommission; 9 Bürgschaft; 3 Spiel (Differenzgeschäft); 5 einfache Gesellschaft; 1 Vereinsrecht; 2 Aktiengesellschaft srecht; 4 Firmenrecht; 5 unbenannte Verträge; 5 Unfallversicherung ; l Feuerversicherung ; 4 Markenschutz ; l gewerbliche Muster und Modelle ; l Patentrecht; l Urheberrecht an Werken der Litteratur und Kunst; 10 Anfechtungsklage; 3 Konkursrecht; 199 21 andere Rekurse betrafen Privatrechtsmaterien, die nicht nach eidgenössischem Rechte zu entscheiden sind (15), oder sie hatten Bezug auf Entscheide, welche nicht als eigentliche Civilhaupturteile erschienen, oder auf solche, die das Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren anbelangten, woselbst keine Berufung an das Bundesgericht statthaft ist (6), 220 ergiebt sich somit als Gesamtzahl der im Berichtsjahr erledigten Geschäfte.

Die Art der Erledigung und die Herkunft der im Jahre 1895 behandelten Berufungen ist aus folgender Tabelle ersichtlich :

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Graubünden . .

Luzern . . . .

Neuenburg . .

Nidwaiden . . .

Obwalden . . .

Schaffhausen . .

Schwyz . . . .

Solothurn . . . .

St. Gallen . . .

Tessin Thurgau . . . .

Uri Waadt . . . .

Wallis (deutscher Teil) . . . .

Wallis (französischer Teil) . . . .

Zug Zürich . . . .

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1005 Die pendent gebliebenen Berufungen rühren vom Monat Dezember 1895 her mit Ausnahme einer einzigen, welche dem Bundesgericht im November vorgelegt wurde, deren Instruktion aber infolge eines zugleich vor die obere kantonale Instanz gebrachten Kassationsbegehrens hat eingestellt werden müssen.

Die U n z u l ä s s i g k e i t der Berufungen mußte in 13 Fällen wegen Formmängeln ausgesprochen werden, sei es wegen Verspätung (6), sei es, weil der Rekurrent in seiner Eingabe nicht genau bestimmt hatte, in welchem Maße das kantonale Urteil angefochten und für welchen Teil desselben eine Abänderung verlangt war (4), sei es endlich, weil bei einem Hauptwert von wenigstens Fr. 4000 unterlassen worden war, der Berufung eine begründete Rechtsschrift beizulegen (3). .

Das Bundesgericht konnte in 15 Fällen m a n g e l s K o m p e t e n z nicht eintreten, da nicht eidgenössisches, sondern k a n t o n a l e s (12) oder a u s l ä n d i s c h e s Recht (3) anzuwenden war.

In 7 Fällen war der Rekurs nicht gegen ein H a u p t u r t e i l der l e t z t e n kantonalen Instanz gerichtet und mußte a u c h aus diesem Grunde als unzulässig erklärt werden ; 2 dieser Fälle betrafen Kompetenzfragen, l einen Arrestbefehl, l ein Konkurserkenntnis, l einen Ausweisungsbefehl gegen einen Mieter, l ein Urteil, das nur über einen Teil des Rechtsstreites entschieden hatte, l endlich «ine bloß vorläufige Entscheidung. Überdies erreichte in 4 Fällen der Streitwert nicht das vom Gesetze verlaugte Minimum. In 28
Ihrer Materie nach verteilen sich die 46 Fälle, in denen das kantonale Urteil abgeändert wurde, folgendermaßen : 2 betreffen Ehescheidungsklagen, 9 Haftpflicht der Eisenbahnen für Unfälle, 4 die Haftpflicht aus Fabrik betrieb, 6 Schadenersatz aus unerlaubten Handlungen, l Eigentumsrecht, l Faustpfand- und Retentionsrecht, 4 Kauf, l Miete, 4 Dienstmiete, l Mandat, 3 Bürgschaft, 2 einfache Gesellschaft, l Aktiengesellschaftsrecht, l Firmenrecht, l pactum de non licitando, 2 Unfallversicherung, 2 Markenschutz, l Anfechtungsklage.

In drei Fällen wurde das kantonale Urteil a u f g e h o b e n und die Sache zu neuer Beurteilung an das kantonale Gericht zurückgewiesen; in einem dieser Fälle handelte es sich um Schadenersatz aus unerlaubter Handlung, im ändern um ein Darlehen und im dritten um eine Dienstmiete betreffend eine wissenschaftliche Berufsart. (O.-R. Art. 348.)

1006 Das s c h r i f t l i c h e V e r f a h r e n , das in vermögensreohUichea Streitigkeiten unter Fr. 4000 zur Anwendung kommt, fand in 43 Fällen statt.

Unter die b e i d e n A b t e i l u n g e n des Bundesgerichts v e r t e i l t e n s i c h die B e r u f u n g e n wie folgt: l. Abteilung. II. Abteilung. Total.

Aus dem Jahre 1894 übergetragene Geschäfte 6 6 Im Jahr 1895 eingegangene Geschäfte . . 162 46 Total 1 Î 6 8 5 2 Im Jahr 1895 erledigt . . . ' . . . . 158 50 Aufs Jahr 1896 übergetragen 10 2

12 208 220 20& 12

Was die materielle Erledigung der das eidgenössische Privatrecht betreffenden Geschäfte anbelangt, auf welche sich diese Rekurse beziehen, so glauben wir uns damit begnügen zu können, auf Band XXI der Amtlichen Sammlung unserer Entscheide verweisen zu können. Es sind darin alle Urteile von allgemeinem Interesse aufgenommen worden.

Indessen glauben wir hervorheben zu müssen, daß, wie wir aus einem uns vorgelegten Falle ersehen haben, die Gesetzesvorschriften über die Firmen der Kollektivgesellschaften und diejenigen über Eintragung der Prokuraerteilungen ins Handelsregister nicht überall von den kantonalen Beamten, denen die Führung dieses Registers obliegt, regelrecht angewendet werden. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, .die Darlegung des SachVerhaltes und der Rechtsfragen auf Seite 579 ff. des XXI. Bandes unserer ,,Sammlung"zu durchgehen.

Außer den eben erwähnten BerufungeQ gelangten an das Buudesgericht noch während des Berichtsjahres l R e v i s i o n s b e g e h r e n , das abgewiesen wurde, und 4 B e g e h r e n um Erläuterung von Entscheiden des Bundesgerichtes; von letzteren wurden 3 angenommen, während auf das vierte, da es verfrüht war, nicht eingegangen wurde. Ebenfalls abgewiesen wurde ein Begehren um W i e d e r e i n s e t z u n g in vorigen Stand bei Nichtbeobachtung einer Frist Endlich hatte das Buudesgericht in einem Falle das einem Anwalt von seinem Klienten geschuldete Honorar gemäß Art. 222, Absatz 3, des Gesetzes betreffend Organisation der Bundesrechtspflege festzusetzen.

Ad 5 und 6. Im Jahre 1895 wurden dem Bundesgerichte keine A m o r t i s a t i o n s a n t r ä g e betreffend Wechsel oder Inhabeipapiere vorgelegt. Hingegen gelangten K a s s a t i o n s b e s c h w e r d e n in Civilsachen (Art. 89 des Organisationsgesetzes) an dasselbe. Die

1007

eine wurde als unzulässig abgewiesen, indem der Rekurrent nicht behauptete, daß die kantonale Instanz das kantonale oder ausländische Recht statt des eidgenössischen zur Anwendung gebracht hatte; das gleiche Schicksal traf die zweite, da der Rekurrent das gegen ihn erlassene Urteil nachträglich angenommen hatte; die dritte endlich wurde ins Jahr 1896 übergetragen, weil die Instruktion wegen eines zugleich bei der obern kantonalen Instanz anhängig gemachten Kassationsbegehrens hatte unterbrochen werden müssen.

II. Strafrechtspflege.

a. Kassationsgericht.

Das Kassationsgericht hatte sieben Beschwerden zu erledigen, wovon die eine Ende 1894, die ändern im Laufe des Berichtsjahres ergriffen worden waren. Drei dieser Beschwerden waren gegen Urteile betreffend Übertretung des Zollgesetzes gerichtet ; zwei bezogen sich auf Strafen, die über die Rekurrenten nach Vorschrift des Alkoholgesetzes vom 23. Dezember 1886 verhängt worden waren ; eine rührte von einem wegen Verletzung des Viehseuchengesetzes Verurteilten her; die siebente betraf die Anwendung des Gesetzes über den Schutz von Mustern und Modellen. Die fehlerhafte Auslegung des Art. l des Zollgesetzes durch die kantonale richterliche Behörde führte zur Gutheißung eines dieser Rekurse ; die übrigen sechs wurden abgewiesen.

b. Bundesstrafgericht.

Beim Bundesstrafgericht wurde im Jahre 1895 ein einziger Fall anhängig gemacht. Er betraf Einführung nicht deklarierter Waren durch eine französische Firma. Die vom eidgenössischen Departement dem Übertreter auferlegte Buße, welche dieser zu entrichten sich weigerte, wurde vom Strafgericht bestätigt, aber etwas gemindert.

III. Staatsrechtspflege.

Die Zahl der im Jahre 1895 beim Bundesgericht anhängig gemachten staatsrechtlichen Streitigkeiten beläuft sich auf 225. Es verteilen sich dieselben folgendermaßen :

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1 . Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen . . .

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2. Auslieferungen 3. Rekurse von Privaten : a. wegen Verletzung von Staatsverträgen . . . .

6. wegen Verletzung von Konkordaten . . . .

c. wegen Verletzung der Bundesverfassung , von Bundesgesetzen und Kantonsverfassungen . . .

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24

Ad i. Die Grenzfrage, die wir im letztjährigen Berichte als zwischen den Kantonen Appenzell Außerrhoden und St. Gallen pendent anführten, wurde durch Urteil vom 11. Dezember 1895 erledigt, und zwar zu gunsten Appenzells. Zu bemerken ist jedoch, daß letzterer Kanton vor unserm Gerichtshofe seine ursprünglich gestellten Begehren bedeutend herabgesetzt hatte und der Rechtshandel somit die Bedeutung verloren hatte, die ihm zur Zeit der der Anrufung des Bundesgerichtes vorangegangenen Verhandlungen zukam. Was die ändern im Jahre 1895 erledigten Streitigkeiten zwischen Kantonen anbelangt, so betraf die eine derselben das Bundesgesetz vom 24. Juli 1852 über Auslieferung; in zwei ändern handelte es sich um Kompetenzfragen; endlich rief die fünfte der Auslegung eines privatrechtlichen Vertrages zwischen den Kantonen Thurgau und Zürich. Sie entzog sich somit der Kompetenz des Gerichtes als staatsrechtlicher Gerichtsstelle, und der Kanton, welcher die Streitigkeit vor dasselbe gebracht hatte, mußte an den Civilrichter gewiesen werden.

Ad 2. Von den fünf Auslieferungen, über die das Bundesgericht im Berichtsjahre zu urteilen hatte, waren zwei von der Re-

1009 gierung des Deutschen Reiches, die drei ändern von der italienischen Regierung begehrt. Dem einen jener ersten Begehren konnte nicht willfahrt werden, indem das Bundesgericht annahm, es sei unmöglich, der ihm zu Grunde liegenden Gesetzesbestimmung die Auslegung beizumessen, auf welche die deutsche Behörde sich berief.

Ad Sa. Von diesen Rekursen waren acht auf die mit Frankreich geschlossenen Verträge über Niederlassung und Gerichtsstand gegründet ; der neunte bezog sich auf den Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland; drei derselben wurden als wohlbegründet erklärt.

Ad 3 b. Es handelte sich in diesem Falle um eine der Regierung von Appenzell zur Last gelegte angebliche Verletzung oder vielmehr falsche Auslegung des Konkordats zwischen diesem Kanton und dem Kanton St. Gallen betreffend die Besteuerung der in das Gebiet beider Kantone hineinreichenden Grundstücke. Die Beschwerde des rekurrierenden Eigentümers wurde abgewiesen.

Ad 3 c. Die Zahl der im Jahre 1895 erledigten Rekurse von Korporationen und Privaten war, wie bereits erwähnt, 180. Sie verteilen sich wie folgt : 125 stützten sich auf Bestimmungen der Bundesverfassung, nämlich : 78 auf Art. 4, 1 auf Art. 44, 6 auf Art. 45, 10 auf Art. 46, 3 auf Art. 50, 2 auf Art. 54, 3 auf Art. 55, 17 auf Art. 59, Absatz l, 2 auf Art. 59, Absatz 3, 3 auf Art. 61.

19 Rekurse brachten die Verletzung von Bundesgesetzen vor, nämlich : 8 des Gesetzes betreffend persönliche Handlungsfähigkeit, 3 des Gesetzes vom 24. Juli 1852 über Auslieferung, 5 des Gesetzes betreffend Verzicht auf das Schweizerbürgerrecht, 3 des Gesetzes betreffend die civilrechtlichen Verhältnisse.

29 riefen Bestimmungen der Kantonsverfassungen an, besonders auf die Teilung der Gewalten und die Garantie des Eigentums bezügliche.

2 Rekurse betrafen außerhalb der Kompetenz des Bundesgerichtes liegende Fragen, indem einer derselben gegen einen EntBundesblatt. 48. Jahrg. Bd. I.

68

1010

Pendent gehlieben.

Abgewiesen.

Begründet erklärt.

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Anerkennung durch den Beklagten, l

Nichteintreten.

scheid des Bundesrates, der andere gegen eine Auferlegung der Militärsteuer gerichtet war.

6 Rekurse endlich stützten sich auf gar keine Gesetzesbestimmungen.

Aus folgender Tabelle ist der Ursprung dieser Rekurse, sowie die ihnen vom Bundesgerichte erteilte Lösung ersichtlich.

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Appenzell I.-Rh. . . .

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als begründet erklärten Rekurse stützten sich : Art. 4 der Bundesverfassung; 44 I 45 l l ,, 46 ,, T>

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,, 59 ,, ,, 61 ,, die Verträge mit Frankreich; fl ,, das Gesetz von 1852 betreifend die Auslieferung von Verbrechern ; 3 auf das Gesetz über Verzicht auf das schweizerische Bürgerrecht; l auf das Gesetz über civilrechtliche Verhältnisse der Niedergelassenen ; 3 auf Bestimmungen der Kantonsverfassungen.

Die meisten soeben aufgezählten Entscheide haben in der offiziellen Sammlung der Entscheide Plate gefunden. Wir begnügen uns damit, auf dieselbe zu verweisen.

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IV. Freiwillige Gerichtsbarkeit.

Gegen das Verfahren der Schatzungskommissionen ist dem Bundesgericht keine Beschwerde zugekommen.

Die Liquidation der Rothornbahn konnte aus oben erwähnten Gründen nicht abgeschlossen werden.

Dem Bundesgericht wurde im Jahre 1895 ein Begehren um Eröffnung einer Zwangsliquidation unterbreitet. Es betraf dieses die Thunersee-Eisenbahngesellschaft und rührte von zwei Inhabern von Partialobligationen des Anleihens des Jahres 1892 her. Die Mehrheit der Titelinhaber des betreffenden Anleihens hat es jedoch in einer gemäß Art. 15 des Gesetzes vom 24. Juni 1874 einberufenen Versammlung abgelehnt, sich diesem Begehren anzuschließen. Somit wurde demselben keine Folge gegeben.

V. Zusammenstellung der Streitsachen.

Aus vorstehender Darstellung ergiebt sich, daß die Zahl der vor dem Bundesgerichte im Berichtsjahre anhängigen Geschäfte 775 betrug, wovon:

1012 52 Civilsachen, welche das Bundesgericht als einzige Instanz zu erledigen hatte, gegen 54 des Vorjahres; 255 Expropriationsstreitigkeiten, gegen 193 des Vorjahres; 220 Berufungen gegen Civilurteile der kantonalen Gerichte, gegen 213 des Vorjahres; 10 Rekurse gegen Entscheide des Liquidators der Rothornbahn, gegen 14 des Vorjahres; 3 Kassationsbegehren, gegen keine des Vorjahres; 225 staatsrechtliche Streitigkeiten, gegen 268 des Vorjahres ; 8 Straffälle, wie im Vorjahre; 2 Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, gegen 7 im Vorjahre.

Summa 775, somit 18 mehr als im Vorjahre.

Im Berichtsjahre wurden erledigt: 17 erst- und letztinstanzlich zu beurteilende Civilsachen ; 114 Expropriationen; 208 Berufungen in Civilsachen ; 2 Kassationsbegehren; 7 Straffälle; 203 staatsrechtliche Streitigkeiten; l Geschäft der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

Summa 552, gegen 628 im Vorjahre.

Die durchschnittliche Dauer der Geschäfte betrug: Monate. Tage.

A. Für erst- und letztinstanzlich beurteilte Civilsachen : Vom Eingang bis zum Urteil 12 -- Von der Erledigung bis zur Zustellung . . . -- 41l/2 B. Für die Expropriationen: Bis zum Urteil 7 14 Von der Erledigung bis zur Zustellung . . . -- 14^2 C. Für Berufungen in Civilsachen: Bis zum Urteil l 14 Von der Erledigung bis zur Zustellung . . . -- 36 D. Für staatsrechtliche Streitigkeiten: Vom Eingang bis zum Entscheid 2 25 Vom Entscheid bis zur Zustellung . . . . -- 37 E. Für Straffälle: Vom Eingang bis zum Entscheid 2 12 Vom Entscheid bis zur Zustellung . . . . -- 38

1013 Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

L a u s a n n e , den 10. Februar 1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichts, Der Präsident:

J. Broye.

Der G e r i c h t s s c h r e i b e r :

Dr. Honegger.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1895. (Vom 10. Februar 1896.)

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10

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

04.03.1896

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999-1013

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