759

# S T #

Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über den Bundesbeschluß vom 28./29. Juni 1895, betreffend Mitteilung der dem Versicherungsamte zugehenden Civilurteile an Drittpersonen.

(Vom 25. Februar 1896.)

Tit.

Unterm 28. 29. Juni 1895 hat die Bundesversammlung einen Beschluß gefaßt, dessen Ziffer 2 lautet: "Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen die Einsichtnahme der in Gemäßheit des Bundesbeschlusses vom 20. Dezember 1888 an das Versicherungsamt gelangenden Civilurteile dritten Personen zu gestatten sei" Nach eingehender Prüfung dieser Frage haben wir die Ehre, Ihnen nachstehenden Bericht vorzulegen : I.

Vom praktischen Standpunkte aus ist zu bemerken, daß die Einsichtnahme in die Civilurteile durch Drittpersonen für die Beamten und Angestellten des Versicherungsamtes eine fortwährende Arbeitsstörung zur Folge haben müßte. Die Zahl derjenigen, welche von fraglichen Urteilen Kenntnis zu nehmen wünschen, dürfte in der That sehr bedeutend sein, da es nicht anginge, unter

760

ihnen einen Unterschied zu machen; jeder beliebige Dritte kann ein berechtigtes, pekuniäres oder wissenschaftliches Interesse daran haben, jene Urteile zn kennen. So würden beim Versichernngsamte unter ändern vorsprechen : Direktoren und Agenten von Versicherungsgesellschaften, um über diese oder jene Konkurrenzanstalt zur Veröffentlichung verwendbares Material /.u linden; Personen, welche zur Versicherung oder zur Übernahme einer Versicherungsagentur ermuntert werden und nun über die gerichtlichen Antecedenzen der betreffenden Gesellschaft sich zu imibrmieren wünschen ; Advokaten, Notare oder Geschäftsagenten, um sich über die geltende Rechtspraxis in dieser oder jener speciellen Frage zu orientieren: angehende Juristen, Journalisten u. s. w.

Alle diese Personen -- und namentlich die erstgenannten -- würden versucht sein,? anläßlich ihres Besuches beim Versicherung.^ O amte dessen Beamte um ihre Meinung über diese oder jene Gesellschaft, über diese oder jene persönliche Angelegenheit anzugehen. Darin läge die Gefahr einer Beeinträchtigung der strengen Unparteilichkeit und Diskretion, welche dem Versicherungsamto zur Pflicht gemacht sind und die Grundbedingung seiner Autorität bilden.

Obschon das Personal des Versicherungsamtes, unserer Überzeugung nach, dieser Gefahr gewachsen wäre, so bliebe immer noch der namhafte Zeitverlust, welchen solche bei jeder Einsichtnahme von Urteilen an die Beamten gerichtete Fragen nach sich zögen.

Wollte man die Einrichtung nicht bloß dem Publikum vou Bern und Umgebung nutzbar machen, so müßte der Auskunftsdienst des Bureaus auch noch auf Korrespondenzen mit auswärts wohnenden.

Dritten und auf Anfertigung von Urteilsabschriften -- auf Kosten dieser Dritten -- ausgedehnt werden.

Es ist klar, daß die jetzigen 7 Beamten und Angestellten des Versicherungsamtes die hieraus sich ergebende Mehrarbeit nicht zu bewältigen vermöchten und daß eine Vermehrung des Personals, sowie die Einrichtung eines besonderen Zimmers, wo die Urteile vom Publikum eingesehen werden könnten, unvermeidlich wäre..

Von der Kostenfrage abgesehen, müssen wir darauf aufmerksam machen, daß auf solche Weise dem Versicherungsainte eine Rolle zugewiesen würde, welche mit seiner ursprünglichen Bestimmung nicht im ' Einklang stünde: das gemäß Art. 12, zweites Alinea, des Bundesgesetzes über die Beaufsichtigung der privaten Unternehmungen auf dem Gebiete des Versicherungswesens er-

761

lichtete Versicherungsamt soll den Bundesrat in Ausübung jener Aulsicht unterstützen. Ist es aber einmal Auskunftsbureau über Civil urteile in Versicherungsstreitfragen geworden, so kann ihm mit ·demselben Rechte die Belehrung des Publikums über alle möglichen Versicherungsfragen zugemutet werden; mit dem gleichen Interesse, wie heute die Ci vil urteile, könnten Dritte auch die technische Bibliothek oder gewisse Sammlungen des Versicherungsamtes (Versicherungsgesetze etc.) zu Rate ziehen wollen.

Wir glauben aber nicht, daß es in Ihrer Absicht liege, diese Bahn zu betreten.

11.

Mit Rücksicht auf das Gesagte und zur Vermeidung so bedeutender Ausgaben wäre es noch vorzuziehen, die in Frage kommenden Urteile auf Kosten des Bundes im Bundesblatte zu veröffentlichen, statt sie beim Versichorungsamte zur Verfügung des Publikums zu halten.

Eine solche Veröffentlichung hätte jedoch nicht mehr Berechtigung als beispielsweise diejenige der im Civilstande vorkommenden Änderungen (Ehescheidungen etc.), welche den Bundesbehörden {Art. 57 des Gesetzes vom 24 Dezember 1874) auch mitgeteilt werden, so gut wie Civilurteile in Versicherungssachen: das Interesse des Publikums ist auf beiden Gebieten dasselbe.

Es sei übrigens noch bemerkt, daß in der Schweiz ungefähr 18 juristische Zeitschriften bestehen, womit gesagt ist, daß die meisten Urteile in Versicherungssachen, wenn sie nur einigermaßen Interesse für das Publikum bieten, in jenen Zeitschriften zur Veröffentlichung gelangen, und zwar um so eher, als es sich bei dieser Art von Prozessen durchschnittlich um verhältnismäßig bedeutende Streitsummen handelt. Man darf annehmen, daß Urteile, die nicht veröffentlicht werden, entweder für das Publikum ohne Interesse sind, oder daß deren Veröffentlichung auf gesetzliche Hindernisse stößt. Wir werden auf diese Hindernisse später zurückkommen und alsdann zeigen, daß es der Eidgenossenschaft nicht ansteht, sich über dieselben hinwegzusetzen. Halten wir hier einzig die Thatsache fest, daß den Bedürfnissen der Interessenten auch in .anderer Weise als durch Veröffentlichung der Urteile seitens des Bundes genügt wird.

762

m.

Wenn wir die vorliegende Frage vom praktischen Standpunkte beleuchtet haben, so geschah dies lediglich der Vollständigkeit wegen ; in Wirklichkeit war dieser Teil unseres Berichtes insofern überflüssig, als die Erwägung rechtlicher Natur, welche wir noch geltend zu machen haben, für sieh allein schon genügt, um zu einer Ablehnung der Mitteilung an Dritte, oder der Veröffentlichung der dem Versicherungsamte auf Grund des Bundesbeschlusses vom 20. Dezember 1888 zugehenden Urteile zu gelangen.

Der B u n d e s r a t , b e z i e h u n g s w e i s e d a s V e r s i c h e r u n g s a m t, i s t n i c h t b e r e c h t i g t , j e n e U r t e i l e D r i t t p e r s o n e n m i t z u t e i l e n , aus folgenden Gründen: «. Der Bundesbeschluß vom 20. Dezember 1888 stützt sich ausdrücklich auf Art. 34, Absatz 2, der Bundesverfassung, lautend : ,,Der Geschäftsbetrieb von Privatunternehmungen im Gebiete des Versicherungswesens unterliegt der Aufsicht und der Gesetzgebung der Bundes" Wie aus der Einleitung in dem Beschlüsse gefolgert werden muß, bildet die soeben angeführte Bestimmung der Verfassung die einzige g e s e t z l i c h e G r u n d l a g e , d.h. die einzig m ö g l i c h e R e c h t f e r t i g u n g j e n e s B e s c h l u s s e s . Dieser i s t also nur verfassungsgemäß, soweit er der B u n d e s a u f s i c h l über den Geschäftsbetrieb der Versicherungsanstalten dient. Die Mitteilung der Civilurteile in Versicherungsfragen an Dritte gehört aber offenbar nicht zur ,,Bundesaufsicht" Sie wäre demnach ein Mißbrauch des Beschlusses vom 20. Dezember 1888.

Die Kantone haben das Recht, zu bestimmen, dal» die von ihren Gerichten gefällten Urteile nur von den am Prozesse beteiligten Parteien, oder von solchen, welche ein berechtigtes Interesse an jenen Urteilen nachweisen, eingesehen werden können.

Der Bundesbeschluß vom 20. Dezember 1888 darf also nicht in einer Weise ausgelegt werden, welche derartige kantonale Bestimmungen wirkungslos machen würde, und dahin müßte man in der Praxis gelangen, wenn das Versicherungsamt die Urteile, welche ihm auf Grund des Bundesbeschlusses vom 20. Dezember 1888 zugehen, Drittpersonen mitteilen würde. Die Kantone, beziehungsweise ihre Gerichte, sind durch den genannten Beschluß nur insoweit verpflichtet, als derselbe auf Art. 34, Absatz 2, der Bundesverfassung
beruht, d. h. einzig innert der Grenzen, in denen die dem Versicherungsamte zu machenden Mitteilungen zur Ausübung der Bundesauf'sieht dienen. Die Mitteilungen der Kantone ge-

763 schehen also sozusagen unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß von denselben keine mit Art. 34, Absatz 2, der Bundesverfassung nicht im Einklang stehende Verwendung stattfinde.

b. Der Bundesbeschluß vom 20. Dezember 1888 bezieht sich auf die Botschaft des Bundesrates vom 24. November 1888 (Bundesblatt 1888, IV, pag. 764--766).

In der Erörterung des ins Auge gefaßten Zweckes bestätigt die Botschaft vollkommen das soeben Gesagte : daß der Beschluß nur der ,,Bundesaufsicht a über die Versicherungsanstalten, d. h.

zur Ausführung von Art. 34 der Verfassung zu dienen habe. Als Rechtfertigung der Maßnahme, wodurch die Gerichte verpflichtet werden, alle, die privaten Versicherungsunternehmungen betreffenden Civilurteile dem Versicherungsamte mitzuteilen, macht der Bundesrat geltend, daß sich in den auf Grund des Aufsichtsgesetzes vom 25. Juni 1885 von den Gesellschaften gelieferten Angaben eine Lücke ergebe, welche darin bestehe, daß der Bundesrat von den zwischen den Versicherungsgesellschaften und ihren Klienten geführten Prozessen nicht regelmäßig Kenntnis erhalte. So ,,fehle den Aufsichtsbehörden ein wichtiges Mittel zur Beurteilung des Geschäftsgebarens der Gesellschaften11, sie seien daher außer' stände, die Aufschlüsse zu geben, welche man von ihnen erwarte.

,,'Die Anwendung und die praktischen Wirkungen der Versicherungsbedingungen in den einzelnen Fällen entziehen sich zum Teil ihrer Beobachtung." Endlich seien die Aufsichtsbehörden ,,nicht im stände, festzustellen, wo und wie die künftige Versicherungsgesetzgebung hauptsächlich einzusetzen habe".

Alle diese Gründe lassen sich in einen zusammenfassen, der, wie wir schon weiter oben sagten, die einzige gesetzliche Berechtigung für fraglichen Beschluß bildet, nämlich die N o t w e n d i g k e i t der b e s s e r n A u s f ü h r u n g des Art. 34, A b s a t z 2, der Verfassung durch Vervollständigung der Aufsicht und der B u n d e s g e s e t z g e b u n g im G e b i e t e des V e r s i c h e r u n g s w e s e n s . In der Botschaft ist selbstverständlich nicht davon die Rede, daß die im Bundesbeschluß vorgesehenen Mitteilungen dazu dienen sollen, dem Publikum über die gerichtlichen Händel dieser oder jener Gesellschaft Aufschluß zu geben.

c. Die Botschaft vom 24. November 1888 weist darauf hin, daß die Gerichte den Bundesbehörden
bereits in Ehescheidungsund Nichtigkeitssachen ä h n l i c h e Mitteilungen machen, wie sie der projektierte Beschluß vorsieht. Es besteht in der That eine Ähnlichkeit, aber nur dann, wenn man -- in Bezug auf die das

764

Versicherungswesen betreffenden Mitteilungen -- die Auslegung gelten läßt, welche wir weiter oben dem Beschluß von 1888 gegeben haben : auf dem einen wie auf dem ändern Gebiete handelt es sieh für die Kantone um eine Pflicht, deren einziger Zweck und ausschließliche Begründung die Handhabung der Bundesverfassung ist (Art. 57 des Gesetzes vom 24. Dezember 1874, gestützt auf Art. 53 der Verfassung). Niemand aber fällt es ein, zu verlangen, daß die den Bundesbehörden mitgeteilten Ehescheidungsurteile, so interessant sie auch für Dritte sein mögen, diesen letztern durch die Eidgenossenschaft bekannt gegeben werden.

d. Unsere Anschauung wird noch in einem weitern Punkte, betreffend den Zweck des Beschlusses und die Grenzen seiner Gesetzmäßigkeit, durch die Botschaft vom 24. November 1888 bestätigt.

,,Die Zusammenstellung11, sagt die Botschaft, ,,würde nur die Fälle umfassen, in welchen eine Versicherungsgesellschaft als Partei erscheint, und nicht auch solche, in welchen zwischen anderweitigen Interessenten über die Berechtigung an den ausbezahlten Summen auf Grundlage des Erb-, ehelichen Güter-, Sachenoder Konkursrechtes gestritten wird.a Obschon die Mitteilung der Urteile letzterer Art für das Versicherungsamt von großem Interesse gewesen wäre, glaubte der Bundesrat dieselbe nicht beantragen zu können, mit Rücksicht darauf, daß zum Eintreten auf diese Gebiete dem B u n d e die K o m p e t e n z f e h l e , mit ändern Worten, diese Mitteilung wurde nicht verlangt, w e i l s i e die G r e n z e n des A r t. 34, A b s a t z 2, de r V e r f a s s u n g ü b e r schritten hätte.

Aus den gleichen Gründen gelangen wir auch zur verneinenden Beantwortung der Frage, welche den Gegenstand dieses Berichtes bildet.

Genehmigen Sie, Tit., die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 25. Februar

1896.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

A. Lachenal.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über den Bundesbeschluß vom 28./29.

Juni 1895, betreffend Mitteilung der dem Versicherungsamte zugehenden Civilurteile an Drittpersonen. (Vom 25. Februar 1896.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1896

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

09

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

26.02.1896

Date Data Seite

759-764

Page Pagina Ref. No

10 017 339

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.